Beschreibung
Eine Fortsetzungsgeschichte aus vier Kapiteln. Hier wäre dann Nummer drei.
ACHTUNG: Nichts für zartbesaitete Gemüter. Das nur als ernst gemeinte Warnung.
3. Kapitel: »Nguoi Gat, Nguoi Gat!«
Ich erinnere mich daran, dass mich eine ganze Reihe wirrer Träume plagte. Es war die Art Träume, die man hat, wenn man morgens erwacht und das Gefühl hat, während der Nacht einen Marathon gelaufen zu sein, weil ein Verrückter mit Machete und Peitsche hinter einem her war. Die Art Träume, die sich augenblicklich davon schleicht, wenn man zu sich kommt und sich nach erster Orientierungslosigkeit, wenig erholt, in der Geborgenheit spendenden Dunkelheit eines stummen und friedlichen Schlafzimmers wieder findet.
Ich jedoch erwachte dieses Mal nicht in meinem trauten Heim. Doch das hatte ich nicht einmal in der ersten Sekunde angenommen. Wenn man lange genug in Nam war, dann vergaß man dieses Gefühl der Geborgenheit. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass viele von denen, die mit mir dort unten waren, dieses Gefühl nie wieder entdeckten. Was ich allerdings - das gebe ich gern zu - im ersten Moment glaubte, war, dass ich auf der anderen Seite angekommen wäre. Und es war fast witzig, denn im Jenseits spielten sie The Kinks: ›You Really Got Me‹. Irgendwie ein passender Titel.
Ich brauchte einige Zeit, bis ich meine Augen wirklich öffnen konnte, um herauszufinden, dass jener Ort nicht das Jenseits war oder falls doch, dass das Jenseits kein Platz war, an dem man gern sein wollte. Es roch nach Erde in dieser Finsternis, doch als ich meinen Blick hob, war mir sofort klar, wo ich mich befand: Dieses Loch gehörte zu den scheiß Tunnelsystemen der Vietcong. Die Schlitzaugen hatten das ganze Land untergraben wie die Maulwürfe. Deswegen schafften sie es auch ständig, spurlos zu entkommen und irgendwo hinter unserem Rücken wieder aufzutauchen, um uns einen Dolch in die Eier zu rammen.
Meine Schulter sendete einen hässlichen Schmerz aus, der pulsierend bis hinab in die Zehen vordrang. Ich schaute an mir herab. Meine Kleidung war blutgetränkt, doch wenigstens hatte die Blutung gestoppt. Oder jemand hatte sie gestillt. Schlimmer als all das Blut jedoch war meine Situation. Ich saß auf einem hölzernen Stuhl. Meine Hände waren hinter dem Rücken gefesselt, meine Füße an den Stuhlbeinen festgebunden. Ich war gefangen genommen worden, schoss es mir durch den Kopf. Man hörte grausame Dinge darüber, was die Kommis mit ihren Gefangenen taten. Doch kannte ich bereits damals niemanden, der aus einer ähnlichen Situation zurückgekehrt wäre und fragte mich daher, wer all die Geschichten erzählt haben mochte.
Ich hob meinen Blick, um mir einen Überblick zu verschaffen, sofern das bei all dem spärlichen Licht überhaupt möglich war. In der Mitte des Raumes hing auch tatsächlich nur eine kleine Glühbirne, die wahrscheinlich von einem Generator betrieben wurde - so wie der Plattenspieler oder das Radio, das von irgendwo her noch immer ›You Really Got Me‹ spielte. Ich fragte mich, weshalb die beschissenen Congs britische Rockbands hörten? Sollte das eine Art Folter werden? Oder Spott, dass man es uns gezeigt hatte? The Kinks waren nun wirklich nicht das Schlechteste. Im Lager hatten wir die oft genug rauf und runter gespielt. Das ganze Programm: neben ›You Really Got Me‹ auch ›All Day and All of the Night‹ und ›Tired of Waiting for You‹. Diese Musik hatte eigentlich eher die gegenteilige Wirkung auf uns: Man kam morgens deutlich eleganter vom Scheißhaus und in seine Stiefel, wenn Sie verstehen.
Allmählich gewöhnte ich mich an die düstere Kulisse. Und endlich bemerkte ich, dass ich nicht allein hier unten war. An der gegenüberliegenden Wand standen weitere Stühle. Im ersten Augenblick war es schwer, zu erkennen, wen sie dort festhielten, doch dann sah ich Peterson. Er hatte seinen Kopf gesenkt und schien entweder zu schlafen oder bewusstlos zu sein. Auf zwei Stühlen neben ihm saßen weitere Männer. Ich strengte meine Augen an, erkannte jedoch keinen meiner Leute.
Doch ich erkannte die Uniformen. Dies waren überhaupt keine Marines. Es waren Vietcong, die dort ebenso auf Stühlen festgebunden waren wie wir. Im Gegensatz zu Peterson schienen sie wach zu sein, doch sie redeten nicht und bewegten sich sehr langsam, so als wären sie betäubt. Warum sollten die Vietcong ihre eigenen Leute fesseln? Ich dachte an Deserteure, schien mir dies doch die einzig plausible Antwort zu sein.
Abgesehen von uns war der Raum ziemlich leer. In der Mitte, direkt unter der Glühbirne stand ein einfacher Holztisch, auf dem einige Gegenstände lagen, die ich zuerst nicht erkennen konnte. Doch ich sollte noch früh genug erfahren, was dort vor uns ausgebreitet lag. An der Wand rechts von mir hatte man eine kleine Kommode aufgestellt. Auf dieser erkannte ich nun auch den Plattenspieler, der weiterhin in angenehmer Lautstärke vor sich hin dudelte. In der Wand links von mir befand sich ein Tunnel, dessen Zugang durch eine kleine, unsauber zusammengezimmerte Holztür abgesperrt war. Soweit ich in diesem Moment erkennen konnte, war dies der einzige Zugang zu dem dunklen Raum, in dem wir gefangen waren. Unterhalb der Tür führten einige Kabel nach außen, über welche wahrscheinlich die Glühbirne und der Plattenspieler angetrieben wurden.
Ich schaute wieder zu Peterson hinüber. Die beiden Congs verhielten sich noch immer ruhig. Auf mich wirkten sie, als wären sie unter Drogen gesetzt worden. Aber warum dann nur sie und nicht ich? Ich entschied mich, Peterson zu wecken, es zumindest zu versuchen.
»Hey, Pete«, rief ich eher flüsternd. »Pete, wach auf, verdammt.«
Jetzt schauten die Schlitzaugen zu mir herüber. Ich konnte nicht allzu viel erkennen, war mir aber sicher, Argwohn aus ihren Blicken lesen zu können. Peterson jedoch reagierte überhaupt nicht. Ich versuchte es noch einmal, dieses Mal deutlich lauter.
»Peterson, verdammt noch mal. Wach auf!«
Nichts, keine Reaktion. Dafür tuschelten jetzt die Vietcong, die offensichtlich aus ihrem Tran erwacht waren, irgendetwas in dieser Sprache, die ich während meines netten Urlaubs in Vietnam so sehr hassen gelernt hatte. Ich war mir jetzt sicher, dass diese Schlitzaugen mir ziemlich giftige Blicke zuwarfen, ganz als hätte ich sie persönlich hier angebunden.
Ich rief noch einige Male nach Peterson, doch er wachte nicht auf. Sie mussten ihm ordentlich zugesetzt haben. Vielleicht hätte er mehr gewusst. Hatte er länger durchgehalten? Was war passiert? Offensichtlich hatten die Kommis uns überrannt. Doch wo genau waren wir hier? Die Chance, Peterson zu befragen, sollte ich nicht mehr bekommen. Tatsächlich sollte niemand je wieder Peterson nach irgendetwas fragen. Zumindest nicht in dieser Welt und ich hoffe noch heute inständig, dass er dort, wo er später hingebracht wurde, nicht mehr Herr seiner letzten paar Sinne war.
Es war sinnlos, weiter nach Peterson zu rufen, doch meine Chance, ihn wach zu bekommen, war nun so oder so verstrichen, denn plötzlich näherten sich Schritte der Tür. ich vernahm ein Rasseln, hörte einen Schlüssel, der in seinem Schloss herumgedreht wurde, und sofort öffnete sich die Tür mit einem lauten Knarren.
Zwei Gestalten betraten den Raum. Sie kamen in Zivil. Vietcong. Oder auch nicht? In jedem Fall waren es Vietnamesen, denn sie waren klein, schmal und dunkelhaarig, wie die meisten Vietnamesen, die mir bis dato über den Weg oder vor die Flinte gelaufen waren. Doch mit diesen Beiden hier schien etwas ganz und gar nicht zu stimmen. Sie gingen nicht, sie schlurften, als hätte ihnen jemand ins Bein geschossen. Und ihre Haltung war gebeugt, geradezu buckelig. Nein, dies waren keine Vietcong. So, wie sie gekleidet waren, in weite, einfach geschnittene Stoffe, erinnerten sie mich eher an die Dorfbewohner, die in Bac Tay davongelaufen waren, als die Schießerei begonnen hatte. Wie viel Zeit seitdem wohl vergangen sein mochte, fragte ich mich zusammenhanglos.
Die Beiden hielten vor dem Tisch, redeten miteinander, sahen sich um. Sie sprachen ganz sicher vietnamesisch, doch klangen sie, als hätten sie einen Sprachfehler. Ihre Aussprache klang irgendwie, als hätten sie Seifenwasser im Mund. Auch wenn ich sie nicht verstehen konnte, schienen sie stumpf und sehr abgehackt zu reden.
Einer von ihnen deutete mit der Hand auf Peterson. Der kleinere der beiden Männer ging zu ihm hinüber. Er hob Petersons Kopf an, doch der reagierte noch immer nicht. Dann schlug er ihm ins Gesicht. Immer wieder, bis er nach dem fünften oder sechsten Mal tatsächlich erste Regungen zeigte. Langsam öffnete er die Augen.
Wie gesagt, ich konnte von meiner Seite des Raumes aus nicht alles erkennen, doch schien mir Petersons Gesichtsausdruck noch immer der alte zu sein: sicher, irgendwie gefestigt, egal, was kommen würde. Auch ihm sah ich die Verwirrung an, doch direkt dahinter war der gleiche junge Peterson zu erkennen, der irgendwann zu Frank Adler gesagt hatte, dass er sein Maul halten solle und nicht zurückgewichen war, als dieser ihm Prügel angedroht hatte. Peterson der Zwerg, den auch ein Schuss ins Knie nicht erschüttert hatte.
»Was? Was ist das hier für 'ne Scheiße?« waren seine ersten Worte. Fast hätte ich gegrinst. Er fragte nicht, wo er war, sondern was die ganze Scheiße sollte. Das passte wie die Faust auf's Auge.
»Was wollt ihr Typen?« Dann richtete er seinen Blick auf die beiden Fremden, die im Raum standen, und augenblicklich wich all die Sicherheit aus seinem Gesicht. Peterson musste etwas gesehen haben, was ich in der Dunkelheit nicht erkennen konnte. Etwas hatte ihn mehr als erschreckt. Dies war nicht mehr Peterson. Dies war ein kleiner Junge, dem sein Vater gerade die größte Tracht Prügel seines kurzen Lebens angedroht hatte. Ein Junge, der in die Augen einer Schlange direkt vor sich blickte und der wusste, dass sie aggressiv und giftig war. Peterson begann zu schreien. Er rüttelte an seinen Fesseln. Ohne Wirkung.
Der Mann, der Pete aus dem Land der Träume geholt hatte, taumelte einige Schritte zurück, so als hätte er nicht mit dieser Reaktion gerechnet und sich ziemlich erschreckt. Dann drehte er sich herum und taumelte weiter zum Tisch. Mir wurde klar, dass dieser Typ sich nicht vor Peterson erschreckt hatte, sondern dass dies einfach seine Art zu gehen war. Wieder redeten die Beiden miteinander. Abwechselnd sahen sie zu Peterson hinüber, der nun zwar nicht mehr schrie, dem jedoch noch immer die Angst ins Gesicht geschrieben stand. Er blickte wie wild im Zimmer herum, und dann endlich entdeckte er mich.
»Morello? Bist du das? Morello? Scheiße, was ist das alles hier? Was sind das für Dinger?« fragte er mich und kniff die Augen zusammen.
»Ich bin's«, sagte ich und stockte. Was für Dinger? Nun habe ich Ihnen bereits verraten, dass ich keine Chance bekommen sollte, Peterson zu befragen. Ich bekam deshalb keine Gelegenheit, weil die zwei Kerle sich inzwischen an den Gegenständen auf dem Tisch bedient hatten. Sie griffen ein Messer und eine Zange. Die Fremden hatten sich wieder herumgedreht und gingen auf Peterson zu. Bevor ich auch nur einen weiteren Satz sprechen konnte, begann er erneut zu schreien.
»Hey! Hey ihr Scheißkerle. Lasst ihn in Ruhe. Hey, ihr dämlichen Schlitzaugen«, brüllte ich sie an. Ich rüttelte an meinen Fesseln, und ich hatte das Gefühl, dass das Seil, mit dem meine Hände zusammengebunden waren, weniger fest saß, als es wahrscheinlich vorgesehen war, doch reichte das bei weitem nicht aus, um mich zu befreien. Ich schrie die Typen weiter an, fluchte, versuchte sie abzulenken, doch sie reagierten überhaupt nicht auf mich. Die beiden Vietcong neben Peterson waren still. Sie hatten ihre Blicke gesenkt, und ich glaubte, sehen zu können, dass sie zitterten.
Dann begann der Schrecken, der mich von da an verfolgen sollte, der ein Teil der grässlichen Träume werden sollte, die mich noch Jahre später schreiend aus dem Schlaf hochschrecken ließen und meine Frau fast in den Wahnsinn trieben. Ich konnte sehen, wie einer der Männer Petersons Kopf festhielt. Der andere setzte das Messer, das er vom Tisch genommen hatte, über Petersons rechtem Ohr an und begann zu schneiden. Ganz langsam, so als müsste er vorsichtig sein, schnitt er dem armen Kerl das Ohr ab, als würde er nichts weiter als Scheiben von einem dicken Stück Wurst abtrennen.
Petersons Schreie füllten den Raum aus, und ich weiß noch, dass ich mir wünschte, dass er ohnmächtig werden würde, damit er diese Schmerzen nicht ertragen müsste. Doch er wurde nicht ohnmächtig. Ich erinnere mich nicht mehr, ob ich selbst schrie oder ob ich die Kerle weiter anbrüllte. Doch ich erinnere mich sehr gut daran, dass die gefesselten Vietcong nun ihre Köpfe hoben, so als wäre ihnen ein Licht aufgegangen, jetzt wo sie wussten, dass ihnen vielleicht ähnliches blühte. Sie schrieben ebenfalls, und ich erinnere mich dennoch so gut daran, weil sie immer wieder die gleichen Worte riefen: »Nguoi Gat, Nguoi Gat!«
Später erzählte man mir ein Arzt, ich hätte im Schlaf immer wieder diese Worte gesprochen. »Nguoi Gat heißt so viel wie Ernter«, sagte er zu mir und fragte mich, ob ich wüsste, was das bedeutete. Doch ich sagte ihm, dass ich das vermutlich irgendwo während einer Patrouille bei den Einheimischen aufgeschnappt hätte.
In diesem Augenblick jedoch wusste weder, was Nguoi Gat hieß noch was es bedeutete. Doch mir war klar, dass die Congs hier irgendetwas wussten oder ahnten, was wir nicht wussten.
Der Kerl mit dem Messer hielt Petersons Ohr inzwischen in seiner Hand. Konnte ich all das schon nicht glauben, so glaubte ich noch weniger, was ich nun sah: Er hob die Hand zu seinem Mund und steckte das Ohr hinein. Er kaute es. Verdammt, der Kerl aß es. Dann schnitten sie ihm auch das andere Ohr ab und verspeisten es. Peterson hatte seine Augen nach oben verdreht und zitterte am ganzen Leib, bekam aber offenbar noch immer alles mit. Noch immer brachen diese markerschütternden Schreie aus ihm hervor.
Und als ich dachte, die Tortur wäre endlich vorüber, begann der Kerl, der Peterson eben die Ohren abgetrennt hatte, ihm das Messer langsam von unten ins Auge zu schieben. Ich hätte meinen Blick vielleicht abwenden sollen, hätte nicht mehr hinsehen sollen, doch irgendwie fühlte ich mich ihm gegenüber verpflichtet. Scheiße, es war meine Anweisung gewesen, die uns in das verdammte Dorf geführt hatte. Hätte ich eine andere Entscheidung getroffen, hätten die Vietcong uns an diesem Tag vielleicht niemals überrumpelt. Doch das hatte ich nicht, und so zwang ich mich selbst, dabei zuzusehen, wie diese Dreckschweine Peterson die Augen herausschälten. Sie stachen sie ihm nicht aus, sie schälten sie heraus. Ich habe später nur ein einziges Mal versucht, einen Apfel zu schälen. Doch in meine Hand verwandelte sich der Apfel sofort in ein übergroßes Auge, das mich vorwurfsvoll anstarrte. Ich nahm niemals wieder ein Messer zur Hand. Auch heute noch müssen meine Kinder oder meine Enkelkinder das Obst für mich schälen und klein schneiden. Sie halten das natürlich für die Marotten eines alten Mannes, und ich will ihnen diesen Glauben gern lassen.
Doch ich weiß es nun mal besser. Sie schälten Peterson die Augen heraus, als würden sie wie ich später diesen Apfel schälen. Und zur Hölle, sie aßen auch die Augen. Die Congs, die direkt daneben saßen, riefen immer wieder: »Nguoi Gat, Nguoi Gat!« als hätte ihre Platte einen Sprung. Apropos: The Kinks hatten immer noch ihren Auftritt, spielten jetzt aber tatsächlich ›All Day and All of the Night‹ - dissonant untermalt von den Schreien eines gefolterten Marines.
Dann schob der Mann, der Peterson soeben einem guten Teil seiner Sinne beraubt hatte, das Messer in den Bund seiner Hose. Der andere Kerl, der den blutigen und noch immer kreischenden Klumpen hielt, der noch eben Petersons Kopf mit seinem furchtlosen Gesichtsausdruck gewesen war, reichte seinem Helfer dafür die Zange. Und nun brauchte er nicht sonderlich viel Kraft, um Petersons Kiefer auseinanderzuhalten, denn das tat dieser schon fast von allein. Und es schien auch nicht mehr, als würde er überhaupt noch versuchen, sich zur Wehr zu setzen.
Was dann kam, können Sie sich wahrscheinlich längst denken. Doch so widerwärtig es auch klingen mag, es ist wahr. Und ich muss es erzählen. Das miese Schwein riss Petersons Zunge heraus. Es sah aus, als würde er Unkraut aus viel zu hartem Erdboden rupfen. Doch statt eines garstigen Strauches hielt er einen blutigen Fleischfetzen in der Zange. Und ja, sie aßen auch seine Zunge. Hatten sie sich Petersons Ohren und Augen noch geteilt, so rissen sie nun wie hungrige Wölfe an seiner Zunge. Petersons Schreie waren inzwischen doch verstummt. Er hätte auch ohne Zunge weiterschreien können, doch endlich hatte sein Körper sich erbarmt und ihn wieder in die geistige Umnachtung versetzt.
Die beiden Gestalten banden ihn los und zogen ihn aus dem Zimmer. Ich sah noch immer hin. Nun hätte ich wohl gar nicht mehr wegschauen können, selbst wenn ich gewollt hätte. Sie zogen ihn an den Beinen aus dem Raum, als hätten sie auf der Jagd ein großes Tier erlegt. Aus Petersons Kopf floss das Blut wie aus einem geöffneten Wasserhahn. Als sie endlich draußen waren, schlossen sie die Tür wieder ab. Dann entfernten sich ihre Schritte und das Schleifgeräusch, das Petersons bewusstloser Körper erzeugte, allmählich, bis wieder Stille eingekehrt war. Die beiden Vietcong waren wieder ruhig geworden. Sie hatten ihre Blicke auf den Boden geheftet und zitterten deutlich sichtbar.
Eine ganze Weile geschah nichts, und mir wäre alles, was ich soeben gesehen hatte, vielleicht wie ein wirrer Albtraum vorgekommen, wäre nicht frisches Blut überall auf dem Boden verteilt gewesen. Und dann erkannte ich es: Abgesehen von Petersons Blut war auch noch jede Menge angetrocknetes Blut zu erkennen. Das hier passierte nicht zum ersten Mal.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging, bis ich wieder dieses Schreien vernahm, das ganz klar von Peterson kam. Es war kein kurzer, schriller Schrei, der abrupt endete und von einem lauten Knirschen abgelöst wurde. Dann herrschte erneut Stille. Wenige Sekunden später strömte ein süßlich fauler Geruch in den Raum, der an eine Mischung aus vergammeltem Essen und gegorenem Obst erinnerte.
Der Plattenspieler gab jetzt ›Long Tall Sally‹ von sich. Immer noch The Kinks, aber ein beschissener Song. Ebenso beschissen wie die Tatsache, dass die Tür sich erneut öffnete, als der Song gerade auf der Zielgeraden war.
Die beiden Typen waren blutverschmiert. Rotschwarze Sprenkel bedeckten ihre Kleidung von oben bis unten. Taumelnd hielt einer der beiden nun auf mich zu. Und jetzt erkannte ich auch, weshalb Peterson geschrien hatte. Dies waren keine Menschen. Sie waren vielleicht einst welche gewesen, doch nun waren sie etwas anderes. Sie hatten sich die Haut, die irgendwann ihr Gesicht geformt haben mochte, einfach über ihren unförmigen Kopf gestülpt. Keine Gesichtspartie saß so recht dort, wo man sie erwarten würde. Die Haut über der Nase hing labbrig herab und statt Zähnen enthielt ihr Mund nur faulige Stümpfe. Selbst die Augen schienen zu faulen. Wie zum Teufel hatte ich das vorher nicht erkennen können? Nun schrie auch ich.
An dieser Stelle möchte ich Sie bitten, sich keine Gedanken darüber zu machen, weshalb diese Dinger sich nicht mich als nächsten vornahmen, sondern einen der beiden Vietcong gegenüber. Ich weiß es selbst nicht und habe viel zu oft darüber nachgedacht. Wenn es Ihnen als Antwort genügt, dann sehen Sie es bitte einfach so, dass ich Ihnen diese Geschichte sonst nicht erzählen könnte. Sehen Sie es nur nicht als göttliche Fügung, denn wie ich bereits sagte, es gibt keinen Gott. Ich bin jemand, der das sicher weiß.
Dieser Ort, an dem ich mich befand, war keine Vietcong-Basis. Zumindest nicht mehr. Dieser Ort war ein verfluchtes Schlachthaus. Die Monster, die sich als Menschen verkleidet hatten, gingen bei der armen Seele des Cong, der neben Peterson gesessen hatte, genauso vor wie zuvor bei meinem Kameraden. Sie führten diese abartigen Amputationen durch, als würden sie ein Handwerk betreiben, dass sie seit Jahren beherrschten. Und ich will verdammt sein, wenn das nicht auch genau der Fall war.
Der übrig gebliebene Vietcong brüllte noch immer Sätze, in denen wieder und wieder ›Nguoi Gat‹ vorkam, als sein Mitstreiter längst fortgeschleift worden war. Und wieder hörte ich letzte Schreie, wieder das Knirschgeräusch. Und wieder kroch dieser Übelkeit erregende Gestank in meine Nase.
Ich habe bereits erwähnt, dass meine Fesseln weniger fest waren, als sie hätten sein sollen. Sie waren noch immer zu fest gewesen, als die Albtraumgestalten begonnen hatten, Peterson bei lebendigem Leib zu zerlegen. Doch bereits, als sie wiedergekommen waren, um einen der beiden Vietcong als nächstes Schlachtopfer zu erwählen, hätte ich mich schon fast herauswinden können. Ja, es war Angst, die meine Schweißdrüsen auf Hochtouren arbeiten ließ. Und schließlich wirkte der Schweiß wie Schmiere. Es war klar, dass gleich der nächste, und vermutlich sogar ich, dran sein würde. Und so begann ich um so schneller, mich durch die Stricke zu arbeiten. Ich rieb meine Hände aneinander wie verrückt, zog und rüttelte, bis ich das Gefühl hatte, mit ein wenig Anstrengung meine linke Hand freibekommen zu können. Und ich will Ihnen keine lange Abhandlung über meine Entfesselungskünste präsentieren, also sage ich Ihnen einfach, dass ich mit meinem Gefühl richtig lag. Ich schaffte es, meine linke Hand aus der Schlinge zu ziehen und dann natürlich auch die rechte. Als dies geschafft war, warf ich mich nach vorn, schließlich waren meine Füße noch immer gefesselt.
Zwar hatten die Schreckgespenster ihre Mordwerkzeuge mitgenommen, doch lagen auf dem Tisch weitere Messer. So robbte ich hinüber, so gut das mit einem Stuhl auf mir eben möglich war, zog mich am Tisch hoch und griff eines der Messer. An der Klinge klebte getrocknetes Blut von irgendeiner armen Sau, die vor uns hier gewesen sein musste. Für einen Moment fragte ich mich, wie lange das hier schon so ging. Trotz des angetrockneten Blutes war diese Klinge scharf genug, um die Fesseln an meinen Füßen zügig zu durchtrennen.
Gerade als ich mich an der Tür zu schaffen machen wollte, fiel mir ein, dass die Dinger sie abgeschlossen hatten. Außerdem kam mir in den Sinn, dass ich hier nicht allein war. Ich sah den Vietcong an, der noch immer an seinen Stuhl gefesselt an der Wand saß. Er hatte gesehen, dass ich mich befreit hatte, war aber dennoch ruhig geblieben. Ich gebe zu, dass ich für einen Moment überlegt hatte, ob ich ihn einfach seinem Schicksal überlassen sollte, schließlich waren wir so etwas wie Fressfeinde. Doch hatten wir hier offenbar einen gemeinsamen Fressfeind. Und eigentlich sollte niemand auf diese Art und Weise sterben. Wenn man so lange beim Militär gewesen ist wie ich und echte Kriege miterlebt hat, dann hinterfragt man nicht mehr, weshalb man sich gegenseitig mit Schusswaffen die Gedärme aus dem Körper ballert. Doch das, was hier geschah, das hinterfragte ich eben doch.
Ich ging zu dem Cong hinüber, um ihn los zu schneiden, und soll ich Ihnen was sagen? Der Kerl dachte, ich würde ihn massakrieren. Ich erntete stechende Blicke, so als wären wir uns zufällig im Busch begegnet, statt hier unten in dieser Blutmühle.
»Nur ruhig, Junge«, sagte ich. »Ich mach dich nur los. Klar?« Ich hoffte, dass er wenigstens etwas von dem verstand, was ich ihm sagte. Ich hob die Hand als Zeichen des Friedens. Doch spätestens, als ich begann, seine Fesseln zu durchtrennen, hatte auch er verstanden, dass ich ihm nicht den Garaus machen würde.
Ich schaffte es, ihn zu befreien, doch leider zu spät. Denn ich hörte ziemlich deutlich die Schritte der schlurfenden Gestalten. Sie näherten sich langsam, um den nächsten von zu uns zu zerhacken, und wir würden keine Zeit mehr haben, von hier zu verschwinden. Das verstand auch mein neuer Freund ganz offensichtlich. Er sagte nichts, nickte mir jedoch zu. Dann rannte er zu dem Tisch hinüber und griff ein schartiges Fleischerbeil aus dem Haufen an Schlachtutensilien. Ich wollte gar nicht wissen, wozu das verwendet worden war.
Derweil schlich ich mich neben die Tür und gab meinem Mitgefangenen ein Zeichen, sich auf die andere Seite zu stellen und zu warten. Und so warteten wir, während die Schritte näher kamen. Wieder ein Rasseln, dann das Geräusch des sich öffnenden Schlosses. Langsam ging die Tür auf.
Die beiden Dinger torkelten herein und erkannten erst nach einigen Schritten, dass wir ihnen ganz offensichtlich durch die Lappen gegangen waren. Dass sie nicht sehr helle waren, hatte ich bereits zuvor an ihrem Verhalten bemerkt, und auch nun dauerte es etwas, bis sie auf die Idee kamen, sich herumzudrehen. Und da war es für sie auch schon zu spät.
Ich stieß dem Ding, welches das Messer und die Zange bei sich trug, die Klinge bis zum Schaft in die Kehle. Schrille, unmenschliche Schreie drangen aus seinem Maul, während ich glaubte, in seinem emotionslosen, verschobenen Gesicht die Überraschung erkennen zu können. Ein Gestank von verwesendem Fleisch umwehte mich. Falls dies hier mal Menschen gewesen waren, so mussten sie lebendig verfaulen. Wieder und wieder stieß ich zu, bis das Ding in die Knie ging und reglos wie eine Puppe zu Boden stürzte. Erst jetzt sah ich zur Seite und erkannte, dass mein Vietcong-Freund dem anderen Ding sauber den Schädel gespalten hatte. Doch statt seines Gehirns floss eine gelbe, eitrige Masse durch den Spalt und verteilte sich langsam über den Boden.
Ich nickte dem Mann neben mir zu und machte ein Zeichen, dass alles okay wäre. Er sah mich an und grinste. Auch er machte das Zeichen. Wir wussten Beide, was zu tun war. Es war keine Zeit zu verlieren. Mindestens eines der Monster hatte geschrien und so eventuell ein paar Brüder oder Cousins angelockt. Für uns hieß es also, raus hier, so schnell es nur ging. Hinter uns tönte ›You Still Want Me‹ aus dem Lautsprecher.
Wir rannten durch die niedrige Tür, erst der Cong, dessen Namen ich nicht kannte und nie erfahren sollte und dann ich. Der Gang hinter der Tür war ebenso niedrig, und wenigstens ich musste gebückt gehen. Für meinen neuen Freund waren diese Gänge natürlich wie gemacht (genau genommen waren sie für Leute wie ihn gemacht, doch daran wollte ich nicht denken), und so musste er nur leicht den Kopf einziehen. Er wusste natürlich, wie diese Tunnelsysteme funktionierten, so kam es mir wenigstens vor, denn er wirkte wie eine Ratte in einem Labyrinth, die auf der Flucht vor einem steigenden Wasserspiegel war. Mein Freund, die Tunnelratte. Er blickte nicht zurück, schaute nicht nach, ob ich ihn vielleicht hinterrücks erstechen würde. Er vertraute mir.
Doch sonderlich lange sollte unsere kleine Freundschaft leider nicht halten. Plötzlich hielt dieser Mann an, so dass ich fast in ihn hineingelaufen wäre. Der Gang vor uns war etwas höher und deutlich breiter. Außerdem war er heller beleuchtet. Statt der vereinzelten Glühbirnen, an denen wir auf unserer Flucht vorbeigekommen waren, waren nun zwei grell leuchtende Lampen an der Wand angebracht. Und genau dazwischen war eine Tür eingelassen.
Doch dies war keine der Türen, die nach Holzverschlag aussahen. Ich würde nicht einmal meinen, dass diese Tür aus Holz war. Aus Metall war sie allerdings auch nicht, wenn ich das so sagen kann. Nein, viel mehr wirkte diese Tür auf mich, als wäre sie eine Art Fälschung. Ich weiß nicht, wie ich es sonst beschreiben soll. Dies war keine richtige Tür. Sie stimmte nicht, war nicht mit dem vereinbar, was unsere Augen als gewöhnlich und was unser Verstand als möglich erachten würde. Stellen Sie sich vor, sie hätten ein Viereck vor sich, dessen Winkel zusammen mehr als dreihundertundsechzig Grad ergeben. Sie würden früher oder später verrückt werden. Und so würde auch diese Tür jeden in den Wahnsinn treiben, der sie zu lange ansah. Doch, das war nicht alles. Sie schien irgendwie zu pulsieren, ohne, dass man es eigentlich sehen konnte. Diese Tür rief uns. Sie wollte, dass wir unsere Hand auf den Knauf legten, ihn drehten und den Raum (oder die Welt?) betraten, der dahinter lag.
»Weiter«, flüsterte ich. »Geh weiter. Los.«
Mein vietnamesischer Freund schien sich nicht mehr bewegen zu wollen. Ich drängte mich an ihm vorbei, wollte vorauslaufen. Und ich versuchte, nicht auf die Tür zu sehen. Diese Tür war schlimmer als eine Line Koks. Ich wollte weg, hatte das Gefühl, ich würde kotzen müssen, wenn ich weiter hier blieb. Als ich einige Meter weit gelaufen war (vorbei an der Tür), drehte ich mich kurz um (nicht die Tür ansehen) und sah, wie mein neuer Freund mir wieder folgte. Jedenfalls dachte ich das. Als ich mich kurze Zeit später erneut herumdrehte, sah ich, dass er seine Hand auf den Türknauf gelegt hatte.
Scheiße, er würde die Tür öffnen. Ich rannte zurück, wollte ihn wegziehen. Doch zu spät. Als diese Tür gerade einen einen Spalt weit offen war, flog sie plötzlich von selbst auf. Ich stand hinter meinem Freund, der wie hypnotisiert in die Finsternis hinter der Tür starrte. Ich stand hinter ihm, blickte ihm über die Schulter und konnte nun nicht anders, als ebenfalls in diese böse Dunkelheit hineinzuschauen. Der Gestank, der uns entgegen strömte, war derselbe, den wir in unserem Gefängnis gerochen hatten, nur weitaus schlimmer. Ich senkte den Kopf und übergab mich. Wahrscheinlich kotzte ich meinem vietnamesischen Freund ans Bein. Doch der bekam es nicht mit.
Er war wie hypnotisiert, nein, irgendwas hatte ihn tatsächlich hypnotisiert. Es rief ihn, lockte ihn. Ich konnte die Rufe nicht hören, doch er konnte es. Dafür hörte ich nun wieder schlurfende Schritte, die sich aus der Dunkelheit auf uns zu bewegten. Das mussten tatsächlich weitere dieser Dinger sein, die Peterson abgeschlachtet hatten. Ich wollte weg, wollte diesen Mann, mit dem ich ausgebrochen war, von hier wegzerren. Doch er stand da wie angewurzelt. Etwas zog ihn zu sich. Und so ging er in die Dunkelheit dieses Raums hinein. Meine Hände rutschten von seinen Schultern. Er ging wie auf Schienen. Ich würde dort nicht hineingehen. Für niemanden.
Und kurz bevor ich meinen Kopf wieder freibekam und endlich fortrannte, sah ich, wie sich ein gigantisches, massiges Ding vorbeugte, dessen Körper sich rhythmisch aufblähte und wieder zusammenzog. Ich weiß nicht mehr, was ich wirklich sah und was meine Albträume und Ängste später hinzugedichtet haben, doch bin ich mir heute fast sicher, eine Art Schnabel in diesem, diesem Ding gesehen zu haben. Einen Schnabel, der sich öffnete und schloss, der tausende Zähne wie große, lange Nadeln zeigte. Dicke, lange Arme, die den Tentakeln eines Riesenkraken aus alten Geschichten von Seeungeheuern ähnelten, schossen vor. Doch das sah ich nur noch im Augenwinkel, als ich mich wegdrehte und rannte, was das Zeug hielt. Hinter mir hörte ich, wie die Tür wieder ins Schloss fiel. Und wie gesagt, ich weiß nicht, ob ich das alles tatsächlich gesehen habe. Doch eines weiß ich: Dieses Ding in der Finsternis war nicht von dieser Welt, ebenso wenig wie die Tür, hinter der es auf uns gelauert hatte.
Ich war mir sicher, dass ich an der Stelle meines armen Freundes der Hypnose verfallen wäre, wenn ich vorausgelaufen wäre. So jedoch hatte es ihn erwischt. Ich hörte ihn nicht schreien, hörte keine reißenden Geräusche, kein Knirschen. Und ich möchte auch gar nicht wissen, was dieses Ungeheuer mit ihm machte. Dennoch tut er mir natürlich leid.
Doch damals dachte ich nicht mehr an ihn. Es war, als wäre er nie da gewesen. Ich wollte weg, wollte raus. Meine Überlebensinstinkte hatten das Ruder übernommen und meinen Verstand für's Erste auf Urlaub geschickt (auf einen Urlaub, aus dem er alles andere als erholt wiederkehren würde). Diese Instinkte lotsten mich durch die klaustrophobisch engen Gänge, die nur alle paar Meter spärlich von Glühbirnen beleuchtet wurden. Und wie durch ein Wunder verlief ich mich nicht in diesem elenden Tunnelsystem, dass die Vietcong gegraben haben mussten. Gegraben, um uns zu überlisten. Doch wurden sie dabei selbst überlistet. Sie hatten ganz offensichtlich etwas freigelegt, das sie lieber in Ruhe gelassen hätten. Vielleicht hatte es sie auch gerufen, vielleicht wollte es entdeckt werden. Ich weiß es nicht.
Was ich weiß, ist, dass ich unwahrscheinliches Glück hatte, mich nicht zu verlaufen. Diese Tunnelsysteme waren unendlich lang und verzweigten dutzende Male. Man konnte sich durchaus fragen, wie die Congs hier unten zurecht kamen. Mein Glück war, dass ich nur an zwei Abzweigungen vorbeilief, bis ich plötzlich vor einer Bambusleiter stand, die nach oben führte.
Ich kletterte, so schnell ich konnte, schob die Falltür, die als Ein- und Ausgang diente, zur Seite und erreichte das Tageslicht. Meine Augen brannten, als ich draußen war und es dauerte einige Zeit, bis sie sich an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, doch ich genoss diesen Augenblick. Er fühlte sich an wie eine Neugeburt. Für einen kurzen Moment wenigstens. Dann erkannte ich, wo ich war. Ich stand exakt dort, wo vor einer gefühlten Ewigkeit die Vietcong gelauert und schließlich auf uns geschossen hatten: am Rand des kleinen Wäldchens, das westlich an Bac Tay grenzte. Welche Ironie!
Der Tag war bereits dabei, sich für seine nächtliche Erholungspause bereit zu machen, für mich in diesem Moment ein schrecklicher Gedanke. Ich wollte keinesfalls mehr hier sein, wenn die Nacht hereinbrach. Nicht, wenn dieses Ding irgendwo unter mir lauerte. So rannte ich aus dem Wald, zurück ins Dorf. Ich wollte Hilfe rufen, doch blieben mir die Worte im Hals stecken.
Denn so stand ich nun dort, wo der Schlamassel begonnen hatte, am Südtor, dem Eingang ins Dorf. Die Bewohner waren von den Straßen verschwunden, doch ich erkannte durch die Fenster der Hütten, dass mich von innen heraus viele Augen argwöhnisch anschauten. Geradezu verärgert. Diese Menschen hier wussten Bescheid. Und nicht nur das: Sie waren Gehilfen, wie ich plötzlich feststellte. Denn hier lagen überhaupt keine Leichen. Alles war verschwunden. Selbst die gröbsten Spuren von Blut mussten schnell entfernt worden sein. Wenn man genau hingesehen hätte, hätte man wahrscheinlich Einschusslöcher in der Fassade der Bar entdeckt oder Reste von angetrocknetem Blut auf dem Gras und den Wegen. Doch danach schaute ich nicht. Mir gefror das Blut in den Adern. Ich rannte zum Südtor hinaus, verließ Bac Tay. Wie ein Besessener musste ich der Straße gefolgt sein, die tatsächlich nach My Lai führte. Wie lange ich lief? Keine Ahnung. Irgendwann brach ich einfach zusammen, wie ich im Nachhinein erfuhr. Einige Händler, die auf dem Weg nach My Lai waren, fanden mich auf der Straße und machten Meldung an die Army. Ich hatte großes Glück, dass sie mich nicht einfach umbrachten oder liegen ließen. Wir waren ja nun nicht gerade beliebt. Dass der Dank dafür einige Jahre später ein großes Massaker in My Lai sein würde, hat eine gewisse Ironie inne. Eine Ironie, die stellvertretend für diesen ganzen sinnlosen Krieg war.
Erst drei Tage später kam ich wieder richtig zu mir. Um mich herum war alles weiß. Ein schöner Kontrast zu meinem letzten Erwachen, das mir nun nur noch wie der düsterste Traum vorkam, den es je gegeben hatte. Doch dies war kein Traum. Mein Platoon war verschollen, wie man mir mitteilte. Ich wurde befragt, gab jedoch vor, mich nach dem Feuergefecht mit den Congs bei Bac Tay an nichts mehr erinnern zu können. Wie gesagt, ich musste oft »Nguoi Gat, Nguoi Gat!« gebrüllt haben, so wie mein vietnamesischer Freund dort unten in dieser Hölle es getan hatte, denn ich wurde oft danach befragt. Doch ich erzählte nichts. Niemandem. Niemals.
Ach, eines muss ich Ihnen noch berichten. Mir war es gar nicht aufgefallen, doch es hatte tatsächlich im Laufe des Tages dieses 17. August aufgehört zu regnen. Ich wurde später ausgeflogen, da ich meiner Psyche wegen nicht mehr als einsatzbereit galt, doch erfuhr ich im Nachhinein, dass an diesem Tag die Regenzeit tatsächlich geendet hatte.
... Fortsetzung folgt ...