Beschreibung
Zeichnung: Ulrike Schwarzmann
Oma weiß sich zu helfen
Es war einmal eine Oma. Wie fast jede Oma hatte sie ihre Enkelkinder unendlich lieb. Von Zeit zu Zeit überfiel sie so große Sehnsucht, dass sie sie unbedingt sehen und in die Arme schließen musste. Leider lebten die Kinder weit weg von der Großmutter .
Doch da unsere Oma eine ziemlich moderne Oma war, besaß sie natürlich ein Auto.
Eines schönen, sonnigen Sommernachmittags war sie plötzlich wieder da, diese unstillbare Sehnsucht.
Oma war gerade beim Aufräumen, als die Gedanken an die Enkelkinder kunterbunt durch ihren Kopf wirbelten – was sie wohl gerade machten? Wie sind die Schularbeiten ausgefallen – waren sie schwer? Saßen die Kinder jetzt eben im Garten oder spielten sie mit Freunden?
Oma ließ alles liegen und stehen. Das Staubtuch warf sie in eine Ecke, den Besen lehnte sie an die Wand. Im Stehen aß sie rasch noch ein Stückchen der gestern übrig gebliebenen Pizza und machte sich schleunigst reisefertig.
Zwanzig Minuten später saß sie bereits fröhlich vor sich hinsingend in ihrer „Kiste“ – so nannte sie ihr Auto. Das Schiebedach hatte sie zurückgeschoben und freute sich über die Sonne und den Wind. Herrlich war so ein spontaner Ausflug! Nun, da sie seit kurzem ihren verdienten Ruhestand genoss, konnte sie sich solche Blitzentschlüsse ohne weiteres leisten.
„ Da werden die Kinder staunen!“, murmelte sie. Sie hatte absichtlich nicht angerufen, denn sie freute sich auf ihre überraschten Gesichter.
Doch da! Was war das?
Oh je! - Oma hatte die zerbrochene Glasflasche auf der Fahrbahn zu spät bemerkt.
„Peng!“ und „ssssst!“ machte es...........
Oma hatte einen Platten am linken Hinterreifen. Gerade, dass sie den Wagen noch zum Stehen bringen konnte. Das hätte schlimm ausgehen können!
Die alte Dame stieg aus und starrte ratlos auf das Malheur. Nachdenklich rieb sie ihr Kinn. Oma war nicht dumm. Viele Gedichte, die sie einst in der Schule gelernt hatte, konnte sie aufsagen und sie wusste auch noch erstaunlich viele der damals gebüffelten Jahreszahlen. Vor allem in ihrem Beruf war sie sehr erfolgreich und äußerst geschäftstüchtig gewesen.
In praktischen Belangen allerdings besaß sie zwei linke Hände.
Einen Reifen wechseln?? Unmöglich!!
Was nun?
Entschlossen schnappte sie ihre Tasche und den Zeichenblock. Dieser war beinahe schon ein Erkennungszeichen, denn Oma hatte ihn immer und überall bei sich.
So etwa zwei bis drei Kilometer zurück lag eine Raststätte, bei der sie soeben vorbeigefahren war. Mit der Tasche und dem Zeichenblock unter dem Arm machte sich die rüstige Frau auf den Weg dorthin.
In der Gaststube ging es hoch her. Das Lokal war gut besucht, und Oma musterte die Gäste aufmerksam. Drei Lastwagenchauffeure, die an einem runden Tisch in der Ecke saßen, schienen ihr eine gute Wahl.
Sie nahm am Nebentisch Platz und bestellte starken Kaffee. Sie zückte ihren Bleistift und begann zu zeichnen.
Das war nun etwas, was Oma wirklich toll konnte. Zeichnen war ihre Leidenschaft, ihr Freizeithobby.
Auffällig sah sie zu den Lastkraftfahrern, runzelte die Stirn, radierte, blickte erneut zum Nebentisch, schmunzelte zufrieden und zeichnete emsig weiter. Flink glitt der Bleistift über den Block.
Den Männern entging ihr seltsames Benehmen natürlich nicht.
Unruhig rutschten sie hin und her. Vorerst versuchten sie, die zeichnende Frau zu ignorieren und ein fesselndes Gespräch zu führen. Aber es gelang nicht. Nichts, nicht einmal ihre diversen Liebesabenteuer waren jetzt so interessant wie am Nebentisch die ältere Frau und ihr Zeichenblock.
Unverdrossen zeichnete sie weiter und schien die Aufregung der Männer gar nicht zu bemerken. Dabei dachte sie: „Na, wird denn da keiner neugierig? Wie lange dauert das denn?“
Endlich stand einer der Männer auf. Er trat an Omas Tisch. Linkisch verbeugte er sich ein wenig und fragte verlegen: „Was machen Sie denn da? Darf man hingucken? Sie schauen nämlich immer zu uns herüber – da sind wir neugierig geworden?“
„Ja, ja“, antwortete Oma, ohne aufzublicken, „ist schon okay, wissen Sie, ich bereite eine Vernissage vor – da bin ich stets auf der Jagd nach Charakterköpfen und ausdrucksstarken Gesichtern.........es stört Sie doch nicht, oder?“
Der Mann wurde augenblicklich um zwei Zentimeter größer und beeilte sich, seine ungeteilte Bewunderung auszudrücken. „Nein, nein, keinesfalls.“, versicherte er, „ich finde es toll, was Sie da machen. Diese Skizzen sehen fantastisch aus. Man kann sich sofort darauf erkennen – wirklich prima!“
Nun umringten auch die anderen Omas Tisch, staunten und bewunderten.
Schließlich stellte einer von ihnen die Frage, ob man diese Zeichnungen kaufen könne...?
„Na ja“, zögerte Oma nachdenklich. Doch dann meinte sie achselzuckend: „ Wissen Sie was? Verkaufen tu ich sie nicht. Aber ich schenke demjenigen eine, der mir meinen kaputten Reifen wechselt. Ich habe nämlich einen Platten......“
Sofort wollte jeder der lieben, alten Dame diese Gefälligkeit erweisen.
Auch der Wirt, neugierig geworden, war herangetreten. Breit stellte er sich vor Oma hin. Die Hände lagen auf seinem dicken Bauch, der sich wie ein großer Gummiball unter der weißen Schürze spannte. „Und ich“, mischte er sich ins Gespräch, „spendiere Ihnen ein feines Essen, wenn Sie auch noch meinen Charakterkopf zeichnen....wäre das ein Angebot?“
Oma fühlte sich ein wenig überrumpelt und sah ihn prüfend an.
„Na ja“, überlegte sie, „ein feines Essen wäre schon eine prima Sache.“ Sie hatte zu Hause ja nur eine Kleinigkeit zu sich genommen, denn Kochen war genauso wenig ihre Stärke wie Reifenwechseln. – Leicht amüsiert dachte sie an ihre Enkelkinder, die plötzlich keinen Hunger mehr verspürten, wenn sie gekocht hatte. „Oh, es sieht super und sehr verlockend aus, es duftet auch köstlich.“, sagten sie. Nur leider, leider waren sie soooo voll. Es ginge beim besten Willen nichts mehr hinunter. – Doch leise und unauffällig plünderten sie hinterher die Speis und den Kühlschrank, um ihren Appetit mit Obst und Naschereien zu stillen.
„Ich kann sie ja verstehen“, gestand sich Oma, „mir schmeckt´s ja selber nicht.“
Sie lächelte bei diesem Gedanken und entschloss sich, die Möglichkeit zu einer köstlichen Mahlzeit nicht verstreichen zu lassen.
„Ja, wenn die anderen Herren noch so viel Zeit aufbringen können, nehme ich Ihr Angebot gerne an. Danke.“
Als der Kellner das Essen brachte, war das Bildnis des Wirtes auch schon fertig. Es bekam einen Ehrenplatz in diesem Lokal.
Wenig später verließ Oma, ohne einen Euro gezahlt zu haben, von den drei Lastwagenfahrern eskortiert, die Raststätte. Sie fuhren in einem Lastwagen zu Omas kleiner Kiste. In wenigen Minuten war die Panne behoben, der Reifen gewechselt.
Man bedankte sich gegenseitig und alle waren zufrieden.
Die Kraftwagenfahrer kehrten mit ihren Zeichnungen in die Raststätte zurück, während Oma in ihr Auto stieg und fröhlich davonfuhr.
Bald würde sie bei den Kindern sein und sogar eine lustige Geschichte mitbringen.
Natürlich würde ihr wieder einmal keiner glauben!
Und warum, meint ihr, wird ihr niemand diese Geschichte glauben, obwohl sie dieses Abenteuer doch tatsächlich selbst erlebt hatte?
Ich verate es euch: Weil Oma immer Geschichten mitbringt, immer und von überall.
(Vorwort aus meinem Kinderbuch "Aus Omas Geschichtenkiste ..")
(C) Ingrid Höttinger