Beschreibung
Eine Fortsetzungsgeschichte aus vier Kapiteln. Dies hier ist das erste. Viel Spaß und nicht irritieren lassen. ;-)
Vom Sterben
Es ist wirklich paradox. Wir sind in der Lage, diese, unsere Welt augenblicklich mit unseren Atomwaffen über den Jordan zu jagen. Einige verrückte Cowboys mit seidenen Krawatten müssten lediglich die richtigen Knöpfe drücken, um alles in Asche zu verwandeln. Und wir waren auf dem Mond, jedenfalls behaupten wir das, haben unsere Fühler selbst bis auf den Mars ausgestreckt. Mit Teleskopen können wir fast bis an den Anbeginn der Zeit zurückschauen. Und in Zeiten, in denen fast nichts mehr unmöglich scheint, bereiten uns zwei so banale wie alltägliche Dinge noch immer Kopfzerbrechen. Ja, sie sind geradezu unlösbar. Die Alopezie ist das geringere Übel und betrifft allenfalls uns Männer. Schlimmer wiegt da unsere eigene Sterblichkeit, möchte ich meinen.
Wissen Sie, ich war bei der Erstürmung der Normandie dabei, musste mit ansehen, wie Kerle, die eben noch Eier aus Stahl hatten, nach ihren Müttern schrien wie kleine Babys, während ihnen die eigenen Gedärme durch die Finger rutschten. Wie die Fliegen fielen jene Kameraden, mit denen ich noch wenige Nächte zuvor Poker bis zum Erbrechen gespielt hatte, die mir Fotos von ihren Ladies und Kindern daheim gezeigt hatten, die schmutzige Witze über Politiker und Schwarze gemacht hatten und mit denen ich auf die guten alten USA angestoßen hatte. Doch ich fiel nicht in jenen Tagen, und während mir Kugeln aus deutschen Gewehren um die Ohren pfiffen, schien es, als würde Gott, der Allmächtige, seine schützende Hand ganz persönlich über mich halten, weil er vielleicht Großes für mich geplant hatte.
Großes sollte dann auch kommen. Schließlich zogen wir knapp zwanzig Jahre später wieder los. Statt der Deutschen sollten wir dieses Mal jedoch kommunistische Schlitzaugen aufs Korn nehmen, einfach, weil dieses paranoide Arschloch Johnson das so wollte. Weil er die Interessen der USA in Gefahr sah und Kommunisten eben nicht leiden konnte. Vielleicht auch nur, weil seine Frau ihn ein paar mal nicht rangelassen hatte, so dass er sich auf dem Klo einen runterholen musste. Wer weiß das schon? Diese Typen leiden immer an Minderwertigkeitskomplexen, nicht erst seit sie diesen dämlichen Bauerntrampel Bush Junior ins Weiße Haus gelassen hatten. Viele Leute vergessen das über die Jahre. Der Mensch streicht seine Erinnerung mit einem goldenen Pinsel, sagt irgendeine chinesische Weisheit. Das gilt scheinbar auf für US-Präsidenten.
Wie dem auch sei, wissen Sie, zwanzig Jahre reichen bei weitem nicht, all die unaussprechlichen Schrecken zu vergessen, die einem abseits jeglicher Menschlichkeit vorgesetzt werden, während man in fremden Ländern Gewehrkugeln und Handgranaten als Willkommensgeschenke zugeworfen bekommt. So geht das nicht nur den armen Schweinen, die das Pech haben, weder jung noch alt genug zu sein, um von Uncle Sam verschont zu werden und die sich mangels Studium auch nicht zur Bildungselite und somit zum Kapital der Zukunft unseres schönen Landes zählen können. Nein, auch waschechte Soldaten wie ich sind vor eingebrannten Horrorbildern auf Lebenszeit nicht sicher. Und so saß ganz sicher nicht nur ich mit einem ziemlich Übelkeit erregenden Gefühl in der Magengrube in einem der Hueys, die über Südvietnam hinwegknatterten, um uns irgendwo in der grünen Hölle zum Kämpfen und Sterben auszusetzen.
Tja, so hatte es mich also das zweite Mal in ein mir unbekanntes Land verschlagen, weil jemand an der Spitze in die Kameras grinste und wollte, dass ich tötete. Und wie Sie sich denken können, sausten wieder die Kugeln an mir vorbei, ohne mir die Lichter endgültig auszupusten. Wieder hätte man meinen können, der Vater im Himmel hätte Größeres für mich in Aussicht gehabt. Wenn sie das denken, tun sie das ruhig. Ich tue es nicht! Denn ich glaube seit jenen Tagen dort drüben, wo es immer zu regnen schien und wo die Moskitos so groß wie Pelikane waren, nicht mehr daran, dass irgendjemand da oben über uns wacht, dass dieser jemand vor Anbeginn der Zeitrechnung die Welt, in der wir leben, erschaffen hat. Nicht wegen all der ermordeten Menschen, der unzähligen Vergewaltigungen oder wegen der niedergebrannten Dörfer. Nein, denn das hatte ich so und nicht anders schon zuvor erlebt. Mein Glaube ist an dem Tag gefallen, an dem ich den ›Nguoi Gat‹ (›ngÆ°á»i gặt‹, wie man es in der Landessprache schreiben würde) gesehen habe.
Verdammt, ich schweife viel zu sehr ab - eine Unsitte des Alters - und das, wo mir ohnehin die Zeit davonläuft. Ich sagte Ihnen bereits, dass vor allem gegen unsere Sterblichkeit kein Kraut gewachsen ist. Zwei Kriege habe ich überlebt, körperlich wenigstens, schlimmere Übel ebenfalls, und selbst die Ehe hat es nicht geschafft, mich aus dem Reich der Lebenden zu fegen. Und wofür das alles? Damit sich jetzt wuchernde Zellen unaufhaltsam in meinem alten Körper ausbreiten und meinen Darm fressen, als wäre dieser ein Big Mac mit einer Portion Pommes? Aber gut, von mir aus.
Denn inzwischen kann ich die Fahrkarte wohl entsorgen. Ich bin an der Endstation angekommen, und hier, wo der Herbst alles andere als golden und der Winter auch nicht gerade besinnlich weiß ist, zählt es wohl schon zur Altersschwäche, wenn das große ›K‹ einen im Würgegriff hat. Und während dieses endgültige Arschloch sich vielleicht gerade ein weiteres saftiges Stück aus meiner Bauchgegend gönnt (Vielleicht sollte ich ihm Barbecuesauce dazu reichen?), fühle ich mich verpflichtet, wenigstens Ihnen meine Geschichte zu erzählen. Natürlich habe ich viele Geschichten erzählt. Während meiner achtzig Lenze hatte ich schließlich genügend Zeit dafür. Doch diese eine Geschichte habe ich niemals jemandem erzählt. Nicht einmal meiner Frau, möge sie in Frieden ruhen, habe ich je auch nur ein Wort diesbezüglich anvertraut. Nicht, dass ich jemals Angst vor Spott gehabt hätte. Nein, ich hatte viel mehr Angst davor, dass mich alles eines Nachts wieder einholen könnte, dass die Schlafzimmertür sich knarrend öffnen könnte, um im Schein des ins Haus fallenden Mondlichts die grausige Silhouette des Nguoi Gat zu offenbaren, der kommen würde, um mich zu sich zu holen, um mich erneut durch die Hölle gehen zu lassen – dieses Mal ohne Wiederkehr.
Und ja, ich habe noch immer Angst davor. Soll der verdammte Krebs mich von mir aus dahinraffen, wenn ich ihm schmecke, solange der Nguoi Gat mich nicht hier besucht. Weshalb ich diese Geschichte dann überhaupt erzählen möchte, fragen Sie sich? Nun, zum Einen will sie ja gar nicht erzählen, sondern niederschreiben. Ich denke, ich werde die ganze Erzählung einfach meinem Nachlass beifügen. Und vielleicht ist das geschriebene Wort für mich weniger grausam, als offen davon zu sprechen. Zum Anderen ist es so, dass ich mich davor fürchte, das Erlebte unberichtet mit ins Jenseits zu nehmen, wo immer das auch sein mag, denn im Himmel ist es gewiss nicht. Falls ich mich doch irren sollte und falls es dort, wo ich hingehen werde, tatsächlich einen Gott geben sollte, so werde ich ihm, das verspreche ich, gehörig in seinen breiten Arsch treten.
Doch ach, ich will Ihre Zeit nicht weiter mit meinem alterssenilen Geschwätz verschwenden. Denn auch Ihre Lebenszeit ist schließlich kostbar, ganz egal, wie jung oder alt Sie sein mögen und ob Sie wie ich kurz vor dem letzten Tor stehen oder kerngesunder Leistungssportler in Bestform sind.
... Fortsetzung folgt ...