Beschreibung
Für all jene, denen es zu mühsam ist, die Kapitel einzeln anzuwählen oder die diese Geschichte der Lesegewohnheit wegen ausdrucken möchten, stelle ich hier noch einmal das komplette Werk bereit.
Vom Sterben
Es ist wirklich paradox. Wir sind in der Lage, diese, unsere Welt augenblicklich mit unseren Atomwaffen über den Jordan zu jagen. Einige verrückte Cowboys mit seidenen Krawatten müssten lediglich die richtigen Knöpfe drücken, um alles in Asche zu verwandeln. Und wir waren auf dem Mond, jedenfalls behaupten wir das, haben unsere Fühler selbst bis auf den Mars ausgestreckt. Mit Teleskopen können wir fast bis an den Anbeginn der Zeit zurückschauen. Und in Zeiten, in denen fast nichts mehr unmöglich scheint, bereiten uns zwei so banale wie alltägliche Dinge noch immer Kopfzerbrechen. Ja, sie sind geradezu unlösbar. Die Alopezie ist das geringere Übel und betrifft allenfalls uns Männer. Schlimmer wiegt da unsere eigene Sterblichkeit, möchte ich meinen.
Wissen Sie, ich war bei der Erstürmung der Normandie dabei, musste mit ansehen, wie Kerle, die eben noch Eier aus Stahl hatten, nach ihren Müttern schrien wie kleine Babys, während ihnen die eigenen Gedärme durch die Finger rutschten. Wie die Fliegen fielen jene Kameraden, mit denen ich noch wenige Nächte zuvor Poker bis zum Erbrechen gespielt hatte, die mir Fotos von ihren Ladies und Kindern daheim gezeigt hatten, die schmutzige Witze über Politiker und Schwarze gemacht hatten und mit denen ich auf die guten alten USA angestoßen hatte. Doch ich fiel nicht in jenen Tagen, und während mir Kugeln aus deutschen Gewehren um die Ohren pfiffen, schien es, als würde Gott, der Allmächtige, seine schützende Hand ganz persönlich über mich halten, weil er vielleicht Großes für mich geplant hatte.
Großes sollte dann auch kommen. Schließlich zogen wir knapp zwanzig Jahre später wieder los. Statt der Deutschen sollten wir dieses Mal jedoch kommunistische Schlitzaugen aufs Korn nehmen, einfach, weil dieses paranoide Arschloch Johnson das so wollte. Weil er die Interessen der USA in Gefahr sah und Kommunisten eben nicht leiden konnte. Vielleicht auch nur, weil seine Frau ihn ein paar mal nicht rangelassen hatte, so dass er sich auf dem Klo einen runterholen musste. Wer weiß das schon? Diese Typen leiden immer an Minderwertigkeitskomplexen, nicht erst seit sie diesen dämlichen Bauerntrampel Bush Junior ins Weiße Haus gelassen hatten. Viele Leute vergessen das über die Jahre. Der Mensch streicht seine Erinnerung mit einem goldenen Pinsel, sagt irgendeine chinesische Weisheit. Das gilt scheinbar auf für US-Präsidenten.
Wie dem auch sei, wissen Sie, zwanzig Jahre reichen bei weitem nicht, all die unaussprechlichen Schrecken zu vergessen, die einem abseits jeglicher Menschlichkeit vorgesetzt werden, während man in fremden Ländern Gewehrkugeln und Handgranaten als Willkommensgeschenke zugeworfen bekommt. So geht das nicht nur den armen Schweinen, die das Pech haben, weder jung noch alt genug zu sein, um von Uncle Sam verschont zu werden und die sich mangels Studium auch nicht zur Bildungselite und somit zum Kapital der Zukunft unseres schönen Landes zählen können. Nein, auch waschechte Soldaten wie ich sind vor eingebrannten Horrorbildern auf Lebenszeit nicht sicher. Und so saß ganz sicher nicht nur ich mit einem ziemlich Übelkeit erregenden Gefühl in der Magengrube in einem der Hueys, die über Südvietnam hinwegknatterten, um uns irgendwo in der grünen Hölle zum Kämpfen und Sterben auszusetzen.
Tja, so hatte es mich also das zweite Mal in ein mir unbekanntes Land verschlagen, weil jemand an der Spitze in die Kameras grinste und wollte, dass ich tötete. Und wie Sie sich denken können, sausten wieder die Kugeln an mir vorbei, ohne mir die Lichter endgültig auszupusten. Wieder hätte man meinen können, der Vater im Himmel hätte Größeres für mich in Aussicht gehabt. Wenn sie das denken, tun sie das ruhig. Ich tue es nicht! Denn ich glaube seit jenen Tagen dort drüben, wo es immer zu regnen schien und wo die Moskitos so groß wie Pelikane waren, nicht mehr daran, dass irgendjemand da oben über uns wacht, dass dieser jemand vor Anbeginn der Zeitrechnung die Welt, in der wir leben, erschaffen hat. Nicht wegen all der ermordeten Menschen, der unzähligen Vergewaltigungen oder wegen der niedergebrannten Dörfer. Nein, denn das hatte ich so und nicht anders schon zuvor erlebt. Mein Glaube ist an dem Tag gefallen, an dem ich den ›Nguoi Gat‹ (›ngÆ°á»i gặt‹, wie man es in der Landessprache schreiben würde) gesehen habe.
Verdammt, ich schweife viel zu sehr ab - eine Unsitte des Alters - und das, wo mir ohnehin die Zeit davonläuft. Ich sagte Ihnen bereits, dass vor allem gegen unsere Sterblichkeit kein Kraut gewachsen ist. Zwei Kriege habe ich überlebt, körperlich wenigstens, schlimmere Übel ebenfalls, und selbst die Ehe hat es nicht geschafft, mich aus dem Reich der Lebenden zu fegen. Und wofür das alles? Damit sich jetzt wuchernde Zellen unaufhaltsam in meinem alten Körper ausbreiten und meinen Darm fressen, als wäre dieser ein Big Mac mit einer Portion Pommes? Aber gut, von mir aus.
Denn inzwischen kann ich die Fahrkarte wohl entsorgen. Ich bin an der Endstation angekommen, und hier, wo der Herbst alles andere als golden und der Winter auch nicht gerade besinnlich weiß ist, zählt es wohl schon zur Altersschwäche, wenn das große ›K‹ einen im Würgegriff hat. Und während dieses endgültige Arschloch sich vielleicht gerade ein weiteres saftiges Stück aus meiner Bauchgegend gönnt (Vielleicht sollte ich ihm Barbecuesauce dazu reichen?), fühle ich mich verpflichtet, wenigstens Ihnen meine Geschichte zu erzählen. Natürlich habe ich viele Geschichten erzählt. Während meiner achtzig Lenze hatte ich schließlich genügend Zeit dafür. Doch diese eine Geschichte habe ich niemals jemandem erzählt. Nicht einmal meiner Frau, möge sie in Frieden ruhen, habe ich je auch nur ein Wort diesbezüglich anvertraut. Nicht, dass ich jemals Angst vor Spott gehabt hätte. Nein, ich hatte viel mehr Angst davor, dass mich alles eines Nachts wieder einholen könnte, dass die Schlafzimmertür sich knarrend öffnen könnte, um im Schein des ins Haus fallenden Mondlichts die grausige Silhouette des Nguoi Gat zu offenbaren, der kommen würde, um mich zu sich zu holen, um mich erneut durch die Hölle gehen zu lassen – dieses Mal ohne Wiederkehr.
Und ja, ich habe noch immer Angst davor. Soll der verdammte Krebs mich von mir aus dahinraffen, wenn ich ihm schmecke, solange der Nguoi Gat mich nicht hier besucht. Weshalb ich diese Geschichte dann überhaupt erzählen möchte, fragen Sie sich? Nun, zum Einen will ich sie ja gar nicht erzählen, sondern niederschreiben. Ich denke, ich werde die ganze Erzählung einfach meinem Nachlass beifügen. Und vielleicht ist das geschriebene Wort für mich weniger grausam, als offen davon zu sprechen. Zum Anderen ist es so, dass ich mich davor fürchte, das Erlebte unberichtet mit ins Jenseits zu nehmen, wo immer das auch sein mag, denn im Himmel ist es gewiss nicht. Falls ich mich doch irren sollte und falls es dort, wo ich hingehen werde, tatsächlich einen Gott geben sollte, so werde ich ihm, das verspreche ich, gehörig in seinen breiten Arsch treten.
Doch ach, ich will Ihre Zeit nicht weiter mit meinem alterssenilen Geschwätz verschwenden. Denn auch Ihre Lebenszeit ist schließlich kostbar, ganz egal, wie jung oder alt Sie sein mögen und ob Sie wie ich kurz vor dem letzten Tor stehen oder kerngesunder Leistungssportler in Bestform sind.
Zwischenfall in Bac Tay
Die Geschichte, die ich Ihnen hier eigentlich erzählen möchte und auch erzählen werde, schließlich habe ich einige Zeit gebraucht, um mich überhaupt hierzu durchzuringen, beginnt irgendwann am Morgen des 17. August 1967. Da ich Ihnen gewichtige Details wie die morgendliche Scheißerei nach dem miesen Essen vom Vortag und ein paar Bier beim Kartenspielen sowie das improvisierte Behandeln der offenen Hühneraugen ersparen will, werfe ich Sie und mich einfach mitten ins Geschehen. Ein Geschehen, dass an erster Stelle vor allem ziemlich nass ist. Denn seit annähernd drei Monaten hatten wir das Gefühl, dass es kontinuierlich regnen würde. In Vietnam - je südlicher, desto schlimmer übrigens - muss man, wenn man, wie wir damals, Pech hat, bis zu vier Monate lang Dauerregen über sich ergehen lassen. Scheißen Sie auf den Klimawandel, das ist noch heute so. ’67 war das komplette Land jedenfalls nichts weiter als eine große Schüssel voll dreckiger Suppe, die nach Matsch und Scheiße stank und in der man, wenn man den Kopf nicht rechtzeitig einzog, schneller verreckte, als man Dreckswetter sagen konnte. Tagein, tagaus wateten wir mehr staksend als gehend durch matschigen Wald- und Wiesenboden. Ich weiß noch, dass meine Wadenmuskulatur bereits dick wie Fußbälle geworden war. Und wenn es wieder mal wie aus Eimern schüttete, scherzten die Jungs gern, dass man demnächst die Arche anlegen sehen würde, damit Noah das eklige Viehzeug hier vor der großen Flut retten könnte.
»Welches Viehzeug?« fragte Frank Adler dann gern. »Ihr meint die gigantischen Insekten hier? Klasse Idee! Dann haben die Generationen nach uns auch was von den scheiß Biestern.«
Adler war ein Hüne von einem Kerl. 6.5 Fuß groß, wenn nicht größer, möchte ich meinen. Muskelbepackt bis in die Zehen, doch seine Augen waren die eines Maulwurfes, und so fühlte man sich von ihm wegen der dicken Brillengläser immer ziemlich angeglotzt. Als ich ihn das erste Mal sah, fragte ich mich ernsthaft, wer diese Blindschleiche in die Armee gelassen hatte. Er musste sich irgendwie durchgemogelt haben, und nun fragte einfach niemand mehr nach dem Umstand seiner Kurzsichtigkeit. Denn er mochte ohne Brille blind sein, doch war er eben ein einziger Fleischberg. Viel erstaunlicher an Adler aber war, dass er über alles schimpfen konnte, was nicht bei drei auf den Bäumen war. Und ließ er sich nicht über das stechfreudige Ungeziefer aus, so beschwerte er sich entweder über die vietnamesischen Nutten, die Filzläuse, so groß wie Kanalratten, hätten und einem nicht den Saft aus dem Schwanz, sondern allenfalls die Kohle aus der Geldbörse saugen würden, oder er spuckte wegen des Wetters Gift und Galle: Schien die Sonne, war es ihm zu heiß, und regnete es, war es zu nass, um überhaupt vor die Tür zu gehen. Doch fiel einem im Lager natürlich auch die Decke auf den Kopf. Wenn Adler gewusst hätte, was ihn am 17. August erwarten würde, hätte er vielleicht anders über die kleinen Unannehmlichkeiten des Lebens gedacht und versucht, auch mal einen Augenblick abseits von Kaffee und Scheißhaus zu genießen. Aber die meisten von uns bekommen eben nur eine Chance, nicht wahr?
Was uns an jenem Tag betraf, so hatte man uns gesagt, dass wir wohl keine Chance bekommen würden, heute Congs vor die Flinte zu kriegen. Der Auftrag hieß: kommen, sichten, melden und verschwinden. Und das wie immer natürlich alles möglichst lautlos. Um den Rest würden sich die Flieger kümmern. Kein Kampf, Mann gegen Mann. Kein Blick in die Augen des Feindes. Mich kotzte dieser Napalmscheiß damals an, und ebenso kotzen mich heute die wärmegelenkten Raketen und der ganze perverse Dreck an. Mit ehrenhaftem Kämpfen hat all das nichts zu tun. Ein Schachspiel ist das, geführt mit unzähligen, metallenen Figuren und mit milliardenschweren Industrien als Spieler. Es ist, verdammt noch mal, Feigheit vor dem Feind und Geldgier – nichts sonst. Doch, was sollte man machen? Auftrag war eben Auftrag.
In den vorangegangenen Wochen hatten die Vietcong mehrfach kleinere Offensiven Richtung Süden gestartet und waren so fast bis zu uns vorgedrungen. Irgendein kluger Kopf in der Army war sicher gewesen, errechnet zu haben, dass die schnelle Wiederbewaffnung der dezimierten NVA-Truppen auf ein größeres, verstecktes Waffenlager in der Nähe eines Dorfes namens Bac Tay hindeutete, etwa zehn Meilen westlich des später zu trauriger Berühmtheit gelangten My Lai, wenn Sie es genau wissen wollen.
Der Huey hatte mich und sieben weitere Männer auf einer, wie man uns versichert hatte, ungefährlichen Lichtung, etwa fünfundzwanzig Meilen südlich unseres Ziels abgesetzt. Und selbstverständlich begann es augenblicklich, nachdem wir angekommen waren, Hunde und Katzen zu regnen. Wussten Sie, dass man in den Sechzigern, wenn man sich einmal auf den schlammigen Boden geworfen hatte, nie sicher gehen konnte, ob die M16-Gewehre anschließend noch funktionierten? Tja, so sehr sorgte man sich daheim in D.C. um seine Landsleute. War keine schöne Vorstellung, nur mit Pistole und Messer auf die verrückten Kommis zuzustürmen. Also schlichen wir, wann immer es möglich war, aufrecht in leicht geduckter Haltung und mit schnellen Schritten durch den Schlamm, immer darauf hoffend, dass wir nicht doch irgendwo einsanken und jämmerlich ersoffen. So ging es eine ganze Weile, ganz ohne Zwischenfälle, ohne große Wortwechsel, abgesehen von Frank Adler, der über das Wetter schimpfte wie ein Rohrspatz. Immer nordwärts, abwechselnd über kleinere Lichtungen und durch den dichten Busch. Falls Sie die grüne Hölle aus Filmen wie ›Apocalypse Now‹ kennen und meinen, der kaum durchdringbare Dschungel wäre nichts als ein Spannungselement der Hollywood-Künstler, vergessen Sie es. Dort unten sah es, verdammt noch mal, wirklich so aus.
Nach knapp zwei Stunden war Adlers dauermotzendes Organ zum Running Gag des Tages geworden. Mir ging er bereits gehörig auf den Keks. Er versaute mir die Laune und machte mich unaufmerksam. Man kann sich Unaufmerksamkeit im Busch nicht leisten, schon gar nicht als First Lieutenant, der auf sieben Männer aufpassen muss. Hätte Adler das auch nur eine weitere Stunde so getrieben, hätte ich ihm vermutlich meinen Gewehrkolben in sein verdammtes Maul gerammt.
In diesen zwei Stunden hatten wir lediglich ungefähr zehn Meilen zurückgelegt. Damit lagen wir eine halbe Stunde hinter dem Plan. Vor allem lag das natürlich am miesen Wetter und dem damit einhergehenden, aufgeweichten Boden. Hinzu kam jedoch ›Fat Man‹, der es irgendwie immer wieder schaffte, zurückzubleiben, so dass wir auf ihn warten mussten. Fat Man hieß eigentlich Michael Veight und war nicht nur groß, sondern, wie Sie sich wahrscheinlich denken werden, auch noch ziemlich beleibt. Nicht wenige fragten sich, welcher Idiot Sein Okay gegeben hatte, als es darum ging, diesen Fettsack zu den Marines zu lassen. Doch jeder, der auch nur einmal mit angesehen hatte, wie Fat Man auf die Congs losging, ließ sofort jeden Zweifel an ihm fallen: Fat Man war unübertrieben ein Berserker. Er ging brüllend durch die feindlichen Reihen wie Moses durch das verdammte Rote Meer und hinterließ nichts als einen Teppich aus Tod und Zerstörung. Und so hatte Veight seinen Spitznamen nicht nur seiner Wampe wegen, sondern auch wegen seiner ungeheuerlichen Gabe zur Verwüstung. Falls Sie es vergessen haben sollten: ›Fat Man‹ war die Atombombe, die wir im zweiten Weltkrieg über den Köpfen der Einwohner von Nagasaki ausgeklinkt hatten. Wie ich dazu stehe, hab ich bereits erwähnt, nicht wahr? Nun, Veight war jedenfalls langsam, geradezu träge, und hielt uns auf. Doch dieser Lahmarsch würde wertvoll sein, falls es hart auf hart kam. Da konnte ich mir sicher sein.
Adler drehte sich gerade um und sah, dass Fat Man wieder zurückgefallen war.
»Fat Man, schieb deinen Schwabbelhintern hierher, sonst verpass ich dir ein zweites Arschloch. Ich will angekommen sein, bevor dieser scheiß Regen mich auflöst wie eine verdammte Tablette«, brüllte er.
»Scheiße, Adler. Halt endlich dein Maul!« sagte Peterson. »Dein Gezeter über das Wetter kann kein Mensch mehr ertragen. Gegen dich hat jede Frau Eier. Vielleicht solltest du rosa Röcke tragen. Dann wären die Leute gewarnt.«
Adler stapfte zu Peterson hinüber, der über anderthalb Fuß kleiner als er selbst war und baute sich vor ihm auf. »Was willst du, Neuer? Du solltest eher das Maul halten, sonst wachst du das nächste Mal mit schmerzendem Hintern auf, weil dir jemand nachts deine eigene Faust in den Arsch gebohrt hat«, knurrte Adler ihn an. Ziemlich sicher fühlte er sich nicht deshalb so angepisst, weil Peterson ihn beleidigt hatte, sondern eher, weil es überhaupt Peterson gewesen war, der die Klappe aufgerissen hatte. Schließlich war dieser im Vergleich zu Adler ein Gartenzwerg.
Peterson, den man erst vor knapp zwei Wochen in mein Platoon gelassen hatte, schaute zu Adler auf, als würde er Wolken am Himmel betrachten, blieb jedoch ruhig wie ein Steinmonument im Sturm des Jahrhunderts. Sein Blick blieb eiskalt. Vermutlich verbarg er angesichts Adlers Glubschaugen eher ein Lachen als seine Angst.
Bevor die Situation jedoch eskalierte, hörten wir von weiter hinten Fat Mans Stimme: »Ja man, halt dein Drecksmaul, Adler. Sonst verpasst dir Pete den Kinnhaken deines Lebens. Und wenn du am Boden liegst, setz ich mich auf dein Gesicht, damit du den übelsten Furz der Menschheitsgeschichte live miterlebst.«
Wahrscheinlich wusste keiner von uns, ob Veight ernst meinte, was er gesagt hatte. Anzunehmen war es zwar, doch hechelte er beim Reden dermaßen, während er durch den Schlamm rannte, dass die unfreiwillige Komik erst Peterson, dann John ›Garbage‹ Gardener und schließlich sogar Adler zum Lachen brachte.
»Leute, haltet jetzt bitte endlich alle die Klappe«, sagte ich schließlich. »Wenn die Congs in der Nähe sein sollten und uns hören, dann hocken wir mitten auf dem Präsentierteller, und die Kacke ist mächtig am Dampfen.«
Tatsächlich beruhigten sich die Jungs recht schnell wieder. Denn niemand wollte in einen Hinterhalt der Vietcong geraten. Bis auf Jungspund Peterson (von dem ich es nicht sicher wusste) dürfte zu diesem Augenblick jeder bereits mindestens einmal hautnah erlebt haben, wie ein plötzlicher Schuss aus dem Dickicht des Busches heraus einem unachtsamen Kameraden das Hirn aus dem Schädel blies. Daher hätte die Devise stets lauten sollen: Kopf runter und Fresse halten.
Vielleicht fragen Sie sich, wie ich mich überhaupt auf solch einen verrückten Haufen einlassen konnte. Ein Blinder, ein Fettsack und ein Zwerg. Verständlich, doch ob Sie es glauben oder nicht, diese drei waren die besten Soldaten, die man sich als Lieutenant wünschen konnte. Ja, auch Frischling Peterson, wenn auch vor allem seiner unerschütterlichen Moral wegen. Die anderen vier waren, nun ja, Durchschnittsware. Das ist nicht negativ gemeint, denn schließlich taten sie, was man ihnen sagte und passten auf ihren Arsch auf. Sie entsprachen wahrscheinlich am ehesten dem Bild, das Sie von einem genormten Soldaten der US-Army erwarten, nehme ich an. Neben diesem Arsch Sergeant Jacob Anderson, der die Dienstordnung über seine eigene Großmutter stellte, stach von denen höchstens noch Gardener heraus. Jedoch eher seines Einfallsreichtums, wenn es um Flüche ging. Würde es einen Orden für Flucherei vor dem Feind geben, Garbage Gardener hätte ihn bekommen. Seinen Beinamen hatte er zu Recht.
Wie nicht anders zu erwarten gewesen war, regte sich Adler auch weiterhin über jeden Fliegenschiss auf. Ich hatte auf Durchzug geschaltet, bekam aber dennoch mit, dass er einmal sogar über das Rascheln des hohen Grases murrte. Falls dieser Mann jemals eine Mutter gehabt hatte, in jenem Augenblick tat sie mir leid. Der Rest der Truppe hielt weitestgehend den Mund, so wie es sein sollte.
Nachdem wir uns annähernd zwei weitere Stunden über einen zugewucherten, dafür aber weniger aufgeweichten, Pfad, mitten durch den Wald geschlagen hatten, wurde Anderson nervös. Das war nicht besonders verwunderlich, denn drüben in Nam stehen Bäume und Büsche zum Teil so dicht, dass man sich geradezu von ihnen bedrängt fühlt. Es wirkte auf mich, als würde die Natur einen dort nicht haben wollen. Und vermutlich kam das der Wahrheit sehr nahe. Außerdem konnte man nie sicher sein, ob nicht hinter einem der Bäume ein kleiner, schlitzäugiger Mann lauerte, um uns freudig mit der Kalaschnikow zu begrüßen.
»Lieutenant Morello«, flüsterte Anderson mir zu. Ich hegte ein freundschaftliches Verhältnis zu meinen Männern, tat das immer. Denn wenn es um Leben und Tod geht, riskiert nur ein Freund seinen Arsch für dich. Deswegen nannte mich eigentlich jeder direkt beim Namen, wenigstens unterwegs, wenn keine höheren Dienstgrade ihre Ohren gespitzt hatten. Für einige war ich Vincent, für andere einfach Vince und wahrscheinlich für die meisten schlicht Morello. Vermutlich gab es zudem einige Spitznamen, von denen ich nichts wusste, aber das ist okay. So lief das schon immer. Anderson jedenfalls vergaß nie den Dienstgrad. Nicht nur deshalb mochte ich ihn nicht sonderlich. Generell war er immer eine Prise zu höflich, immer ein wenig zu glatt gebügelt.
Anderson hielt mir die Karte unter die Nase. Seinen Finger hatte er auf den Pfad gerichtet, auf dem wir hoffentlich gerade unterwegs waren. So ganz sicher war man sich da ja doch nie, schließlich sah hier alles gleich aus.
»Lieutenant Morello, Sir. Sollten wir Bac Tay nicht allmählich ziemlich nahe sein? Laut der Karte-«
»Sergeant Anderson«, unterbrach ich ihn. »Nehmen Sie Ihren Finger, schieben Sie ihn ein weniger weiter südwärts. Ja, genau so. Wir sollten eher hier sein. «
»Aber wir-«
»Anderson, denken Sie an das Wetter! Wir sind wie die Klapperstörche durch den aufgeweichten Boden gestakst. Das hat uns mindestens eine halbe Stunde gekostet, eher mehr.« Dass Fat Man ebenso zu der Verspätung beigetragen hatte, erwähnte ich in dem Zusammenhang lieber nicht. Ich traute Anderson durchaus zu, dass er Veight deswegen anschiss.
Dennoch hatte er nicht ganz unrecht. Wir näherten uns tatsächlich allmählich Bac Tay, falls wir nicht irgendwo falsch abgebogen waren. Und danach sah es nicht aus. Ich schätzte, dass wir vielleicht noch zehn Minuten unterwegs sein würden, bis wir das Dorf unter die Lupe nehmen konnten. Laut Plan lagen die Zufahrtsstraßen zum Dorf südlich und nördlich. Westlich gab es nur Wald, während sich östlich des Dorfes ein Bach entlang wand. Schlichen wir uns in einem kleinen Bogen westwärts an Bac Tay heran, würden wir, so die Idee, ungesehen vorbei kommen und könnten von einem hübschen Plateau aus die Gegend sondieren. Ich persönlich erwartete nicht, dass wir das Waffenlager der NVA so ausmachen würden, schließlich stellten die Congs keine Hinweisschilder für uns auf. Doch war die Leitung da anderer Meinung, da man ja von einem recht großen Lager ausging. So würde es wohl darauf hinauslaufen, dass jede dämliche Waldhütte verdächtig war und bis zum Abend in Schall und Rauch aufgehen würde. So lief das schließlich schon die ganze Zeit – ein Zerstörungswahn, der überhaupt nichts brachte. Doch auf mich hörte ja niemand. Oben wusste eben jeder alles besser.
Wie viel das wert war, merkten wir in dem Augenblick, als wir quasi vor den Toren von Bac Tay standen. Wir hielten die unbefestigte Straße wahrscheinlich allesamt - schließlich hatte niemand einen Einwand vorgebracht - für eine Schneise im Wald. Und ehe wir uns versahen, glotzten uns dutzende Augen an.
»Scheiße, verdammt noch mal«, brüllte ich. In dem Moment stapfte auch schon wieder Anderson mit seiner blöden Karte auf mich zu. Ich riss ihm das Ding wie einen Lappen aus der Hand.
»Die dämlichen Drecksäcke haben das Dorf falsch markiert. Es liegt viel zu weit westlich«, stellte ich fest.
»Na bestens. Und was jetzt?« fragte Fat Man in die Runde.
»Tja Jungs, ich würde sagen, war ein netter Spaziergang«, grummelte Adler und erhielt von Garbage Gardener sofort den Konter: »Nett? Wenn das für dich nett war, will ich nicht wissen, was du von dir gibst, wenn du deine Alte nagelst.« Fat Man brach in Gelächter aus und auch Peterson konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Adler sagte nichts, starrte nur grimmig in die Gegend. Ich glaube nicht, dass er es eingesehen hatte. Wahrscheinlich wollte er nur weiteren Ärger vermeiden.
»Sollten wir uns nicht lieber zurückziehen? Das ging ja wohl mächtig in die Hose«, sagte ein Mann, den ich als Rodman in Erinnerung habe. Könnte auch sein, dass er Redman hieß, doch das tut heute wohl so oder so nichts mehr zur Sache.
»So wie ich das sehe, hat der Mann Recht, Lieutenant Morello«, sagte Anderson.
»Und so wie ich das sehe, Serge, können wir uns, jetzt wo wir schon mal hier sind, drinnen auch gleich umsehen. Zumindest kommen wir dann nicht mit leeren Händen zurück. Und mein Gespür sagt mir, dass wir, wenn wir die Augen offen halten, tatsächlich ein paar nette Geheimnisse irgendwo im Dorf entdecken können«, sagte ich und wusste nicht, wie Recht ich damit haben sollte.
»Aber das ist nicht vorgesehen«, bellte Anderson.
Ich seufzte und rollte wahrscheinlich mit den Augen. Dieser Mann ging mir tierisch auf die Eier. Selbst ein zweiter Frank Adler mitsamt Dauergezeter wäre mir lieber gewesen. »Was meinen Sie, McKagan?«
McKagan war der Second Lieutenant in unserem netten Platoon. Kein besonders eigenständiger Mann, eben kein Mann vieler Worte, aber er war auch keiner, der sich gern wegduckte. Sonst hätte er es so weit wohl auch nie gebracht. Ich wusste jedenfalls, dass er mir zustimmen würde. Und das tat er auch. Damit war Andersons Einwand überstimmt. Schmollend gab er klein bei, was mir ein hübsch befriedigendes Gefühl verschaffte.
»Also los, Jungs. Sehen wir uns drinnen um. Lasst die Leute in Ruhe, egal wie sehr sie euch angaffen. Die sind allerhöchstens neugierig. Congs haben wir, wenn alles gut läuft, nicht zu erwarten. Aber ausschließen würde ich das natürlich auch nicht. Dennoch, geschossen wird nur, wenn ich das sage, ist das klar, Ladies?« rief ich und bekam ein lautes »Jawohl Sir!« zur Antwort. Eigentlich war diese Ansprache nur pro forma gewesen, denn ich hielt viel von meinen Männern. Klar, Veight war ein Verrückter, aber auch er würde nicht einfach auf harmlose Dorfbewohner losgehen, ganz egal, wie sehr er im schlimmsten Fall ausrasten würde. Sie kennen sicher die Geschichten, nicht wahr? Marines, die mit Bajonetten auf Frauen und Kinder einstachen, die wehrlose Männer mit Gewehrkolben totschlugen. Ich weiß sogar von einem Fall, in dem ein Marine mit seinem M16 auf die schreienden Leute feuerte, als würde er Sportschießen betreiben, während er vom Rest seines Platoons angefeuert und bejubelt wurde. Sollten Sie noch schlimmere Geschichten gehört haben, gehen Sie im Zweifelsfall davon aus, dass sie wahr sind. Krieg kann eine hässliche Sache sein, und er zeigt allzu oft nur die schlechtesten Eigenschaften der Menschen. Fast niemals die guten, so ungern ich das als eingefleischter und zuweilen stolzer Ex-Soldat auch zugebe.
Als wir das Dorf in geordneter Form betraten, bot sich uns ein eigentlich gewohntes Bild: Männer und Frauen, die geschäftig zwischen den Hütten wuselten und mal neugierig, mal gleichgültig, zu uns herüber blickten, spielende Kinder im Gras und auf der Straße. Zu unserer Linken stand ein größeres Gebäude, das einzige, das gemauert war. Auch wenn wir die Schriftzüge nicht lesen konnten, schien dies ziemlich sicher eine Bar zu sein. Bac Tay war insgesamt nicht besonders groß. Wir hatten das Dorf über das Südtor betreten und konnten von hier aus bereits die nördliche Zufahrt sehen. Links und rechts der Hauptstraße (im Wesentlichen war dies die einzige Straße) standen die Hütten der Bewohner ziemlich ungeordnet. Ansonsten entsprach alles dem Plan: rechts von uns der kleine Bach, an dem die Frauen vermutlich ihre Wäsche wuschen, links hinter den Häusern bewaldetes Land.
So ganz gewöhnlich wie es schien, war Bac Tay, wenn ich recht überlege, jedoch auch nicht. Vielleicht bilde ich es mir nur ein, schließlich ist all das lange her, aber meine Erinnerung sagt mir, dass die Dorfbewohner uns nicht nur neugierig ansahen, als sie uns entdeckten. In einigen Gesichtern konnte man Belustigung, ja, geradezu Spott, entdecken. Es war nicht diese Art Hohn, die aufkam, wenn man sicher sein konnte, dass es für uns gleich brenzlig werden würde, sondern eine weitaus düsterere Art. Ich würde sogar sagen, eine nicht menschliche. Aber das kann ich nur im Nachhinein sagen. In dem Augenblick, als wir das Dorf betraten, fiel mir das nicht auf.
»Tja, sieht so aus, als wären wir hier schnell durch, was?« sagte Gardener.
»Sieht so aus, ja«, gab ich zurück. »Ich schlage vor, wir bilden zwei Teams. Ich gehe mit Adler, Veight und Sergeant Anderson die Hütten linksseitig der Straße durch. Ihr anderen nehmt euch die rechte Hälfte vor. Okay soweit?«
Einige nickten, andere murmelten ein leises »Ja, Sir«. Ich glaube, trotz der Idylle waren sie ein wenig besorgt. Vielleicht auch gerade wegen der Idylle. Wenn ich so recht darüber nachdenke, könnte es auch sein, dass sie die Ruhe vor dem Sturm spürten. Man spricht von weiblicher Intuition, doch ich bin alt genug, um mir sicher zu sein, dass auch wir Männer ab und an unsere Eingebungen haben. Doch in diesem Moment äußerte keiner meiner Leute seine Bedenken. Und ich selbst spürte nichts Verdächtiges, fragen Sie nicht, weshalb. Ich weiß es nicht. Und so stoben wir langsam und vorsichtig auseinander.
Ich ging voran und wollte mit meinem Trupp die Bar durchsuchen. Nur kurz blickte ich nach unten und entdeckte, dass ich Pferde- oder Eselscheiße am Stiefel hatte. Verdammt, ich musste in eine Tretmine gelatscht sein, als wir das Dorf betreten hatten.
Ich hörte den Knall in dem Moment, als ich mich gerade nach unten gebeugt hatte. Aufgeschreckt kam ich wieder hoch und drehte mich um. Anderson lag tot auf dem Boden. Direkt hinter ihm hatte sich ein Gemisch aus Gehirnmasse und Knochensplittern über das Gras verteilt. Der Schuss musste also vor mir losgegangen sein. Verdammt, hätte ich mich nicht geduckt, hätte es mich erwischt. So etwas gibt einem zu denken, das kann ich Ihnen sagen.
Jetzt brach natürlich die Hölle los. Die Dorfbewohner kreischten und rannten wie aufgescheuchte Hühner wild durcheinander. Mütter zogen ihre Kinder in die Häuser. Wir wussten, dass die Congs da waren, und die wiederum ließen sich nicht lange bitten.
»Alle in Deckung«, brüllte ich. »Und feuert, sobald ihr es für richtig haltet. Scharfschütze auf zwölf Uhr.« Ich deutete auf das Dickicht vor mir, vom dem ich sicher war, dass der Schuss aus diesem gekommen war.
Im selben Augenblick konnte man die rennenden Vietcong-Soldaten sehen, die versuchten, sich zu organisieren und zu verstecken. Im Gestrüpp suchten sie Deckung, während wir anfingen, mit unseren M16s auf sie zu schießen.
Während wir feuerten, suchten Veight, Adler und ich an der Bar Deckung. Die anderen verschanzten sich an den unbefestigten Hütten auf der anderen Seite. Plötzlich begann Gardener wie wild zu brüllen und zu fluchen, dass der Teufel errötet wäre (an »abgefuckter Ochsenpimmel« erinnere ich mich noch sehr gut). Drei oder vier Congs versuchten, über die Südstraße in unsere Flanke zu brechen, und er nahm sie aufs Korn. Soweit ich weiß, ließ er keinen herein und keinen davonkommen. Wir derweil schossen aus der Deckung in die Büsche westlich des Dorfes. Die Congs tarnten sich perfekt in dem Gestrüpp, und man wusste nie genau, ob man gerade auf den Feind schoss oder ob man ein Gebüsch durchsiebte. Und während es Adler da wohl so ging wie mir, schien Fat Man Veight ein Auge für die Schlitzaugen zu haben. Wenn ich mich recht erinnere, erschoss er auf Anhieb drei von ihnen.
Die Bambushütten boten keinerlei Deckung. Sobald der Feind wusste, dass sich meine Männer hinter diesen Häusern verschanzten, brauchten sie nur draufzuhalten und würden irgendwann schon treffen. So versuchten die anderen, zu uns vorzustoßen. Die Bar war in diesem Fall die einzige Möglichkeit, sich vor den Kugeln in Sicherheit zu bringen. Ich konnte sehen, wie Peterson beim Herüberlaufen eine Kugel ins Knie bekam und zusammenbrach. Er schrie nicht, fluchte nur, als hätte er beim Poker verloren und fletschte die Zähne. Sofort sprang Frank Adler auf und rannte zu ihm. Mit einer beherzten Bewegung, ganz als wäre Peterson aus Pappmaché, schulterte er ihn schleppte ihn zu uns in die Deckung.
»Pass auf deinen Arsch auf, Frischling, sonst tanze ich auf deinem Grab Polka«, schrie Adler und deutete Peterson gegenüber eine Ohrfeige an.
»Danke man. Fuck«, sagte Peterson und hielt sich das Knie.
»Keine Panik, Pete. Das kriegen wir wieder hin«, sagte ich. »Adler, gut gemacht, aber jetzt hilf mir hier. Die Typen scheinen aus dem Boden zu schießen wie Pilze.«
Wir feuerten weiter auf die Congs im Wald, während Garbage, McKagan und Rodman bei uns Deckung suchten und fanden. Unser Schutz hier war von unschätzbarem Wert: Gardener und McKagan konnten den Zugang zum Dorf im Auge behalten, während wir anderen auf die Congs im Busch feuern konnten. Aus den anderen Richtungen war ein Überall nicht möglich, und so sah es gut für uns aus. Leider nur genau so lange, bis die Scheiße über uns hereinbrach.
Ich weiß noch, dass ich wieder den verdammten Knall hörte. Den Scharfschützen hatten wir also noch nicht erwischt. Im nächsten Moment blieb Frank Adler reglos auf dem Bauch liegen. Der beschissene Cong hatte ihm eine Kugel genau ins Auge verpasst. Adlers Brille war durchschlagen und lag zerschmettert neben seiner Leiche. Unter ihm breitete sich eine Blutlache aus. Das, was mal sein Gehirn gewesen war, klebte verteilt auf seinem Rücken.
»Scheißdreck. Die haben Adler erwischt«, brüllte Veigth, als hätten wir anderen das nicht mitbekommen. Er schrie wie am Spieß und ballerte auf den Busch, was das Zeug hielt. Jetzt war er endgültig ausgerastet. Adlers Tod und Veights tosender Gewehrdonner hatten uns für einen Moment abgelenkt, und so hatten es ein paar Vietcong geschafft, über das Südtor ins Dorf hereinzubrechen. Sofort schossen sie auf uns. Gardener durchsiebten sie völlig. Er hatte nicht einmal Zeit, sein Gewehr auf sie zu richten. Noch im Sterben fluchte er wie ein Landsknecht. Veight drehte sich um und schoss auf die Schlitzaugen. Vier oder fünf von ihnen fielen um wie die Fliegen, doch es kamen immer mehr.
Und im nächsten Augenblick spürte ich, dass irgendetwas mich in die Schulter gebissen hatte. Ich bin natürlich nicht blöd, war ich auch damals nicht, und so wusste ich selbstverständlich, dass mich eine Kugel getroffen hatte. Dennoch, es fühlte sich an, als hätte ein Tier mit einem ziemlich großen Maul zugeschnappt, um einfach nicht mehr loszulassen. Die Schmerzen benebelten mich, und wahrscheinlich verlor ich einiges an Blut. All das ist zu verworren, um sich noch genau daran zu erinnern. Was ich noch sehr genau weiß - schließlich vergisst man manche Bilder bekanntlich nie - ist, dass Veight es geschafft hatte, vor allen anderen sämtliche Magazine leer zu ballern. Und nun rannte er tatsächlich mit Messer und Pistole auf die Congs zu. Fast schon ein amüsanter Anblick. Er brüllte, als hätte er sich in ein Monster verwandelt, während er sich in die Menge warf, als wäre er auf einem Rockkonzert. Einige Vietcong schossen auf ihn, während andere tatsächlich flüchteten. Wenn sie ihn für einen Dämon hielten, hätte mich das nicht gewundert. Mehr konnte ich nicht erkennen, weil die Nacht über mich kam, doch ich bin mir sicher, dass er, bevor sie ihn umbringen konnten, einige von ihnen massakrierte.
Doch wie gesagt, ich bekam davon nichts mehr mit. Um mich herum wurde es zunehmend dunkler. Das Knattern der Maschinengewehre wurde zu einem dumpfen Hämmern, das eher an fernes Donnergrollen eines heraufziehenden Gewitters erinnerte. Die Stimmen meiner Leute und die der Congs verschwammen zu einem unverständlichen Brei, und im nächsten Moment wurde alles komplett still. Tatsächlich war mein letzter Gedanke, dass dies das Ende sein würde, und ich fragte mich im letzten Moment, ob ich nun gleich das Licht sehen würde. Doch war dies weder das Ende, noch sollte ich Licht sehen. Im Gegenteil: Ich sollte noch viel mehr Finsternis entdecken, und das Martyrium, die Hölle vom 17. August, hatte gerade erst begonnen.»Nguoi Gat, Nguoi Gat!«
Ich erinnere mich daran, dass mich eine ganze Reihe wirrer Träume plagte. Es war die Art Träume, die man hat, wenn man morgens erwacht und das Gefühl hat, während der Nacht einen Marathon gelaufen zu sein, weil ein Verrückter mit Machete und Peitsche hinter einem her war. Die Art Träume, die sich augenblicklich davon schleichen, wenn man zu sich kommt und sich nach erster Orientierungslosigkeit, wenig erholt, in der Geborgenheit spendenden Dunkelheit eines stummen und friedlichen Schlafzimmers wieder findet.
Ich jedoch erwachte dieses Mal nicht in meinem trauten Heim. Doch das hatte ich nicht einmal in der ersten Sekunde angenommen. Wenn man lange genug in Nam war, dann vergaß man dieses Gefühl der Geborgenheit. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass viele von denen, die mit mir dort unten waren, dieses Gefühl nie wieder entdeckten. Was ich allerdings - das gebe ich gern zu - im ersten Moment glaubte, war, dass ich auf der anderen Seite angekommen wäre. Und es war fast witzig, denn im Jenseits spielten sie The Kinks: ›You Really Got Me‹. Irgendwie ein passender Titel.
Ich brauchte einige Zeit, bis ich meine Augen wirklich öffnen konnte, um herauszufinden, dass jener Ort nicht das Jenseits war oder falls doch, dass das Jenseits kein Platz war, an dem man gern sein wollte. Es roch nach Erde in dieser Finsternis, doch als ich meinen Blick hob, war mir sofort klar, wo ich mich befand: Dieses Loch gehörte zu den scheiß Tunnelsystemen der Vietcong. Die Schlitzaugen hatten das ganze Land untergraben wie die Maulwürfe. Deswegen schafften sie es auch ständig, spurlos zu entkommen und irgendwo hinter unserem Rücken wieder aufzutauchen, um uns einen Dolch in die Eier zu rammen.
Meine Schulter sendete einen hässlichen Schmerz aus, der pulsierend bis hinab in die Zehen vordrang. Ich schaute an mir herab. Meine Kleidung war blutgetränkt, doch wenigstens hatte die Blutung gestoppt. Oder jemand hatte sie gestillt. Schlimmer als all das Blut jedoch war meine Situation. Ich saß auf einem hölzernen Stuhl. Meine Hände waren hinter dem Rücken gefesselt, meine Füße an den Stuhlbeinen festgebunden. Ich war gefangen genommen worden, schoss es mir durch den Kopf. Man hörte grausame Dinge darüber, was die Kommis mit ihren Gefangenen taten. Doch kannte ich bereits damals niemanden, der aus einer ähnlichen Situation zurückgekehrt wäre und fragte mich daher, wer all die Geschichten erzählt haben mochte.
Ich hob meinen Blick, um mir einen Überblick zu verschaffen, sofern das bei all dem spärlichen Licht überhaupt möglich war. In der Mitte des Raumes hing auch tatsächlich nur eine kleine Glühbirne, die wahrscheinlich von einem Generator betrieben wurde - so wie der Plattenspieler oder das Radio, das von irgendwo her noch immer ›You Really Got Me‹ spielte. Ich fragte mich, weshalb die beschissenen Congs britische Rockbands hörten? Sollte das eine Art Folter werden? Oder Spott, dass man es uns gezeigt hatte? The Kinks waren nun wirklich nicht das Schlechteste. Im Lager hatten wir die oft genug rauf und runter gespielt. Das ganze Programm: neben ›You Really Got Me‹ auch ›All Day and All of the Night‹ und ›Tired of Waiting for You‹. Diese Musik hatte eigentlich eher die gegenteilige Wirkung auf uns: Man kam morgens deutlich eleganter vom Scheißhaus und in seine Stiefel, wenn Sie verstehen.
Allmählich gewöhnte ich mich an die düstere Kulisse. Und endlich bemerkte ich, dass ich nicht allein hier unten war. An der gegenüberliegenden Wand standen weitere Stühle. Im ersten Augenblick war es schwer, zu erkennen, wen sie dort festhielten, doch dann sah ich Peterson. Er hatte seinen Kopf gesenkt und schien entweder zu schlafen oder bewusstlos zu sein. Auf zwei Stühlen neben ihm saßen weitere Männer. Ich strengte meine Augen an, erkannte jedoch keinen meiner Leute.
Doch ich erkannte die Uniformen. Dies waren überhaupt keine Marines. Es waren Vietcong, die dort ebenso auf Stühlen festgebunden waren wie wir. Im Gegensatz zu Peterson schienen sie wach zu sein, doch sie redeten nicht und bewegten sich sehr langsam, so als wären sie betäubt. Warum sollten die Vietcong ihre eigenen Leute fesseln? Ich dachte an Deserteure, schien mir dies doch die einzig plausible Antwort zu sein.
Abgesehen von uns war der Raum ziemlich leer. In der Mitte, direkt unter der Glühbirne stand ein einfacher Holztisch, auf dem einige Gegenstände lagen, die ich zuerst nicht erkennen konnte. Doch ich sollte noch früh genug erfahren, was dort vor uns ausgebreitet lag. An der Wand rechts von mir hatte man eine kleine Kommode aufgestellt. Auf dieser erkannte ich nun auch den Plattenspieler, der weiterhin in angenehmer Lautstärke vor sich hin dudelte. In der Wand links von mir befand sich ein Tunnel, dessen Zugang durch eine kleine, unsauber zusammengezimmerte Holztür abgesperrt war. Soweit ich in diesem Moment erkennen konnte, war dies der einzige Zugang zu dem dunklen Raum, in dem wir gefangen waren. Unterhalb der Tür führten einige Kabel nach außen, über welche wahrscheinlich die Glühbirne und der Plattenspieler angetrieben wurden.
Ich schaute wieder zu Peterson hinüber. Die beiden Congs verhielten sich noch immer ruhig. Auf mich wirkten sie, als wären sie unter Drogen gesetzt worden. Aber warum dann nur sie und nicht ich? Ich entschied mich, Peterson zu wecken, es zumindest zu versuchen.
»Hey, Pete«, rief ich eher flüsternd. »Pete, wach auf, verdammt.«
Jetzt schauten die Schlitzaugen zu mir herüber. Ich konnte nicht allzu viel erkennen, war mir aber sicher, Argwohn aus ihren Blicken lesen zu können. Peterson jedoch reagierte überhaupt nicht. Ich versuchte es noch einmal, dieses Mal deutlich lauter.
»Peterson, verdammt noch mal. Wach auf!«
Nichts, keine Reaktion. Dafür tuschelten jetzt die Vietcong, die offensichtlich aus ihrem Tran erwacht waren, irgendetwas in dieser Sprache, die ich während meines netten Urlaubs in Vietnam so sehr hassen gelernt hatte. Ich war mir jetzt sicher, dass diese Schlitzaugen mir ziemlich giftige Blicke zuwarfen, ganz als hätte ich sie persönlich hier angebunden.
Ich rief noch einige Male nach Peterson, doch er wachte nicht auf. Sie mussten ihm ordentlich zugesetzt haben. Vielleicht hätte er mehr gewusst. Hatte er länger durchgehalten? Was war passiert? Offensichtlich hatten die Kommis uns überrannt. Doch wo genau waren wir hier? Die Chance, Peterson zu befragen, sollte ich nicht mehr bekommen. Tatsächlich sollte niemand je wieder Peterson nach irgendetwas fragen. Zumindest nicht in dieser Welt und ich hoffe noch heute inständig, dass er dort, wo er später hingebracht wurde, nicht mehr Herr seiner letzten paar Sinne war.
Es war sinnlos, weiter nach Peterson zu rufen, doch meine Chance, ihn wach zu bekommen, war nun so oder so verstrichen, denn plötzlich näherten sich Schritte der Tür. Ich vernahm ein Rasseln, hörte einen Schlüssel, der in seinem Schloss herumgedreht wurde, und sofort öffnete sich die Tür mit einem lauten Knarren.
Zwei Gestalten betraten den Raum. Sie kamen in Zivil. Vietcong. Oder auch nicht? In jedem Fall waren es Vietnamesen, denn sie waren klein, schmal und dunkelhaarig, wie die meisten Vietnamesen, die mir bis dato über den Weg oder vor die Flinte gelaufen waren. Doch mit diesen Beiden hier schien etwas ganz und gar nicht zu stimmen. Sie gingen nicht, sie schlurften, als hätte ihnen jemand ins Bein geschossen. Und ihre Haltung war gebeugt, geradezu buckelig. Nein, dies waren keine Vietcong. So, wie sie gekleidet waren, in weite, einfach geschnittene Stoffe, erinnerten sie mich eher an die Dorfbewohner, die in Bac Tay davongelaufen waren, als die Schießerei begonnen hatte. Wie viel Zeit seitdem wohl vergangen sein mochte, fragte ich mich zusammenhanglos.
Die Beiden hielten vor dem Tisch, redeten miteinander, sahen sich um. Sie sprachen ganz sicher vietnamesisch, doch klangen sie, als hätten sie einen Sprachfehler. Ihre Aussprache klang irgendwie, als hätten sie Seifenwasser im Mund. Auch wenn ich sie nicht verstehen konnte, schienen sie stumpf und sehr abgehackt zu reden.
Einer von ihnen deutete mit der Hand auf Peterson. Der kleinere der beiden Männer ging zu ihm hinüber. Er hob Petersons Kopf an, doch der reagierte noch immer nicht. Dann schlug er ihm ins Gesicht. Immer wieder, bis er nach dem fünften oder sechsten Mal tatsächlich erste Regungen zeigte. Langsam öffnete er die Augen.
Wie gesagt, ich konnte von meiner Seite des Raumes aus nicht alles erkennen, doch schien mir Petersons Gesichtsausdruck noch immer der alte zu sein: sicher, irgendwie gefestigt, egal, was kommen würde. Auch ihm sah ich die Verwirrung an, doch direkt dahinter war der gleiche junge Peterson zu erkennen, der irgendwann zu Frank Adler gesagt hatte, dass er sein Maul halten solle und nicht zurückgewichen war, als dieser ihm Prügel angedroht hatte. Peterson der Zwerg, den auch ein Schuss ins Knie nicht erschüttert hatte.
»Was? Was ist das hier für 'ne Scheiße?« waren seine ersten Worte. Fast hätte ich gegrinst. Er fragte nicht, wo er war, sondern was die ganze Scheiße sollte. Das passte wie die Faust auf's Auge.
»Was wollt ihr Typen?« Dann richtete er seinen Blick auf die beiden Fremden, die im Raum standen, und augenblicklich wich all die Sicherheit aus seinem Gesicht. Peterson musste etwas gesehen haben, was ich in der Dunkelheit nicht erkennen konnte. Etwas hatte ihn mehr als erschreckt. Dies war nicht mehr Peterson. Dies war ein kleiner Junge, dem sein Vater gerade die größte Tracht Prügel seines kurzen Lebens angedroht hatte. Ein Junge, der in die Augen einer Schlange direkt vor sich blickte und der wusste, dass sie aggressiv und giftig war. Peterson begann zu schreien. Er rüttelte an seinen Fesseln. Ohne Wirkung.
Der Mann, der Pete aus dem Land der Träume geholt hatte, taumelte einige Schritte zurück, so als hätte er nicht mit dieser Reaktion gerechnet und sich ziemlich erschreckt. Dann drehte er sich herum und taumelte weiter zum Tisch. Mir wurde klar, dass dieser Typ sich nicht vor Peterson erschreckt hatte, sondern dass dies einfach seine Art zu gehen war. Wieder redeten die Beiden miteinander. Abwechselnd sahen sie zu Peterson hinüber, der nun zwar nicht mehr schrie, dem jedoch noch immer die Angst ins Gesicht geschrieben stand. Er blickte wie wild im Zimmer herum, und dann endlich entdeckte er mich.
»Morello? Bist du das? Morello? Scheiße, was ist das alles hier? Was sind das für Dinger?« fragte er mich und kniff die Augen zusammen.
»Ich bin's«, sagte ich und stockte. Was für Dinger? Nun habe ich Ihnen bereits verraten, dass ich keine Chance bekommen sollte, Peterson zu befragen. Ich bekam deshalb keine Gelegenheit, weil die zwei Kerle sich inzwischen an den Gegenständen auf dem Tisch bedient hatten. Sie griffen ein Messer und eine Zange. Die Fremden hatten sich wieder herumgedreht und gingen auf Peterson zu. Bevor ich auch nur einen weiteren Satz sprechen konnte, begann er erneut zu schreien.
»Hey! Hey ihr Scheißkerle. Lasst ihn in Ruhe. Hey, ihr dämlichen Schlitzaugen«, brüllte ich sie an. Ich rüttelte an meinen Fesseln, und ich hatte das Gefühl, dass das Seil, mit dem meine Hände zusammengebunden waren, weniger fest saß, als es wahrscheinlich vorgesehen war, doch reichte das bei weitem nicht aus, um mich zu befreien. Ich schrie die Typen weiter an, fluchte, versuchte sie abzulenken, doch sie reagierten überhaupt nicht auf mich. Die beiden Vietcong neben Peterson waren still. Sie hatten ihre Blicke gesenkt, und ich glaubte, sehen zu können, dass sie zitterten.
Dann begann der Schrecken, der mich von da an verfolgen sollte, der ein Teil der grässlichen Träume werden sollte, die mich noch Jahre später schreiend aus dem Schlaf hochschrecken ließen und meine Frau fast in den Wahnsinn trieben. Ich konnte sehen, wie einer der Männer Petersons Kopf festhielt. Der andere setzte das Messer, das er vom Tisch genommen hatte, über Petersons rechtem Ohr an und begann zu schneiden. Ganz langsam, so als müsste er vorsichtig sein, schnitt er dem armen Kerl das Ohr ab, als würde er nichts weiter als Scheiben von einem dicken Stück Wurst abtrennen.
Petersons Schreie füllten den Raum aus, und ich weiß noch, dass ich mir wünschte, dass er ohnmächtig werden würde, damit er diese Schmerzen nicht ertragen müsste. Doch er wurde nicht ohnmächtig. Ich erinnere mich nicht mehr, ob ich selbst schrie oder ob ich die Kerle weiter anbrüllte. Doch ich erinnere mich sehr gut daran, dass die gefesselten Vietcong nun ihre Köpfe hoben, so als wäre ihnen ein Licht aufgegangen, jetzt wo sie wussten, dass ihnen vielleicht ähnliches blühte. Sie schrien ebenfalls, und ich erinnere mich dennoch so gut daran, weil sie immer wieder die gleichen Worte riefen: »Nguoi Gat, Nguoi Gat!«
Später erzählte mir ein Arzt, ich hätte im Schlaf immer wieder diese Worte gesprochen. »Nguoi Gat heißt so viel wie Ernter«, sagte er zu mir und fragte mich, ob ich wüsste, was das bedeutete. Doch ich sagte ihm, dass ich das vermutlich irgendwo während einer Patrouille bei den Einheimischen aufgeschnappt hätte.
In diesem Augenblick jedoch wusste ich weder, was Nguoi Gat hieß noch was es bedeutete. Doch mir war klar, dass die Congs hier irgendetwas wussten oder ahnten, was wir nicht wussten.
Der Kerl mit dem Messer hielt Petersons Ohr inzwischen in seiner Hand. Konnte ich all das schon nicht glauben, so glaubte ich noch weniger, was ich nun sah: Er hob die Hand zu seinem Mund und steckte das Ohr hinein. Er kaute es. Verdammt, der Kerl aß es. Dann schnitten sie ihm auch das andere Ohr ab und verspeisten es. Peterson hatte seine Augen nach oben verdreht und zitterte am ganzen Leib, bekam aber offenbar noch immer alles mit. Noch immer brachen diese markerschütternden Schreie aus ihm hervor.
Und als ich dachte, die Tortur wäre endlich vorüber, begann der Kerl, der Peterson eben die Ohren abgetrennt hatte, ihm das Messer langsam von unten ins Auge zu schieben. Ich hätte meinen Blick vielleicht abwenden sollen, hätte nicht mehr hinsehen sollen, doch irgendwie fühlte ich mich ihm gegenüber verpflichtet. Scheiße, es war meine Anweisung gewesen, die uns in das verdammte Dorf geführt hatte. Hätte ich eine andere Entscheidung getroffen, hätten die Vietcong uns an diesem Tag vielleicht niemals überrumpelt. Doch das hatte ich nicht, und so zwang ich mich selbst, dabei zuzusehen, wie diese Dreckschweine Peterson die Augen herausschälten. Sie stachen sie ihm nicht aus, sie schälten sie heraus. Ich habe später nur ein einziges Mal versucht, einen Apfel zu schälen. Doch in meiner Hand verwandelte sich der Apfel sofort in ein übergroßes Auge, das mich vorwurfsvoll anstarrte. Ich nahm niemals wieder ein Messer zur Hand. Auch heute noch müssen meine Kinder oder meine Enkelkinder das Obst für mich schälen und klein schneiden. Sie halten das natürlich für die Marotten eines alten Mannes, und ich will ihnen diesen Glauben gern lassen.
Doch ich weiß es nun mal besser. Sie schälten Peterson die Augen heraus, als würden sie wie ich später diesen Apfel schälen. Und zur Hölle, sie aßen auch die Augen. Die Congs, die direkt daneben saßen, riefen immer wieder: »Nguoi Gat, Nguoi Gat!« als hätte ihre Platte einen Sprung. Apropos: The Kinks hatten immer noch ihren Auftritt, spielten jetzt aber tatsächlich ›All Day and All of the Night‹ - dissonant untermalt von den Schreien eines gefolterten Marines.
Dann schob der Mann, der Peterson soeben einem guten Teil seiner Sinne beraubt hatte, das Messer in den Bund seiner Hose. Der andere Kerl, der den blutigen und noch immer kreischenden Klumpen hielt, der noch eben Petersons Kopf mit seinem furchtlosen Gesichtsausdruck gewesen war, reichte seinem Helfer dafür die Zange. Und nun brauchte er nicht sonderlich viel Kraft, um Petersons Kiefer auseinanderzuhalten, denn das tat dieser schon fast von allein. Und es schien auch nicht mehr, als würde er überhaupt noch versuchen, sich zur Wehr zu setzen.
Was dann kam, können Sie sich wahrscheinlich längst denken. Doch so widerwärtig es auch klingen mag, es ist wahr. Und ich muss es erzählen. Das miese Schwein riss Petersons Zunge heraus. Es sah aus, als würde er Unkraut aus viel zu hartem Erdboden rupfen. Doch statt eines garstigen Strauches hielt er einen blutigen Fleischfetzen in der Zange. Und ja, sie aßen auch seine Zunge. Hatten sie sich Petersons Ohren und Augen noch geteilt, so rissen sie nun wie hungrige Wölfe an seiner Zunge. Petersons Schreie waren inzwischen doch verstummt. Er hätte auch ohne Zunge weiterschreien können, doch endlich hatte sein Körper sich erbarmt und ihn wieder in die geistige Umnachtung versetzt.
Die beiden Gestalten banden ihn los und zogen ihn aus dem Zimmer. Ich sah noch immer hin. Nun hätte ich wohl gar nicht mehr wegschauen können, selbst wenn ich gewollt hätte. Sie zogen ihn an den Beinen aus dem Raum, als hätten sie auf der Jagd ein großes Tier erlegt. Aus Petersons Kopf floss das Blut wie aus einem geöffneten Wasserhahn. Als sie endlich draußen waren, schlossen sie die Tür wieder ab. Dann entfernten sich ihre Schritte und das Schleifgeräusch, das Petersons bewusstloser Körper erzeugte, allmählich, bis wieder Stille eingekehrt war. Die beiden Vietcong waren wieder ruhig geworden. Sie hatten ihre Blicke auf den Boden geheftet und zitterten deutlich sichtbar.
Eine ganze Weile geschah nichts, und mir wäre alles, was ich soeben gesehen hatte, vielleicht wie ein wirrer Albtraum vorgekommen, wäre nicht frisches Blut überall auf dem Boden verteilt gewesen. Und dann erkannte ich es: Abgesehen von Petersons Blut war auch noch jede Menge angetrocknetes Blut zu erkennen. Das hier passierte nicht zum ersten Mal.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging, bis ich wieder dieses Schreien vernahm, das ganz klar von Peterson kam. Es war ein kurzer, schriller Schrei, der abrupt endete und von einem lauten Knirschen abgelöst wurde. Dann herrschte erneut Stille. Wenige Sekunden später strömte ein süßlich fauler Geruch in den Raum, der an eine Mischung aus vergammeltem Essen und gegorenem Obst erinnerte.
Der Plattenspieler gab jetzt ›Long Tall Sally‹ von sich. Immer noch The Kinks, aber ein beschissener Song. Ebenso beschissen wie die Tatsache, dass die Tür sich erneut öffnete, als der Song gerade auf der Zielgeraden war.
Die beiden Typen waren blutverschmiert. Rotschwarze Sprenkel bedeckten ihre Kleidung von oben bis unten. Taumelnd hielt einer der beiden nun auf mich zu. Und jetzt erkannte ich auch, weshalb Peterson geschrien hatte. Dies waren keine Menschen. Sie waren vielleicht einst welche gewesen, doch nun waren sie etwas anderes. Sie hatten sich die Haut, die irgendwann ihr Gesicht geformt haben mochte, einfach über ihren unförmigen Kopf gestülpt. Keine Gesichtspartie saß so recht dort, wo man sie erwarten würde. Die Haut über der Nase hing labbrig herab und statt Zähnen enthielt ihr Mund nur faulige Stümpfe. Selbst die Augen schienen zu faulen. Wie zum Teufel hatte ich das vorher nicht erkennen können? Nun schrie auch ich.
An dieser Stelle möchte ich Sie bitten, sich keine Gedanken darüber zu machen, weshalb diese Dinger sich nicht mich als nächsten vornahmen, sondern einen der beiden Vietcong gegenüber. Ich weiß es selbst nicht und habe viel zu oft darüber nachgedacht. Wenn es Ihnen als Antwort genügt, dann sehen Sie es bitte einfach so, dass ich Ihnen diese Geschichte sonst nicht erzählen könnte. Sehen Sie es nur nicht als göttliche Fügung, denn wie ich bereits sagte, es gibt keinen Gott. Ich bin jemand, der das sicher weiß.
Dieser Ort, an dem ich mich befand, war keine Vietcong-Basis. Zumindest nicht mehr. Dieser Ort war ein verfluchtes Schlachthaus. Die Monster, die sich als Menschen verkleidet hatten, gingen bei der armen Seele des Cong, der neben Peterson gesessen hatte, genauso vor wie zuvor bei meinem Kameraden. Sie führten diese abartigen Amputationen durch, als würden sie ein Handwerk betreiben, dass sie seit Jahren beherrschten. Und ich will verdammt sein, wenn das nicht auch genau der Fall war.
Der übrig gebliebene Vietcong brüllte noch immer Sätze, in denen wieder und wieder ›Nguoi Gat‹ vorkam, als sein Mitstreiter längst fortgeschleift worden war. Und wieder hörte ich letzte Schreie, wieder das Knirschgeräusch. Und wieder kroch dieser Übelkeit erregende Gestank in meine Nase.
Ich habe bereits erwähnt, dass meine Fesseln weniger fest waren, als sie hätten sein sollen. Sie waren noch immer zu fest gewesen, als die Albtraumgestalten begonnen hatten, Peterson bei lebendigem Leib zu zerlegen. Doch bereits, als sie wiedergekommen waren, um einen der beiden Vietcong als nächstes Schlachtopfer zu erwählen, hätte ich mich schon fast herauswinden können. Ja, es war Angst, die meine Schweißdrüsen auf Hochtouren arbeiten ließ. Und schließlich wirkte der Schweiß wie Schmiere. Es war klar, dass gleich der nächste, und vermutlich sogar ich, dran sein würde. Und so begann ich um so schneller, mich durch die Stricke zu arbeiten. Ich rieb meine Hände aneinander wie verrückt, zog und rüttelte, bis ich das Gefühl hatte, mit ein wenig Anstrengung meine linke Hand freibekommen zu können. Und ich will Ihnen keine lange Abhandlung über meine Entfesselungskünste präsentieren, also sage ich Ihnen einfach, dass ich mit meinem Gefühl richtig lag. Ich schaffte es, meine linke Hand aus der Schlinge zu ziehen und dann natürlich auch die rechte. Als dies geschafft war, warf ich mich nach vorn, schließlich waren meine Füße noch immer gefesselt.
Zwar hatten die Schreckgespenster ihre Mordwerkzeuge mitgenommen, doch lagen auf dem Tisch weitere Messer. So robbte ich hinüber, so gut das mit einem Stuhl auf mir eben möglich war, zog mich am Tisch hoch und griff eines der Messer. An der Klinge klebte getrocknetes Blut von irgendeiner armen Sau, die vor uns hier gewesen sein musste. Für einen Moment fragte ich mich, wie lange das hier schon so ging. Trotz des angetrockneten Blutes war diese Klinge scharf genug, um die Fesseln an meinen Füßen zügig zu durchtrennen.
Gerade als ich mich an der Tür zu schaffen machen wollte, fiel mir ein, dass die Dinger sie abgeschlossen hatten. Außerdem kam mir in den Sinn, dass ich hier nicht allein war. Ich sah den Vietcong an, der noch immer an seinen Stuhl gefesselt an der Wand saß. Er hatte gesehen, dass ich mich befreit hatte, war aber dennoch ruhig geblieben. Ich gebe zu, dass ich für einen Moment überlegt hatte, ob ich ihn einfach seinem Schicksal überlassen sollte, schließlich waren wir so etwas wie Fressfeinde. Doch hatten wir hier offenbar einen gemeinsamen Fressfeind. Und eigentlich sollte niemand auf diese Art und Weise sterben. Wenn man so lange beim Militär gewesen ist wie ich und echte Kriege miterlebt hat, dann hinterfragt man nicht mehr, weshalb man sich gegenseitig mit Schusswaffen die Gedärme aus dem Körper ballert. Doch das, was hier geschah, das hinterfragte ich eben doch.
Ich ging zu dem Cong hinüber, um ihn los zu schneiden, und soll ich Ihnen was sagen? Der Kerl dachte, ich würde ihn massakrieren. Ich erntete stechende Blicke, so als wären wir uns zufällig im Busch begegnet, statt hier unten in dieser Blutmühle.
»Nur ruhig, Junge«, sagte ich. »Ich mach dich nur los. Klar?« Ich hoffte, dass er wenigstens etwas von dem verstand, was ich ihm sagte. Ich hob die Hand als Zeichen des Friedens. Doch spätestens, als ich begann, seine Fesseln zu durchtrennen, hatte auch er verstanden, dass ich ihm nicht den Garaus machen würde.
Ich schaffte es, ihn zu befreien, doch leider zu spät. Denn ich hörte ziemlich deutlich die Schritte der schlurfenden Gestalten. Sie näherten sich langsam, um den nächsten von zu uns zu zerhacken, und wir würden keine Zeit mehr haben, von hier zu verschwinden. Das verstand auch mein neuer Freund ganz offensichtlich. Er sagte nichts, nickte mir jedoch zu. Dann rannte er zu dem Tisch hinüber und griff ein schartiges Fleischerbeil aus dem Haufen an Schlachtutensilien. Ich wollte gar nicht wissen, wozu das verwendet worden war.
Derweil schlich ich mich neben die Tür und gab meinem Mitgefangenen ein Zeichen, sich auf die andere Seite zu stellen und zu warten. Und so warteten wir, während die Schritte näher kamen. Wieder ein Rasseln, dann das Geräusch des sich öffnenden Schlosses. Langsam ging die Tür auf.
Die beiden Dinger torkelten herein und erkannten erst nach einigen Schritten, dass wir ihnen ganz offensichtlich durch die Lappen gegangen waren. Dass sie nicht sehr helle waren, hatte ich bereits zuvor an ihrem Verhalten bemerkt, und auch nun dauerte es etwas, bis sie auf die Idee kamen, sich herumzudrehen. Und da war es für sie auch schon zu spät.
Ich stieß dem Ding, welches das Messer und die Zange bei sich trug, die Klinge bis zum Schaft in die Kehle. Schrille, unmenschliche Schreie drangen aus seinem Maul, während ich glaubte, in seinem emotionslosen, verschobenen Gesicht die Überraschung erkennen zu können. Ein Gestank von verwesendem Fleisch umwehte mich. Falls dies hier mal Menschen gewesen waren, so mussten sie lebendig verfaulen. Wieder und wieder stieß ich zu, bis das Ding in die Knie ging und reglos wie eine Puppe zu Boden stürzte. Erst jetzt sah ich zur Seite und erkannte, dass mein Vietcong-Freund dem anderen Ding sauber den Schädel gespalten hatte. Doch statt seines Gehirns floss eine gelbe, eitrige Masse durch den Spalt und verteilte sich langsam über den Boden.
Ich nickte dem Mann neben mir zu und machte ein Zeichen, dass alles okay wäre. Er sah mich an und grinste. Auch er machte das Zeichen. Wir wussten Beide, was zu tun war. Es war keine Zeit zu verlieren. Mindestens eines der Monster hatte geschrien und so eventuell ein paar Brüder oder Cousins angelockt. Für uns hieß es also, raus hier, so schnell es nur ging. Hinter uns tönte ›You Still Want Me‹ aus dem Lautsprecher.
Wir rannten durch die niedrige Tür, erst der Cong, dessen Namen ich nicht kannte und nie erfahren sollte und dann ich. Der Gang hinter der Tür war ebenso niedrig, und wenigstens ich musste gebückt gehen. Für meinen neuen Freund waren diese Gänge natürlich wie gemacht (genau genommen waren sie für Leute wie ihn gemacht, doch daran wollte ich nicht denken), und so musste er nur leicht den Kopf einziehen. Er wusste natürlich, wie diese Tunnelsysteme funktionierten, so kam es mir wenigstens vor, denn er wirkte wie eine Ratte in einem Labyrinth, die auf der Flucht vor einem steigenden Wasserspiegel war. Mein Freund, die Tunnelratte. Er blickte nicht zurück, schaute nicht nach, ob ich ihn vielleicht hinterrücks erstechen würde. Er vertraute mir.
Doch sonderlich lange sollte unsere kleine Freundschaft leider nicht halten. Plötzlich hielt dieser Mann an, so dass ich fast in ihn hineingelaufen wäre. Der Gang vor uns war etwas höher und deutlich breiter. Außerdem war er heller beleuchtet. Statt der vereinzelten Glühbirnen, an denen wir auf unserer Flucht vorbeigekommen waren, waren nun zwei grell leuchtende Lampen an der Wand angebracht. Und genau dazwischen war eine Tür eingelassen.
Doch dies war keine der Türen, die nach Holzverschlag aussahen. Ich würde nicht einmal meinen, dass diese Tür aus Holz war. Aus Metall war sie allerdings auch nicht, wenn ich das so sagen kann. Nein, viel mehr wirkte diese Tür auf mich, als wäre sie eine Art Fälschung. Ich weiß nicht, wie ich es sonst beschreiben soll. Dies war keine richtige Tür. Sie stimmte nicht, war nicht mit dem vereinbar, was unsere Augen als gewöhnlich und was unser Verstand als möglich erachten würde. Stellen Sie sich vor, sie hätten ein Viereck vor sich, dessen Winkel zusammen mehr als dreihundertundsechzig Grad ergeben. Sie würden früher oder später verrückt werden. Und so würde auch diese Tür jeden in den Wahnsinn treiben, der sie zu lange ansah. Doch, das war nicht alles. Sie schien irgendwie zu pulsieren, ohne, dass man es eigentlich sehen konnte. Diese Tür rief uns. Sie wollte, dass wir unsere Hand auf den Knauf legten, ihn drehten und den Raum (oder die Welt?) betraten, der dahinter lag.
»Weiter«, flüsterte ich. »Geh weiter. Los.«
Mein vietnamesischer Freund schien sich nicht mehr bewegen zu wollen. Ich drängte mich an ihm vorbei, wollte vorauslaufen. Und ich versuchte, nicht auf die Tür zu sehen. Diese Tür war schlimmer als eine Line Koks. Ich wollte weg, hatte das Gefühl, ich würde kotzen müssen, wenn ich weiter hier blieb. Als ich einige Meter weit gelaufen war (vorbei an der Tür), drehte ich mich kurz um (nicht die Tür ansehen) und sah, wie mein neuer Freund mir wieder folgte. Jedenfalls dachte ich das. Als ich mich kurze Zeit später erneut herumdrehte, sah ich, dass er seine Hand auf den Türknauf gelegt hatte.
Scheiße, er würde die Tür öffnen. Ich rannte zurück, wollte ihn wegziehen. Doch zu spät. Als diese Tür gerade einen einen Spalt weit offen war, flog sie plötzlich von selbst auf. Ich stand hinter meinem Freund, der wie hypnotisiert in die Finsternis hinter der Tür starrte. Ich stand hinter ihm, blickte ihm über die Schulter und konnte nun nicht anders, als ebenfalls in diese böse Dunkelheit hineinzuschauen. Der Gestank, der uns entgegen strömte, war derselbe, den wir in unserem Gefängnis gerochen hatten, nur weitaus schlimmer. Ich senkte den Kopf und übergab mich. Wahrscheinlich kotzte ich meinem vietnamesischen Freund ans Bein. Doch der bekam es nicht mit.
Er war wie hypnotisiert, nein, irgendwas hatte ihn tatsächlich hypnotisiert. Es rief ihn, lockte ihn. Ich konnte die Rufe nicht hören, doch er konnte es. Dafür hörte ich nun wieder schlurfende Schritte, die sich aus der Dunkelheit auf uns zu bewegten. Das mussten tatsächlich weitere dieser Dinger sein, die Peterson abgeschlachtet hatten. Ich wollte weg, wollte diesen Mann, mit dem ich ausgebrochen war, von hier wegzerren. Doch er stand da wie angewurzelt. Etwas zog ihn zu sich. Und so ging er in die Dunkelheit dieses Raums hinein. Meine Hände rutschten von seinen Schultern. Er ging wie auf Schienen. Ich würde dort nicht hineingehen. Für niemanden.
Und kurz bevor ich meinen Kopf wieder freibekam und endlich fortrannte, sah ich, wie sich ein gigantisches, massiges Ding vorbeugte, dessen Körper sich rhythmisch aufblähte und wieder zusammenzog. Ich weiß nicht mehr, was ich wirklich sah und was meine Albträume und Ängste später hinzugedichtet haben, doch bin ich mir heute fast sicher, eine Art Schnabel in diesem, diesem Ding gesehen zu haben. Einen Schnabel, der sich öffnete und schloss, der tausende Zähne wie große, lange Nadeln zeigte. Dicke, lange Arme, die den Tentakeln eines Riesenkraken aus alten Geschichten von Seeungeheuern ähnelten, schossen vor. Doch das sah ich nur noch im Augenwinkel, als ich mich wegdrehte und rannte, was das Zeug hielt. Hinter mir hörte ich, wie die Tür wieder ins Schloss fiel. Und wie gesagt, ich weiß nicht, ob ich das alles tatsächlich gesehen habe. Doch eines weiß ich: Dieses Ding in der Finsternis war nicht von dieser Welt, ebenso wenig wie die Tür, hinter der es auf uns gelauert hatte.
Ich war mir sicher, dass ich an der Stelle meines armen Freundes der Hypnose verfallen wäre, wenn ich vorausgelaufen wäre. So jedoch hatte es ihn erwischt. Ich hörte ihn nicht schreien, hörte keine reißenden Geräusche, kein Knirschen. Und ich möchte auch gar nicht wissen, was dieses Ungeheuer mit ihm machte. Dennoch tut er mir natürlich leid.
Doch damals dachte ich nicht mehr an ihn. Es war, als wäre er nie da gewesen. Ich wollte weg, wollte raus. Meine Überlebensinstinkte hatten das Ruder übernommen und meinen Verstand für's Erste auf Urlaub geschickt (auf einen Urlaub, aus dem er alles andere als erholt wiederkehren würde). Diese Instinkte lotsten mich durch die klaustrophobisch engen Gänge, die nur alle paar Meter spärlich von Glühbirnen beleuchtet wurden. Und wie durch ein Wunder verlief ich mich nicht in diesem elenden Tunnelsystem, dass die Vietcong gegraben haben mussten. Gegraben, um uns zu überlisten. Doch wurden sie dabei selbst überlistet. Sie hatten ganz offensichtlich etwas freigelegt, das sie lieber in Ruhe gelassen hätten. Vielleicht hatte es sie auch gerufen, vielleicht wollte es entdeckt werden. Ich weiß es nicht.
Was ich weiß, ist, dass ich unwahrscheinliches Glück hatte, mich nicht zu verlaufen. Diese Tunnelsysteme waren unendlich lang und verzweigten dutzende Male. Man konnte sich durchaus fragen, wie die Congs hier unten zurecht kamen. Mein Glück war, dass ich nur an zwei Abzweigungen vorbeilief, bis ich plötzlich vor einer Bambusleiter stand, die nach oben führte.
Ich kletterte, so schnell ich konnte, schob die Falltür, die als Ein- und Ausgang diente, zur Seite und erreichte das Tageslicht. Meine Augen brannten, als ich draußen war und es dauerte einige Zeit, bis sie sich an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, doch ich genoss diesen Augenblick. Er fühlte sich an wie eine Neugeburt. Für einen kurzen Moment wenigstens. Dann erkannte ich, wo ich war. Ich stand exakt dort, wo vor einer gefühlten Ewigkeit die Vietcong gelauert und schließlich auf uns geschossen hatten: am Rand des kleinen Wäldchens, das westlich an Bac Tay grenzte. Welche Ironie!
Der Tag war bereits dabei, sich für seine nächtliche Erholungspause bereit zu machen, für mich in diesem Moment ein schrecklicher Gedanke. Ich wollte keinesfalls mehr hier sein, wenn die Nacht hereinbrach. Nicht, wenn dieses Ding irgendwo unter mir lauerte. So rannte ich aus dem Wald, zurück ins Dorf. Ich wollte Hilfe rufen, doch blieben mir die Worte im Hals stecken.
Denn so stand ich nun dort, wo der Schlamassel begonnen hatte, am Südtor, dem Eingang ins Dorf. Die Bewohner waren von den Straßen verschwunden, doch ich erkannte durch die Fenster der Hütten, dass mich von innen heraus viele Augen argwöhnisch anschauten. Geradezu verärgert. Diese Menschen hier wussten Bescheid. Und nicht nur das: Sie waren Gehilfen, wie ich plötzlich feststellte. Denn hier lagen überhaupt keine Leichen. Alles war verschwunden. Selbst die gröbsten Spuren von Blut mussten schnell entfernt worden sein. Wenn man genau hingesehen hätte, hätte man wahrscheinlich Einschusslöcher in der Fassade der Bar entdeckt oder Reste von angetrocknetem Blut auf dem Gras und den Wegen. Doch danach schaute ich nicht. Mir gefror das Blut in den Adern. Ich rannte zum Südtor hinaus, verließ Bac Tay. Wie ein Besessener musste ich der Straße gefolgt sein, die tatsächlich nach My Lai führte. Wie lange ich lief? Keine Ahnung. Irgendwann brach ich einfach zusammen, wie ich im Nachhinein erfuhr. Einige Händler, die auf dem Weg nach My Lai waren, fanden mich auf der Straße und machten Meldung an die Army. Ich hatte großes Glück, dass sie mich nicht einfach umbrachten oder liegen ließen. Wir waren ja nun nicht gerade beliebt. Dass der Dank dafür einige Jahre später ein großes Massaker in My Lai sein würde, hat eine gewisse Ironie inne. Eine Ironie, die stellvertretend für diesen ganzen sinnlosen Krieg war.
Erst drei Tage später kam ich wieder richtig zu mir. Um mich herum war alles weiß. Ein schöner Kontrast zu meinem letzten Erwachen, das mir nun nur noch wie der düsterste Traum vorkam, den es je gegeben hatte. Doch dies war kein Traum. Mein Platoon war verschollen, wie man mir mitteilte. Ich wurde befragt, gab jedoch vor, mich nach dem Feuergefecht mit den Congs bei Bac Tay an nichts mehr erinnern zu können. Wie gesagt, ich musste oft »Nguoi Gat, Nguoi Gat!« gebrüllt haben, so wie mein vietnamesischer Freund dort unten in dieser Hölle es getan hatte, denn ich wurde oft danach befragt. Doch ich erzählte nichts. Niemandem. Niemals.
Ach, eines muss ich Ihnen noch berichten. Mir war es gar nicht aufgefallen, doch es hatte tatsächlich im Laufe des Tages dieses 17. August aufgehört zu regnen. Ich wurde später ausgeflogen, da ich meiner Psyche wegen nicht mehr als einsatzbereit galt, doch erfuhr ich im Nachhinein, dass an diesem Tag die Regenzeit tatsächlich geendet hatte.Nur hinterlassene Worte
Dies also war sie, meine Geschichte. Das unsägliche Erlebnis, das mir seit jeher wie eine Zentnerlast auf dem Herzen lag, ohne, dass ich die Bilder jemals wieder zusammenhängend vor mir gesehen hätte, bevor ich mich dazu entschied, all das hier niederzuschreiben. Zu sehr hatte ich die Geschehnisse der Hölle vom 17. August aus meinem Bewusstsein verdrängt, sie in den Keller meiner Erinnerung geworfen, die Tür vernagelt und einen schweren, alten Schrank, bestückt mit hübschen Gedanken und Sorgen zugleich, vor den Eingang geschoben. Und doch hatte ich bereits da gewusst, dass dieses Versteck nicht genügen würde. Einzelne Erinnerungsfetzen machten sich immer wieder bemerkbar. Gerade nachts polterten die Albträume durch den Keller meines Bewusstseins, schlugen mit aller Kraft an die versperrte Tür und zermürbten langsam meinen Verstand, so wie Poes ›Verräterisches Herz‹ den namenlosen Erzähler in den Wahnsinn trieb.
Ich sagte bereits, dass ich diese Geschichte meinem Nachlass beifügen würde. Genau das werde ich auch tun. Denn der einzige Mensch, dem ich diese Erzählung bereits jetzt schuldig wäre, ist seit über fünf Jahren tot. Meine geliebte Frau hatte sich während unserer Ehe so ungeheuer viele Sorgen gemacht, so oft um mich geweint und gebettelt, dass ich sie doch endlich in mich hinein blicken lassen sollte. Doch ich konnte es nicht und, verdammt, sie hatte immer Verständnis für mein Schweigen. Junge Leute meinen heutzutage, Vertrauen wäre der wichtigste Aspekt einer Partnerschaft. Doch das ist Bullshit. Sie sagen das nur, weil sie in eine Lebenskultur hineingewachsen sind, in der Fremdvögeln zum guten Ton zählt. Nein, ich weiß es besser: Verständnis ist der Kitt einer jeden Beziehung, einer jeden Ehe. Wer das nicht begreift, wird scheitern. Und meine Frau, die so unendlich viel Verständnis für mich übrig hatte, hätte es verdient, dass ich ihr endlich, nun, wo es mit mir zu Ende geht, die ganze Geschichte erzähle. Leider geht das nicht mehr, und so kann ich nichts tun, als meine Erlebnisse an jene Menschen weiterzugeben, die nach mir kommen. Ich sagte bereits, dass ich nicht unbedingt möchte, dass meine Kinder oder deren Kinder von alldem erfahren. Daher werde ich versuchen, meine Geschichte dem Rest der Welt zu hinterlassen. Wie ich das anstellen werde? Keine Ahnung.
Mir wird schon noch etwas einfallen, bevor ich dorthin gehe, wo die Seelen zur Ruhe kehren – wo das auch sein mag. Ich sagte schon, dass ich an keinen Gott glaube, dass es ihn nicht gibt. Es kann ihn nicht geben. Und wenn Sie auch nur ansatzweise erfassen können, was Sie soeben gelesen haben, dann werden Sie mich verstehen. Von mir aus, glauben Sie, woran Sie wollen, doch erwarten Sie nicht, dass ich mich zurückhalte, Ihrem Gott weiterhin den Mittelfinger zu zeigen. Denn ein Gott, der solch abscheuliche und unfassbare Wesen in eine Welt lässt, die er selbst erschaffen hat, kann nur ein mieses Arschloch sein. Andererseits erschaffen Arschlöcher nicht all die schönen Dinge, die um uns herum geschehen, während wir unser irdisches Dasein fristen. Folglich kann es keinen Gott geben. Na, können Sie mir das wiederlegen? Wohl kaum. Wie dem auch sei, bald werde ich mich selbst auf die Reise machen und sehen, was außerhalb tatsächlich auf uns wartet.
Der Doc meinte, ich hätte wahrscheinlich noch sechs Monate, bis der Krebs mir die Lichter ausbläst. Das sagte er vor einem Monat. An diesem Tag wurde mir klar, dass ich die eine letzte Geschichte erzählen musste. Dass ich sie erzählen würde. Ich habe diesen ganzen Monat gebraucht, mich durchzuringen, hab den großen Schrank von der Tür weggeschoben, das Verlies geöffnet und die Albträume zum ausgelassenen Toben nach oben gelassen. Ich habe zugelassen, dass sie mich umschwirren, dass sie mich durchdringen. Denn anders hätte es nicht funktioniert. Und nun? Fühle ich mich besser? In gewisser Weise bin ich erleichtert, ja. Um es bildlich zu beschreiben: Ich habe das Gefühl, als hätte ich gerade den größten Kürbis ausgeschissen, den die Welt je gesehen hat.
Doch andererseits ist da dieses ununterbrochene Pochen in mir, das zuvor nicht da war. Nein, nicht in mir. Es ist überall. Nicht zu orten, nicht greifbar. Es ist einfach da. Und es fühlt sich an, als würde es mich völlig durchfluten. Wie das rhythmische Schlagen eines finsteren Herzens scheint es mir, eben genau wie jene Tür damals, die nicht von dieser Welt war. Auch sie pochte. Sie pulsierte. Sie rief uns. Ich weiß, dass ich mir das Pulsieren jetzt nur einbilde, schließlich habe ich diese grausige Erinnerung in mein Bewusstsein zurückgelassen, das ohnehin schon genug damit zu tun hat, sich auf die letzte Reise vorzubereiten. Wer würde da nicht ein wenig durchdrehen, frage ich Sie? Ich kann nur hoffen, dass sich dieses Gefühl wieder legt, dass es unter der Normalität hier erstickt und für immer verstummt – auch wenn ich jetzt gerade eher den Eindruck habe, dass es stärker zu werden scheint. Doch es wird vergehen. Schließlich bin ich nicht mehr in Vietnam. Ich bin zu Hause, in meinem stillen Heim im netten Bakersfield, das mir zeitlebens nie etwas zu Leide getan hat. Hier gibt es keine Tunnels, keine Tore zu anderen Welten, in denen unvorstellbar grausige Wesen arglose Menschen zu sich holen.
Ich denke, ich werde jetzt zum Schluss kommen. Ich könnte meinen Gemütszustand wahrscheinlich noch bis zur Unendlichkeit ausdehnen, doch Sie werden verstehen, dass ich müde bin. Nicht vom Schreiben, nein. Die Geister der freigelassenen Erinnerungen haben mich müde gemacht. Ich denke, ich werde mich etwas hinlegen. Und ich werde hoffentlich den besten Schlaf meines Lebens haben. Wahrscheinlich atmen Sie ohnehin auf, denn die ganze Geschichte hier ist viel länger geworden, als ich sie eigentlich vorgesehen hatte. Bitte sehen Sie mir dies nach. Ich hab sie schließlich nicht für Sie aufgeschrieben, sondern für mich selbst. Falls Sie, egal wer Sie sein mögen, diese Zeilen später lesen und mir kein Wort glauben, so ist mir dies, gelinde gesagt, scheißegal. Dann betrachten Sie mein Geschwätz einfach als hübsche Gruselgeschichte. Tragen Sie sie beim Lagerfeuer mit Freunden vor. Vielleicht können Sie damit ein hübsches Mädchen beeindrucken und sie später im Zelt flachlegen. Dann hat sich’s doch gelohnt, am Ball zu bleiben, nicht wahr? Oder falls Sie es konservativer mögen, erzählen Sie sie Ihren Kindern, aber lassen Sie bitte die wirklich üblen Details weg. Ich halte nicht viel von expliziter Gewalt.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein langes und vor allem ruhiges Leben. Meines war lang genug, und auch wenn es niemals wirklich ruhig war, bin ich dankbar für all die schönen Momente. Leben Sie wohl.
Vincent Morello (ehemaliger First Lieutenant der US-Army)
Bakersfield, CA
12. Juli 2007
Auszug aus dem Polizeibericht vom 2. September 2007:
[...] ganz klar auf Selbstmord schließen. Die Ermittler konnten weder Einbruchspuren am Tatort finden, noch konnten an Vincent Morellos Leiche Spuren fremder Gewalteinwirkung festgestellt werden. Die Geschichte, die Mister Morello seinem Nachlass beigefügt hat, lässt auf ein über viele Jahre verschlepptes Trauma schließen, das während des Vietnamkonfliktes, in dem Mister Morello als First Lieutenant der US-Army gedient hatte, begonnen und sich über Jahrzehnte zu einer schweren Persönlichkeitsstörung entwickelt hatte. Im Rahmen dieser Persönlichkeitsstörung begann Vincent Morello offensichtlich, seine eigenen Scheinerinnerungen tatsächlich zu glauben. Nur so ist es zu erklären, dass er sich selbst vor seinem tödlichen Sturz in den Brunnenschacht auf dem rückseitigen Teil seines Grundstücks am Morgen des 17. August 2007 sowohl beide Ohren abtrennte als auch die Augen herausschnitt sowie schließlich ebenso einen großen Teil seiner Zunge abschnitt und diese Körperteile verspeiste. Mag dies auch ein äußerst ungewöhnlicher und qualvoller Fall von Suizid sein, so gilt zu beachten, dass Vincent Morello an einem Darmkrebsleiden im Endstadium litt, was seiner zutiefst gestörten Psyche zusätzlich zugesetzt haben dürfte. Damit gilt dieser Fall als [...]