Fantasy & Horror
Elseworld Chronicles

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"Elseworld Chronicles"
Veröffentlicht am 18. Juli 2009, 838 Seiten
Kategorie Fantasy & Horror
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Elseworld Chronicles

Elseworld Chronicles

Beschreibung

Inspiriert von Herr der Ringe, erzählt diese Geschichte von Will, der gegen seinen Willen in das Land Aramar geholt wird, da er der Auserwählte sein soll, der das Land vor den vier dunklen Königen und dem schrecklichen Beléssan befreien soll. Eine Aufgabe, die allerdings als äußerst schwierig gestaltet...

Die Gerichtsverhandlung

 

Alles schwieg, als der Bursche den Saal betrat. Nicht weil sie das Gericht ehrten; es war schon oft bei Verhandlungen zu Zwischenrufen und Ausschreitungen gekommen. Doch in diesem Fall wusste keiner etwas zu sagen, das in dieser Situation angebracht war. Noch nie in der Geschichte Aramars hatte es das gegeben, dass ein vierzehn Jahre alter Knabe vor Gericht stand.
  

Der junge Mann, mit hellbraunen Haaren und grünen Augen, schritt den Gang zwischen den Sitzbänken entlang, auf denen die Anwesenden saßen. Er trug eine braune Hose und ein Hemd grün wie Schlamm. Die Kleidung war zerrissen und durchgescheuert von zahllosen Nächten in einer Gefängniszelle. Seine Hände waren in Ketten gelegt, und er wurde von einer Wache geführt. Sein Blick war zu Boden gerichtet und abwesend. Er ging langsam, aber doch ruhig. Er machte den Eindruck eines Menschen, der wusste, was ihn erwarten würde, und es akzeptierte. Er machte keine Anstalten, sich zu wehren oder wegzulaufen. Er war bereit für das Unvermeidliche.

  Seine Haut war gerötet, und voller blauer Flecken und Kratzer. Sie waren nicht nur eine Erinnerung an die Zelle, sondern auch an die Folter, die benutzt wurde, um ein Geständnis aus ihm herauszupressen. Da er jung war, wurde er von der härteren Folter verschont, im Glauben, dass auch die leichten Grausamkeiten ihn schon zum Reden bringen würden. Doch sie taten es nicht. Der Junge hatte, seit er gefasst wurde, kein einziges Wort mehr gesagt.

  Darum fand nun diese Verhandlung statt. Man versuchte anderweitig, die Wahrheit zu erfahren. Es waren Zeugen geladen, die gegen den Burschen aussagen sollten. Man hoffte zudem, ihn mit freundlichen Worten zum Sprechen zu überreden.
 

Die Leute starrten ihn an, als er an ihnen vorbei ging, doch sie schwiegen. Kein Wort wurde miteinander gewechselt, und keiner flüsterte seinem Sitznachbarn etwas zu. Nur ein Mann war abgelenkt, denn eine einsame Fliege summte durch den Raum und um seinen Kopf. Der Mann wedelte mit seiner rechten Hand in die Richtung des lästigen Insekts, und dieses flog davon, um sich jemand anderen zu suchen, den es ärgern konnte.
 

Der Gerichtssaal, in dem das Verfahren stattfand, war ein sehr großer Raum, mindestens viermal so breit und lang wie ein Pferdewagen. Die Wände waren bedeckt mit Platten aus rávatar, dem edlen Holz aus dem Wolfshain. Große Fenster ließen Licht in den Raum. Sie waren mit dem dunklen Holz des Hornbaums gerahmt und ihr oberes Ende beschrieb einen Bogen. Das Fensterglas war in Scherben unterteilt, die gelb und blau schimmerten. Heute allerdings waren die Fenster geöffnet, und Sonnenlicht strömte herein. Draußen vor dem Fenster wuchs eine mächtige Silberbirke, und um sie herum wucherte ein Drachenzahn-Busch, den man so nannte, weil seine Blüten wie Drachenmäuler schienen. Goldgelbe Naugûr-Blumen sprossen zwischen großen Gruppen von Blauklee empor. Die Pflanzen und Blumen wuchsen wild, denn niemand kümmerte sich darum, sie zu stutzen. Den Menschen war das Geschehen innerhalb des Gerichtssaales wichtiger.
 

Den Jungen schien es nicht zu stören, dass er die Augen aller wie ein magnetischer Stein anzog. Und doch war sein Blick, so abwesend er auch zu sein schien, finster. Er warf einen düsteren Schatten auf sein Gesicht. Obwohl er sein Schicksal akzeptierte, so war er doch alles andere als glücklich darüber. Daran zweifelte keiner der Anwesenden.
 

Als er vor dem Richtertisch zu stehen kam, der ihn überragte, da stand er genau im Licht der Sonne, das durch ein Fenster auf der rechten Seite hereinfiel. Nun wurde die eine Hälfte seines Gesichtes vom Licht angestrahlt, während die andere im Schatten lag. Für die, die es sahen, war es ein unheimlicher Anblick. Viele sahen dies als Zeichen seiner dunklen, zwiegespaltenen Seele, und sie begannen, sich vor dem Jungen zu fürchten.
  

Die Leute erhoben sich, als der Richter in den Saal stürmte. Er war ein etwas dicklicher Mann, mit nur noch wenigen Haaren auf seinem kleinen Kopf, und gekleidet in einer dunkelroten Robe. Es war nicht die erste Verhandlung, die Richter Hara führte, doch ein junger Knabe stand noch nie vor ihm. Aus diesem Grund war Hara sichtlich angespannt, ja fast schon unsicher, wie er in einem solchen Fall entscheiden sollte. Es missfiel ihm sehr, ein Urteil über Menschen zu sprechen, die zu jung für Verbrechen und Sünde sein sollten. Doch er wollte auch gerecht agieren und nicht für jemanden eine Ausnahme machen.
 

Nur unweit vom Richtertisch entfernt saß auf einem hölzernen Stuhl Thêl. Thêl, mit dunkelblonden Haaren, trug das Gewand eines Wanderers und Kriegers. Er wirkte fehl am Platz neben einem ehrwürdigen Richter, doch niemand nahm an seiner Anwesenheit Anstoß. Er war einer der klügsten Köpfe des Landes, und bei allen Leuten in Aramar war er respektiert und gern gesehen. Seine Ratschläge waren immer wertvoll, und daher war Hara froh, ihn an seiner Seite zu haben. Die beiden waren alte Freunden, weshalb ihn der Richter eigens für diese außergewöhnliche Verhandlung hergebeten hatte.
  

Nachdem der Richter Platz genommen hatte und es die Leute ihm nachgetan hatten, blickte er dem Burschen in die Augen, doch dieser erwiderte den Blick nicht. Er starrte vor sich hin, nicht mit leeren Augen, aber doch nicht auf den Mann vor ihm konzentriert. Hara und Thêl hatten beide wenig Hoffnung, dass er plötzlich zu Sprechen beginnen würde.
 

„Nun, Gaman, du weißt, warum du vor mich getreten bist, nicht wahr?“ begann Hara, doch Gaman, wie der Knabe hieß, blickte ihn weiterhin nicht an. „Man hat dich wegen Mordes zu mir gebracht. Verstehst du? Du bist hier, weil du einen Menschen getötet hast!“
 

Plötzlich wanderten Gamans Augen zu dem dicken Mann hinter dem Richtertisch hinauf, doch sein Blick blieb weiterhin kühl und respektlos. „Diese Frage haben sie mir im Kerker nicht gestellt. Nicht so.“ sagte er plötzlich. Hara und Thêl staunten, als er das sagte. Sie waren verwundert, aber auch erfreut, dass der Junge sprach. Allerdings kam es Thêl seltsam vor. Die Art, wie er sprach, war ungewöhnlich, zumindest für einen Menschen seines Alters. Seine Stimme war ruhig und fest, wie die eines Erwachsenen, der seiner Sache sicher ist. Gaman machte den Eindruck eines reifen, unbeugsamen und harten Mannes, den Jahre harter Arbeit und Krieg geformt haben. „Diese Frage haben sie mir nicht gestellt.“ wiederholte der Junge weiter. „Sie befahlen mir immer nur, zu gestehen. Sie sagten mir, sie wüssten, was ich getan habe, und dass ich einfach gestehen sollte. Dann würden sie mir die Schmerzen ersparen. Aber ich sagte nichts. Als sie mich auspeitschten. Als sie mir die Daumen quetschten. Als sie mich des Essens und des Wassers, und schließlich auch des Schlafes beraubten. Ich sagte kein Wort.“

„Sehr mutig. Nicht jeder kann der Folter widerstehen.“ sagte Hara. „Doch wir sind hier nicht im Kerker. Für dich gibt es hier nur eines, und das bin ich. Ich sage dir: Du hast einen Menschen ermordet. Willst du gestehen?“

„Nein.“ erwiderte Gaman.

„Nein? Inwiefern nein?“ fragte Hara. „Du willst nicht gestehen?“

„Nein, ich will sagen, ich habe niemanden getötet. Könnte ich nicht.“ antwortete der Junge.

„Aber wir haben Zeugen, die dich bei dem Mord beobachtet haben.“ erwiderte Hara.

„Dann lügen die eben. Ich war’s nicht.“ sagte Gaman, ohne eine Miene zu verziehen.

„Nein. Nein, ganz sicher nicht. Alle drei Zeugen sind ehrliche und respektierte Leute. Ich glaube ihnen – ganz anders dagegen dir.“ sagte Hara.

„Ihr beleidigt mich.“ meinte der Junge. „Ihr glaubt mir nicht? Ich lüge nicht.“

„Doch, das tust du.“ erwiderte der Richter streng. „Die Zeugen sprechen die Wahrheit. Du lügst! Sag die Wahrheit, dann machst du es dir leichter. Das Urteil wird milder ausfallen.“
 

Plötzlich änderte sich die Stimmung des Knaben, wie das Wetter im späten Frühling. Wo in seinem Gesicht gerade noch dunkle Wolken gehangen waren, da tobte jetzt ein heftiges Gewitter. Er wurde aggressiv. Es war, als würde plötzlich ein ganz anderer Mensch im Raum stehen.

„Na schön! Ich gebe es zu! Ich habe ihn umgebracht!“ schrie er zornig.

„Und dann hast du seinen Goldschatz an dich gebracht, nicht wahr?“ fragte Hara weiter, unerbittlich, wie es seine Art war. Wie ein Raubtier, dass seine Beute nicht mehr hergibt, wenn es sie einmal gepackt hat, so ließ er nicht locker.

„Sein Goldschatz? Oh nein, jetzt ist er mein Eigen. Er ist mein Schatz!“ sagte Gaman.

„Nun, wenn du jetzt ins Gefängnis gehst, wirst du ihn wohl nicht gebrauchen können!“ sagte Hara streng.
 

Wieder schlug Gamans Stimmung um. Er war noch immer zornig, doch wirkte er gleichzeitig auch verwirrt. „Würdet Ihr das bitte wiederholen?“ fragte er mit einem wütenden Unterton.

„Ich sagte, wenn du ins Gefängnis gehst, dann...“ antwortete Richter Hara.

„Ins Gefängnis? Ich bin erst Vierzehn! Ich bin noch nicht erwachsen, dass Ihr mich einsperren könnt wie einen Mörder oder Diebsgesindel!“

„Wer alt genug ist, ein Schwert zu führen, der wird auch zur Rechenschaft gezogen, wenn er jemandem damit absichtlich erschlägt.“ warf Thêl plötzlich ein, der die ganze Szenerie bisher schweigend beobachtet hatte.
 

Noch bevor Gaman darauf etwas erwidern konnte, sagte Richter Hara: „Thêl spricht wahr. So sagt es unser Gesetz. Und du, Gaman, bist ohne Zweifel alt genug, ein Schwert zu halten und zu benutzen. Das hast du getan. Es besteht auch kein Zweifel daran, dass du es mit Absicht und in böser Gesinnung geführt hast. Wärest du von einem Räuber angegriffen worden und hättest dich verteidigt, so gäbe es keinen Grund, dich anzuklagen, doch du erschlugst jemanden beabsichtigt. Und da du es zugegeben hast, wirst du auch verurteilt.“
 

Nun wusste Gaman, nicht was er sagen sollte, doch man konnte sehen, dass er wusste, dass er keine Chance mehr hatte. Ihn ihm rasten die Gedanken, und er suchte nach einer Möglichkeit, sich vor dem Urteil zu bewahren.

„So ist das also? Ihr sprecht mich schuldig, ohne eine Beratung, ohne Zeugen, ohne die Möglichkeit, mich zu verteidigen?“ sagte er.

„Sprich keinen Unsinn? Was glaubst du denn?“ erwiderte Hara und schüttelte den Kopf. „Du hast gerade gestanden. Eine Verteidigung würde dir nichts nützen. Auch die Zeugenaussagen sind nun bedeutungslos. Es gibt nichts, was nun noch etwas ändern würde.“

„Wozu also das alles?“ keifte Gaman plötzlich. „Wozu schleift ihr mich dann hierher? Damit ihr euch über mich lustig machen könnt, alle miteinander? Damit ihr mich angaffen könnt wie ein Vieh, das ihr gedenkt zu schlachten? Oder dient das alles nur eurer Unterhaltung? Dass ihr einmal eure mit Arroganz erhobenen Köpfe senken könnt, um selbstherrlich auf ein niederes Landei wie mich herabzublicken und euch über meine Armut zu amüsieren? Ihr eingebildeten Leute! Ihr haltet euch für so wichtig und besonders. Eingebildete Narren! Ihr habt keine Ahnung, wie schwer das Leben in einem Dorf fern jedes Reichtums sein kann. Was wisst ihr denn? Nichts! Ihr habt doch allein zwanzig Diener, die ihr nur herbeirufen müsst, damit sie euch...“

„Genug!“ unterbrach Richter Hara plötzlich. „Das hier ist keine Farce. Hier wird Gerechtigkeit gesprochen. Heute hat dich Gerechtigkeit ereilt. Egal was du sagst, es wird nichts daran ändern. Gar nichts.“

Als er diese Worte vernahm, blieben Gaman die Worte im Hals stecken. Er dachte angestrengt nach, doch es fiel ihm nichts mehr ein, das er noch sagen konnte „Ich... ich akzeptiere dieses Urteil nicht. Ich...“ stotterte er.

„Nun, du hast jemanden getötet, deshalb wirst du eingesperrt. Ob du dies willst oder nicht, ist irrelevant.“ sagte Hara mit der strengsten Stimme, die er vorzuweisen hatte und die er sonst nur bei brutalen Mördern und Verbrechern anwandte. „Genug. Das letzte Wort ist gesprochen!“
  

Damit war das Urteil beschlossen. Richter Hara verurteilte Gaman zur Gefängnisstrafe, bis er das Mannesalter erreicht hatte. Danach sollte erneut beraten werden, was mit dem Jungen zu tun sei. Einen erwachsenen Mann würde nach einem Mord die Hinrichtung erwarten. Dies aber war ein besonderer Fall, über den keiner ohne Nachdenken urteilen wollte.
 

Nachdem dieser Rechtsspruch beschlossen wurde, sagte Gaman kein Wort mehr zu einem der Anwesenden. Er blickte wieder ziellos vor sich hin und wurde aus dem Saal abgeführt. Währenddessen murmelte er ständig etwas, doch es war so leise, dass keiner etwas verstand, und man maß ihm keine Bedeutung bei.
 

Schließlich verließen auch die Zuschauer den Raum. Viele redeten heftig miteinander über das, was sie gerade sahen. Viele waren entsetzt darüber, und vor allem Gamans Beleidigungen ließ die Leute den Kopf schütteln. Manche ließen sich lautstark darüber aus, was sie mit dem Jungen gemacht hätten, und wie sie ihn gestraft hätten, als wären sie Experten in solchen Dingen. Es waren sich aber alle einig, dass es schlimme Zeiten waren, in denen solche Verbrechen geschehen.
  

„Was sagst du dazu?“ fragte Hara Thêl, nachdem die Leute den Saal verlassen hatten.

„Merkwürdig. Äußerst merkwürdig.“ entgegnete Thêl und strich sich durch seinen Bart. „Woher, sagtest du noch, kam dieser Bursche?“

„Aus Nauras.“ gab Hara zur Antwort.

„Nauras? Eigenartig. Ich kenne dieses Dorf. Einer der friedlichsten Orte, die ich je gesehen habe, voll Frieden und Glück. Ich kann mir nicht vorstellen, dass einer der Bewohner nur wegen ein bisschen Gold zum Mörder wird.“ meinte Thêl.

„Nun, es wäre nicht das erste Mal, dass du dich irrst. Außerdem hat er es zugegeben.“ erwiderte der Richter.

„Zweifellos, ich habe es gesehen.“ entgegnete Thêl. „Trotzdem, irgendwas stimmt hier nicht. Was wir hier gesehen haben, kommt mir... unnatürlich vor. Obwohl ich zugebe, dass das nicht völlig unerwartet kam.“

„Wieso, was meinst du?“ fragte Hara.

„Die Prophezeiung.“ sagte Thêl. Seine Stimme erinnerte Hara plötzlich an einen Priester, der vor den treuen Kirchengängern über die Götter predigt. „Die Prophezeiung hat vorausgesagt, dass merkwürdige Dinge geschehen werden, wenn die Zeit gekommen ist, da der Auserwählte aus der anderen Welt auftauchen wird und uns endlich von den Vier befreit. Ein Verbrechen, wie es Aramar noch nie gesehen war. Dies war eines der seltsamen Ereignisse, die geschrieben stehen.“
 

Hara musste lachen, als er dies hörte. „Die Prophezeiung? Ist das dein Ernst? Also ich weiß ja nicht...“

„Glaubst du etwa nicht daran?“ fragte Thêl.

„Nein, nicht wirklich.“ antwortete der Richter

„Nun, vielleicht solltest das tun, mein Freund.“ meinte Thêl.

„Sollte ich das? Nun ja, reden wir weiter, wenn uns das Vieh auf der Weide stirbt und brennende Hunde vom Himmel regnen.“ sagte Hara und lachte laut. Dann klopfte er Thêl auf die Schulter. „Ach komm, ich will dich nicht beleidigen, dich und deinen Glauben. Doch du kennst mich. Für mich sind solche Märchen eine nette Ablenkung, so wie Frauen. Aber mehr auch nicht. Jetzt komm, lass uns gehen.“
 Langsam schritten Hara und Thêl aus dem Saal. Das dumpfe Pochen ihrer Schritte hallte durch den leeren Raum, und das Echo hatte einen unheimlichen, jenseitigen Klang. Nachdem sich die Türen des Gerichtssaales geschlossen hatten, wurde es still. Nur die Fliege summte noch immer in dem Raum, flog ein wenig umher und schwirrte dann aus dem Fenster, als letzte Zeugin der seltsamsten Gerichtsverhandlung, die es in Aramar je gegeben hat.

Willkommen in Aramar!

Will rannte. Er rannte, wie er selten zuvor gerannt war. Dabei war das überhaupt keine Seltenheit, und er war schon fast gewöhnt daran. Es kam mittlerweile fast jeden Tag vor, dass er von irgendwelchen Klassenkameraden davonlaufen musste. Dabei wusste Will nicht einmal, warum. Er hatte doch nie etwas Böses getan. Er war zwar ein Außenseiter, der Andere gerne verpetzte und sich so bei den Lehrern einschleimte. Auch unternahm er nie etwas mit seinen Klassenkameraden, sondern war ein Einzelgänger. Aber war das genug, um ihn zu verachten? Oder lag es daran, dass er fast so etwas wie ein Streber war, der Anderen nur zu gerne die Chance auf eine gute Note vor der Nase wegschnappte? War das der Grund? Will wusste es nicht, und er dachte in diesem Moment auch nicht darüber nach.  

Drei Burschen waren es, die ihn gerade verfolgten. Zwei davon kannte er nicht, doch er konnte sich nicht alle merken, die ihn verachteten. Vielleicht waren sie auch einfach neu. Aber den Dritten, der an der Spitze der Verfolger lief, kannte er gut. Es war Donny Macken, ein großer, gewichtiger Typ mit langen schwarzen Haaren und einem mit Pickeln übersäten Gesicht. Er war jedes Mal mit dabei, wenn Will verfolgt wurde. Scheinbar hatte er irgendeinen persönlichen Grund, ihn zu hassen. Oder es machte ihm einfach solchen Spaß, ihn zu piesacken, dass er freiwillig dabei war, auch wenn er gar keinen Grund dafür hatte.
 

Er kannte einige solcher Typen, die für all die Bosheiten, die sie taten, keinen wirklichen Grund hatten. Sie taten sie einfach aus Spaß, oder weil ihnen langweilig war. Für Will, der auf Vernunft und Logik vertraute, waren solche Menschen ein Rätsel; unverständlich. Und obwohl er es nicht zugeben wollte, machten sie ihm fast ein wenig Angst.
  

Er lief so schnell, dass seine blonden Haare durchgeweht wurden, und der silberne Ohrring, den er im linken Ohr trug, schnipste gegen seine Wange. Regen peitschte in sein Gesicht. Will verengte seinen Augen zu schmalen Schlitzen, und er presste seine Lippen zusammen. Der Regen trübte ihm die Sicht, doch er sah genug, um zu wissen, wohin er lief. Dass er bald triefnass war, kümmerte ihn wenig. Zuhause würde er sich trockene Sachen anziehen können, doch erstmal musste er es heil nach Hause schaffen.
 

Auch wenn ihn der Regen nicht kümmerte, der die Straßen mit einem rhythmischen Trommelwirbel erfüllte, so machte er sich etwas Sorgen, dass er ausrutschen könnte. Der Asphalt, der vom Regen glänzte wie frisch poliert, war glatt und rutschig. Er hatte keine Angst davor, sich beim Hinfallen zu verletzen. Doch in dem Fall könnten seine Verfolger ihn einholen, und was sie dann mit ihm anstellten... er wollte nicht daran denken.
 

Zu oft war er mit Prellungen und blauen Flecken heimgekommen, und darauf konnte er herzlich verzichten. Dabei machten ihm die Schmerzen nichts aus. Es waren seine Eltern, mit denen zu diskutieren er keine Lust hatte. Jedes Mal, wenn er mit Verletzungen heimgekommen war, da hatten sie ihn schief angesehen und gefragt, was er denn nun schon wieder angestellt hätte. Vorwürfe hatten sie ihm gemacht, dass er sich doch nicht prügeln soll. Ihr einziger gut gemeinter Vorschlag war, dass wenn ihn jemand ärgert, soll er ihn doch einfach ignorieren, dann würde der schon von selbst aufhören. Versucht hatte er es oft, und... nun, mittlerweile wusste er, dass Ignorieren sehr wehtun konnte. Darum verließ er sich nicht mehr auf die Ratschläge seiner Eltern, die ihm mehr Ärger einbrachten als sie vermieden.
 

Dabei waren seine Eltern keine herzlosen Menschen. Sie hatten einfach nur eigene Probleme, in ihren Berufen, aber auch miteinander, sodass sie für ihren Sohn wenig Zeit hatten und ihm immer öfters zu verstehen gaben, dass er für sie mehr ein Ärgernis war als der einzigartige Spross ihrer Lenden. Will wusste, dass es nicht so war. Er wusste, dass seine Eltern ihn liebten. Aber manchmal, wenn sie ihn anschnauzten, da hatte er das Gefühl, ihm bräche das Herz.
  

Das Trio, das schreiend hinter ihm herlief, trieb Will an. Er achtete ganz genau, wohin er lief. Er rannte nur dort, wo es den Verfolgern unmöglich war, ihn irgendwie einzukreisen: über große Plätze und weite Straßen, und enge Gassen mied er. Mittlerweile hatte er darin schon so viel Erfahrung im Davonlaufen, dass er genau wusste, wie er laufen musste, um am schnellsten zu entkommen. Dummerweise waren aber auch seine Verfolger im Nachlaufen sehr bewandert.
 Er lief an einer Kirche vorbei, die er von seinen Kindestagen kannte. Er blickte an ihrer dunkelgrauen Fassade empor. Früher war er oft drin gewesen, mit seinen Eltern, als alles noch in Ordnung war. Aber heute würde ihm die Kirche keinen Segen bringen, und darum ließ er sie links liegen.

Will eilte quer über die Grünfläche neben der Kirche. Das Gras war vom Regen aufgeweicht, fast wie ein Sumpf, und für einen Augenblick fürchtete er, darin zu versinken. Er lief durch eine große Pfütze, deren schmutziges Wasser spritzte und seine Hose durchnässte, was bei dem heftigen Regen allerdings kaum einen Unterschied machte. Die paar Leute, die dort umhergingen, erschraken, als er und seine Verfolger vorbeirannten. Er glaubte zu hören, wie ein Mann „Diese verdammte Jugend von heute!“ schimpfte, aber er kümmerte sich nicht darum und lief einfach weiter.
  

Langsam begannen Wills Beine zu schmerzen. Er wusste gar nicht genau, wie lange er schon gerannt war, doch es kam ihm nicht lang vor. Vermutlich war es sein Rucksack, der mit allerlei Schulbüchern und einer Wasserflasche gefüllt war, der ihm die Kraft raubte. Leider hatte er gerade heute die besonders dicken Bücher mit. Er überlegte, ob es klug wäre, Ballast abzuwerfen und den Rucksack wegzuschmeißen. Aber er brachte es nicht übers Herz, denn er mochte seine Bücher, und er war sich sicher, dass er es auch mit Rucksack irgendwie schaffen würde. Also biss er die Zähne zusammen und lief weiter. Bald aber würde ihm die Puste ausgehen. Deswegen musste er schnell eine Möglichkeit finden, die drei Verfolger loszuwerden.
 Beim Vorbeilaufen sah Will jede Menge Seitengassen, und er überlegte, ob ihn eine davon retten könnte. Dann aber stellte er sich vor, was passieren würde, wenn er eine wählte, die in einer Sackgasse endete. Er säße in der Falle, und all die Rennerei wäre umsonst gewesen. Er würde wieder einmal verprügelt werden und konnte sich auf eine erneute Diskussion mit seinen Eltern einstellen. Das wollte er vermeiden, und er entschied sich, das Risiko nicht einzugehen.  Plötzlich entdeckte Will die Lösung für sein Problem: Einige Meter links von ihm war der Stadtrand, und dort lag der alte Wald.

Es war ein dichter und dunkler Wald, in dem man sich leicht verirren konnte. Die Bäume standen sehr nahe beieinander und ließen nur wenig Licht durchscheinen. Es war fast, als stünden sie gerade deshalb nah beieinander, dass ja kein Licht den Wald betreten konnte. Je tiefer man hineinging, desto dunkler wurde es. Die, die sich hineingewagt hatten, sagten dass es ab einer bestimmten Tiefe tatsächlich stockdunkel werde. Deren Zahl war aber so gering, dass nur einige wenige Leute ihnen Glauben schenkten. Man hielt es für Unsinn, denn Bäume brauchten Licht um zu wachsen, und deshalb wäre es widersinnig, dass sie sich davon abschirmten. Außerdem lachten die meisten über den Gedanken, dass Bäume einen eigenen Willen besaßen und sich aussuchten, wie sie wuchsen.
 

Tatsache aber war, dass es allgemein hieß, dass der Wald verflucht sei. Erklärungen dafür gab es einige: Manche sprachen von einer Hexe, die vor Jahrhunderten einen Fluch über die Bäume ausgesprochen hatte. Andere erzählten, dass ein wahnsinniger Mörder im Wald Leuten aufgelauert und getötet hat, und dann ihre Leichen zwischen den Bäumen verscharrt hat. Die Seelen der Verstorbenen seien dann in die Bäume gefahren und würden sich nun an den Leuten rächen. Einige wenige behaupteten, dass die Bäume eigentlich getarnte Außerirdische waren, die sich von Menschen ernähren. Solche Leute glaubten aber meist auch, dass alle Politiker Außerirdische waren, die die Eroberung der Erde durch ihre Rasse vorbereiteten.

Einig waren sich die Leute nur in dem Punkt, dass sich keiner erinnern konnte, dass der Wald einmal „normal“ war. Soweit die Leute zurückdenken konnten, war der Wald stets finster und unheimlich gewesen.
 

Die Bäume dort waren alle knorrig und verdreht, und kaum einer davon hatte Blätter oder Nadeln. Sie sahen allesamt tot aus, doch andererseits meinten einige Leute, dass sie fast lebendig wirkten. Die, die im Wald waren, sagten, dass sie fühlen konnten, beobachtet zu werden; als würden sie die Bäume anstarren. Manche erzählten auch von unheimlichen Geräuschen, von Schreien und Gebrüll, dass nicht von Tieren und schon gar nicht von dieser Welt stammte.

Einige Leute erzählten, dass die Bäume Kinder, die sich in den Wald wagen, entführen und töten, und dass die Geister der Toten im Wald spukten. Deswegen nannte man ihn auch den Toten Wald. Manche bezeichneten ihn auch den Monsterwald, oder Menschenfresserwald. Und viele Kinder, in ihrer unschuldigen Fantasie, nannten ihn den „Geh hinein und du bist tot“-Wald.
 Tatsächlich waren in der Vergangenheit einige Kinder verschwunden, die in den Wald hineingingen. Doch dies wird mit Verbrechern und Kinderschändern erklärt. Tatsächlich waren es eher die Älteren, die glaubten, dass etwas Übernatürliches im Wald vor sich ging. Die jungen Leute hielten die Geschichten für Schauermärchen. Viele Jugendliche gingen sogar als Mutprobe hinein. Dieser Wald konnte Wills Rettung sein. Darin konnte er seine Verfolger sicherlich abschütteln. Insgeheim hoffte er, dass sie sich gar nicht hinein wagen würden.  

Will legte noch einen Zahn zu und rannte in Richtung Wald, während ihm die drei Jungs auf dem Fuße folgten. Für einen Moment zögerte er, hineinzugehen. Er dachte, dass an den Geschichten vielleicht doch etwas dran sein könnte. Gleich darauf aber dachte er daran, dass er nicht an Geister oder Monster glaubte, und lief dann hinein.
 

Nachdem er den Wald betreten hatte, folgte er ein kurzes Stück den Trampelpfad, der in den Wald hineinführte und bald endete, denn kaum einer ging wirklich weit hinein. Vorbei an den verfaulten Bäumen, rannte er schließlich direkt in den Wald hinein. Er lief zwischen den Bäumen hindurch, eilte durch das Unterholz und suchte nach einer Möglichkeit, seine Verfolger abzuschütteln.
 

Dabei war er überrascht, wie anders dieser Wald doch aussah. Er war tatsächlich sehr dunkel, doch nicht so sehr, dass man nichts hätte sehen können. Die Luft war dick, und ein seltsamer Geruch lag in ihr, den Will nicht einordnen konnte. In dem ganzen Wald gab es nichts Grünes, keine einzige Pflanze wuchs zwischen den Bäumen. Einzig die dicken Wurzeln der Bäume krümmten sich über den Boden, und einige abgefallene Zweige lagen herum. Es gab auch kein Anzeichen von Tieren, denn es war nichts zu hören außer Wills eigenen Schritten. Will sah auch keine einzigen Insekten, die umherflogen oder umherkrabbelten, es sei denn, sie versteckten sich unter Baumrinden und unter der Erde.
  

Will rannte keuchend weiter, und er sah sich verzweifelt um und überlegte, wie er sich nun retten konnte. Seine Verfolger hatten nämlich nicht aufgegeben, denn er konnte hören, wie ihre eiligen Schritte den Erdboden erschütterten.
 

Da sah Will einen großen alten Baum, von dem auf der Kopfhöhe eines Erwachsenen ein dicker Ast abstand, und auf den er klettern konnte. Da er gerade einen Vorsprung hatte, konnte er sich hier vielleicht vor den Dreien verstecken. Er blickte sich schnell um, ob er auch außer Sichtweite war, und dann, flink wie ein Wiesel, huschte er über einige kleinere Äste den Baum hinauf und kauerte sich an eine Stelle, wo er sich hinter dem Baumstamm verstecken konnte, und wo er sich sicher glaubte.
 

Tatsächlich dauerte es nicht lange, als er knackende Zweige und Keuchen hörte. Und gleich darauf tauchten die drei Verfolger auf, jetzt langsamer. Will hielt den Atem an. Doch er hatte Glück. Keiner der Drei bemerke ihn in seinem notdürftigen Versteck. „Wo ist diese Wanze?“ hörte er einen sagen. „Vielleicht ist er verschwunden, so wie die anderen Kinder“ erwiderte der andere nervös. „Das sind doch nur Schauermärchen. Idiot.“ zischte der erste. „Klappe halten! Weiter!“ bellte Donny, und die Beiden taten es. Dann eilten sie weiter, tiefer in den Wald hinein.
  Will strich sich durch seinen Bart, der aus seinem Kinn spross. Nachdem er die Verfolger nicht mehr hören konnte, musste er leise lachen. Er war erleichtert. Er atmete einige Male tief durch. Sein Herz beruhigte sich, und er wollte sich noch eine Minute ausruhen, bevor er vom Baum zu springen und nach Hause zu gehen würde. Doch als er sich erhob, begann plötzlich der Ast, auf dem er hockte, zu knacken und zu knarren, und mit einem Mal zerbrach er. Will hatte übersehen, dass die Bäume schon alt waren und ein menschliches Gewicht nicht lange tragen konnten. Unsanft landete auf der Erde, doch zumindest auf seinen Beinen. Leider war der Ast nicht leise zerbrochen. Der Krach war laut genug, dass er sicherlich im ganzen Wald hörbar war. Will fluchte, als er mit einem Mal eine bekannte Stimme hörte: „Dort ist dieses Arschloch! Das war er, ganz sicher! Ihm nach!“ Es war Donny. Sein Trick hatte leider nicht lange funktioniert.  Will wusste nicht, in welche Richtung er lief. Es war ihm aber auch egal. Die drei Typen waren stinksauer, und er wollte nicht wissen, was sie mit ihm anstellen würden, wenn sie ihn erwischten. Darum dachte er nicht lange nach, sondern rannte einfach in irgendeine Richtung, so schnell er konnte. Seine Verfolger, die ihn scheinbar gehört hatten. liefen ihm nach. 

Er eilte durch die Bäume, so schnell er nur konnte. Will huschte zwischen den Bäumen hindurch, die immer weiter auseinander wuchsen, je weiter er kam. Er schien in Richtung des Waldrandes zu laufen, und er rechnete damit, dass er bald aus dem Wald heraus kam. Hin und wieder musste er über eine Wurzel springen, die so wild wuchsen, dass er mehrere Male beinahe gestolpert wäre. Seine Verfolger schienen weniger Glück zu haben, denn einmal hörte er ein „Scheiß Wurzel!“ durch den Wald tönen. Fast überkam ihn ein Grinsen.
  

Nachdem er ein gutes Stück gerannt war, passierte etwas Seltsames. Für einen Augenblick wurde alles rund um ihn weiß. Die Bäume waren verschwunden, und es war nichts zu sehen außer einer weißen Leere. Es kam so überraschend und war so grell, dass Will regelrecht geblendet wurde und er die Augen schloss. Instinktiv wollte er stehenbleiben, um nicht gegen einen Baum zu prallen, doch seine Beine hatten andere Pläne, und so hielt er nicht an.
 

So schnell, wie dieses Phänomen gekommen war, verschwand es wieder. Das Weiß war weg, und Will konnte wieder sehen, wenn auch noch etwas verschwommen. Er sah jedoch, dass er sich noch immer im Wald befand. Er vergaß für einen Moment seine Verfolger und wurde langsamer, und er wunderte sich, was das eben gewesen war.
 

In diesem Moment fiel er nieder. Es war, als wäre ihm alle Kraft aus den Beinen genommen, und er stürzte zu Boden. So lag Will da, kraftlos und mit Erde im Gesicht. Er versuchte sich mit den Armen aufzustützen. Es gelang ihm mit einigen Mühen, sich hochzustemmen. In seinen Armen hatte er noch etwas Kraft, wenn auch nicht viel. Schweiß tropfte von seiner Stirn und auf den Erdboden, wo er sofort versickerte.
 Angst überkam ihn. Nun, da er seine Beine schlapp machten, hatte er keine Energie mehr zum Laufen. Nun würden ihn seine Verfolger sicherlich einholen. Geistig bereitete er sich darauf vor, was sie mit ihm anstellen würden.  Zu seiner großen Überraschung passierte nichts. Seine Verfolger kamen nicht. Alles um ihn war still. Will war sehr verwundert darüber, denn er hatte keinen solchen Vorsprung gehabt, dass sie ihn nicht hätten einholen können. Er glaubte auch nicht, dass sie ihn aus den Augen verloren hatten, denn zumindest hätten sie hören müssen, wohin er lief. Sie hätten längst aufholen müssen. Doch das taten sie nichts. Es war nichts zu hören: keine Schritte, kein Geschrei, gar nichts. Es war, als wären wie vom Erdboden verschluckt worden. Waren sie von den Bäumen gefressen worden? Nein, das glaubte er nicht, obwohl er es ihnen fast gegönnt hätte. Obwohl sich Will sehr wunderte, war er doch erfreut. Erleichtert atmete er auf. Was immer das weiße Licht gewesen war, es hatte ihm geholfen, Donny und die anderen abzuschütteln.   Als Will sich umsah, bemerkte er, dass er mitten auf einem Waldweg lag. Helles Sonnenlicht schien durch die Bäume. Er war also nicht weit vom Waldrand entfernt, dachte er, und war wohl bald wieder zuhause. Darüber freute er sich.  

Seine Kraft kehrte bald zurück, und ohne größere Mühen stand er auf. Als er sich aufrichtete, da fiel ihm plötzlich etwas auf, was ihn sehr überraschte und verwunderte. Die Bäume sahen plötzlich nicht mehr so alt und verdreht aus. Sie waren alle viel frischer, und standen auch weiter auseinander, so dass der ganze Wald hell und freundlich wirkte. Die Bäume waren auch alle begrünt. Sie trugen entweder helle, sattgrüne Blätter oder dunkelgrüne Nadeln.
 

Zwischen den Bäumen wuchs eine Vielzahl an Blumen. Am Erdboden wuchsen jede Menge weiße Blüten in einem Kranz aus großen Blättern, die wie Sterne auf einem grünen Himmel wirkten. Große Blumen trieben empor, deren rote Blüten wie ein Feuer waren. Dünne Ranken schlangen sich um die Bäume, und sie waren gekrönt von blauen Blüten. Viele der Bäume trugen auch Pilze, die wie ein brauner Halbmond an der Rinde hingen.
 

Zwischen den Bäumen flatterten einige Schmetterlinge umher. Sie schwirrten wild herum und tanzten lautlos einen seltsamen Tanz. Hoch in den Baumkronen zwitscherten fröhlich Vögel, als würden sie den Schmetterlingen ein Lied zu ihrem Tanz singen. Käfer krabbelten auf den Bäumen und dem Boden umher.
 Will hatte den Eindruck, als befände er sich in einem ganz anderen Wald. Aber das hielt er für absolut unmöglich. Die einzige Erklärung, die er in seiner Logik fand, war, dass er sich am anderen Ende des alten Waldes befand. Da soweit noch niemand gegangen war, wusste auch keiner, wie es dort aussah. Was sprach dagegen, dass der Wald dort jung und frisch war? Er bildete sich zwar ein, in eine ganz andere Richtung gelaufen zu sein, doch zwischen den Bäumen war es schwer gewesen, die Orientierung zu behalten. Will beschloss, einfach aus dem Wald hinauszugehen. Dann würde er schon sehen, wo er war. Er konnte bereits den Himmel durch die Bäume sehen, also würde er auch schnell das Ende erreicht, und von dort würde er leicht nach Hause finden.  Er ging den Waldpfad entlang; dorthin, wo das Licht am stärksten war. Es dauerte nur wenige Minuten, bis er den Ausgang erreichte. Will ging etwas schneller; er freute sich, wieder aus dem Wald draußen zu sein. Schon sah er eine breite Lücke zwischen den Bäumen. Er machte einen schnellen Schritt aus dem Wald hinaus – und erschrak. Er hatte eine Straße und Häuser erwartet, eine Betonwüste. Was vor ihm lag, war ein Feld! Ein riesiges Feld, bewachsen mit Gras, und hier und da einem Baum. Weit in der Ferne erkannte er so etwas wie ein Dorf, bestehend aus zahlreichen kleinen Häusern. Will konnte nicht fassen, was er da sah. Er rieb sich die Augen und schaute noch einmal, denn er glaubte zu träumen. Er wusste, dass das nicht das andere Ende des alten Waldes sein konnte, denn er war sich ganz sicher, dass es in seiner Umgebung kein Feld gab, nur eine breite Autobahn. Also wo war er?  

Zum Nachdenken blieb Will keine Zeit. Plötzlich raschelte es hinter ihm. Einige schwere Schritte ertönten. Donny, dachte er sich sofort. Er hatte nicht damit gerechnet, dass er und seine Kumpels ihn doch noch finden würden. Er war nicht bereit dafür. Doch er hatte keine Energie zum Weglaufen. Panisch überlegte er, was er tun könnte.
 Mit einem Mal kam ein Knurren aus dem Unterholz, und es raschelte noch mehr. Da wurde Will schlagartig klar, dass das nicht Donny war. Wahrscheinlich noch nicht einmal ein Mensch. Hinter ihm war zweifellos ein Tier. Ein wildes Tier, das wahrscheinlich auch noch hungrig war. 

Will bekam Panik. Mit Menschen wäre er wahrscheinlich noch fertig geworden. Ja, es fiel ihm schwer zuzugeben, aber seine drei Verfolger wären ihm jetzt lieber gewesen. Was sie ihm auch angetan hätten, sie hätten ihn zumindest am Leben gelassen. Bei einem wilden Tier war er sich nicht so sicher.
  Er machte einen Schritt zurück. Sein Herz klopfte schnell. Verzweifelt suchte er nach etwas, womit er sich verteidigen konnte; ein Stein oder ein Stock oder etwas ähnlich. Doch es war zu spät. Mit einem Satz sprang das Tier aus dem Wald und blieb direkt vor Will stehen. Als dieser es sah, war er ebenso überrascht wie erschrocken. So etwas wie das, was nun vor ihm stand, hatte er noch nie zuvor gesehen. Auf den ersten Blick hätte man es für einen Menschen halten können, denn es stand aufrecht auf zwei Beinen, und es war nur um ein wenig größer als ein Mann. Doch es trug keine Kleidung, und seine Haut war schuppig wie die einer Echse, und sie war blaugrau. An jeder Hand hatte es drei scharfe Klauen, die im Sonnenlicht silbern blitzten. Der Kopf war wie der einer Echse oder eines Krokodils: lang und schmal, mit unzähligen scharfen Zähnen und großen, gelben Augen, die ihn nun aufmerksam fixierten. Die Bestie knurrte Will an. Er machte noch einen Schritt zurück. Er überlegte, ob er davonlaufen sollte, doch er verwarf diese Idee schnell. Das Tier würde ihn sicher einholen. Seine Beine waren lang und muskulös. Sicher konnte es schneller rennen als er. 

Plötzlich schnellte die Kreatur auf ihn zu, mit den Kopf voran und die Zähne bleckend. Will trat zurück, und der Angriff ging ins Leere. Weder war das Tier darüber erfreut noch würde es aufgeben. Es starrte Will mit einem durchdringenden Blick an, der ihm eine irrsinnige Angst machte.
 In der Panik wusste sich Will nicht anders zu helfen, als sich den Schulrucksack von Rücken zu reißen und der Bestie damit einen Schlag zu verpassen. Diese zuckte zurück und schaute verdutzt. Aber sie ließ sich davon nicht beeindrucken. Will schlug sie noch einmal, aber sie reagierte schnell, packte den Rucksack mit dem Maul und den Klauen und riss ihn Will aus den Händen. Dann ließ sie ihn auf den Boden fallen, ohne ihn weiter zu beachten, und machte einen langsamen Schritt vorwärts. Will, nun unbewaffnet, trat einen Schritt zurück, doch er war sich sicher, dass die Bestie ihn nun töten würde.  Gerade als die Kreatur erneut zuschlagen wollte, zischte etwas aus dem Wald und traf sie am Kopf. Will erkannte, dass es ein Pfeil war, der im Kopf des Tiers steckte. Es schrie vor Schmerz und wand sich hin und her, doch zu mehr kam es nicht. Schnell wie der Wind sprang ein Mann aus dem Wald und stürzte sich auf die Bestie. Er hatte ein Schwert in der Hand, dass er ihr so fest durch den Leib rammte, sodass es auf der anderen Seite wieder herauskam. Es ging so schnell, dass sich das Tier gar nicht wehren konnte. Den Körper durchbohrt, schrie es laut auf, und dann brach es zusammen, tot.  Will atmete schwer, und sein Herz raste. Er blickte auf die Bestie, die ihn mit leeren Augen ansah. Er wusste, dass sie tot war und keine Gefahr mehr darstellte. Dann wanderte sein Blick auf den Mann, der sie getötet hatte. Er war ein großer Mann von kräftiger Statur. Er hatte langes, dunkelblondes Haar, und einen Bart in derselben Farbe, er ihm von einem Ohr zum anderen lief. Eine Narbe lief seine Stirn hinunter. Er trug ein seltsames Gewand, dass Will nur als „mittelalterlich“ bezeichnen konnte: Er hatte ein rotbraunes Hemd an, und darüber trug er einen grünen, ärmellosen Mantel. An den Beinen trug er eine einfache, hellbraune Hose, und dunkelbraune Stiefel an seinen Füßen. Seine Unterarme zierten braune Armschienen, und an seinem Rücken trug er einen Bogen mit sich.Der Mann zog das Schwert aus dem Körper der Kreatur und begann, mit einem Tuch das Blut davon abzuwischen. In diesem Moment lief noch eine Person aus dem Wald. Es war ein Junge, etwas jünger als Will. Er hatte schwarzes, lockiges Haar und trug ebenfalls ein mittelalterliches Gewand: eine braune Hose und ein weißes Hemd. Will hatte noch nie jemanden gesehen, der in dieser Zeit so etwas trug und bei Verstand war. Der Junge eilte durch das Unterholz, wo er in seiner Hast über eine Ranke stolperte und auf sein Gesicht fiel. Rasch rappelte er sich auf, klopfte sich den Staub ab und lief dann zu der Leiche der Kreatur. Er trat dagegen, um zu sehen, ob sie tatsächlich tot war. „Alles in Ordnung?“ sagte der Junge schließlich zu dem Mann.„Alles klar.“ erwiderte dieser. „Schwierigkeiten wurden überwunden.“ Dabei blickte er auf die Kreatur. Dann sah er Will an, und freundlich sagte er: „Du bist in Sicherheit.“ Plötzlich wurden Wills Beine weich. Er hatte das Gefühl, sie wären aus Pudding. Um sich herum begann alles, sich um ihn zu drehen. Ihm wurde schwindlig, und fiel auf seine Knie. „Bist du in Ordnung?“ fragte ihn der Junge. Schließlich lächelte er und fügte hinzu: „Willkommen in Aramar.“  Dann wurde Will schwarz vor Augen, und er wurde ohnmächtig.

Durzog


 

„Also... Thêl, richtig?“ fragte Will, etwas zaghaft.

„Richtig, das ist mein Name.“ antwortete der Mann, der neben ihm ging.

„Vielen Dank noch mal, dass ihr mich gerettet habt. Alle beide.“ sagte Will, und schaute dabei den Jungen an, der auf seiner anderen Seite ging. Der strich sich etwas verlegen durch seine schwarzen Locken.

„Keine Ursache.“ erwiderte Thêl. „Das ist unsere Aufgabe.“

„Sie scheinen etwas davon zu verstehen.“ sagte Will und lächelte.

„Fürwahr. Das ist richtig.“ sagte Thêl. „Doch lass mich dir sagen, dass es nichts gibt, das eine gute Schwertklinge nicht durchbohren könnte.“
 

Der Junge lächelte darauf und fügte hinzu: „Da hast du bei dem Oger letztens aber etwas Anderes gesagt. Hast du nicht gemeint, dass man mit der Klinge nicht einmal Wasser durchschlagen könne?“

„Nun ja, das stimmt.“ erwiderte der Krieger. „Aber seitdem habe ich ein neues Schwert.“

Auf das hinauf musste der Junge laut lachen.
  

Will ging nur zwischen den Beiden und verstand nichts. Er blickte Beide abwechselnd an, und schließlich wandte er sich dem Jungen zu:

„Entschuldige, wie war noch mal dein Name?“

„Oh, ich dachte, ich hätte ihn genannt. Verzeih. Ich bin Duncan. Na ja, eigentlich heiße ich Jerry Reilly, aber hier in Aramar ist mein Name Duncan. So möchte ich auch genannt werden, und nicht anders.“

„Aramar?“ fragte Will verdutzt. „Das hast du schon einmal erwähnt. Was ist das?“

„Aramar ist das Land, in dem wir uns befinden. Blick dich um. Alles, was du siehst, jedes Stück Land, das ist Aramar.“

„Seltsam.“ sagte Will. „Von so einem Land hab ich noch nie was gehört. Das haben wir im Geografieunterricht wohl nie durchgenommen.“

Daraufhin lachte Duncan laut. „Das glaube ich dir gern. Das wäre auch ein Wunder. Weißt du, Aramar existiert in der Welt nicht, aus der du kommst, und ich auch.“

Will schüttelte verwundert den Kopf. „Das verstehe ich nicht.“

„Wie soll ich das erklären...?“ erwiderte Duncan und kratzte sich am Kopf. „Pass auf. Erinnerst du dich an das weiße Licht, das du im Wald gesehen hast?“ Will nickte. „Das war ein Dimensionstor, das dich von deiner Welt in diese hier gebracht hat. Aramar ist eine andere Welt. Eine andere Dimension. Eine andere Wirklichkeitsebene. Besser kann ich dir das nicht erklären. Aber warte es ab, im Dorf gibt es jemanden, der dir alles erklären kann.“
  

Will nickte, aber er sagte nichts mehr. Es war alles zu verwirrend für ihn.

„Wir sind bald da.“ sagte Thêl. „Nur noch ein paar Meilen. Dann kannst du dich ausruhen, und dir wird alles erklärt werden. Mache dir also keine Sorgen.“
 

Keine Sorgen sollte er sich machen? Das fiel Will schwer, den schließlich verstand er nicht, wo er war und was er hier sollte. Zumindest wusste er, dass er in Sicherheit war, doch das beruhigte ihn wenig.
  

Die Drei marschierten etwa eine Stunde, und während dieser sah sich Will dauernd um und erkundete die Umgebung mit seinen Augen. Viel zu sehen gab es jedoch nicht zu sehen. Um ihn herum sah er Gras, soweit das Auge reichte. Die drei gingen über eine riesige Ebene, die kein Ende nahm, so weit Will auch blickte. Ein Ozean aus Gras umgab sie, aus dem hin und wieder ein einzelner Baum oder Felsen emporragte.
 

Hinter ihm war der Wald, aus dem er gekommen war. Er erstreckte sich weit, und schien kaum ein Ende zu nehmen. Mehrere Kilometer schien er breit zu sein. Ein breiter Fluss strömte durch ihn hindurch.
  

Schließlich erreichten sie das Dorf Cestilla. Auf Will, der in einer Großstadt aufgewachsen war, machte es einen äußerst primitiven Eindruck. Rund um das Dorf war ein großer Zaun gebaut, der aus dicken Baumstämmen bestand. Der Zaun hatte ein Tor, das nun offen stand. Durch es hindurch konnte er einen breiten Weg erkennen, der durch das Dorf lief, bis er am anderen Ende bei einem zweiten Tor wieder hinausführte.
 

Die drei schritten durch das Dorftor, und Will warf einen Blick auf die Häuser. Sie waren allesamt aus Holz gebaut, mit vielen dicken Querbalken und einigen vertikalen Streben, die das Konstrukt stützten. Die Dächer waren flach, und die meisten hatten einen Kamin. Fast alle Häuser waren klein und hatten nur einen Stock. Über der Eingangstür hatten sie meist ein kleines, viereckiges Fenster. Vor einem Großteil der Häuser standen Kisten herum. Viele der Hütten hatten auch Gärten, und manche Bewohner hatten sogar kleine Äcker angelegt.
  

Als die Drei das Dorf betreten hatten, kam eine Frau auf sie zugerannt. Sie war jung, und trug ein langes, braunes Kleid. Sie hatte schwarzes Haar und ein rotes Kopftuch darum gebunden.
 

„Gut, dass ihr hier seid, Thêl.“ flüsterte sie den Dreien zu. „Ihr müsst den Jungen verstecken, schnell.“

„Ferénni! Was ist los?“ fragte Thêl, ebenfalls leise.

„Einer der Generäle ist hier.“ erwiderte die Frau. „Beeilt euch.“
 

Thêl verstand sofort. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, packte er Will am Arm und verschwand mit ihm in der nächstgelegenen Hütte, auf der linken Seite des Tores. Dort liefen sie eine Treppe hinauf, auf eine Art Dachboden, wo sie durch ein Fenster sehen konnten, was geschah.
  

In der Mitte des Dorfes war ein großer Platz, wo sich der breite Weg mit einem zweiten kreuzte, der quer zum ersten nach links und rechts zwischen den Häusern hindurch führte.

Auf einem großen Platz zwischen den Häusern stand eine Menschenmenge, zu der sich auch die Frau und Duncan gemischt hatten. In der Menge waren Männer und Frauen jeden Alters, und Kinder. Sie alle trugen simple Gewänder, meist braun oder grün, und hier und da war auch ein rotes Hemd dabei. Will vermutete, dass dies die gesamten Bewohner von Cestilla waren.
  

Die Leute bildeten einen Kreis, und in ihrer Mitte standen zwei Männer.


Einer war ein alter Mann, der ein langes graues Gewand und einen langen Bart trug, der bis zum Boden reichte und am Ende mit einem schwarzen Band zusammengeschnürt wurde. Der Alte hatte wenig Haare auf seinem Kopf, und ein Gesicht, das viele Falten trug. Seine Augen strahlten eine Ruhe und Weisheit aus, die von einem langem Leben voller Erfahrungen zeugte.
 

Der andere Mann sah furchterregend aus. Er trug einen Schild und eine dunkle, fast schwarze Rüstung, die mit zahlreichen Linien und Mustern geschmückt war. Er trug große Schulterplatten, und Stacheln darauf. Sein Gesicht zierte ein Schnurrbart und ein Spitzbart. Neben zahlreichen Falten hatte er auch eine große Narbe in seiner linken Gesichtshälfte, die von seinem Auge das Gesicht herunterlief.
 „Pass auf.“ sagte Thêl und stupste Will an. „Der Mann mit dem langen Bart ist Eeza. Er ist ein weiser Mann und kann dich Vieles lehren. Der Andere... gehört zu unseren Feinden, denke ich. Er ist einer von denen, die dich hier nicht haben wollen. Obwohl... Ich habe ihn noch nie gesehen. Hmm... Doch, egal. Wichtig ist, dass du Folgendes weißt: Diesen Leuten darf man nicht trauen. Nein, einem wie ihm kannst du nicht vertrauen. Er ist ein Schwindler in Reinform. Er spricht selten die Wahrheit und oft Unheil, nicht anders als sein Herr selbst.“

„Sein Herr? Wer ist das?“ fragte Will.
„Still.“ sagte Thêl leise. „Später. Jetzt lass uns sehen, was da vor sich geht.“

Will nickte nur, und wandte sich dann wieder dem Geschehen auf dem Dorfplatz zu.
  

Nachdem er auf dem Dorfplatz auf und ab gegangen war und die Leute betrachtet hatte, begann der Mann mit der Rüstung zu sprechen. „Sind alle Dorfbewohner anwesend?“ fragte er. Als er seine Stimme hörte, da fand Will, dass sie durch Mark und Bein ging und sehr einschüchternd wirkte. Sie war tief und dunkel, und voller Hass. Doch in ihr war auch Abscheu und Ekel. Der Mann machte es deutlich, dass er die Leute verachtete und es hasste, hier zu sein.

 

„Ja, das sind alle.“ antwortete Eeza. „Es würde doch niemand einen solch hohen Besuch verpassen wollen. Einen Besuch von... nun... Sagt, wer seid Ihr eigentlich? Ein neues Gesicht, wie mir scheint.“

„Ihr kennt mich nicht?“ erwiderte der Mann schnippisch. „Primitives Bauernvolk. Ich unterstehe dem direkten Befehl von König Chardion, dem edlen Ostkönig. Ich bin General Durzog.“ Er hielt einen Moment inne, als wolle er sehen, wie beeindruckt die Leute von der Nennung seines Namens waren. Doch sie starrten ihn nur gleichgültig an.

„Was ist mit General Málatar?“ fragte Eeza mit einem schelmischen Unterton, als wolle er den Gast damit aufziehen, dass ihn niemand kannte. „Wir hatten eigentlich erwartet, dass er uns besuchen kommen würde.“

„Euch... besuchen?“ fragte Durzog verdutzt, und seine Stimme wurde lauter. „Was glaubt ihr denn, warum ich hier bin? Zum Wein trinken und Plaudern?“

„Nun, dann sagt, warum Ihr hier seid.“ erwiderte Eeza.

„Das wisst ihr genau, alter Trottel.“ knurrte der General. „Versucht nicht, mich zum Narren zu halten. Ihr habt eines eurer Tore geöffnet und eine Fremdling in diese Welt geholt. Und Ihr wisst genau, dass das verboten ist.“
 

„Ach ja?“ fragte Eeza spöttisch. „Aber wenn es verboten ist, warum sollten wir dann so etwas tun? Nie würden wir die Gesetze unserer ehrwürdigen Könige brechen.“

„Tut nicht so unterwürfig. Ihr ekelt mich an.“ sagte Durzog zornig. „Wie dumm ihr Bauerntrampel doch seid. Ihr denkt, nur weil wir es nicht sehen können, würden wir es nicht merken. Jeder der vier Könige kann die alte Magie der Tore spüren. Ihr könnt so etwas nicht vor uns verbergen.“
 

Eeza nickte, und dann sagte er: „Verstehe. Nun, das sind schlimme Anschuldigungen. Nur frage ich Euch, könnt Ihr sie auch beweisen?“ Durzog blickte ihn verwundert an. „Könnt Ihr denn beweisen, dass wir dafür verantwortlich sind?“

„Ihr wagt es?“ brüllte der General. „Nennt ihr meinen Herren einen Lügner? Oder dass er sich... getäuscht hat.“ Bei diesen Worten spuckte angewidert auf den Boden. „Ihr wagt es, ihm so etwas zu unterstellen? Geht nicht zu weit.“

„Mitnichten.“ antwortete Eeza. „Natürlich hat sich Euer Herr nicht geirrt. Zu so etwas ist er gar nicht in der Lage. Nein, ich bin mir sicher, dass er tatsächlich gespürt hat, dass sich ein Tor geöffnet hat. Doch wer sagt, dass wir dafür verantwortlich sind?“

„Spielt Ihr mit mir? Das Tor entstand westlich von hier, in den Wäldern von Mirdare, nur unweit dieses Dorfes.“ erwiderte Durzog.

„Möglich, aber auch das muss nichts heißen. Habt Ihr schon daran gedacht, dass es vielleicht die Waldmenschen waren?“

Durzog machte ein wütendes Gesicht und biss die Zähne zusammen. „Die Waldmenschen? Ihr veräppelt mich, alter Mann.“ knurrte Durzog. „Die Waldmenschen würden solch Frevel nicht wagen. Sie sind der Magie mächtig, doch sie nutzen sie nicht für das Böse. Sie hocken auf ihren Bäumen und halten sich aus den Angelegenheiten anderer heraus. Richtig vorbildlich. Warum also sollte sich plötzlich daran etwas ändern?“

„Das kann ich Euch nicht sagen.“ erwiderte Eeza und zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, was in ihren Köpfen vorgeht. Doch gibt es nicht für alles ein erstes Mal? Fragt sie doch selber.“

„Ihr strapaziert allmählich meine Geduld.“ grollte Durzog. „Sei’s drum.“
  

Plötzlich hob er die Hand und stierte Eeza an. Seine Hand begann zu leuchten. Während sie anfangs noch schwach glühte, strahlte sie bald hell wie ein Stern. Eine merkwürdige Kraft schien davon auszugehen, die alle spüren konnten, auch Thêl und Will. Sie fühlten, dass etwas in der Luft war, eine seltsame Energie. Als wäre die Luft erfüllt von einer Spannung, die für das menschliche Auge unsichtbar war. Es fühlte sich an, als würde sie von Durzogs Hand angezogen. Dessen Hand leuchtete mehr und mehr, bis sie fast so grell wie die Sonne war.
 

Dann richtete Durzog die Hand in Richtung eines Hauses am Rand des Dorfes. Ohne dass er ein Wort sagte, ohne Vorwarnung, zuckte auf einmal ein gewaltiger Blitz aus seiner Hand, über die Köpfe der Leute hinweg und in Richtung des Hauses. Als er es traf, zerbarst es mit einem großen Knall. Eine Explosion von Licht erfolgte, die so grell war, dass sich die Leute die Augen zuhalten mussten. Sogar Will und Thêl wurden beinahe geblendet, und sie konnten die Energie bis zu ihnen spüren. Holzstücke wurden durch die Luft geschleudert und landeten lautstark auf dem Erdboden, jedoch glücklicherweise ohne jemanden zu verletzen. Aus der Menschenmenge kam ein verzweifelter Aufschrei.
 

Nachdem sich der Rauch verzogen hatte, kamen die verkohlten Überreste des Hauses zum Vorschein. Es war nicht viel von dem Haus übrig geblieben. Gerade einmal ein paar kümmerliche Mauerreste standen noch da. Der Rest lag in Splittern und Trümmern um das Haus verteilt. Eine Katze kam geschwind aus den Resten hervorgekrochen. Sie miaute leise, als wollte sie Durzog sagen, dass er sie nicht erwischt hatte. Als dieser sie grimmig anstarrte, hopste sie panisch davon.
  

Durzog wandte sich wieder Eeza zu. „Das war eine Warnung, du Greis. Sollten wir Beweise dafür finden, dass ihr uns angelogen habt und einen Fremdling beherbergt, dann wird es hässlich für euch. Dann werden es mehr als nur eure Häuser sein, die dem Erdboden gleichgemacht werden. Verstanden?“
 

Eeza nickte nur. Die Lust auf Spötteleien war ihm vergangen.

„Gut. Sehr gut.“ grummelte der General. „Ich verschwende hier sowieso meine Zeit. Denkt daran: Das hier ist noch nicht vorbei.“
 

Nach diesen Worten drehte sich Durzog um und ging in Richtung seines Pferdes, dass er am Dorfeingang abgestellt hatte. Es hatte ein schwarzes Fell, und tiefschwarze Augen. Die Menschen traten aus Furcht zur Seite, als er an ihnen vorbeiging.
  

Doch inmitten der Menschen hielt er inne. Er blickte Eeza an und sagte: „Ach, noch etwas. Ist der Mann namens Thêl, Sohn von Thân, anwesend?“

„Nein.“ erwiderte Eeza. „Nein, er ist vor ein paar Tagen nach Eylan Mor aufgebrochen. Dringende Handelsgeschäfte mit Brethilion. Ihr versteht?“

„Ob ich verstehe?“ erwiderte Durzog verächtlich. „Natürlich. Haltet Ihr mich für dumm?“

„Natürlich nicht. War nur eine Redensart.“ sagte Eeza. „Nun, wolltet Ihr etwas Bestimmtes von ihm?“ fragte ihn Eeza.

Durzog schüttelte den Kopf. „Nein. Nur eine... Formalität.“ Dann fügte er noch hinzu: „Doch Ihr könnt ihm etwas ausrichten. Das nächste Mal, wenn ich mich hierher bemühe, dann hat er gefälligst hier zu sein. Keine Geschäfte sind so dringend, dass er nicht seinen Arsch herbewegen kann, wenn ich es verlange. Alles andere sage ich ihm später selbst. Könntet Ihr Euch eh nicht merken.“

 

Eeza nickte nur. Er hatte keine Lust auf eine weitere Diskussion mit Durzog, wäre es doch sowieso sinnlos gewesen, vernünftig mit jemandem zu reden, der so stur war.
 

Thêl aber, der es mitangehört hatte, wurde wütend. Er fühlte sich beleidigt. „Bin ich Euer Laufbursche?“ murmelte er. Er konnte sich nicht weiter zurückhalten und zückte seinen Bogen. Geschwind zog er einen Pfeil aus einem Köcher. Das Fenster, vor dem er und Will standen, war klein und zum Durchschießen ungeeignet, doch Thêl störte das in seinem Zorn nicht. Geschwind zielte er, genau auf Durzog, der sich gerade abwandte, und dann ließ er die Sehne los.
 

Es war ein gut gezielter Schuss, und der Pfeil flog direkt auf den General zu. Als er sich näherte, da blickte Eeza plötzlich überrascht auf, genau in die Richtung des Pfeils. Er schien ihn zu spüren, und erschrocken folgte er ihm mit den Augen. Genau in dem Moment, bevor er Durzog von hinten in den Rücken traf, da schnappte Eeza blitzschnell danach. Thêl und Will staunten nicht schlecht, als es dem Alten gelang, das Geschoss im letzten Augenblick mit bloßer Hand abzufangen.
  

Durzog schien Eeza’s schnelle Bewegung gefühlt zu haben, denn er drehte sich plötzlich um. Verwundert starrte er den Alten an, der noch in der Bewegung mit ausgestrecktem Arm hinter ihm stand.
 

„Was tut Ihr da, ihr Trottel?“ fragte er verächtlich. „Was sollen diese Kindereien?“

„Ach, gar nichts.“ antwortete Eeza verlegen. „Da war nur eine Fliege. Ich habe sie gefangen, bevor sie sich auf Euch setzt und Euch am Ende noch beschmutzt.“
 

Durzog schien diese Antwort nicht zufriedenzustellen. Doch dann öffnete Eeza seine Hand, mit der er den Pfeil gefasst hatte, und zur Überraschung aller schwirrte tatsächlich eine Fliege daraus hervor. Sie summte einmal um Eeza’s Kopf herum und flog dann davon.

„Pah. Fliegen.“ zischte Durzog. „Eure Fliegen sind Vollidioten, genau wie der Rest von Euch.“
 

Schließlich marschierte der General weiter durch die Menschenmenge. Als er an den Trümmern des Hauses vorbeiging, spuckte er einmal verächtlich hinein. Dann warf er Eeza noch mal einen bösen Blick zu, bevor er am Dorfausgang auf sein Pferd stieg und davonritt.
  

Als er nicht mehr zu sehen war, kamen Thêl und Will aus ihrem Versteck hervor. Thêl ging sogleich auf Eeza zu, und Will folgte ihm.
 

„Was fällt Euch ein?!“ keifte Eeza, als er Thêl sah. „Ihr Wahnsinniger. Was habt Ihr Euch gedacht? Ihr hättet ihn nie töten können, und wer weiß, was er in seiner Wut noch zerstört hätte. Eines sage ich Euch: Euren Pfeil bekommt Ihr nicht zurück. Der ist... nun ja, davongeflogen.“

„Ich weiß, es tut mir leid.“ erwiderte Thêl. „Es ist einfach mit mir durchgegangen. Was für ein grauenhafter Mensch. So jemanden muss man hassen.“

„Nun, da habt Ihr Recht.“ sagte Eeza und seufzte. „Trotzdem, der Mann war ein General, ein hochrangiger Diener von Beléssan. Ihn zu verletzen oder töten hätte uns nur Schwierigkeiten gebracht. Und doch... Ihr habt schon Recht. Ich meine, ich selbst bin ein friedliebender Mensch, aber... ihn kann sogar ich hassen.“

„In der Tat. Da hat sich Beléssan einen wunderbaren neuen General zugelegt.“ sagte Thêl sarkastisch.

Eeza nickte. „Ein unsympathischer Mensch. Aber ich kann verstehen, warum Beléssan ihn ausgewählt hat. Er hat genau die Mentalität, die er bevorzugt. So viel Kraft. So viel Hass. Er passt zu Beléssan.“
  Schließlich wandte sich der alte Mann Will zu. „Ah, und du bist der Junge, auf den wir gewartet haben. Bitte entschuldige den Empfang. Wir hatten ehrlich gesagt mit keinem Besuch von einem unserer Feinde gerechnet, jedenfalls nicht so früh. Doch wie dem auch sei. Ich verstehe, dass du andere Sorgen hast. Du hast viele Fragen, und bist sicher müde. Nun, geh dich ausruhen. Schlaf. Morgen ist der Tag für Antworten und lange Erklärungen.“ Und zu Duncan sagte er dann: „Zeig ihm sein Quartier. Lass ihn mit dir in Armári’s Haus wohnen, dort ist genug Platz für euch beide.“

Will nickte nur, sagte aber nichts. Er war zu müde und zu durcheinander für irgendwelche Debatten. Duncan führte ihn zu seinem Quartier. Eeza und Thêl blickten den beiden nach.
  

„Ich bin überrascht, dass der General so schnell hier war.“ meine Thêl.

„Ja.“ erwiderte Eeza. „Doch mich wundert mehr, dass er so einfach wieder abgezogen ist. Das gefällt mir überhaupt nicht.“ Thêl nickte. „Sagt, könnst Ihr Euch vorstellen, warum er nach Euch gefragt hat?“

„Nein, gar nicht.“ meinte Thêl. „Er hat gelogen, dass er ohne Grund nach mir gefragt hat. Soviel ist sicher. Doch was er im Sinn hatte, das vermag ich nicht zu sagen.“
 

Für einen Augenblick standen die beiden Männer nachdenklich nebeneinander.
 

„Nun, wie dem auch sei.“ sagte Thêl schließlich. „Ihr solltet euch ebenfalls ausruhen, Eeza. Ihr habt morgen viel vor Euch.“

„Richtig. Morgen.“ erwiderte der Alte. „Morgen ist ein großer Tag.“

Eine bittere Wahrheit

„Wo bin ich?“ Das war der erste Gedanke, der Will durch den Kopf schoss. Er hatte gerade die Augen geöffnet, aber er war sich nicht sicher, ob er schon wach war oder noch träumte. Die Decke, an die er gerade blickte war nicht die, die er sonst beim Aufwachen vor sich sah. Diese hier war braun, mit breiten Lamellen und verziert mit Linien, Schnörkeln und Mustern. Die Decke, die er sonst ansah, war weiß, unverziert und hatte einen Luster daran hängen. Will musste überlegen, warum seine Decke plötzlich so anders aussah. Da fiel ihm alles wieder ein: seine Flucht vor Donny, der alte Wald, das weiße Licht, die Echsenkreatur, seine Rettung durch Thêl, und der finstere General. Im ersten Moment hatte Will gedacht, dass alles nur ein Traum gewesen war. Seine Träume hatten manchmal den Hang, sehr wild und fantasievoll zu sein. Aber dann wurde ihm klar, dass er nicht dachte, dass es ein Traum war, sondern es vielmehr hoffte. In der Tat wünschte er sich nichts so sehr, wie daheim zu sein. Doch das war die Hoffnung eines Narren. Das Zimmer, in dem er lag, war der ausschlaggebende Beweis dafür. Will befand sich in einem Raum, der vollständig aus Holz bestand, und wie die Decke stark verziert war. Das Holz roch wie ein Wald nach dem Regen, und es gefiel ihm. Jetzt sah er, dass die Decke sehr hoch war. Wahrscheinlich hätten sich hier zwei Männer aufeinander stellen können, und hätten trotzdem problemlos Platz gehabt. Der Raum war auch recht lang, fünf Meter mindestens. Am anderen Ende standen ein hölzerner Schrank und ein Regal mit einigen Büchern darin.  So lang der Raum war, so schmal war er auch. Als Will langsam und mit wackligen Beinen aus dem Bett stieg, da stand er beinahe mit den Gesicht an der Wand. Gerade ein Sessel hätte zwischen Bett und Wand Platz gehabt, aber mehr auch nicht mehr.  Während er sich an dieser Wand abstützte, ging er an dem Bett vorbei, in Richtung der anderen Seite. Dabei bewegte er sich langsam; nicht nur weil er sich noch schwach fühlte, sondern auch weil er das ganze Zimmer betrachtete und erkundete. Dabei fiel ihm eine große, hölzerne Kiste auf, die neben dem Regal stand. Er fragte sich, was da wohl drin war. Doch da sie ihm nicht gehörte, verwarf er den Gedanken. Er entdeckte auch eine Tür, die aber eigentlich nur ein Türstock ohne die Tür selbst war. Sie befand sich auf halbem Weg zwischen dem Bett und dem Schrank.  Will beschloss, sogleich dort hindurchzugehen. Vorher warf er aber noch einen Blick auf das Bett. Das Bettzeug war weiß, doch hatte rote Verzierungen: Schnörkel und kurvige Muster, die in Blumen endeten. Außerdem sah er ein Fenster, das sich hoch über dem Bett befand. Dieses hatte sogar Glas darin, doch kein gewöhnliches, durchsichtiges. Das Glas war milchig und blau wie das Meer, und Sonnenlicht schien hindurch. Will ging schließlich durch die Türe, um zu sehen, wo er war. Als er durch die Tür geschritten war, erkannte er sogleich, dass er sich im ersten Stock eines Hauses befand. Auf seiner linken Seite war ein hölzernes Geländer, und hinter diesem konnte er direkt den Boden des Erdgeschosses sehen, mit einem großen runden Tisch und einer Sitzbank auf der linken Seite. Er hörte Schritte, und Geklapper wie von Tellern. Rasch ging er weiter, um zu sehen, wer dort war. Angst hatte er keine, er war sich gewiss, dass er in Sicherheit war.  Unterwegs betrachtete er den Rest des Stockwerkes, das wie das Zimmer aussah, aus dem er gekommen war. Die Wände waren allesamt aus Holz, mit kurvigen Verzierungen geschmückt. Zwei große Fenster aus blauem Glas befanden sich auf der linken Wand jenseits des Geländers. An der rechten Wand direkt neben ihm stand ein weiteres Regal, dieses war jedoch leer. Auf dem Weg hinunter kam Will noch an zwei Schränken vorbei und an einer Ecke, in der jede Menge Kisten und Fässer standen.  Zögernd ging Will die Treppe hinunter. Obwohl er keine Angst hatte, war er trotzdem unsicher, wen oder was er erwarten sollte. Zu seiner Beruhigung sah er niemanden im Erdgeschoss, das eigentlich nur aus einem großen Raum zu bestehen schien. Am Ende der Treppe war links und auch vor ihm eine Wand, und nur auf der rechten Seite ging der Raum noch weiter. Dort, am Fuß der Stiegen, stand ein großer Tisch mit einer Tischplatte, die sich dem Ende zu nach oben neigte. Einige Tintenfässer und Federkiele lagen darauf, sowie ein paar Blatt Papier, die leicht bräunlich und etwas uneben waren, mit unförmigen, eingerissenen Rändern. Will sah sich weiter im Erdgeschoss um. Er entdeckte einen erloschenen Kamin an der linken Wand, in dem einige Holzscheite lagen. Gegenüber dem Kamin stand der Tisch, den er bereits von oben gesehen hatte. Jetzt sah er, dass eine Kerze darauf stand, die aber nicht brannte. Ein paar Stücke metallisches Essbesteck lagen auf dem Tisch, ebenso zwei Metallteller, die aber flach und unverziert waren. Dazwischen lagen einige gefaltete Tücher.Ansonsten sah der erste Stock genauso aus wie der Rest des Hauses, was nicht überraschend war. Links neben dem Tisch sah Will eine Tür, die ihm ins Auge fiel. Zweifellos führte sie nach draußen, denn sie hatte ein kleines blaues Fenster, durch das Licht hereinströmte. Will spielte mit dem Gedanken, sie zu öffnen und ins Freie zu gehen. Vielleicht konnte er es schaffen, aus dem Dorf zu gehen und einen Weg nach Hause zu finden. Doch dann schoss es ihm ein: Wohin sollte er gehen? Er kannte sich hier überhaupt nicht aus. Was, wenn er wieder einer dieser Kreaturen begegnen würde? Das war ein großes Risiko, das er nicht eingehen wollte.Noch dazu fiel gerade jetzt auf, dass er nur eine Hose an hatte. Es war seine eigene Hose, was ihn ein wenig beruhigte. Doch oben herum war er nackt. Er hatte es zuerst gar nicht bemerkt, denn es war warm in dem Haus, und er fühlte sich eigentlich wohl.  Plötzlich riss ihn eine Stimme aus seinen Gedanken: „Ah, hallo, bist du auch endlich aufgewacht.“Will schreckte hoch und drehte sich schnell um. Hinter ihm stand Duncan. Er hatte dasselbe Hemd und dieselbe Hose an wie am vergangenen Tag. Scheinbar war er aus einem Gang rechts vom Kamin gekommen, der Will erst jetzt ins Auge fiel.„Habe ich dich erschreckt? Tut mir leid.“ sagte Duncan verschmitzt.Will winkte ab. „Schon gut.“„Willst du etwas essen?“ fragte Duncan, und dabei fiel Will das Tablett auf, das er in den Händen hielt. Brot, Käse und geschnittenes Fleisch lagen darauf.Will nickte nur.„Dann setz dich ruhig.“ meinte Duncan und deutete mit dem Kopf auf den großen Tisch. „Ich habe auch Tee gemacht.“„Ich bin kein Freund von Tee.“ erwiderte Will. „Aber unter den Umständen...“ Duncan lächelte, und verschwand dann in dem Gang neben dem Kamin, der scheinbar zur Küche führte. Währenddessen setzte sich Will an den Tisch, auf einen Sessel der zur Türe gerichtet war. Kurze Zeit später kam Duncan mit zwei hohen Tassen und einer dampfenden Teekanne zurück. Er stellte alles auf den Tisch und meinte: „Bedien dich.“„Danke.“ sagte Will. Er nahm sich etwas von dem Brot und dem Käse, während Duncan sich einen Tee einschenkte.„Schmeckt es dir?“ fragte der lockige Junge plötzlich.„Ja, doch.“ erwiderte Will. „Schmeckt irgendwie anders. Ich weiß nicht, warum.“„Nicht wahr?“ sagte Duncan lächelnd. „Hier ist alles viel frischer und natürlich, weil es direkt vom Tier auf den Tisch kommt.“Will nickte. „Das Brot auch?“„Natürlich, auch das.“ erwiderte Duncan. „Das kommt von Sandwich-Schafen. Wusstest du das etwa nicht?“Will sah ihn seltsam an. In einer Welt, in der riesige Echsenkreaturen umherlaufen, da hätte es ihn nicht überrascht, würden Schafe zu Brot verarbeitet worden.Duncan lachte. „Nein, das war nur ein Witz. So was wie Sandwich-Schafe gibt es nicht.“ Er hielt für einen Moment inne. „Man nennt sie natürlich Getreide-Schafe.“Daraufhin mussten die beiden Jungs lachen.  Die Beiden aßen und tranken, bis sie satt waren. Dann schwiegen sie eine Weile, doch schließlich fragte Duncan: „Sag, wie fühlst du dich?“„Was?“ erwiderte Will, von der Frage überrascht.„Na ja, ich meine, nach der gestrigen Aufregung...“ fügte Duncan hinzu.„Ach so. Klar.“ sagte Will. „Tja, ich fühle mich immer noch etwas schwach, und mir ist auch noch etwas schwindlig. Aber das ist halb so wild.“„Schön. Das ist normal, das macht jeder durch.“ meinte Duncan lächelnd.„Körperlich habe ich keine wirklichen Probleme.“ fuhr Will fort und runzelte die Stirn. „Aber ich mache mir viele Gedanken. Wo ich hier bin, was ich hier soll... Verstehst du?“„Verstehe ich.“ antwortete Duncan. „Mir ging es ganz genauso. Wem würde es nicht so gehen? Aber mach dir keine Sorgen. Heute werden alle deine Fragen beantwortet werden.“ Will nickte und trank den Rest seines Tees aus. Er überlegte kurz, dann wandte er sich Duncan zu.„Darf ich dich etwas fragen?“ sagte er.„Natürlich, jederzeit. Schieß los.“ erwiderte Duncan.„Wie lange bist du eigentlich schon... na ja... hier?“ fragte Will.„In dieser Welt, in Aramar, meinst du?“ meinte Duncan. Will nickte. „Nun ja, lass mich überlegen. In knapp einer Woche ist es genau ein Jahr her, seit ich hierher gekommen bin.“Will machte große Augen. „Ein Jahr! So lange?“„Ja, so ist es.“ sagte Duncan. „Ein Jahr.“„Stört dich das nicht?“ fragte Will. „Ich meine, hier zu sein, in dieser Welt, anstatt daheim?“„Nein, überhaupt nicht. Das macht mir gar nichts aus.“ Will sah sein Gegenüber ungläubig an. „Weißt du, das hier hat schon seinen Charme. Es ist alles so... altmodisch, zumindest verglichen mit unserer Welt. Fast wie im Mittelalter. Ich mag das irgendwie.“„Das freut mich für dich, Duncan.“ erwiderte Will. „Mir gefällt das aber nicht. Ich mag lieber die modernen Sachen.“„Schon klar. Ich verstehe das.“ sagte Duncan nickend. „Ging mir genau so. Mir hat es anfangs hier auch nicht gefallen. Aber mit der Zeit gewöhnt man sich dran. Ich meine, du bist ja noch nicht einmal einen Tag hier. Was soll man da auch erwarten?“ Für einen Augenblick hielt Duncan inne und überlegte. Schließlich sagte er: „Ich sehe das so. Es ist wie in den Ferien. Am Anfang kann man sich auch schwer an das Hotel und an die Umgebung gewöhnen. Aber mit der Zeit gefällt es einem. So ist es hier auch. Also hab Geduld.“Will stieß einen leisen Lacher aus. „Urlaub. Na ja, ein etwas... seltsamer Vergleich. Weit hergeholt. Aber ganz so schlecht finde ich ihn nicht, schließlich endet ja auch jeder Urlaub irgendwann, und man kommt wieder nach Hause. So wird es hier hoffentlich auch sein.“ Duncan antwortete nicht, sondern nickte nur und lächelte eigenartig, zumindest kam es Will so vor. Er fand das seltsam. Doch bevor er irgendetwas sagen konnte, griff Duncan nach den Tellern und stand auf. Er sagte: „Wir sollten langsam zu Eeza gehen. Er erwartet uns.“ Mit den Tellern in der Hand ging er in Richtung Küche, doch er hielt auf halbem Weg inne, drehte sich zu Will um und fügte hinzu: „Du solltest dich umziehen, bevor wir gehen. In dem Schrank oben bei deinem Bett ist Gewand, das dir passen sollte.“„Du meinst, ich soll so was anziehen wie du?“ fragte Will und zog eine Augenbraue hoch.„Ja, das wäre klug. Damit fällst du nicht auf.“ entgegnete Duncan. „Du hast ja gesehen, dass es Leute gibt, die etwas gegen dich haben. Du willst sicher nicht, dass du denen sofort ins Auge fällst.“„Wenn du meinst...“ murmelte Will.„Eigentlich ist es egal.“ sagte Duncan. „Ich meine, ob du hier mit dem Gewand aus unserer Welt oder nackt herumläufst. Das Ergebnis wäre dasselbe: Man würde dich schief ansehen und für verrückt halten.“„Klingt als hättest du das schon einmal versucht.“ meinte Will grinsend.Duncan lachte daraufhin laut und verschwand schließlich in der Küche. Will blieb noch ein wenig sitzen und überlegte. Es gefiel ihm überhaupt nicht, dass er sich so wie die Leute hier kleiden sollte, denn die mittelalterliche Kleidung sagte ihm gar nicht zu. Aber ihm war klar, dass es nicht falsch sein könne, dem Rat von jemandem zu folgen, der schon ein Jahr hier verbracht hatte.  Schnurstracks stieg er die Treppe zum ersten Stock hinauf und marschierte zu dem Bett, in dem er geschlafen hatte. Er ging durch die Türe und wandte sich nach links, wo der Schrank stand. Etwas zögerlich öffnete er die Schranktür, die dabei ein hölzernes Knarren von sich gab. In dem Schrank fand er die Kleider, von denen Duncan gesprochen hatte: ein olivfarbenes Hemd mit langen Ärmeln, eine lange hellbraune Hose und ein paar braune Stiefel.  Etwas unwillig nahm Will alle drei Kleidungsstücke heraus, trug sie zum Bett und legte sie darauf ab. Dann begann er, sich zu entkleiden, was sehr schnell ging. Er streifte seine Jeans ab, und war damit auch schon fertig. Seine Schuhe und seinen Kapuzenpullover schien er bereits gestern ausgezogen zu haben, doch seltsamerweise konnte er sie auch nicht finden. Doch er wusste, dass sie es eilig hatten, und deswegen dachte er vorerst nicht darüber nach. Geschwind schlüpfte er in die braune Hose und zog sich das Hemd über. Beide Teile schienen aus einem festeren Stoff als seine Sachen zu sein, und waren deshalb etwas unbequem. Der Stoff kratzte etwas, und Will konnte sich daran nicht so frei bewegen wie in seinem Gewand. Doch er sagte sich, dass er sich sicher daran gewöhnen würde. Seine Socken zog er nicht aus, denn er wollte nicht mit nackten Füßen in die Stiefel steigen. Er hasste dieses Gefühl. Er war sich sicher, dass die Socken nicht auffallen würden. Schließlich war Will fertig angezogen. Er fühlte sich recht komisch in dieser Kleidung. Fast wünschte er sich einen Spiegel, um zu sehen, wie seltsam er doch aussehen musste. Vor allem das Hemd missfiel ihm, da es zu lang war und halb seine Oberschenkel bedeckte. Allerdings hatte er keine Lust, sich darüber bei jemandem zu beschweren. Er sagte sich einfach, dass dies hier Mode sei, und beließ es dabei. Rasch marschierte Will wieder hinunter ins Erdgeschoss, wo Duncan schon auf ihn wartete.„Gut siehst du aus.“ sagte er und lächelte. „Allerdings ist mir eingefallen, dass ich etwas vergessen hatte. Hier, das gehört noch dazu.“ Mit diesen Worten reichte er Will einen braunen Ledergürtel.„Oh, danke, das...“ erwiderte Will, etwas überrascht, und nahm den Gürtel.„Du musst ihn so tragen wie ich es tue.“ sagte Duncan und zeigte auf seinen Gürtel, den er über dem Hemd an der Taille trug.„So? Nicht unter dem Hemd, an der Hose, wie es üblich ist?“Duncan lachte. „Üblich bei uns, aber nicht hier. Hier trägt man den Gürtel so.“„Aber... sehe ich dann nicht aus, als hätte ich einen Minirock an?“ fragte Will ablehnend.Duncan lachte abermals, dieses Mal lauter. „So was denkt hier doch niemand. Hier tragen das alle Männer. Na komm, wir haben es eilig.“Etwas unwillig schnallte sich Will den Gürtel um die Hüfte. „Gut so?“ fragte er, als er fertig war.„Ganz wunderbar.“ erwiderte Duncan. „Wenn du meinst. Ich komme mir jedenfalls komisch vor.“ sagte Will.„Mach dir nichts daraus. Das geht nicht nur dir so.“ sagte Duncan schmunzelnd.„Ach ja?“„Ja. Mir kommst du auch komisch vor.“ entgegnete Duncan und lachte laut über seinen gelungenen Scherz. Will stieß ein sarkastisches Lachen aus, sagte aber nichts. „Na komm, gehen wir.“  Duncan öffnete die Tür, und beide Jungs gingen hinaus. Die Sonne strahlte hell vom Himmel, und Will musste sich im ersten Moment die Hand vor die Augen halten, weil er so geblendet war. Dieser Zustand verging aber bald wieder. Duncan ging nun voran zu Eeza’s Haus, und Will folgte ihm nach. Will atmete einmal tief ein und aus. Bei seiner Ankunft hatte er Cestilla kaum betrachten können, da keine Zeit war. Nun konnte er sich in Ruhe umsehen. Will sah nun, dass die Häuser gar nicht so gleich aussahen, wie er anfangs gedacht hatte. Zwar waren sie alle im selben Stil erbaut und scheinbar alle aus demselben Holz, aber es gab doch eindeutige Unterschiede. Es gab einige kleine, einstöckige Häuser, aber auch mehrere, die zwei Stockwerke hatten. Nur wenige Häuser waren klein und wirkten wie Hütten. Die meisten waren groß genug, um einer Familie Platz zu bieten. Vermutlich, weil sie genau das taten.Trotzdem wirkte auf Will alles sehr primitiv. Wo er herkam, da hatte kein Haus weniger als vier Stockwerke, und war schon gar nicht aus Holz. Diese hier in Cestilla waren es. Genau genommen war alles an ihnen aus Holz: die Wände, die Türen und auch das Dach. Viele hatten sogar einen hölzernen Zaun um sie herum, der wie eine Miniaturversion des großen Palisadenzauns wirkte, der das Dorf umschloss. Einige Häuser hatten auch Gärten, meist dahinter. Diese waren nicht größer als ein einzelnes Zimmer, dafür aber reichlich bepflanzt mit verschiedenen Büschen, Gräsern und Blumen.   Anders als bei Wills gestriger Ankunft trieben sich die Bewohner von Cestilla heute im ganzen Dorf herum. Will sah Männer, die mit Kisten herumspazierten. Er sah Frauen, die einen Eimer auf dem Kopf oder Essbares in den Händen trugen. Ein Mann führte ein Pferd an den Zügeln durch das Dorf, und es trottete brav hinterher. Alle schienen eifrigst bei der Arbeit zu sein. Will war davon etwas überrascht, denn das war so anders als in seiner Welt. Die Leute, die er dort auf der Straße sah, gingen stets nur von einem Ort zum anderen und wirkten gestresst und in Eile. Die Leute hier waren eindeutig fleißig am Arbeiten, doch sie machten einen gemütlichen und fröhlichen Eindruck. Als Will hinter Duncan durch das Dorf ging, fiel ihm auf, dass ihn die meisten Leute anstarrten. Sie blickten ihm nach, wenn er vorbeiging, manche zeigten auf ihn, und andere flüsterten sich gegenseitig etwas zu. Dabei hatten aber alle ein Lächeln auf den Lippen und schienen erfreut. Will fand das seltsam, sagte aber vorerst nichts. Er dachte sich, dass er den Grund dafür sowieso gleich erfahren würde.   Duncan folgte einem breiten Weg, der von Erde bedeckt war, und kleine Steine lagen hier und dort verstreut. Der Pfad lag quer zu dem Weg, der von einem Ende von Cestilla zum anderen führte. Der Weg ging zwischen zwei Häuserreihen entlang. Duncan ließ das erste Haus auf beiden Seiten links liegen. Dann wandte er sich dem zweiten Haus auf der rechten Seite zu. Es sah anders aus als die anderen Häuser und stach heraus, obwohl es ebenfalls im selben Stil wie die anderen gebaut war. Doch es hatte einen zweiten Stock, der kleiner war als der Rest. Es wirkte, als hätte man auf das Dach des ersten Hauses ein kleineres Haus daraufgesetzt. Außerdem hatte Eeza’s Haus keine viereckige Form. Sein hinteres Ende war rund und bogenförmig. „Das ist Eeza’s Haus.“ sagte Duncan, als sie davor standen. „Wir sind da.“ Mit Schwung öffnete Duncan die Eingangstüre und ließ Will den Vortritt. Nacheinander betraten sie das Haus. Eeza’s Haus war nicht nur äußerlich anders, auch das Innere unterschied sich sehr von Armári’s Haus. Besonders auffällig war der Geruch, der in der Luft lag. Will konnte ihn nicht einordnen. Aber nicht, weil er unbekannt war, sondern weil es eine bunte Mischung aus den verschiedensten Gerüchen war. Jedes Mal, wenn er durch die Nase Luft holte, roch er etwas anderes. Mal war es Holz, mal roch es nach Tierdung, und mal nach irgendwelchen süßen Früchten. Einige Gerüche konnte Will gar nicht bestimmen. Eeza schien hier verschiedenste Experimente durchzuführen, die diese Düfte zur Folge hatten. Einige Fläschchen mit einem bunten, undefinierbaren Inhalt standen herum und bestätigten Wills Verdacht. Allerdings konnte man schwer sagen, ob das Haus diese Gerüche verströmte, oder Eeza selbst. Aber auch das Aussehen des Hauses unterschied sich von anderen. Zwar war der Stil derselbe wie der von Armári’s Haus, doch so war Eeza’s Haus zum Beispiel um einiges höher. Es war beinahe doppelt so hoch, allerdings ohne einen sichtbaren zweiten Stock zu besitzen. Überhaupt war das ganze Haus um einiges größer, nicht nur in der Höhe. Alle Wände wären länger, und es bat vielmehr Platz. Es war fast zu viel Platz für eine einzige Person.An den Wänden standen jede Menge hohe Regale, gefüllt mit unzähligen Büchern und Schriftrollen. Rechts neben dem Eingang stand ein großer Tisch, auf dem viele Zettel lagen, die meisten davon beschrieben. Ein dickes Buch lag darauf. Gegenüber dem Eingang, am anderen Ende des Hauses, stand ein großer Schreibtisch, auf dem ebenfalls jede Menge Bücher und Zettel lagen, und ebenso ein Tintenfass mit Schreibfedern.  Eeza saß an jenem Tisch, und neben ihm stand Thêl. Der Krieger war über den Tisch gebeugt, und die beiden Männer waren ins Gespräch vertieft. So sehr, dass sie die Jungs noch gar nicht bemerkt hatten. „Wie geht unsere Suche voran?“ fragte Eeza gerade Thêl.„Nichts Neues von Armári.“ erwiderte Thêl. „Ney-Ya bleibt unauffindbar.“„Und was ist mit der Athame?“ fragte Eeza weiter.„Ihr wisst, wer sie besitzt.“ sagte Thêl. „Da heranzukommen ist so gut wie unmöglich.“„Dann gibt es keine guten Neuigkeiten.“ seufzte Eeza.„Ich fürchte nicht.“ meinte Thêl kopfschüttelnd. „Und es gibt noch eine Botschaft aus dem Westen.“„Sprich.“„Es scheint, das Garagarth weiter sein Unwesen treibt. Es sieht nicht so aus, als könne ihn jemand aufhalten.“ In diesem Moment traten Will und Duncan an den Schreibtisch heran. Duncan unterbrach Thêl. „Was ist ein Garagarth?“ fragte er, denn er war sehr neugierig.„Nicht ein Garagarth, der Garagarth.“ erklärte Eeza und klang dabei wie ein Lehrer. „Garagarth ist ein Dämon von der übelsten Sorte. Er ist sehr mächtig, und er begegnet Menschen leider nicht mit Freundlichkeit.“ Mit einem Satz stand er auf. „Doch er ist zurzeit nicht unser Problem. Es gibt andere Dinge, die unsere Aufmerksamkeit verlangen.“ Bei diesen Worten lächelte er Will an und machte einen Schritt auf ihn zu. Seine alten und doch freundlichen Augen strahlten. „Es freut mich, dich zu sehen, mein Junge. Das Gewand kleidet dich wirklich sehr. Wie war deine erste Nacht in Aramar?“ „Nun, danke, ganz gut. Besser als das Erwachen danach.“ antwortete Will.„Ich verstehe, was du meinst.“ erwiderte Eeza. „Es ist alles noch ungewohnt für dich, nicht wahr? Aber mach die keine Sorgen, du wirst dich sicher einleben. Alles braucht seine Zeit.“„Ich weiß nicht. Aber wenn Sie es sagen...“„Oh, das habe ich ganz vergessen.“ warf Duncan plötzlich ein. „Hier ist es üblich, andere mit ‚Ihr’ anzureden statt mit ‚Sie’. Ich weiß, es ist etwas ungewöhnlich, aber wenn du nicht auffallen willst, würde ich an deiner Stelle daran denken.“Will kratze sich am Kopf ob des seltsamen Ratschlags. „Wird schwer sein, nicht aufzufallen, wenn die Leute einen so anstarren wie da draußen.“ erwiderte er. „Warum auch immer sie das tun.“ „Dazu kommen wir noch.“ sagte Eeza. „Doch außerhalb des Dorfes wird dich wohl keiner ansehen. Die Leute hier wissen, dass du aus einer anderen Welt bist, und für sie ist das ungewöhnlich und aufregend. Außerhalb von Cestilla weiß aber niemand von dir. Jedenfalls hoffe ich das.“ Nach diesen Worten setzte sich Eeza wieder hinter seinen Schreibtisch und sah Will freundlich an. „Nun gut.“ sagte er. „Ich weiß, du hast viele Fragen. Nun ist die Zeit für Antworten. Frag, und ich werde antworten, so gut ich kann.“Ohne lange zu überlegen sagte Will: „Die wichtigste Frage liegt auf der Hand: Warum habt ihr mich hierher geholt? Was soll ich hier?“ Eeza nickte. „Ich will ganz ehrlich zu dir sein. Es steht schlecht um unser Land. Es wird unterdrückt und gequält von vier Königen und ihrem Meister Beléssan. Schon seit vielen Jahren leidet Aramar, und wir mussten es ertragen. Doch wir haben die Hoffnung nie aufgegeben. Denn es wurde uns vorausgesagt, dass ein Auserwählter kommen würde, der das Land befreit und den Frieden bringt. Und dieser Auserwählte, mein Junge, das bist du!“  Will war wie vom Donner gerührt. Er starrte Eeza an, und versuchte zu verarbeiten, was er gerade gehört hatte. Doch das konnte er einfach nicht, und schließlich sagte er, verwirrt und aufgewühlt: „Was? Ich? Das könnt ihr nicht ernst meinen. Wie soll ich eure Welt retten? Ich bin selbst nur ein gewöhnlicher Mensch, nicht anders als Millionen Andere.“„Das scheint dir so.“ entgegnete Eeza. „Aber da irrst du dich. Das Schicksal hat dich ausgewählt. Es war das Schicksal, das deine Schritte durch das Weltentor zu uns geführt hat.“„Sie... Ihr... Meint Ihr dieses weiße Licht?“ fragte Will. „Aber das habt ihr doch selbst geöffnet, oder nicht?“„Das ist wahr, wir haben es geöffnet.“ sagte Eeza. „Doch mehr taten wir nicht.“„Die Magie der Tore ist uralt.“ fügte Thêl hinzu. „Wir können es nur in einen bestimmten Bereich... nun, senden. Dann öffnete es sich von selbst für eine starke Persönlichkeit. Für wen sich das Tor öffnet, wem es erlaubt es zu durchschreiten, das entscheidet es selbst.“Will hob eine Augenbraue. „Ist das euer Ernst?“„Aber ja.“ erwiderte Eeza. „Es klingt seltsam, das will ich zugeben, doch es ist wahr. Die Magie ist stets etwas Ungewöhnliches.“Will wischte sich mit der Hand über das Gesicht. „Aber warum gerade ich? Was macht euch so sicher, dass ich der Auserwählte sein soll?“ „Das kann ich dir sagen.“ begann Eeza. „Es gibt eine Prophezeiung, die besagt, dass seltsame Dinge geschehen würden, wenn die Ankunft des Auserwählten kurz bevorsteht. Nun, vor einigen Tagen wurde ein Junge in einem Dorf an der Südküste erwischt, als er einen Mann ermordete und sein Gold an sich nahm. Dieser Junge wurde vor Gericht gebracht, verurteilt und eingesperrt. Der Junge war erst vierzehn Jahre jung! Vierzehn! Das ist ein ungewöhnliches Alter für Mord und Diebstahl, findest du nicht?Auch ist das Erscheinen von Garagarth, von dem wir vorhin gesprochen haben, als Zeichen zu sehen. Denn eigentlich gilt der Dämon als tot. Ein drittes Zeichen kommt vom Einsamen Felsen, der im Meer vor der nördlichen Küste steht. Dort, so heißt es, seien nachts seltsame Lichter aufgetaucht. Sie sollen über das Meer geschwebt und schließlich hinter dem Felsen verschwunden sein.“„Das ist wahr. Und ich sage, auch das Auftauchen dieses Generals... Durzog oder wie er hieß... ist ein Zeichen.“ warf Thêl ein. „Normalerweise kommt nie einer von Beléssans Männern in das Dorf, außer um Steuern einzutreiben.“Eeza nickte. „Wohl wahr. Wahrscheinlich wegen Beléssans eigener Prophezeiung.“„Seiner eigenen?“ fragte Will, völlig verwirrt ob der Dinge, die er gehört hatte. „Gibt es noch eine?“„Ja, doch sie betrifft nur Beléssan selbst.“ erläuterte Eeza. „Sie besagt, dass er von niemandem getötet werden kann, der aus unserer Welt stammt. Daher ist er vorsichtig, wenn er ein Weltentor spürt. Leider kennt er nämlich auch die Prophezeiung um den Auserwählten.“„Er kennt sie?“ sagte Will bestürzt. „Das kann nicht gut sein.“„Nun, er weiß ja nicht, dass du hier bist. Er weiß, dass jemand hier ist. Irgendwo hier in der Nähe. Dass genau du genau hier bist, das weiß er nicht. Also mache die keine Sorgen.“  Will seufzte. Er ließ sich alles durch den Kopf gehen, dass er eben gehört hatte. Er war fassungslos, was er gehört hatte. Dass er ein Land retten sollte. Gerade er, der doch vor anderen stets davonlief. Weder war er ein Krieger noch irgendwie mutig. So ungern er es zugab, er war eigentlich nie an den Problemen Anderer interessiert, nur an seinen eigenen. Wie sollte er irgendjemand oder –etwas erlösen? Er überlegte lange, und schließlich verschränkte er die Arme und sagte: „Es tut mir leid, Eeza, aber ich fürchte, ich kann euch nicht helfen. Ihr habt wohl den Falschen. Wie sollte ich ein ganzes Land retten, wenn ich mir doch selbst nicht helfen kann? In meiner Welt kann mich kaum jemand leiden. Ständig werde ich verspottet und gepiesackt, weil ich mich nur um meine Sorgen kümmere. Weil ich ein Außenseiter bin. Wie sollte ich da euch helfen können?“ „Was in deiner Welt passiert, ist irrelevant.“ erwiderte Eeza lächelnd. „Was du hier tust, das zählt. Du wurdest vom Schicksal auserwählt.“„Ich glaube nicht an das Schicksal.“ sagte Will. „Ihr solltet euch lieber jemanden suchen, der das Zeug zum Helden hat, keinen Feigling und Egoisten wie mich. Das Beste wäre, ihr würdet mich in meine Welt zurückschicken.“ Für einen Augenblick starrten Eeza, Thêl und Duncan Will an, und dann sagte Eeza, fast etwas kleinlaut: „Verstehe. Leider ist das Zurückbringen etwas schwierig.“„Was heißt das?“ fragte Will und sah Eeza schief an. „Ihr könnt es nicht?“„Doch, wir können es.“ erwiderte der Alte. „Das Problem ist ein anderes. Lass mich erklären. Obwohl Beléssan zwar das Land unterdrückt, herrscht zumindest Frieden zwischen den Königreichen Aramars und ihm, wenn auch kein perfekter Frieden. Doch das kann sich schnell ändern, denn Beléssan ist sehr wankelmütig. Die kleinste Bedrohung oder Beleidigung würde genügen, um einen Krieg auszulösen. Dies ist etwas, das keines der Königreiche riskieren will. Denn egal, mit wie vielen Soldaten ein Reich anrückt, gegen Beléssans Macht hat keiner von ihnen eine Chance, und das wissen sie.  Nun, Beléssan wiederum weiß um die Prophezeiung, und deswegen betrachtet er jeden Fremdling und jedes Weltentor als Bedrohung und Frevel. Er lässt das Öffnen eines solchen Tores mit dem Tode bestrafen. Jedoch hinterlässt das Öffnen eines Toren in unsere Welt keine Spuren und keine Beweise, und deswegen können wir das ohne Gefahr tun. Bei einem Tor in eine andere Welt sieht die Situation leider anders aus. Es muss gebaut werden, und mit Magie vollendet. Es bleibt ewig bestehen, wenn es nicht zerstört wird, und kann oftmals verwendet werden. Doch das heißt auch, dass Beléssan spüren kann, wer es gebaut hat. Würden wir eines erschaffen und er es finden, so würde er unser Dorf in einem Atemzug vernichten. Und in seinem Zorn würde er den anderen Städten den Krieg erklären. So würden wir das Schicksal von ganz Aramar besiegeln. Dieses Risiko können wir unmöglich eingehen. Ich hoffe, du verstehst das.“  Will schüttelte ungläubig den Kopf. „Aber... Ihr sagtet, so ein Tor würde ewig stehen bleiben. Sicher habt Ihr schon mal eines benutzt. Nehmt doch einfach das.“„Das ist unmöglich, leider.“ erwiderte Eeza. „Beléssan hat alle zerstört. Jedes einzelne.  Wir...“ „Schon gut.“ unterbrach ihn Will. Er wollte etwas erwidern, doch es fiel ihm schwer, die richtigen Worte zu finden. Er überlegte, und schließlich sagte er, während er ins Leere starrte: „Ich verstehe. Ihr wollte mich zwingen, euer Land zu retten und mein Leben zu riskieren. Aber meine Gefühle sind euch dabei egal.“„Was sagst du da?“ entgegnete Eeza. „Das ist nicht wahr. Wir zwingen dich zu überhaupt nichts.“„Ich verstehe voll und ganz!“ schrie Will plötzlich und stierte Eeza mit starrem Blick an. „Ihr habt mich gegen meine Willen hierher geholt, mich entführt! Und nun haltet ihr mich hier auch noch gefangen! In dieser Welt! Doch dies ist nicht meine Heimat! Ich will hier nicht sein, und sie ist mir egal! Warum habt ihr euch nicht aus meinem Leben herausgehalten!? Warum habt ihr mich nicht einfach in Ruhe gelassen!?“Mit diesen Worten marschierte Will von dem Schreibtisch weg und verließ Eeza’s Haus. Er verschwand hinter der Tür und schloss sie lautstark. „Warte, nicht!“ rief Duncan noch. Er wollte ihm nachlaufen, doch Thêl hielt ihn zurück.„Lass ihn, er muss jetzt alleine sein.“ sagte der Krieger. „Doch folge ihm mit Abstand. Er sollte nicht das Dorf verlassen. Das wäre gefährlich für ihn.“Duncan nickte und lief dann ebenfalls aus dem Haus.  Nachdem Duncan weg war, wandte sich Thêl an Eeza. „Warum habt Ihr ihm diese Geschichte erzählt?“ sagte er. „Das ist doch nicht wahr. Ein jedes Tor zu öffnen ist einfach, und es kann niemals zurückverfolgt werden. Also warum habt Ihr ihn angelogen?“ „Hätte ich ihm die Wahrheit gesagt, so hätte er mich nur gebeten, ihn zurückzuschicken, bis ich nachgegeben hätte.“ antwortete Eeza. „Doch er muss bleiben. Er muss erkennen dass er wahrhaftig hierher gehört. Vertrau mir, er wird sehen was wahr ist. Ich gebe zu, mir gefällt es auch nicht. Aber es war notwendig. Ich tat nur, was getan werden musste.“„Davon werdet ihr mich nie überzeugen.“ sagte Thêl kopfschüttelnd. „Aber was, wenn ihm einer der Dorfbewohner die Wahrheit sagt?“„Das werden sie nicht, und das können sie nicht.“ erwiderte Eeza. „Für den Moment glauben sie, dass ihn heimzuschicken den Tod dieses Landes bedeuten würde. Mit etwas Hilfe natürlich.“Thêl sah den alten Zauberer streng an. „Ist diese Magie überhaupt erlaubt?“„Das kümmert mich nicht.“ sagte Eeza. „Es ist für ein höheres Ziel, für das Wohl aller. Es ist für das Wohl von Aramar. Also halte mir jetzt keinen Vortrag, Thêl. Ich muss mich dir gegenüber nicht rechtfertigen.“ Thêl seufzte und blickte dann Richtung Ausgangstür. „Ihr wisst, dass er Euch dafür hassen wird, nicht wahr?“„Ich weiß. Aber das ist doch egal.“ erwiderte Eeza. „Wir alle müssen Opfer bringen, wenn wir Beléssan loswerden wollen.“ Für einen Augenblick war Eeza still. Dann sagte er: „Weißt du, ich verstehe ihn. Ich bin ihm auch nicht böse.“ sagte Eeza und kratzte sich am Kopf. „Ich hätte wohl ähnlich reagiert.“„Da habt Ihr Recht.“ meinte Thêl. „Ehrlich gesagt, er hat es besser aufgenommen, als ich dachte.“ 

Der Friedhof von Cestilla

 

Die Sonne schien kraftvoll auf die Häuser von Cestilla. Es war gerade Mittag, und sie stand hoch am Himmel. Dies war der wärmste Zeitpunkt des Tages, und die Bewohner des Dorfes suchten Schatten, wo sie nur konnten. Die meisten waren zu dieser Tageszeit in ihren Häusern, entweder um Schatten zu suchen oder ihr Mittagessen einzunehmen.
 

Will kümmerte die Sonne nicht, er suchte keinen Schatten. Er warf selbst einen großen Schatten. Nicht auf den Boden, sondern auf sein Gemüt. Er war betrübt, zornig und verzweifelt. Eine Vielzahl von Gefühlen herrschte in ihm.
 

Sein Zorn auf Eeza und die anderen war gewaltig. Er fand es einfach unglaublich, dass sie ihn aus seiner Welt geholt hatten und nun solch große Dinge von ihm verlangten wie die Rettung des ganzen Landes. Er sollte jemanden besiegen und töten, gegen den selbst ganze Armeen chancenlos waren. Was sollte er da ausrichten können? Er war nur ein ganz normaler Mensch, und feige und egoistisch war er. Mit Sicherheit gäbe es in Aramar genug Menschen, die besser kämpfen konnten als er, und auch mutiger waren. Thêl war doch der beste Beweis dafür. Will erinnerte sich, wie schnell und geschickt er diese Echsenkreatur getötet hatte. Thêl war zweifellos ein mächtiger Krieger, und auch sehr ehrbar. Warum sollte nicht er diesen Beléssan töten? Was macht mich so besonders, dachte Will.
 

‚Beléssan kann von niemanden getötet werden, der aus dieser Welt stammt.’ erinnerte sich Will. Eeza und die anderen glaubten fest an diese Prophezeiung. Eigentlich war es nur ihretwegen, dass sie ihn zum Helden machten. Allerdings sah er die Dinge viel nüchterner, er glaubte nicht an Prophezeiungen und das Schicksal. Außerdem, warum musste gerade er es sein? War er denn der einzige Mensch aus einer anderen Welt? Nein, da war auch noch Duncan. Auch er stammte aus einer anderen Welt. Zugegeben, Will würde ihm die Rettung einer ganzen Welt nicht anvertrauen. Nein, so eine Bürde würde er ihm nicht auferlegen, ebenso wenig wie sich selbst.
 All dies gab Will zu denken: Glaubte er tatsächlich nicht daran, dass die Prophezeiung ihn zum Helden auserkoren hatte? Oder war es vielmehr so, dass er einfach diese Verantwortung nicht tragen wollte? 

Doch das war es gar nicht, das ihn am allermeisten störte. Ihn störte, dass sie sich standhaft weigerten, ihn in seine Welt zurückzuschicken, ihm das zu geben, was er am meisten begehrte. Will verstand zwar, warum sie es nicht konnten. Doch das war für ihn nicht relevant. Dies war nicht sein Land, und es kümmerte ihn nicht, ob es zerstört wurde oder nicht. Auch wenn es hart klingen mag, aber ihn kümmerte nur seine eigene Heimat. Es war ihm tatsächlich egal, was mit Aramar passierte. Wer weiß, ob das alles überhaupt stimmte, was Eeza ihm gesagt hatte. Wer weiß, ob die Lage wirklich so schlimm war. Vielleicht wollten sie das Ganze ja nur irgendwie rechtfertigen.

Nun gut, Will gab zu, dass das nicht ganz richtig war. Egal war ihm das Land nicht. Auch wenn es nicht das seine war, so wollte er doch nicht, dass es zerstört wurde und die Leute getötet wurden. Niemand verdiente dieses Schicksal. Doch es war so, dass ihn das Land weniger kümmerte als sein eigenes, und er war nicht erpicht darauf, etwas zu seiner Rettung zu tun. Sollten das doch Andere tun. Bestimmt würden sich genug heldenhafte Männer finden, die dazu in der Lage waren.
  

Plötzlich hörte Will eine Stimme hinter sich. „He, warte doch mal!“ Es war Duncan, der ihm aufgeregt hinterher lief.

„Lass mich in Ruhe.“ sagte Will kalt, ohne sich umzudrehen.

„Warte doch mal. Ich will doch nur reden.“ keuchte Duncan, völlig außer Puste.

„Aber ich will nicht!“ sagte Will lautstark und drehte sich schließlich um. „Was weißt du denn schon, wie es mir geht?“

„Nun ja, zum einen habe ich genau dasselbe durchgemacht...“ begann Duncan.

Doch Will unterbrach ihn. „Das ist mir egal. Ich will jetzt nicht reden. Lass mich einfach allein.“ Er seufzte und strich sich mit der Hand durchs Haar. Dann sagte er, in einem ruhigen Ton: „Hör mal, ich weiß, dass du nichts dafür kannst. Das alles ist nicht deine Schuld. Aber ich will jetzt einfach mal zum Nachdenken allein sein. Okay?“

Duncan sah ihn an und nickte dann: „Verstehe. Alles klar. Ich lasse dich für den Moment allein. Wir können ja später reden.“ Will nickte, und Duncan schickte sich an, wieder zu gehen, doch vorher sagte er noch: „Nur, tu dir und uns allen einen Gefallen und bleib hier im Dorf. Es wird dich keiner aufhalten, wenn du gehen willst. Aber raten würde ich dir das nicht. Du kennst diese Welt nicht. Du weißt weder, wo dort draußen irgendetwas ist, noch was in der Wildnis draußen alles lauert. Es wäre das Beste, wenn du in Cestilla bleibst, in Sicherheit.“

„Einverstanden.“ meinte Will seufzend. „Vielleicht hast du Recht. Ich wüsste ja sowieso nicht, wo ich hin gehen sollte.“
  

Nach diesen Worten trennten sich die beiden Burschen. Duncan ging den Weg zurück, den er gekommen war. Will marschierte weiter seines Weges.
 

Er folgte dem Pfad, der von einem Ende des Dorfes zum anderen führte. Er ging den Weg entlang und betrachtete die Häuser um sich herum. Wie er schon oft bemerkt hatte, waren alle in demselben Stil erbaut und bestanden aus demselben Holz und hatten dieselben Verzierungen. Trotzdem unterschieden sie sich durch verschiedene Größen und Stockwerke.

Will fiel auf, dass die Häuser auf der rechten Seite des Weges alle kleiner waren und enger beieinander standen. Sie waren auch zahlreicher als die Häuser auf der linken Seite, die größer waren und von denen er nur in der unteren Hälfte nur vier Stück sah.
 

Er überlegte, ob dies absichtlich war, und wenn, was es zu bedeuten hatte. War dies einfach nur eine seltsame Bauform, die in diesem Land üblich war? Oder war es eine Trennung in reiche und arme Leute? Aber er hatte die Bewohner von Cestilla gesehen, und sie sahen alle eher ärmlich aus. Vielleicht herrschte hier eine andere Definition von ‚reich’. Möglicherweise war hier jemand mit fünf Schafen schon ein reicher Mann. Und wenn, würde er dann damit protzen? ‚He, seht mich an, ich habe mehr Vieh als du. Du armer Bauer, du!“ Das konnte sich Will wirklich nicht vorstellen, wirkten die Leute hier doch allesamt bescheiden. Nun gut, er war auch ein Stadtmensch, und hatte keine Ahnung, wie das Leben am Land aussah. Ein Grund mehr, warum es ihm hier nicht gefiel. Einige Vorzüge der modernen Technik vermisste er jetzt schon.
 

Will spazierte weiter nachdenklich den Weg entlang. Er kam bei einem großen Haus vorbei, das auf der linken Seite des Weges direkt beim Dorfeingang stand. Es war größer als alle, die er bisher gesehen hatte. Es hatte einen eindeutigen zweiten Stock. Davor war eine Terrasse mit einem Geländer, und hölzerne Stufen führten zu seiner großen Eingangstüre hinauf. Darüber hing ein großes Schild, auf dem ein Bierkrug und eine Fleischkeule zu sehen waren, die sich überkreuzten. Unter der Zeichnung stand ein Wort, das durch Wind und Wetter schon etwas vergilbt war, doch es war noch lesbar. ‚Westland-Gasthaus’ stand da. Damit verflogen auch die Wills allerletzte Zweifel, worum es sich bei diesem Haus handelte.  
 

Die Tür des Gasthauses stand offen, und ein herrlicher Geruch nach Fleisch drang heraus, als würde ein prächtiges Schwein auf dem Grill gebraten werden. Will fand den Duft äußerst verführerisch, obwohl er keinen Hunger hatte. Er überlegte kurz, ob er hineingehen sollte. Bestimmt saßen dort schon jede Menge Leute an den Tischen, Besteck in der Hand und ungeduldig auf das Essen wartend. Genau dieser Gedanke ließ ihn es sich anders überlegen. Nach menschlicher Gesellschaft war ihm derzeit nicht zumute.
 

Bestimmt hätten die Leute ihn in ein Gespräch verwickelt, wer er doch war, was er tat und warum er so trübsinnig war, während sie gierig Fleisch und sonstige Speisen verschlangen. Er hatte eigentlich eine recht ekelhafte Vorstellung vom Landvolk, erkannte Will, und es tat ihm fast leid, denn bestimmt war es ungerechtfertigt. Jedenfalls hatte er derzeit kein Interesse an einer Unterhaltung, vor allem nicht mit solchen Leuten. Er wusste, wie die Menschen in Gasthäusern bei sich zuhause waren, wenn sie ein Bier nach dem anderen tranken. Fast schon... primitiv, dachte er sich. Als hätte der Alkohol all den Verstand und die Vernunft weggewaschen.
  

Will ging von dem Gasthaus weg. Auf der anderen Seite des Weges sah er ein Haus, das überhaupt nicht zu den anderen passte. Es war aus Stein gebaut, der dunkelgrau war. Es war klein, viel kleiner als all die anderen Häuser. Es musste sehr alt sein, da es verfallen wirkte. Die Wände waren zum Teil eingerissen und hatten Löcher, die eiserne Tür hing schief in den Angeln, und überall waren Spinnweben.
 

Als Will näher heranging, erkannte er, dass die Behausung kein eigenständiges Haus war, sondern zu einem Friedhof gehörte. Hinter dem Haus erstreckte sich eine große Fläche, die von einer steinernen Mauer begrenzt war. Auf dem Friedhof wuchs eine große, dichte Hecke. Überall innerhalb der Mauern standen kleine, graue Grabsteine herum, einer neben dem anderen. Sie wirkten wie graue Zähne, die aus dem grasbedeckten Maul eines Ungeheuers emporstanden. Links neben der Hecke waren drei Reihen Gräber, rechts davon nur eines. Jeder Grabstein sah anders aus als der andere: Manche waren größer als andere, und sie hatten unterschiedliche Formen. Manche waren abgerundet, andere eckig. Manche Steine waren sogar recht unförmig und wirkten unbehauen. Es gab aber keinen Grabstein, der identisch mit dem anderen war. Individualität an einem Ort, an dem alle Menschen gleich sind... damit hätte Will nicht gerechnet.
 

Der ganze Friedhof wirkte anders als die, die er von zuhause kannte. Daheim machten sie stets einen kalten, stillen und befremdlichen Eindruck. Hier dagegen... der Friedhof wirkte schon fast... lebendig. Will war klar, wie paradox das war. Doch es war eine Tatsache. Der Friedhof hier war hell, freundlich und lud einen fast ein, darin herumzuspazieren. Vielleicht war es seine Lage, trennte ihn doch nur eine Mauer vom Rest des Dorfes. Er war direkt neben den Häusern, den Menschen. Leben und Tod so nahe beieinander... das war zuhause ganz anders. Da waren die Friedhöfe meist abseits von der Stadt, damit niemand an seine eigene Sterblichkeit denken konnte, während er sein Leben lebte.
  

Will beschloss, den Friedhof zu erkunden. Er ging durch das eiserne Gittertor, das offen stand, und marschierte mit gemächlichen Schritten zwischen den Gräbern umher. Will fand Friedhöfe schon immer interessant. Er glaubte zwar nicht an Gespenster, aber nichtsdestotrotz hatten Grabstätten für ihn eine unheimliche Atmosphäre. Er war einmal nachts auf einem Friedhof gewesen, doch er hatte sich nicht weit zu gehen getraut, da er es mit der Angst zu tun bekommen hatte. Er ging lieber tagsüber und erkundete alle Winkel und Gräber.
 

Beim Vorbeigehen las er die Namen auf den Grabsteinen. Einige davon hatten keinen Namen, aus Gründen, die Will nicht verstand. Die meisten aber trugen den Namen des Verstorbenen eingemeißelt. Jahan, Ingolo, Kargan, Adúmegil, Magloth, Carom... alles Einwohner von Cestilla, die nun im Jenseits ihre Ruhe gefunden hatten.
  

Während Will zwischen den Gräbern auf der rechten Seite umherspazierte, sah er auf einmal eine junge Frau, die vor einem runden Grabstein stand. Sie hatte die Arme vor der Brust gefaltet und schien zu beten. Sie kam Will bekannt vor. Als er ihre schwarzen Haare und das rote Kopftuch sah, schoss es ihm wieder ein. Dies war dieselbe Frau, die Thêl und ihn vor dem General gewarnt hat, als sie gestern ins Dorf gekommen waren.
 

Will ging näher heran und betrachtete den Grabstein. ‚Melagost’ stand darauf. Er fragte, sich wer diese Person wohl gewesen war.
 

Als Will seinen Blick von dem Grabstein auf die Frau lenkte, bemerkte er, dass sie ihn plötzlich ansah. Doch sie sah nicht überrascht oder erschrocken aus. Ganz im Gegenteil, sie lächelte sogar.

„So treffen wir uns wieder.“ sagte sie plötzlich mit sanfter Stimme.
Will war im ersten Moment ganz überrascht. „Oh. Ja... ja, sieht so aus.“ stammelte er. „Ich erinnere mich, Sie... Ihr habt uns gestern gewarnt. Das war gut. Danke.“

„Gern geschehen.“ antwortete sie. „Es war in unser aller Interesse. Übrigens, ich heiße Ferénni.“

„Freut mich.“ Will wusste nicht wirklich, was er sagen sollte. Er konnte noch nie gut mit Frauen umgehen. Ferénni’s freundliches Lächeln machte ihn irgendwie nervös. Um davon abzulenken, blickte er auf den Grabstein und fragte: „Wer war Melagost?“
 

Auch Ferénni sah den Grabstein an. Noch immer lächelte sie, doch ihr Blick wirkte nun leer. „Er war mein Verlobter. Er starb im Kampf gegen Beléssan’s Krieger, als diese sein altes Heimatdorf in Norden angriffen. Jeder sagte ihm, dass es sinnlos sei, dass er und seine Gefährten zahlenmäßig weit unterlegen waren. Doch er wollte es nicht hören. Es ging ihm um seine alte Heimat. Das einzige, was ihm mehr am Herzen lag als ich. Ich war wohl die einzige, die ihn verstand. Aber leider hatten die anderen Recht. Er und seine Mannen hatten keine Chance und wurden in einem kurzen und blutigen Kampf niedergestreckt. Angeblich hatte sogar Beléssan selbst mitgemischt, und mein Verlobter soll ihn angegriffen haben. Natürlich vergebens, Beléssan tötete ihn wie ein Insekt. Er hatte nie eine Chance.“

„Er kannte wohl die Prophezeiung nicht.“ sagte Will. „Jemand aus dieser Welt kann in angeblich gar nicht töten, heißt es doch.“

„Oh doch, die kannte er.“ entgegnete Ferénni. „Aber er betrachtete sie stets nur als Trinkspruch, den ein paar feige und faule Männer erfunden hatten, die ihre Schlachten nicht selbst schlagen wollten. Es betrübt mich, dass er sich wohl irrte.“

„Das tut mir leid.“ sagte Will leise.

„Schon gut.“ winke Ferénni ab. „Das ist schon lange her. Ich bin darüber hinweg. Ich habe gelernt, optimistisch zu sein und das Leben von seiner besten Seite zu sehen. Natürlich hat mich sein Tod niedergeschlagen, aber ich konnte doch nicht ewig trauern. Das hätte er nicht gewollt. Außerdem starb er ehrenvoll, und für etwas, das er liebte und an das er glaubte.“
 

„Das ist bewundernswert.“ meinte Will, jedoch mehr zu sich selbst. „Ich wünschte, ich wäre zu so etwas in der Lage.“

Da drehte sich Ferénni zu ihm. Nun lächelte sie noch mehr als zuvor. „Ach ja, ich habe schon davon gehört. Da wurde dir ja eine große Ehre zuteil.“

„Ehre?“ sagte Will zynisch. „Von wegen. Eine Verantwortung ist das, eine Bürde, und sie wurde mir aufgezwungen.“

„Aufgezwungen?“ erwiderte Ferénni verwundert. „Aber wieso das denn?“

„Nun ja, wie groß ist den meine Wahl?“ sagte Will. „Natürlich kann ich mich weigern, aber dann werde ich immer mit dem Gedanken leben müssen, dass ich all diese Menschen enttäuscht habe. Sie alle erwarten von mir, dass ich ein Wunder vollbringe und das Land hier befreie. Gerade ich. Ich bin weder ein Krieger noch ein Held. Ich halte mich ja nicht einmal für einen guten Menschen.“

„Aber das bist du, auch wenn du es nicht glaubst.“ meinte Ferénni. „Warum sollte dich das Schicksal sonst auserwählen?“

„Ich glaube nicht an das Schicksal.“ erwiderte Will.

„An was glaubst du dann?“ fragte Ferénni.

„Ich glaube, dass mir alle zuviel zutrauen.“ sagte Will kopfschüttelnd. „Ich glaube, dass diese Verantwortung zuviel für mich allein ist.“

Ferénni lachte. „Aber du musst sie doch nicht alleine tragen.“ sagte sie. „Du hast doch Freunde, die dich unterstützen. Eeza, Thêl, Duncan. Es gibt noch viele andere, die dir sicher gerne helfen.“

„Da bin ich mir nicht so sicher.“ erwiderte Will. „Ich weiß nicht, ob ich diesen Leuten vertrauen oder Glauben schenken kann.“

Ferénni lachte daraufhin. „Ich kann verstehen, dass du ihnen zurzeit nicht freundlich gesonnen bist. Aber eins ist sicher: Du kannst ihnen vertrauen. Vor allem Eeza. Ich kenne ihn schon lange, und auch wenn er manchmal etwas seltsam scheint, so lügt er nie.“
  

Will sagte nichts. Er wusste nicht, was er darauf antworten sollte.

„Was ist den überhaupt so schlimm daran, dass du auserwählt bist?“ sagte da Ferénni. „Das ist doch eine große Ehre.“

„Eine Ehre? Wenn Sie... wenn Ihr meint...“ wandte Will ein. „Ich finde, es ist eine Verantwortung, der ich einfach nicht gewachsen bin. Wie sollte ich gegen so ein Monster wie diesen Beléssan ankommen? Ich könnte dabei leicht getötet werden. Und das gefällt mir überhaupt nicht. Ich hänge nun mal sehr am Leben, wisst Ihr?“ Ferénni nickte, und Will fuhr fort: „Wisst ihr, als ich jünger war, da stellte ich mir tatsächlich immer vor, ein großer Ritter in irgendeinem fernen Land zu sein, der Drachen tötet und Menschen rettet. Und noch heute verstecke ich mich gerne vor der Welt in meinen Tagträumen.“ Er lachte kurz und leise. „Früher wollte ich immer jemand anderer sein. An einem anderen Ort sein. Und jetzt, jetzt bin ich es. Doch ich habe es mir anders vorgestellt. Mein großes Abenteuer sah in meinem Kopf ganz anders aus.“

Ferénni nickte. „Das verstehe ich, sehr gut sogar.“ erwiderte sie. „Unsere eigene Fantasie ist etwas Wunderbares. Doch die Realität... die können wir uns nicht aussuchen. Doch, überlege dir, dass es eine Ehre ist, der Auserwählte zu sein. Eine Ehre, die sonst keinem zuteil wird.“
„Ja, genau das ist es ja, das mich stört.“ antwortete Will betrübt.

„Ach, sag das doch nicht.“ erwiderte Ferénni. „Es ist nicht so schlimm wie du tust. Außerdem wärst du nicht der Erste, der für dieses Land und für die Menschen, die darin leben, sein eigenes Leben opfert. Es gab sogar hier in Cestilla jemanden. Komm, ich zeige ihn dir.“
  

Mit diesen Worten ging Ferénni an den Gräbern entlang zum hinteren Ende des Friedhofs. Dort, wo sich die Mauer in einem Bogen schloss, befand sich ein Grab, das größer und prunkvoller war als alle anderen hier auf dem Friedhof. Der Grabstein, ein großer, viereckiger Block, war verziert mit allerlei Schriftzeichen und Bildern von Kriegern in Rüstungen. Auf dem Grabstein stand eine gewaltige Statue eines Kriegers, so groß wie ein Mann selbst. Die Statue war aus Stein und hielt einen großen Schild in den Händen, auf dem ein Drache prangte. Viele Pfeile steckten im Körper des Kriegers. Seine steinernen Augen blickten leer vor sich hin.
 

„Sehr imposant wirkt der Mann aber nicht.“ sagte Will. „Wer ist das?“

„Das ist Cestíllan.“ erwiderte Ferénni. „Er gilt als der einer der größten Helden Aramars. Dieses Dorf wurde zu seinen Ehren errichtet. Kennst du seine Geschichte?“

Will schüttelte den Kopf. „Nein.“
 

„Dann pass auf.“ begann Ferénni. „Vor vielen, vielen Jahren war Aramar ein viel wilderes Land gewesen, als es heute ist. So hatte es zum Beispiel noch nicht die große Grenzmauer, die Glandia, gegeben, die das Land heute vor den Gefahren der unerforschten Länder im Osten schützt. Gefahren wie den schrecklichen Ost-Krieger, den Ossatari. Vor vielen Jahren lagen die Königreiche Aramars im Krieg mit den Ossatari. Leider waren sie äußerst zahlreich, und es schien, als würden sie das Land erobern. Cestíllan war entschlossen, dem ein Ende zu bereiten. Eines Nachts schlich er in das Lager des Feindes. Er drang geschickt bis zum König der Ossatari vor, und tötete ihn im Schlaf. Leider wurde er entdeckt, und die Ost-Krieger verfolgten ihn. Hier, wo heute Cestilla ist, wurde er von einem Pfeil niedergestreckt und von den Kriegern getötet. Sie übten ihre Rache, doch den Krieg hatten die Ossatari nicht mehr gewinnen können. Ohne einen Anführer waren sie unentschlossen und planlos, und es war den Soldaten Aramars gelungen, sie zu töten und zu vertreiben. So war es Cestíllan gelungen, den Krieg zu gewinnen, dank seiner beherzten Tat.“
 

„Bemerkenswert.“ meinte Will. „Allein durch diese eine Tat...“

„Auch ein einzelner Mensch kann Gutes bewirken.“ sagte Ferénni. Das war ein Wink mit dem Zaunpfahl, soviel war Will klar. „Weißt du, was mich am meisten beeindruckt?“

„Was denn?“

„Ich denke, Cestíllan wusste ganz genau, dass ihn das sein Leben kosten wird. Es war ihm wohl von Anfang an klar gewesen. Aber das war es ihm wert, um seinem Land den Frieden zu bringen.“
  

Will nickte nur, doch er sagte nichts. Er dachte nach. Er wusste genau, worauf Ferénni hinaus wollte. Für einen großen und guten Zweck ist es manchmal wert, dass man sein Leben opfert. Das wollte sie damit wohl sagen. Das war etwas, dass Will sich zu Herzen nehmen sollte. Leichter gesagt als getan. Sein Leben war das Wertvollste, das er hatte. Wahrscheinlich auch das Einzige, für das er kämpfen würde.
  

„Ich fürchte, ich muss dich jetzt verlassen.“ sagte Ferénni schließlich, als die Beiden eine Zeitlang wortlos vor der Statue gestanden waren. „Ich habe noch einige Dinge zu erledigen. Aber wir werden uns sicher wiedersehen.“

„Das würde mich freuen.“ erwiderte Will mit einem Lächeln.

„Denk gut über deine Verantwortung nach.“ fügte Ferénni hinzu. „Sie ist groß, das gebe ich gerne zu. Doch sie ist auch enorm wichtig. Ich würde sie an deiner Stelle nicht einfach ablehnen, nur weil sie dir auf den ersten Blick zu groß scheint. Ich glaube, du könntest ihr sehr wohl gewachsen sein.“
 

Will nickte, doch er sagte nichts mehr. Er wollte noch etwas sagen, doch ihm fiel nichts ein, das in dieser Situation angebracht gewesen wäre.
 

Ferénni winkte ihm zum Abschied, dann verschwand sie zwischen den Reihen von Grabsteinen und ließ Will mit seinen Gedanken allein.
 

Als sie außer Sichtweite war, fand er seine Worte wieder. „Ich danke Euch, Ferénni. Ich hoffe, ihr habt Recht.“ sagte er leise. Er wünschte, er hätte es ihr direkt gesagt, aber dazu war er in diesem Augenblick zu schüchtern gewesen.
  

Schließlich drehte sich Will wieder zu der Statue von Cestíllan um. Er blickte direkt in die leblosen Augen des Monuments. Als er sie ansah, fragte er sich, wer dieser Mann wohl gewesen war. Wie er gelebt hatte. Vor allem aber fragte er sich, was ihn dazu getrieben hatte, sein Leben für sein Land zu opfern. Wann hatte er entschieden, dass sein eigenes Leben unwichtig war, und dass er mit Freunden für sein Land sterben würde? Was musste ein Mann tun, um solch ein Opfer zu bringen?
 

Will blieb noch länger bei der Statue stehen und dachte intensiv über die Verantwortung nach, die ihm aufgelegt worden war. Er bewunderte Cestíllan für das, was er getan hatte. Allerdings glaubte er nicht, dass er so etwas jemals tun könnte. Er hing sehr an seinem Leben; nichts gab es, das ihm wichtiger war. Es aufzuopfern stand außer Frage. Ein solches Opfer konnte er niemals bringen.
  

Nachdem er die Statue eine Zeit lang angestarrt hatte, beschloss Will, den Friedhof zu verlassen. All die Grabsteine begannen, ihn depressiv zu machen. Er wollte nicht dauernd darüber nachdenken, dass er selbst sterben und vielleicht hier landen könnte.
 Langsam ging er von der Statue davon, fest in Gedanken versunken. Er schickte sich an, den Weg links von der Hecke nehmen, um sich nicht zwischen Grabsteinen durchquetschen zu müssen. Zuvor drehte er sich noch einmal zu der Statue von Cestíllan um. „Wie habt Ihr es nur geschafft, euer Leben so selbstlos aufzugeben? Dafür beneide ich Euch.“ sagte er leise zu der Figur. Er bekam keine Antwort, doch hatte er auch keine erwartet. Dann wandte er sich ab, ging durch die Reihen der Gräber und verließ den Friedhof.

Eine helfende Hand

 

Nachdenklich ging Will über den großen Weg, der durch Cestilla führte. Er hatte viel, das er sich durch den Kopf gehen ließ. Seit er gehört hatte, dass er als Auserwählter die Welt retten sollte, da dachte er über all das nach. Er glaubte nicht, dass diese Rolle wirklich für ihn bestimmt war. Um jemanden zu töten, gegen den selbst ganze Heerscharen nichts ausrichten zu können, da bräuchte es schon einen besonderen Helden. Einen tapferen Krieger, der mit dem Schwert umgehen konnte als wäre es ein Teil seiner selbst. Vor allem wusste Will, dass er bei all dem sein Leben aufs Spiel setzen müsste. Gerade das wollte er nicht tun.
 

Und doch, seine Unterhaltung mit Ferénni auf dem Friedhof ließ ihn daran zweifeln. Dieses Konzept begann langsam vor seinem inneren Auge zusammenzubrechen. An dem Beispiel von Cestíllan hatte er gehört, dass manche Männer ihr eigenes Leben zurückstellten und es für das Wohl aller anderen opferten. Er begann ernsthaft zu überlegen, ob nicht auch er das konnte. Wenn er den Menschen von Aramar tatsächlich helfen konnte, so würde ihn das freuen. Er hatte zwar Eeza gegenüber gesagt, dass ihm das Land egal wäre, doch in Tat und Wahrheit würde er gerne helfen. Auch wenn er meist ein Egoist war, so half er anderen Menschen doch gerne.
 

Doch sein Leben aufs Spiel setzen? Das Wertvollste, das er hatte? Wie sollte er das nur können? Er bewunderte die, die dies konnten. Er fragte sich, was dazu wohl notwendig wäre, um diesen Schritt zu tun. Er war sich jedenfalls sicher, dass er es nicht hätte.
 

Vor allem war Will sich unsicher, ob er Eeza, Thêl und Duncan wirklich trauen konnte. Duncan war wohl am ehesten ehrlich. Doch wie stand es mit den anderen beiden? Hatte Eeza ihm wirklich die Wahrheit gesagt? Vielleicht hatte er ihn belogen, damit Will ihm bedingungslos half. Möglicherweise war Eeza ein Meister der Manipulation, der andere leicht dazu brachte, seinen Willen zu erfüllen.

Nein, dies war zu weit gedacht. Eeza war ein seltsamer Kauz, das musste Will zugeben, doch er war kein Schurke. Ihm finstere Gedanken zuzutrauen, war der Unterstellungen zuviel.
 

All das Grübeln brachte Will auf keine Lösung. Er spazierte weiter durch Cestilla, in der Hoffnung, eine Antwort zu finden.
  

Mit gemächlichen Schritten wanderte er in Richtung der oberen Hälfte von Cestilla. Er überquerte die Weggabelung, und kam schließlich zu den verkohlten Überresten eines Hauses. Es war das Haus, das der General, Durzog, gestern zerstört hatte. Nun waren drei Männer damit beschäftigt, den Schutt wegzuräumen. Sie warfen die Reste auf den Anhänger eines Pferdekarrens. Ein Pferd war vorne angebunden; es blickte gelangweilt in die Gegend und ließ seinen Schweif wild umherwedeln.
 

Als Will an den Männern vorbeiging, blickten sie ihm nach. Einer winkte ihm freundlich zu, und die anderen beiden nickten höflich. Will erwiderte ihr Nicken.
 

Schließlich erreichte er den oberen Dorfausgang. Die linke Hälfte des Tores war geschlossen, nur die rechte stand noch offen, doch sie bot genug Platz um durchzugehen.

Will entdeckte einen schmalen Fluss, der quer zu dem Hauptweg verlief. Ein kurzer Blick verriet ihm, dass der Fluss von einem großen See gespeist wurde, der links hinter Eeza’s Haus lag. Der Fluss war scheinbar die Wasserquelle des Dorfes.
  

Will interessierte sich jedoch mehr für das, was außerhalb des Dorfausgangs lag. Es war ein schöner Anblick, der sich ihm da bot. Soweit sein Auge reichte, sah er eine weite Graslandschaft. Es war genau so wie gestern, als er angekommen war. Ganz Aramar schien von Wiese bedeckt. Doch es gefiel ihm, denn das Gras war so viel frischer und satter als das Gras, das er von zuhause kannte. Sein kräftiges Grün, nun hell von der Sonne beschienen, erinnerte ihn an einen Smaragd. Noch dazu war es recht hoch und hätte ihm sicher an die Hüfte gereicht. Kein Wunder, gab es hier doch sicher niemanden, der diese riesigen Wiesen mähte. Und wenn, dann musste es der schlimmste Beruf der Welt... nein, der schlimmste Beruf aller Welten sein.

Jede Menge große Felsen lagen auf der Grasfläche verteilt, als hätte jemand wahllos in eine Schüssel Steine gegriffen und sie auf der Wiese verteilt.

Nicht sehr weit vom Dorf entfernt, zu dessen Rechten, war ein Wald, nicht sehr groß, doch schön anzusehen. Es schien ein Laubwald zu sein, und die Blätter der Bäume waren ebenso saftig wie das Gras, doch um vieles heller.

In der Ferne, in nordwestlicher Richtung, sah Will ein großes Gebirge, das sich weit erstreckte. Seine Gipfel, von Schnee bedeckt und in Wolken getaucht, schienen den Himmel zu berühren.
 

Will gefiel der Anblick, denn für ihn bedeutete er Freiheit. Es drängte ihn, das Dorf zu verlassen. Er wusste, dass dies gefährlich sein konnte. Doch jede Faser in seinem Körper lechzte danach, diese Welt zu erkunden. Irgendwie fühlte er sich in Cestilla gefangen, auch wenn es keine Gitter oder Fesseln gab, die ihn hielten. Ihm war klar, dass es nicht vernünftig war, sich in eine unbekannte Welt hinauszubegeben. Doch die Vernunft war noch nie seine große Stärke gewesen. Er hörte eher auf sein Herz, und dieses sagte ihm, dass er seinem Drang nach Freiheit Vorzug vor der Vernunft geben sollte. Er wollte hier nicht bleiben.
 

Wie einfach wäre es doch, einfach ein paar große Schritte zu machen und das Dorf zu verlassen. Es gab keine Wache am Ausgang. Und hatte Duncan nicht gesagt, dass niemand ihn aufhalten würde? Keiner würde es merken, würde er jetzt einfach gehen. Sollte doch ein anderer den Helden spielen. Allerdings würden die Chancen dann schlecht stehen, wieder nach Hause zurückzukehren. Dieser Gedanke ließ ihn innehalten. Doch zumindest gäbe es dann keine Verpflichtung mehr, keine Prophezeiung, keine Rolle aus Auserwählter. Er wäre frei von allen Zwängen und Aufgaben. Alles, was dazu notwendig wäre, wären einige Schritte. Es wäre so leicht.
 

Will sah zu den drei Arbeitern zurück, die mit den Trümmern des Hauses beschäftigt waren. Sie beachteten ihn nicht. Um sie musste er sich wohl keine Sorgen machen, dass sie ihn aufhalten würden.
 

Will machte einen Schritt vorwärts, dann noch einen. Er stand nun auf einem Holzsteg, der über den Fluss gelegt war. Er zögerte etwas, unsicher, ob er das Richtige tat. Für das Land war es vermutlich nicht das Richtige. Er würde sicher jede Menge Leute enttäuschen, die viel Hoffnung in ihn gesetzt hatten. Doch zumindest für ihn war es das Richtige, und war dies nicht das Wichtigste? Es war eine egoistische Tat, das gab er gerne zu, doch das störte ihn nicht. Er war sich der Konsequenzen bewusst.
 

Er machte zwei weitere Schritte vorwärts. Noch zwei Schritte musste er machen, dann hatte er die Grenze des Dorfes überschritten. Danach würde alles wie von selbst gehen.
 

Etwas zögerlich machte er noch einen Schritt. Noch einer, dann hatte er es geschafft.
  

In diesem Moment, als er sich zu dem letzten Schritt anschickte, da ertönte eine Stimme hinter ihm. „Das willst du nicht wirklich tun, meine Junge.“ Will fluchte innerlich. Er hatte bei all den Gedanken nicht darauf geachtet, ob außer den Arbeitern noch jemand ihn beobachtete. Er war zu unvorsichtig an die Sache herangegangen.

Zögerlich drehte er sich um.
 

Da vor ihm stand ein alter Mann. Er schien noch um einiges älter zu sein als Eeza, denn er war viel kleiner, sogar kleiner als Will selbst. Viele Falten zierten sein Gesicht und zeugten von einem langen Leben. Er trug ein langes, gelbliches Hemd, und eine braune Weste darüber. In der Hand hielt er einen langen Stock, der länger als Will war, und an dessen oberen Ende ein leerer Eimer baumelte.
 

„Wo wolltest du denn hingehen? Wolltest du einen Spaziergang machen?“ fragte der Alte.

„Nun, ich...“ Will wusste nicht so ganz, was er nun sagen sollte. „Die Aussicht ist schön. Die Freiheit... sie ist sehr verlockend.“

„Kann ich verstehen.“ nickte der Mann. „Doch wo hättest du denn hingehen wollen? Ins Sunit-Gebirge etwa?“ Bei diesen Worten deutete er auf die Gebirgskette in der Ferne. „Dort hättest du nichts gefunden, was den langen Weg wert wäre. Nur Kälte, brutale Helegraug-Berserker, jede Menge Schneegeister, und schließlich den Tod. Danach suchst du sicher nicht.“

Will schluckte. „Nein, bestimmt nicht. Da haben Sie... habt Ihr Recht.“
 

Der alte Mann lachte schließlich rau, und dann lächelte er Will an. „Ich weiß, wer du bist.“

„Ach ja?“ erwiderte Will.

„Natürlich. Ich kenne doch alle Bewohner dieses Dorfes.“ sagte der Mann. „Das muss ich doch, als Dorfältester von Cestilla.“

„Ihr seid der Dorfälteste?“ fragte Will überrascht.

„Der bin ich. Indúlas ist mein Name.“ antwortete der Alte.

„Freut mich. Ich heiße Will.“

„Will?“ fragte der Alte verwundert und lachte. „Ein seltsamer Name. Doch dafür trägst du kaum die Schuld, schätze ich.“

„Nein, meine Eltern sind schuld daran.“ antwortete Will und lachte auch ein wenig.
 

„Nun, ich weiß, wer du bist.“ sagte Indúlas schließlich. „Ich weiß, dass du aus einer anderen Welt stammst. Und du sehnst dich zurück nach Hause, richtig?“

Will nickte. „Das tue ich, sehr sogar.“

„Wer würde das nicht?“ erwiderte der Alte mit einem gütigen Lächeln. „Das ist eine große Veränderung, die du durchgemacht hast. Und alle Veränderungen, auch die, die wir am meisten herbeisehnen, haben ihre Melancholie. Denn das, was wir zurücklassen, ist stets ein Teil von uns selbst. Wir müssen uns von einem Leben verabschieden, bevor wir in ein anderes eintreten können.“

„Gut gesagt.“ meinte Will.

„Das hat meine Mutter immer gesagt.“ sagte Indúlas kopfschüttelnd. „Außer diesen Worte sagte sie auch gerne ‚Bewege deine faulen Knochen, sonst wirst du es nie zu etwas bringen.’ Wenn sie mich doch jetzt nur sehen könnte...“ Will nickte nur wortlos. „Aber sie ist schon tot.“

„Oh. Dann wird sie sicher vom Himmel auf Euch herabschauen.“ sagte Will, obwohl er selbst nicht daran glaubte. Aber er wollte eben etwas Nettes sagen.

„Meinst du?“ murmelte Indúlas und kratze sich am Kopf. Dann blickte er nach oben gen Himmel, und sein Blick verlor sich in dem endlosen Blau, über das zahlreiche schneeweiße Wolken schwebten. „Na dann.“ sagte der Alte, und dann schrie er zum Himmel hinauf: „He, Mutti! Da schaust du, was? Das hättest du nicht gedacht, dass ich mal eine solche wichtige Persönlichkeit werde, was? Dorfältester! Unglaublich, was? Von so etwas kannst du nur träumen. Du Vettel! Bleib schön da oben, weit weg von mir!“ Dann senkte er seinen Blick wieder und schüttelte den Kopf. Schließlich lachte er lauthals.

„Findest Ihr das gut, so über Eure Mutter zu reden?“ fragte Will fassungslos.

„Ach, das macht nichts.“ erwiderte Indúlas schelmisch. „Die war sowieso auf beiden Ohren taub. Nun ja, das war eines ihrer Probleme. Ich sage dir, wenn sie wirklich da oben ist, dann sind die Leute im Himmel nicht zu beneiden. Die Armen.“ Dann lachte er noch mal, jedoch leise, bevor er inne hielt.
 

„Doch zurück zu dir.“ sagte der Alte plötzlich. „Denkst du, einfach davonzulaufen löst all deine Probleme?“

Will schüttelte den Kopf. „Nicht von allen. Aber es würde mich wohl von der Bürde befreien, die mir auferlegt wurde.“

„Denkst du das?“ fragte Indúlas. „Würde sie dir nicht stets in deinem Herzen und deinem Geist bleiben? Würde es dich nicht ewig verfolgen, dass du all diese Leute im Stich lässt? Wann immer du jemanden siehst, dem es schlecht ergeht, würdest du da nicht daran denken, dass du dieser Person hättest helfen können? Würde wirklich alles leichter für dich?“

„Von dieser Seite habe ich es noch nicht gesehen.“ meinte Will nachdenklich, und aufgebracht sagte er schließlich: „Aber was soll ich tun? Diese Bürde ist zu groß für mich. Ich kann all diesen Erwartungen an mich nicht gerecht werden.“

„Ich verstehe.“ sagte Indúlas und lächelte verständnisvoll. „Eine schwere Last. Nun, so lass uns darüber sprechen. Komm, junger Will, begleitest du mich ein Stück?“
  

So spazierte Will gemeinsam mit Indúlas. Sie gingen neben dem Bach entlang, der den Palisadenzaun entlanglief und den der Alte Friedwasser nannte. Will erzählte ihm alles, von seiner Ankunft in Aramar über Eeza’s Enthüllungen bishin zu seinem Besuch auf dem Friedhof. Er erzählte auch von all den Gedanken, die ihm seitdem durch den Kopf gingen: von seinen Zweifeln, seinem Hass auf Eeza und seiner Ratlosigkeit. Indúlas hörte währenddessen aufmerksam zu. Er sagte kein Wort und ließ Will sprechen. Hin und wieder nickte er mit den Kopf, doch sonst blickte er Will konzentriert an.
 

Schließlich beendete Will seine Erzählung mit „Ich weiß wirklich keinen Rat.“
 

Für eine Weile sagte Indúlas nichts. Er schien konzentriert nachzudenken, während sie am Ufer des Friedwassers entlanggingen. Will blickte in das klare Wasser des Flusses. Ein Schwarm kleiner Fische schwamm unter der Wasseroberfläche umher. Will nahm einen kleinen Kiesel auf und warf ihn ins Wasser. Die Fische schreckten auseinander, als der Stein platschend die Oberfläche durchbrach. Während er langsam zu Boden sank, schwammen ihm ein paar Fische neugierig hinterher.

Am anderen Ufer des Flusses saß eine schwarze Katze, die konzentriert das Treiben der Fische beobachtete. Sie hoffte wohl darauf, dass einer von ihnen nahe genug heran käme, dass sie ihn fangen und fressen könne. Als Will und Indúlas vorbei gingen, starrte sie die beiden mit ihren grünen Augen mit einer Mischung aus Neugier und Misstrauen an. Sie ließ sie keine Sekunde aus den Augen. Sie zuckte mit ihrem linken Ohr, und ihr Schweif wedelte unruhig von einer Seite auf die andere. Erst als die beiden Menschen außer Reichweite waren, wandte sie sich wieder ihren potentiellen Opfern zu.

Währenddessen flatterten zwei gelbe Schmetterlinge durch die Luft. Sie flogen um die Blumen, die am Ufer des Friedwassers blühten. Einer von ihnen landete auf einer weißen Blüte, um nach einigen Sekunden schon wieder abzuheben und sich der nächsten Blume zuzuwenden. Auch der andere Schmetterling stattete den Pflanzen einen Besuch ab.
 

„Es ist alles so friedlich hier.“ sagte Will plötzlich. „So ruhig. Hier gibt es keinen Stress, keine Eile. Nur Ruhe und Frieden. Es fällt mir schwer, Eeza zu glauben, wenn er sagt, dass es schlecht um dieses Land steht. Davon merkt man hier nichts.“

„Da hast du Recht. Man merkt es kaum.“ erwiderte Indúlas. „Das liegt daran, dass wir hier fernab von den großen Königreichen liegen. Beléssan interessiert sich kaum für ein armes Dorf wie unseres. Doch würdest du hier leben, würdest auch du es merken. Weißt du, viele Dinge, vor allem Nahrungsmittel, erzeugen wir uns selbst. Doch Dinge wie Fleisch, Metall, Papier und vieles anderes, das wir brauchen, bekommen wir nur durch Handel mit den Hauptstädten der Königreiche. Seit Beléssan vor vielen Jahren seine Herrschaft begann, fielen uns immer weniger Vorräte zu. Im Moment bekommen wir gerade noch genug, dass es uns nicht mangelt. Doch Beléssan, dieser Gauner, nimmt uns jedes Jahr mehr. Das ist seine finstere Taktik. Er nimmt den Menschen dieses Landes mehr und mehr. Dann, wenn wir alle zu schwach sind, um noch auf irgendeine Weise aufzubegehren, erobert er das Land. Dann schickt er seine Diener und seine Kreaturen. All die Menschen werden entweder versklavt oder getötet. Und die, die zu Kämpfen in der Lage sind, zwingt er in seine Armee. Sie werden dann zu Bündlingen. Das ist ein Schicksal schlimmer als der Tod. Als Bündling verliert man seinen freien Willen und muss tun, was immer befohlen wird. Beléssan hat seinen Spaß daran, den Bündlingen zu befehlen, ihre eigenen Landsleute zu töten. Und obwohl man das nicht will, hat man keine Wahl. Wie grausam das sein muss.“

„Schrecklich.“ meinte Will. „Doch woher wisst Ihr das so genau?“

Indúlas seufzte. „Mein Sohn, Indarín. Er wurde zu einem dieser armseligen Kreaturen. Ich konnte einmal beobachten, wie er ein Dorf überfiel und die Bewohner tötete. Ich sah in seinen Augen, wie sehr ihm dies Leid tat und wie sehr er sich zu wehren versuchte. Doch Beléssan's Wille ist grausam, und nicht zu brechen.“

„Sagt, wenn die Lage so schlimm ist, warum flieht dann niemand außer Landes?“ fragte Will.

„Auf diese Idee kamen schon andere.“ antwortete Indúlas. „Doch wir wüssten nicht, wohin. Die Inseln rund um Aramar sind unerforscht, und wer weiß was einen dort erwarten würde. Und über die Grenze im Westen zu fliehen ist reiner Selbstmord. Die Länder im Westen sind wild. Dort leben die Ossatari, die Nakani-Krieger, und grausame Ungetüme, die ich hier gar nicht erwähnen will. Nein, außerhalb von Aramar gibt es keine Hoffnung.“

Will konnte nur den Kopf schütteln, doch er wusste nichts zu sagen.
  

Schließlich erreichten Will und Indúlas einen Punkt, an dem der Friedwasser-Bach einfach aufhörte, an einem abgerundeten Ende, wo das Ufer schräg abfiel. Dieses Ende war direkt neben einem großen Haus, das ein wenig größer war als die anderen, sich sonst aber nicht unterschied. Das Ende des Flusses lag direkt im Garten des Hauses, der mit Gras bedeckt war.

Dort angekommen, blieb Indúlas plötzlich stehen und wandte sich Will zu.
 

„Nun könntest du mir ein wenig behilflich sein, mein Junge.“ sagte er lächelnd.
 

Mit einem geschickten Handgriff nahm er den Eimer, der an der Spitze seines Gehstocks hing, herunter. Er reichte ihn Will, der etwas zögerlich den Griff in die Hand nahm. Er sah den Kübel und dann den Alten verwundert an.
 

„Wärst du so nett und würdest ein wenig Wasser schöpfen?“ sagte dieser. „Dann bringst du es zu meinem Haus. Das war’s schon.“
 

Will zögerte etwas. Er wusste nicht, warum der alte Mann plötzlich seiner Dienste bedurfte. Doch es war seine Art, anderen zu helfen, und er wollte den netten Indúlas nicht enttäuschen. So ging er zum Fluss und kniete sich dort nieder. Er tauchte den Eimer ins Wasser, worauf die Fische darin ängstlich davonschwammen. Dann hob er ihn wieder heraus, und nun war er fast bis zum Rand mit Wasser gefüllt. Mit dem vollen Kübel, der nun um vieles schwerer war, ging er wieder zu Indúlas zurück.
 

Als er den Eimer vor dem Alten niederstellte, sagte er: „Bevor ich Euch das Wasser trage, sagt mir noch, was Ihr mir ratet. Ihr scheint viel nachgedacht zu haben, und ich würde gerne eure Meinung hören.“
 

Indúlas nickte. „Nun gut. Ich sehe schon, es ist dir sehr wichtig.“ sagte er. „Ich kann dir nicht viel sagen. Doch eines weiß ich: Du bist vom Schicksal auserwählt. Das ist ein beruhigender Gedanke. Denn egal wie unsicher du dir deiner Fähigkeiten bist, wenn du vom Schicksal erwählt wurdest, so bist du ganz sicher der Richtige. Das Schicksal hat seine Gründe. Scheinbar steckt mehr in dir, als du selbst glaubst.“

„Was aber, wenn ich nicht an das Schicksal glaube?“ erwiderte Will.

„Das solltest du aber.“ meinte der Alte lachend. „Es gibt viele Mächte in dieser Welt, die unser Leben bestimmen, ohne dass wir sie sehen können. Manche sind böse, doch es gibt auch die Mächte des Guten. Diesen solltest du vertrauen.“ Er hielt inne, als wolle er Wills Antwort abwarten. Doch bevor diese kam, sprach er noch weiter: „Merke dir noch eines. Vertraue dem Schicksal, vertraue dir selbst, doch vor allem, vertraue Eeza. Er mag manchmal etwas merkwürdig erscheinen, und seine Worte sind voller Rätsel. Doch ich sage dir, er würde dich niemals anlügen. Was er dir sagt, dem kannst du Glauben schenken. Er ist einer der gutherzigsten Menschen, die ich kenne, und kaum einem liegt dieses Land so am Herzen wie ihm.“

Will seufzte. „Nun ja, Ihr habt wahrscheinlich Recht.“

Indúlas nickte zufrieden. „Nun denn, gehen wir. Mein Haus ist gleich hier.“
 

Der alte Mann ging sogleich um das Haus herum. Will folgte ihm nach. Er dachte ein wenig nach, doch er war größtenteils auf den schweren Eimer in seiner Hand konzentriert.


Mit schnellen Schritten ging Indúlas voran, und Will trottete ihm hinterher. Der Eimer wiegte schwer, und er musste öfters die tragende Hand wechseln, damit ihm die andere nicht zu schmerzen begann.

Sehr bald jedoch hatten sie die vordere Seite des Hauses erreicht. Indúlas ging sogleich zur Eingangstüre und öffnete sie. Mit einem Lächeln bat er Will hinein.
  

In diesem Moment jedoch kam ein anderer Mann herbeigeeilt. Er trug ein grünes Hemd und eine braune Weste darüber. Er hatte einen dichten schwarzen Schnurrbart und einen schwarzen Kinnbart. Er trug einen goldenen Ohrring in seinem linken Ohr. Sein schwarzes Haar war lang, und er hatte es in einem Zopf zusammengebunden. Der Mann hatte allgemein eine breite Statur und machte einen kräftigen Eindruck.
 

Der Mann trat vor Indúlas hin und verbeugte sich. „Verzeiht, oh Indúlas, unser Dorfältester, für diese Störung.“ sagte er demütig.

„Jaron. Was führt euch zu mir?“ sagte der alte Mann freundlich.

„Ich wollte mir ebenfalls die Hilfe des Jungen erbitten. Darf ich ihn mir ausleihen?“ sagte der Mann.

„Ihr sprecht von ihm wie von einem Werkzeug.“ lachte Indúlas. „Doch es macht mir nichts aus. Stört es dich, mein Junge?“ Damit wandte er sich an Will. Dieser schüttelte nur den Kopf. Etwas Ablenkung von seinen Sorgen war ihm tatsächlich recht. „Gut, so sei es. Stell den Eimer nieder, Junge, den Rest des Weges trage ich ihn selbst. Danke für deine Hilfe, und für das Gespräch.“ Will nickte nur. „Dann geh mit Jaron.“

„Ich danke euch, Indúlas.“ sagte Jaron und verbeugte sich.
 

Sogleich ging Jaron fort, und deutete Will, ihm zu folgen. Dieser ging ihm hinterher.
  

Jaron ging nicht weit. Sein Haus lag direkt neben dem von Indúlas. Es war eines von den kleineren Häusern, mit nur einem Stockwerk. Dafür hatte es einen eingezäunten Garten. In diesen ging Jaron nun hinein.
 

In Jaron’s Garten standen ein hölzerner Tisch, auf dem zwei lange Baumstämme lagen. Neben dem Tisch war ein großer Stein, und daneben war noch ein Baumstamm, doch dieser war in 5 kürzere Stücke zerhackt.
 

Als die beiden in dem Garten angekommen waren, wandte sich Jaron zuerst Will zu und verbeugte sich.

„Ich bin Jaron, Jahan’s Sohn.“ sagte er. „Ich hoffe, Ihr nehmt es mir nicht übel, dass ich Euch die Zeit stehle.“

„Nicht der Rede wert.“ entgegnete Will. „Worum geht es?“
 

Jaron reichte Will eine kleine Axt. Sie war recht simpel gehalten, mit einem Griff aus Holz und ohne irgendwelche Verzierungen.

„Diese Stücke müssten zerkleinert werden.“ sagte Jaron und deutete auf die 5 Holzstücke. „Schlagt sie einfach in der Hälfte entzwei. Ich kümmere mich um die großen Stämme.“
 

Will nahm die Axt, etwas unsicher, da er noch nie in seinem Leben Holz gehackt hatte. Fast bereute er es schon, dass er sich dazu bereit erklärt hatte. Andererseits konnte es so schwer nicht sein, und er ging schließlich ans Werk. So würde er schneller mit der Arbeit fertig sein, dachte er sich.
 

Er legte das erste Stück Holz auf den Stein. Er zielte erst, wohin die Klinge der Axt treffen sollte, dann holte er aus. Mit all seiner Kraft ließ er das Beil niederfallen. Mit einem Krachen traf die Axt, genau dorthin wo er gezielt hatte. Leider war Wills Schlag nicht stark genug, und das Holz war nur halb durchgeschlagen. Die Axt steckte in dem Holzstück fest, und als er sie hob, da nahm er das Holz gleich mit.
 

Etwas beschämt sah Will zu Jaron hinüber. Der war gerade damit beschäftigt, seine zwei Stämme zu zerkleinern. Will wunderte sich etwas, dass er dies direkt auf dem Tisch tat. Er dachte, dass das eher unüblich war. Doch Jaron war scheinbar sehr geübt im Umgang mit der Axt; es genügte ihm ein einzelner Schlag, um einen Stamm zu teilen, und dabei ließ er den Tisch unversehrt.
 

Will wandte sich wieder dem Stück Holz zu, das nun halb geteilt war. Noch einmal zielte er, und dann hieb dann noch einmal zu. Nun gelang es ihm, das Holz entzwei zu schlagen. Lautlos plumpsten die beiden Hälften in das Gras neben dem Fels.
 

Will legte die beiden Holzscheite zur Seite und platzierte ihn wieder auf dem Stein. Wieder zielte er, und wieder schlug er mit aller Kraft zu. Diesmal gelang ihm ein schöner Hieb. Die Axt durchtrennte das Holz beim ersten Mal. Zufrieden lächelnd legte er die beiden Stücke beiseite.
 

Will gelang es, auch die letzten beiden Stücke schon beim ersten Schlag zu zerteilen. Er wischte sich mit der Hand den Schweiß von der Stirn. Dann legte er die Axt beiseite und sagte: „Jaron. Ich bin fertig.“
 

Jaron blickte zuerst auf die zerteilten Scheite, dann auf Will. „Gut gemacht.“ meinte er. „Gute Arbeit.“

„Danke.“ erwiderte Will. „Nun, wenn Ihr mich nicht mehr benötigt, dann gehe ich.“
  

Will wollte sich schon anschicken zu gehen, doch Jaron hielt ihn auf und fragte:

„Wartet. Ich möchte Euch noch etwas sagen. Deswegen habe ich euch eigentlich geholt.“

„Ich dachte mir schon, dass mehr dahintersteckt.“ erwiderte Will. „Ihr seht nicht aus, als würdet Ihr fürs Holzhacken Hilfe benötigen.“

„Da habt Ihr Recht.“ sagte Jaron. „Nun, wie dem auch sei. Ihr seid doch der, den sie den Auserwählten nennen, nicht wahr?“

„Ja, leider.“ antwortete Will etwas betrübt. „Zumindest behauptet Eeza das.“

„Und nun erwartet man von Euch, dass ihr Beléssan tötet, richtig?“

„So ist es.“ sagte Will. „Doch ich denke, man erwartet zuviel von mir. Ich denke nicht, dass ich dieser Aufgabe gewachsen bin. Manche mag das enttäuschen, doch...“

„Aber nicht doch.“ unterbrach ihn Jaron. „Es ist wahr. Warum muss man diesen Konflikt unbedingt gewaltsam lösen?“

„Was meint Ihr?“ fragte Will.

„Ich meine, dass man manche Probleme auch anders lösen kann als mit Gewalt.“ entgegnete Jaron. „Jemanden zu töten ist nicht unbedingt die beste Lösung. Mein Vater dachte leider so.“

„Euer Vater? Jahan, richtig?“ sagte Will. „Ich glaube, ich habe seinen Namen auf dem Friedhof gelesen.“

„Ja, bestimmt.“ Jaron seufzte. „Wisst Ihr, mein Vater war ein Narr. Versteht mich nicht falsch, ich liebte ihn sehr. Doch er war kampflustig, tollkühn und stur. Bei jedem Streitgespräch mischte er mit. Doch keine weisen Worte oder gute Ratschläge waren es, die er beisteuerte, sondern die scharfe Klinge seines Schwertes. Die Konsequenzen kümmerten ihn nie, und das brachte ihm eines Tages auch den Tod, als einer ihn erschlug. Daher nenne ich ihn einen Dummkopf, doch seinen Mut bewundere ich.“

„Ich verstehe nicht, was Ihr mir damit sagen wollt.“ sagte Will.

„Das sagte ich doch bereits.“ antwortete Jaron. „Dass ein Kampf nicht unbedingt die richtige Lösung ist.“

„Doch was soll ich Eurer Meinung nach sonst tun?“ meinte Will. „Man erwartet schließlich von mir, dass...“

„Und warum wollt Ihr unbedingt diese Erwartungen erfüllen?“ unterbrach ihn Jaron. „Was schulden Euch diese Leute? Nichts. Hört Euch meinen Vorschlag an.“ Will nickte. „Ich sage, Beléssan kann nicht besiegt werden. Jeder, der sich gegen ihn stellt, wird sterben. Warum sich also gegen ihn stellen? Wenn er dieses Land erobert hat, wird er seine Feinde erkennen. Und auch seine Freunde.“
 

Will trat einen Schritt zurück. „Ich weiß, worauf Ihr hinaus wollt.“ sagte er. „Ihr meint, wir sollen uns ihm anschließen, nicht wahr?“

„Und was wäre daran so falsch?“ entgegnete Jaron laut. „Seine Feinde erwartet ein schreckliches Schicksal, doch seine Freunde werden mächtig und reich sein.“

„Mächtig und reich, in einem Land voller Tod.“ sagte Will. „Wie könnt Ihr nur vorschlagen, gemeinsame Sache mit so einem bösen Schurken zu machen?“

„Böse nennt Ihr ihn.“ erwiderte Jaron entsetzt. „Doch wieso? Nur weil Eeza Euch dies sagte? Ihr seid ein Narr, wenn Ihr ihm einfach Glauben schenkt, ohne die ganze Wahrheit zu kennen. Wisst Ihr Bescheid über Beléssans Absichten? Wisst Ihr, ob sie wirklich so böse sind, wie man Euch erzählt?“

„Ich weiß genug.“ meinte Will. „Tut mir leid, aber ich glaube Eeza. Doch es scheint, ich habe Euch schon zu lange zugehört.“

„Ach, Ihr meint, dass es meine Worte nicht wert sind, ihnen Gehör zu schenken. Ist das so? Nur weil meine Ansichten nicht den Euren entsprechen?“ bellte Jaron. Will bejahte dies mit einem Nicken. „Nun, so sei es. Fein. Dann geht eben. Es ist Euer Tod, dem Ihr entgegengeht, nicht meiner. Ich werde nicht versuchen, Euch Weisheit einzubläuen, wenn Ihr scheinbar keine verdient.“

„Weisheit nennt Ihr das?“ entgegnete Will. „Interessant, wie ähnlich sich Weisheit und Wahnsinn manchmal sind.“
 

Als er dies gesagt hatte, da sah Will, wie Jaron wütend wurde, und dass er scheinbar damit kämpfte, sich zurückzuhalten. Er dachte daran, wie gut der Mann mit einer Axt umgehen konnte. Darum drehte sich Will um, ohne ein weiteres Wort zu sagen, und wollte bereits gehen. Da hielt ihn Jaron zurück. Will drehte sich noch mal zu Jaron, und da sah er einen dunklen Schatten in seinem Gesicht, und seine Augen funkelten böse.
 

Jaron hielt seine Axt hoch und streichelte sanft die eiserne Klinge. „Seid gewarnt, Junge. Wenn ihr auch nur ein Wort über diese Unterhaltung verliert, so werdet Ihr es bereuen.“ sagte Jaron böse. Dann hob er die Axt mit einer Hand und schlug einen der Stämme mit einem einzigen kräftigen Schlag entzwei. „Habt Ihr verstanden?“ fügte er noch hinzu.
 

Will sagte nichts. Er blickte Jaron entsetzt an, und dann ging er mit schnellen Schritten davon, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzudrehen.
 Jaron blickte ihm noch eine Weile nach. Er wandte sich schließlich wieder seiner Arbeit zu. Er schlug einen weiteren Ast entzwei, dann warf er dem davoneilenden Will noch einen bitterbösen Blick zu. Und leise sagte er: „Ihr seid genauso ein Narr wie all die anderen.“

König Zahn

„Jetzt beeil’ dich doch!“ rief Thêl. Geschickt lief er durch das hohe Gras.„Nicht so schnell.“ keuchte Will. „Deine Beine sind viel länger als meine.“„Dir fallen auch stets neue gute Ausreden ein, nicht wahr?“ erwiderte Thêl.„Wenn sie gut wären, dann würdest du darauf reinfallen.“ stöhnte Will.  Thêl und Will hatten das Dorf vor einer halben Stunde verlassen. Für Will war es ein Traum, der in Erfüllung gegangen war. Er hatte endlich von der Freiheit kosten können, nach der er sich so gesehnt hat. Endlich fühlte er sich nicht mehr gefangen.  Ein Tag war vergangen, seit er Indúlas getroffen hatte. Thêl hatte ihn gebeten, ihn auf seiner Mission zu begleiten. Es war eine einfache Aufgabe, bei der Thêl sicher keine Unterstützung gebraucht hätte. Doch er hatte sich entschieden, Will mitzunehmen, damit er etwas aus dem Dorf herauskommen würde und etwas mehr von Aramar sehen konnte.  Die beiden sollten nämlich Holz besorgen, um das Haus wieder aufbauen zu können, das der General Durzog zerstört hatte. Dazu jedoch konnten sie kein gewöhnliches Holz nehmen. Sie mussten zum Wolfshain gehen, einem kleinen Wäldchen nordöstlich von Cestilla. Nur dort gab es das rávatar, das edle Wolfsholz. Thêl hatte Will zu erklären versucht, warum das Wolfsholz so besonders war und sie kein Anderes nehmen konnten. Doch Will hatte es nicht verstanden. Es hatte irgendetwas damit zu tun, dass der Wolfshain einst von einem Gott selbst besucht worden war. Mandera hatte dieser Gott geheißen. Angeblich war er der Gott der Natur, und der Beschützer der Tiere und Pflanzen. Will, der an so etwas wie Götter nicht glaubte, fand das ganze ein wenig lächerlich. Aber das störte ihn nicht. In dieser Welt herrschte einfach eine andere Auffassung des Lebens, und überhaupt von allen Dingen. Es fiel ihm nicht leicht, sich daran zu gewöhnen, doch er bemühte sich zumindest, damit er sich nicht auf ewig wie ein Fremder vorkam. Sie waren schon weit gekommen, und obwohl sie nicht liefen, so bewegten sie sich doch schneller als gewöhnlich, denn sie wollten noch vor dem Mittag wieder zurück sein. Zu Will’s Staunen wurde Thêl gar nicht müde, und er zeigte auch keine Anzeichen von Erschöpfung. Will wunderte sich darüber. Thêl schien sehr fit zu sein, mehr noch als andere Menschen. Auf dem Weg, den die beiden bisher zurückgelegt hatten, sprachen sie ein wenig miteinander. Will hatte ein wenig über Thêls Vergangenheit erfahren, als sie nebeneinander geeilt waren. Thêls Vater, Thân, war einst ein König eines Volkes gewesen, das Thêl Haria nannte. Sein Vater war ein beliebter König gewesen, und sein Sohn wurde vom Volk ebenso geschätzt. Doch eines Tages hatte Thêl das Königreich seines Vaters verlassen. Die Gründe dafür wollte er nicht nennen. Die Erinnerung daran, so sagte er, verfinsterte sein Gemüt, und so dachte er niemals daran. Thêl war nach Cestilla gekommen, wo es ihm gefallen hatte, und so war er geblieben. Er hatte sich schnell mit Eeza angefreundet, und dieser hatte ihn von der Prophezeiung um den Auserwählten überzeugen können. Seitdem unterstützt er den Zauberer, wo er nur kann. Er hat sich vor allem dem Training junger Helden zugewandt. Er unterrichtete viele heranwachsende Aramarer im Umgang mit dem Schwert oder mit Pfeil und Bogen. Bald, so sagte er, würde dies auch Will bevorstehen. Bei dieser Gelegenheit hatte Thêl ihm auch angeboten, ihn zu duzen. Alle jungen Menschen durften ihn mit ‚du’ ansprechen. Das hatte Thêl strikt betont, denn er wollte sich nicht noch älter fühlen, als er es sowieso schon war. Er bat jeden um diesen Gefallen, den er etwas besser kannte.  Die Beiden waren die ganze Zeit über eine flache Ebene gewandert, die sich über die ganze Gegend zu erstrecken schien. Zu allen Seiten war Gras, das wirkte wie ein grünes Meer, das sich bis an den Horizont erstreckte. Wenn der Wind über die Wiesen fuhr, dann war es, als würden große Wellen das grüne Meer durchpflügen. Das Gras war ungewöhnlich hoch, es reichte Will fast bis zum Knie. Doch er und Thêl gingen nun auf einem Pfad, auf dem es niedergetreten und flach war, und so kamen sie zügig voran.An vielen Stellen lagen große Felsen herum und standen aus dem Gras hervor, wie Klippen aus dem Meer. Es war, als würden sie mit dem Gras wetteifern, wer höher zu wachsen in der Lage war. Zwischen den Felsen wuchsen auch einige Bäume, doch sie waren sehr selten und wuchsen stets allein. Ihre Stämme waren lang, und ihre mit dunklen Blättern bewachsenen Kronen waren geformt wie ein Berg, der nach oben spitz zulief.  Thêl und Will waren nun schon eine ganze Stunde lang gelaufen. Langsam begannen Wills Beine zu schmerzen. Er war verwundert, dass er es überhaupt so lange ausgehalten hatte. Scheinbar war er das Laufen schon von den unzähligen Malen gewohnt, bei denen er in seiner Welt vor seine Klassenkameraden davonlaufen musste. Dort hatte er auch stets schneller rennen müssen. Hier ging es zwar nicht um Geschwindigkeit, sondern um Ausdauer, doch auch davon hatte er genug.
Thêl war noch topfit. Er bewegte sich mit schnellen Schritten, und oft sprang er auf einen der vielen Steine, die in der Gegend umherlagen, und sah sich nach allen Seiten um, ob auch keine Gefahr drohte.  Die beiden kamen nun an eine Stelle, an der die Ebene merklich emporstieg. Vor ihnen erhob sich eine schmale Klippe, zweimal so hoch wie eines von Cestillas zweistöckigen Häusern. Vor der Klippe gabelte sich der Pfad, und führte links und rechts davon die Anhöhe hinauf, über natürliche Treppen, die von Wind, Wetter und Wanderern geformt worden waren. Auf der rechten Seite der Klippe wucherte eine große Hecke, die sich weit ausbreitete und so hoch wuchs, dass sich ein erwachsener Mann darin hinkauern hätte können und nicht mehr zu sehen gewesen wäre.
Als Will näher heranging, da sah er, dass die Ranken der Hecke alle mit langen, spitzen Dornen besetzt war. Sie waren nicht einmal halb so lang wie sein kleiner Finger, doch sie sahen äußerst schmerzhaft aus. Als Will noch etwas näher ging, da hielt ihn Thêl zurück.„Bleib von der Hecke weg.“ sagte er, beinahe im Flüsterton. „Das ist eine Stechhecke. Ihre Dornen sind gefährlich. Sie wächst eigentlich nur auf Friedhöfen. Manche nennen sie auch ‚Jack-in-der-Hecke’, weil sie glauben, dass ein böser Geist darin wohnt. Sie sagen, dass die Hecke lebendig wird und Kinder mit ihren Ranken fängt und tötet. Ich persönlich halte dies für Märchen. Aber man kann nie vorsichtig genug sein.“ Er hielt kurz inne, und legte eine Hand auf Wills Schulter. „Der Wolfshain ist nicht mehr weit. Die Anhöhe noch hinauf, und dann sind wir schon da. Komm. Unser Weg ist auf der linken Seite.“  Mühsam schleppten sich die beiden den Hügel hinauf. Der Aufstieg war weder steil noch lang, doch nach dem langen Weg waren sie beide erschöpft. Zumindest war Will es; Thêl schien nach wie vor topfit zu sein.  Die Beiden stiegen den Weg empor über die natürlichen Treppen, die entstanden sein mussten, da die Bewohner von Cestilla oft zum Wolfshain hinauf gegangen waren. Dank dieser Stufen waren die beiden schnell oben. Thêl ging voran, und er half Will das letzte Stück zu bewältigen, indem er ihn hinauf hob.  Endlich auf der Anhöhe angekommen, staunte Will nicht schlecht. Vor ihm tat sich der Wolfshain auf. Der Anblick war schöner, als er gedacht hatte. Zwar hatte er das Wäldchen schon mal vom Dorfausgang von Cestilla gesehen, doch aus der Nähe war es wunderschön. Der Wald war klein, viel kleiner als jeder Wald, den Will jemals gesehen hatte. Er war klein genug, dass man ihn innerhalb einer Viertelstunde durchquert hätte, und in derselben Zeit könnte man ihn auch umrunden. Doch so klein er war, so schön war er auch. Der Wald hatte ein seltsames Leuchten an sich, das nicht von dieser Welt war. Man hatte das Gefühl, dass er stets vom Sonnenlicht erhellt war, selbst wenn Wolken deren Antlitz verbergen mochten. Doch es war nicht wie die grelle Mittagssonne, sondern viel mehr wie die untergehende Sonne an einem Herbsttag. Das Licht, dass der Wolfshain ausstrahlte, war wie kein anderes, dass es auf der Welt gab. Kein Feuer,  Stern oder Edelstein, nicht die Sonne und nicht der Mond vermochten solch einen Schein von sich zu geben. Gleichzeitig strahlte der Wolfshain ein herrliches Gefühl des Frieden aus. Gerade noch erhitzt vom Aufstieg, so war Will beim Anblick der Bäume rasch beruhigt. Sein Herz klopfte wieder langsam, und sein Geist wurde still. All die schweren Gedanken, die ihm bis jetzt durch den Kopf gegangen waren, waren nun wie weggewischt. All die Sorgen, die er hatte, waren nicht mehr. Alles war vergessen beim Anblick der Bäume. Die Bäume des Wolfshains waren allesamt Laubbäume, mit Blättern, die frischer und grüner waren als jeder Spross im Frühling. Jeder Smaragd wäre vor Neid erblassen, würde er das herrliche Grün erblicken, dass die Blätter mit Stolz trugen. Die Stämme der Bäume waren dünn, doch sehr lang. Sie standen weit auseinander, sodass das Sonnenlicht kraftvoll hindurch scheinen konnte.Der Boden des Waldes war bedeckt von Moos, weich wie ein Schafsfell. Seine Farbe war wie grün und gelb vermischt. Das Moos wuchs auch auf den Baumstämmen. Zwischen dem Moos wuchsen Farnwedel empor, und Efeu schlang sich über den Waldboden und so manchen Baum hinauf.Auch Steine lagen auf dem Waldboden umher. Doch sie waren von Moos bedeckt, und man konnte sie nur ausmachen, wenn man darauf trat.  „Welch ein wunderschöner Anblick.“ äußerte Will leise.„Ja, in der Tat.“ erwiderte Thêl. „Der Wolfshain ist der friedlichste Ort in ganz Aramar. Keine Sorgen und keine bösen Gedanken gibt es hier. Keinen lässt dies unberührt. Es ist wie ein Zauber.“  Da blickte er zu Will hinüber, der den Wald mit freudigen Augen ansah. Er packte ihn fest an der Schulter, und es war, als würde er ihn aus einem Traum aufwecken.„Lass dich nicht verhexen.“ sagte er. „Wir sind nur hier, um Holz zu sammeln.“ Die beiden gingen nun noch näher heran. Thêl holte die Axt hervor, die er sich mitgebracht hatte. Er machte ein paar große Schritte in Richtung des Hains.„Warte hier.“ sagte er zu Will. „Ich gehe in den Hain und schlage das Holz, das wir brauchen. Bleib du solange hier. Ruhe dich aus, du wirst deine Kräfte für den Rückweg brauchen. Halte deine Augen offen. Wenn sich jemand nähert, der dir unbekannt ist, so rufe nach mir.“ Will sagte nichts. Er nickte nur, und sah dann zu wie Thêl in den Wald ging. Er ging nicht weit, doch er verschwand bald hinter einem großen, moosüberzogenen Stein, sodass ihn Will nicht direkt sehen konnte, doch sehr bald konnte er hören, wie seine Axt ihr Werk begann. Schließlich tat Will, wie ihm geheißen, und ging zum Rand der Anhöhe. Dort setzte er sich nieder, verschränkte seine Beine und ließ seine Blick schweifen. Die Aussicht von hier oben war umwerfend. Er konnte nun eine noch besseren Blick von Aramar bekommen als zuvor. Er konnte Cestilla erkennen, dass nun winzig erschien im Vergleich zum Rest des Landes. Zwar war es kein großes Dorf, doch nun schien es besonders klein und unbedeutend.Weit hinter Cestilla erkannte Will eine Vielzahl von Hügeln, von denen Rauch aufzusteigen schien. Scheinbar lebten Menschen dort.Weit im Westen sah er den großen Wald, in dem er gelandet war. Er war tatsächlich gewaltig. Selbst aus dieser Entfernung schien er kein Ende zu nehmen. Er war weniger breit als lang, und er erstreckte sich weit Richtung Westen.Durch den Wald floss ein breiter Fluss, der nun im Sonnenlicht silbern schimmerte. Kurz bevor er durch den Wald floss, teilte er sich, und am anderen Ende traten zwei Flüsse wieder heraus. Sie schienen zum Meer zu fließen, dass Will im Süden kaum erkennen konnte.Weit hinter dem Fluss erhob sich das gewaltige Gebirge, dass Will auch schon vom Dorfausgang gesehen hatte. Sunit-Gebirge hatte Indúlas es genannt. Er erkannte nun, dass es aus mindestens sechs großen Bergen bestand, und einigen kleinen mittendrin.  Mit einem Mal glaubte Will aus dem Augenwinkel etwas zu erkennen. Er sah eine Bewegung unten in der Ebene, kaum bemerkbar, als hätte der Wind eine sichtbare Gestalt angenommen. Will kam es vor, als hätte sich in der Ebene unterhalb der Klippe ein Schatten bewegt, unnatürlich schnell und fast unsichtbar, doch eine Bewegung war es zweifelsohne. Aber als Will genauer hinsah, war nichts mehr zu sehen. Das Gras schaukelte sanft im Wind, und ein Vogel drehte seine Runden neben einem Baum, in welchem er schließlich landete. Sonst war aber alles ruhig, und Will fragte sich, ob ihm seine Augen nicht vielleicht einen Streich gespielt hatten. Thêl kehrte kurze Zeit später zurück. In seinen Armen trug er das Holz, das sie brauchten. Will staunte nicht schlecht, als er sah, dass Thêl gleich fünf Baumstämme auf einmal schleppte! Er musste über unglaubliche Kräfte verfügen, dachte sich Will. Dieser Kraftakt war zweifelsohne nicht mehr menschenmöglich. Thêl schien mehr zu sein, als das bloße Auge zu sehen vermochte.  Thêl trat neben Will und ließ die Stämme sanft auf den Boden fallen.„Du hast ja Kräfte wie ein Elefant.“ sagte Will, während er die schweren Hölzer betrachtete.„Was ist ein Elefant?“ fragte Thêl verwundert.Will lachte leise über seine eigene seltsame Aussage. So etwas wie Elefanten schien es in Aramar nicht zu geben. „Schon gut.“ antwortete er. „Ich wollte nur sagen, dass du sehr stark bist, wenn du diese Baumstämme gleichzeitig tragen kannst.“„Da hast du wohl Recht.“ entgegnete Thêl. „Ich bin gut in Form.“ Mehr sagte er nicht dazu. Er lächelte Will seltsam an, auf eine unnatürliche Weise. Offenbar hatte er irgendetwas zu verbergen. Doch darüber wollte er nicht sprechen. Seine Vergangenheit schien ihm schlimme Erinnerungen zu bereiten.„War alles ruhig hier?“ fragte Thêl plötzlich, als wolle er vom Thema ablenken.„Ich bildete mir ein, jemanden oder etwas gesehen zu haben.“ antwortete Will. „Es war wie ein Schatten, der sich unten in der Ebene bewegt hat. Doch er war zu schnell, als dass ich irgendetwas erkennen konnte.“„Seltsam.“ meinte Thêl und blickte auf das Grasmeer hinunter. „Vielleicht hast du es dir nur eingebildet. Jetzt jedenfalls sehe ich nichts.“ Auch Will blickte noch einmal hinunter, und nun war in der Tat nichts zu sehen, das sich bewegte, außer dem Wind. „Es wird wohl nichts gewesen sein.“ sagte Thêl schließlich. „Komm, lass uns gehen.“  Er nahm die Baumstämme, einen nach dem anderen, bis er alle fünf wieder in den Händen trug. „Willst du die bis Cestilla tragen?“ fragte ihn da Will.„Es bleibt mir nichts anderes übrig.“ erwiderte Thêl. „Anders können wir sie nicht transportieren, außer mit Magie, und derer bin ich nicht mächtig.“„Ich habe in Cestilla gestern einen Pferdewagen gesehen.“ meinte Will. „Hätten wir den nicht mitnehmen können?“„Nein, es gibt leider nur diesen einen Wagen in Cestilla.“ antwortete Thêl. „Und der wird zur Zeit anderweitig gebraucht.“„Also ist dies die einzige Lösung?“ sagte Will. „Jetzt, wo ich dich mit den Stämmen sehe, kommt es mir umständlich vor.“„Es wird gehen.“ meinte der Krieger. „Komm jetzt.“ Bevor die beiden weit gehen konnten, sagte Thêl noch zu Will: „Auf dem Weg hierher habe ich nach Gefahren Ausschau gehalten. Das kann ich nun nicht mehr, also musst du das tun. Bleibe hinter mir und halte deine Augen offen. Wenn du etwas Ungewöhnliches siehst, gib Bescheid.“ Will nickte nur.  So machten sich die Beiden auf den Weg zurück nach Cestilla. Thêl ging voran, mit den Stämmen in den Händen, und Will ging mit wachsamen Augen hinter ihm her. Langsam und mit etwas Mühe kletterten sie die natürlichen Treppen hinab. Thêl hatte es besonders schwer mit dem Gewicht in seinem Armen, doch es gelang ihm, ohne Probleme nach unten zu kommen. Das letzte Stück sprang er, um es sich einfacher zu machen. Will konnte sich nur wundern, was dieser Mann für Kräfte hatte. Selbst mit fünf Baumstämmen konnte er sich noch geschickt bewegen. Zwar ging er langsamer als zuvor, aber immer noch behände und agil. Will ging hinter ihm und ließ seinen Blick schweifen. Als sie den Fuß der Klippe erreicht hatten, da entdeckte er etwas. Auf der rechten Seite des großen Felsens, wo die Stechhecke wuchs, dort stand nun ein Pferd. Es war schwarz, wie der Schatten eines Berges, und sein Fell glänzte in der Sonne. Auch seine Augen waren schwarz, doch ihr Schwarz war dunkel, und die Augen wirkten seelenlos. Sein Schweif peitschte wild umher. Auf dem Rücken hatte das Pferd einen braunen Sattel, und es trug ein Zaumzeug. Es war zweifellos kein wildes Tier.  Will zeigte Thêl seine Entdeckung, doch dieser hatte es längst bemerkt. Die beiden blieben stehen. Sie wussten nicht so recht, was sie tun sollten. Da ergriff Will die Initiative und ging langsam auf das Pferd zu. Thêl war besorgt und wollte ihn zurückhalten.„Sei vorsichtig.“ mahnte er.„Warum denn?“ erwiderte Will. „Das ist doch nur ein Pferd.“„Es ist nicht das Pferd, dass mir Sorgen bereitet.“ sagte Thêl. „Sondern sein Besitzer.“„Sein Besitzer?“ fragte Will. „Aber wer...?“ Will konnte seinen Satz nicht zu Ende sprechen. Denn plötzlich zischte etwas an seinem Kopf vorbei, schnell wie ein Pfeil. Doch es war so grell wie ein Blitz, und strahlte eine enorme Hitze aus.  Will erschrak fürchterlich. Er glaubte zunächst, man wolle ihn töten. Doch er erkannte im selben Moment, dass dieser Blitz nicht ihm galt. Ein lautes Poltern ertönte hinter ihm. Er drehte sich um, und sah zuerst die Baumstämme, die lautstark die Ebene hinabrollten, die sich hier abwärts neigte. Ein großer Stein brachte sie zum Anhalten, und einer der Stämme zerbrach, als er damit zusammenstieß. Thêl zitterte am ganzen Körper. Er war getroffen. Der Blitz, der an Wills Ohr vorbeisauste, hatte ihn erwischt. Will war entsetzt von dem Anblick. Er rannte sofort hinüber zu dem Krieger, der sich tapfer auf den Beinen hielt. Seine rechte Hand war jetzt auf den linken Oberarm gelegt. Als Will zu ihm lief und sich seines Zustandes erkundigte, da nahm Thêl die Hand weg, und er sah das Ausmaß der Verletzung. Die Wunde sah nicht so schlimm aus, wie Will es sich vorgestellt hatte. Scheinbar hatte der Blitz seinen Oberarm nur gestreift. Thêls Gewand an dieser Stelle war zerfetzt, und der Arm lag frei. Dort, wo der Treffer war, da sah seine Haut verbrannt aus. Die Stelle war rot und glühte fast, und die Wunde qualmte. Die Haut war ein wenig weggebrannt, und das Fleisch darunter kam zum Vorschein. Es war kein tödlicher Treffer, doch er schien sehr schmerzhaft zu sein. Thêl biss die Zähne zusammen. Da ertönte plötzlich eine Stimme aus der Richtung des Pferdes. „Wie es scheint, habe ich etwas daneben gezielt. Es tut mir sehr leid.“ Will erkannte die Stimme sofort wieder. Als der Mann, dem die Stimme gehörte, aus dem Schatten trat, da waren alle Zweifel verflogen. Sowohl als auch Thêl erkannten sofort, wer da vor ihnen stand. Sie erkannten die dunkle Rüstung, den Bart, die finsteren Augen und die Narbe im Gesicht des Mannes. „Durzog!“ riefen sie beide im Chor. „Es freut mich, dass ihr mich erkennt.“ sagte Durzog grinsend. „Und das, obwohl ihr mich noch nie gesehen habt. Denn als ich euer Dorf vor zwei Tagen besucht hatte... ja, wo wart ihr da? Von Euch, Thêl, sagte man mir, dass ihr auf Eylan Mor wärt. Das scheint eine kurze Reise gewesen zu sein.“Thêl unterdrückte seinen Schmerz und zog sein Schwert aus der Scheide. Wut und Hass standen in seinem Gesicht. „Was wollt Ihr hier?“„Hier? Hier will ich gar nichts mehr.“ sagte der General. „Meine Aufgabe hier ist erledigt.“„Welche Aufgabe?“ erwiderte Thêl. „Wovon sprecht ihr?“Durzog lachte hämisch. „Ich spreche davon, dass ich euer Dorf ausspioniert habe. Ich habe euch beobachtet, euch belauscht. Die ganze Zeit. Ich weiß alles über den Auserwählten, wie ihr ihn nennt.“ Dabei blickte er Will an. „All eure Geheimnisse sind gelüftet.“„Ihr lügt doch!“ bellte Thêl.„Wirklich?“ entgegnete der General. „Lüge ich? Sieht der Junge das auch so? Der Junge, dem ihr eröffnet habt, dass er der Auserwählte sei. Den ihr nur deswegen aus seiner Welt hergeholt habt. Dem ihr erzählt habt, ihr könntet ihn nicht in seine Welt zurück schicken, bis er Beléssan getötet hat.“  Als er diese Worte hörte, war Thêl klar, dass der General die Wahrheit sagte. Er verzweifelte fast, als er hörte, dass der Feind über alles Bescheid wusste. Doch er behielt einen klaren Gedanken. Er wusste, dass Durzog gefährlich war, und man durfte sich nicht ablenken lassen.  „Nun verstehe ich, warum ihr einfach so abgezogen seid. Das kam mir schon damals seltsam vor.“ sagte er.„Kluger Mann.“ meinte Durzog. „Es ist wahr. Mein Herr hatte dies von Anfang an so geplant. Er wusste, dass ihr jemanden aus einer anderen Dimension herholen würdet. Er wusste auch, dass ihr ihm niemals die Wahrheit sagen würdet. Also beauftragte er mich, euch mit einem getäuschten Kontrollbesuch zu beehren, und euch dann auszuspionieren. Mit Erfolg, wie man sieht.“„Also war das alles nur gespielt?“ fragte Thêl. „Alles nur eine Farce?“„Ja, so ist es.“ grinste Durzog. „Nun ja, fast. Einzig meine Abscheu euch... Bauern gegenüber war echt.“„Und wieso habt Ihr nach mir gefragt?“ stöhnte Thêl.„Was? Ach so, das meint Ihr. Das habe ich doch gesagt. Nur eine Formalität.“ erwiderte der General grinsend. „Ich wusste, wenn es ihr Einfaltspinsel etwas plant, dann steckt Ihr garantiert mit drin. Ich wollte einfach nur wissen, ob Ihr auch anwesend wart.“ „Nun wollt ihr wohl eurem Herren von eurem Erfolg berichten, nicht wahr?“ sagte Thêl da mit strenger Miene, und er hob sein Schwert. „Das kann ich leider nicht zulassen.“ Thêl machte plötzlich eine Satz vorwärts, und mit schnellen Schritten rannte er auf Durzog zu. Noch während des Laufens holte er mit dem Schwert zum Schlag aus.


Doch der General war noch schneller. Bevor Thêl noch zuschlagen konnte, zog er rasch seinen eigenes Schwert aus der Scheide, das schwarz war. Als Thêl seine Klinge niedersausen ließ, da hob Durzog die seinige und wehrte den Schlag ab. Als die beiden Schwerter mit einem lauten Klang aufeinander trafen, zuckte er noch nicht einmal. Ein Kind hätte nicht weniger ausrichten können. So standen die beiden Männer nun da, Schwert an Schwert. Keiner der beiden bewegte sich. Thêl und Durzog starrten sich gegenseitig in die Augen. Doch während Thêls Augen mit einem unglaublichen Hass brannten, so war in denen des Generals nur Spott und Verachtung.  „Ihr seid ein Narr.“ sagte Durzog plötzlich. „Glaubt Ihr, Ihr könntet mich im Kampf bezwingen?“„Ich muss es versuchen.“ erwiderte Thêl, und er biss die Zähne zusammen. „Das ist eine Frage der Ehre. Ich kann Euch nicht einfach gehen lassen.“„Ehre. Lächerlich.“ meinte Durzog hämisch. „Was nutzt Euch Ehre, wenn ich Euch töte? Ehre wird euer Dorf auch nicht retten.“„Was meint Ihr?“ fragte Thêl, noch immer auf sein Schwert konzentriert. „Ich meine, dass Ihr euer Dorf nicht retten werdet.“ erwiderte Durzog. „Selbst wenn Ihr mich nun tötet. Das Dorf ist verloren.“„Ich verstehe nicht.“ fragte Thêl weiter. „Los, sprecht mit Vernunft, oder gar nicht.“„Ihr wisst doch selbst, dass es ein Verbrechen ist, jemanden aus einer fremden Welt in diese zu holen.“ antwortete der General. „Darauf steht die Todesstrafe. Euer ganzes Dorf wird mit dem Tode bestraft. Ich werde das Urteil natürlich nicht persönlich vollstrecken. Mit so etwas mache ich mir nicht die Hände schmutzig. Doch was macht das für einen Unterschied, nicht wahr? Das Dorf ist dem Untergang geweiht.“ „Was sagt Ihr da?“ rief Thêl bestürzt, und er vergaß sein Schwert. Durzog nutzte diese Unachtsamkeit. Schnell drückte er seine freie Hand gegen Thêls Brust. Ein teuflisches Grinsen fuhr über sein Gesicht. Nur einen Augenblick später leuchtete seine Hand auf, und plötzlich zuckten unzählige Blitze über den Körper von Thêl. Der Krieger schrie laut auf. Er ließ sein Schwert fallen, und rauchend ging er zu Boden, wo er liegen blieb. Der General drehte Thêl mit dem Fuß unsanft auf den Rücken. Er beugte sich über ihn, gestützt auf sein Schwert, das er direkt neben Thêls Hals in den Boden rammte.„Ich könnte Euch jetzt ohne Schwierigkeiten töten, und den Jungen auch.“ sagte er. „Doch dies zu tun hat mir mein Herr verboten. Sehr zu meinem Bedauern. Doch dann könntet ihr auch nicht mehr zusehen, wie euer Dorf vernichtet wird. Und das wäre zu schade. Darauf bestehe ich nämlich.“ Rasch zog er sein Schwert wieder aus dem Boden und steckte es mit einer schnellen Handbewegung wieder in die Scheide. Dann ging er zu seinem Pferd, dass noch immer neben der Klippe stand. Er stieg auf das Ross auf, welches laut schnaubte, und dann ritt er direkt neben Thêl. Er warf zuerst einen Blick auf Will, und dann auf Thêl, und zu diesem sagte er: „Seht es ein. Euer Vorhaben ist gescheitert, noch bevor ihr überhaupt richtig damit angefangen habt. Niemand vermag etwas gegen Beléssan und seine Getreuen auszurichten. Niemand.“Dann gab er seinem Pferd die Sporen, und er ritt davon, in Richtung Norden, an der Klippe vorbei.  Thêl starrte Durzog mit hasserfüllten Augen nach. Als dieser nicht mehr zu sehen war. stand er ächzend auf. Er hatte ein wenig Mühe, das Gleichgewicht zu finden, aber ansonsten schien es ihm gut zu gehen. Er steckte sein Schwert in die Scheide. Will lief sofort zu ihm hin. „Bist du in Ordnung?“ fragte er.„Ja. Mir fehlt nichts.“ erwiderte Thêl.„Erstaunlich. Dabei sah das schlimm aus, was Durzog da gemacht hat.“ sagte Will. Als er Thêls Arm berühren wollte, bekam er einen Schlag. Ein wenig Elektrizität schien an der Kleidung haften geblieben zu sein. „Es war schmerzhaft, aber nicht tödlich.“ meinte Thêl. „Durzog ist vielleicht ein mieser Verräter, aber er ist nicht dumm. Er weiß, dass er den Befehlen seines Herren zu gehorchen hat, auch wenn ihm das seines Vergnügens beraubt.“ „Und was nun?“ fragte Will schließlich.„Wir müssen zurück nach Cestilla, sofort.“ antwortete Thêl. „Du hast Durzog doch gehört. Irgendwas Schreckliches scheint dort vorzugehen. Komm. Aus dem gemütlichen Rückweg wird wohl nichts.“  Noch bevor Will irgendeine Antwort geben konnte, lief Thêl los. Will blieb nichts anderes übrig, als hinter ihm herzueilen. Die beiden liefen, so schnell sie konnten. Sie achteten nicht auf ihre Umgebung, und nicht auf das, was hinter ihnen lag. Es kümmerte sie nur, was vor ihnen lag. Das Holz hatten sie liegengelassen, denn es war nun unbedeutend. Ein einzelnes Haus konnten sie auch später wieder aufbauen, doch nun befürchteten sie, dass vielleicht das ganze Dorf zerstört sein könnte. Darum beeilten sie sich, so sehr sie konnten. Will stolperte einmal über einen Stein und schürfte sich das rechte Schienbein auf. Doch das kümmerte ihn nicht. Er wusste, das Thêl nicht anhalten würde, und so unterdrückte er den leichten Schmerz, den er verspürte, und rannte weiter.  Nicht mehr als 20 Minuten brauchten die beiden, bis sie das Dorf erreicht hatten. Als sie vor dem oberen Dorfeingang standen, bemerkten sie zuerst nichts Ungewöhnliches. Die Tore waren geschlossen, was während des Tages nicht üblich war, doch ansonsten sah alles aus wie immer. Als Thêl jedoch einen der Torflügel öffnen wollte, da zuckte er sogleich zurück, und ein unheimliches rotes Leuchten umgab die Tore. „Was ist los? Was ist das?“ fragte Will besorgt.„Ich weiß nicht. Es ist, als würde das Tor brennen und gleichzeitig mit Stacheln bedeckt sein. Als ich es angefasst habe, tat es weh und war zur selben Zeit heiß.“ sagte Thêl. „Das ist ein finsterer Zauber. Ein Höllentor-Zauber vielleicht, doch meine Kenntnisse über die schwarze Magie sind mangelhaft. Jedenfalls steht fest, dass irgendjemand die Dorfbewohner einsperren will. Ich wette, dass Durzog dahintersteckt.“„Was ist mit dem unteren Tor?“ meinte Will. „Vielleicht können wir dort hinein.“ Will hatte diesen Satz kaum ausgesprochen, da hörten sie grauenerregende Schreie, die vom anderen Ende des Dorfes zu kommen schienen. Es waren menschliche Schreie, die nach Schmerz und Verzweiflung klangen. Doch zwischen den Rufen, da war noch etwas Anderes zu hören, ein Brüllen, wie von einem Raubtier, doch um ein Vielfaches gewaltiger. „Ich hab kein gutes Gefühl bei der Sache.“ meinte Will etwas verängstigt. Thêl antwortete nicht. Schnell wie der Wind rannte er links am Tor vorbei, um das Dorf herum. Es war der schnellste Weg, um auf die andere Seite zu gelangen. Will folgte ihm nach, wenn auch etwas zögerlich.  Es dauerte keine fünf Minuten, da waren sie nur noch wenige Meter vom unteren Tor entfernt. Das Gebrüll wurde lauter, und Will wurde immer nervöser.  Plötzlich ertönte ein leises Pfeifen. Thêl blieb stehen, und deutete Will, dasselbe zu tun. Die beiden blickten sich kurz um, und dann sah Thêl gen Himmel. In diesem Moment kam etwas auf die beiden zugeflogen. Thêl und Will machten einen schnellen Schritt zur Seite. Das Objekt prallte gegen den Palisadenzaun, der um das Dorf stand, und fiel dann mit einem lauten Plumpsen neben den Beiden nieder.  Zuerst dachten sie, dass jemand sie beschossen hatte, doch diese Gedanken verflogen sofort, als sie das ‚Objekt’ sahen, dass da vor ihnen im Gras lag. Es war ein Mensch! Ein Mann lag da, mit langen Haaren und überall mit Blut beschmiert. Thêl beugte sich zu ihm hinunter, um zu sehen ob er ihm helfen konnte, doch er erhob sich gleich wieder. Der Mann rührte sich nicht, und er hatte zahlreiche große Wunden, aus denen Blut floss. Es gab nichts, was irgendjemand noch für ihn tun konnte. Thêl schloss kurz die Augen und sagte lautlos einige Worte, die Will nicht verstand. Es klang nach einem Gebet. Dann rannten die Beiden weiter. Ihr Ziel war nun schon sehr nahe. Sie konnten das Brüllen nun sehr laut hören. Wills Herz schlug immer schneller.  Schließlich erreichten sie den unteren Dorfeingang. Dort bot sich ihnen ein erschreckendes Bild, und Will musste sich fast übergeben. Mehrere Leute lagen blutend auf dem Boden, tot. Ein Speer steckte aufrecht mit der Spitze im Boden. An vielen Stellen war das Gras rot gefärbt vom Blut. Eine Frau war dort, die verzweifelt die Leichen ansah. Neben ihr war Eeza, der sie drängte, wieder ins Dorf zu gehen.  Dort, vor den Toren von Cestilla, stand die grauenerregendste Kreatur, die Will je gesehen hatte. Auf den ersten Blick erinnerte sie ihn an ein Krokodil, doch sie war viel größer. Sie war größer als ein Haus, und mit einem Körper so massig wie der eines Stiers. Doch seine Beine, deren es sechs besaß, waren kurz wie die einer Echse, und sein Bauch streifte beinahe über den Erdboden.Seine Haut war grün, und über und über bedeckt wie Schuppen. Am ganzen Rücken wuchsen breite Stacheln empor, und das Untier hatte ein einzelnes Horn auf der Nasenspitze.Sein Kopf war breit und gewaltig, mit Reihen großer, scharfer Zähne in seinem Maul. Seine Augen glühten rot, wie das Feuer der Hölle selbst, das nie erlosch. „Was ist das denn?“ fragte Will, starr vor Schreck.„Ein Drache.“ antwortete Thêl und biss die Zähne wütend zusammen.„Was, ein Drache?“ kreischte Will entsetzt„Ja. Sein Name ist Fungawar.“ erwiderte Thêl. „Andere nennen ihn Carcaran. Doch in ganz Aramar kennt man ihn unter dem Namen König Zahn.“ Will staunte nicht schlecht, als er zum ersten Mal eine Drachen erblickte. Er hatte sich stets gewünscht, einmal einen zu sehen. Doch nun, als er tatsächlich einem gegenüberstand, da überkam ihn die Angst.  Will wusste nichts über den Drachen, und in diesem Moment war ihm das wohl egal gewesen. König Zahn war der Letzte seiner Art, einer Gruppe von Drachen, die man als Kriechende Drachen oder Caëlok kannte.Es waren Drachen, die viel fraßen und wenig flogen. Im Laufe der Jahre wurden diese Tiere so schwer, dass keine Flügel sie in die Lüfte erheben konnten. So waren sie gezwungen, den Erdboden als ihr Reich anzuerkennen. Die Meisten wurden von dem Menschen getötet, und so ist von den Caëlok in Aramar nur noch Fungawar übrig. Fungawar war der mächtigste und schwerste von ihnen. Er hatte sechs Beine, denn nur so konnte er seinen massigen Körper über den Boden bewegen. Doch seine Größe war sein Vorteil. Zahlreiche Narben erzählten von den unzähligen Kriegern, die versuchten ihn zu töten. Sie alle waren gescheitert, denn Schwerter waren nutzlos. Selbst von Klingen durchbohrt oder geritzt ging er nicht zu Boden. Wenig wusste irgendjemand von seiner Herkunft. Wie er hierher kam, davon erzählt keine Geschichte. Doch er war einer der ältesten unter den Drachen, und er diente stets nur sich selbst. Er lebte hier und da, und hielt sich meist von den Menschen fern.Eines Tages tauchte er in einem Dorf im Norden auf. Die Bewohner wurden von Panik ergriffen, und mit Waffen und Geschrei gelang es ihnen, König Zahn aus dem Dorf zu vertreiben. Seitdem lebte er fernab der Menschen. Er hauste in den Bergen und in den Wäldern von Uruin im Norden.Im Grunde ist Fungawar ein friedlicher Drache, der Menschen nur angreift, wenn er von ihnen bedroht wird. Sein Auftauchen hier in Cestilla und seine aggressive Laune sind ungewöhnlich für ihn. Doch wenn Durzog oder gar Beléssan seine Hand im Spiel hat, so braucht man nicht nach einer Erklärung zu suchen.  Aufgeregt kam Eeza auf die beiden zugerannt. Er war außer sich, und in seinen Augen war Angst.„Gut, dass ihr hier seid.“ sagte er. „Ich verstehe das nicht. Wieso würde Fungawar uns angreifen? Wir haben ihm nichts getan.“„Euch trifft keine Schuld.“ erwiderte Thêl. „Das war Durzog.“„Durzog!?“ Eeza warf Thêl eine entsetzten Blick zu.„Ja, es ist wahr.“ erwiderte der Krieger. „Wir sind ihm begegnet. Er hat uns ausspioniert.“„Was sagt Ihr da?“ fragte Eeza erschüttert.„Es ist wahr. Er hat es uns gesagt.“ antwortete Thêl. „Der Feind kennt unsere Geheimnisse. Er weiß alles! Deswegen ist der Drache da. Um uns dafür zu bestrafen, dass wir ein Weltentor benutzt haben.“ Eeza schüttelte fassungslos den Kopf. Er konnte nicht glauben, was er da hörte. Dass der Feind ihre Pläne erfährt, war das Schlimmste, das ihnen passieren konnte. „Aber das ist zweitrangig.“ sagte Thêl. „Wir müssen die Leute hier wegbringen.“„Wie stellt Ihr euch das vor?“ fragte Eeza. „Das obere Tor ist mit einer magischen Barriere verschlossen. Die kann nicht einmal ich durchbrechen.“„Die Leute sollen bei diesem Tor herauskommen und einfach fliehen. Besser als hier zu bleiben und auf den unvermeidlichen Tod zu warten.“ meinte Thêl.„Das haben wir schon versucht.“ erwiderte Eeza. „Ihr seht doch, was das genutzt hat.“ Bei diesen Worten deutete er auf die Leichen, die im Gras lagen.„Was gedenkt Ihr dann zu tun.“ fragte Thêl lautstark.„Thêl, mein Freund, darauf weiß ich keine Antwort.“ entgegnete Eeza. „Gegen den Drachen zu kämpfen wäre Selbstmord, und die Leute können wir unmöglich herausholen.“ „Aber wir können doch nicht aufgeben.“ sagte Thêl. „Irgendetwas müssen wir doch tun können.“„Ich weiß es nicht.“ erwiderte Eeza, und der Zauberer wirkte abwesend. „Ich weiß keinen Rat. Ich befürchte, wir werden unser Dorf nicht retten können. Die Geschichte von Cestilla ist vorbei. Dies ist das letzte Kapitel, und es ist geschrieben mit Blut.“ 

Drachenblut

Die Erde bebte. Die Stöße, die den Boden durchzuckten, waren so stark, als wären sie die Vorboten von Erdbeben. Es war, als würde ein Berg auf und ab springen. Bei jedem Schritt, den der Drache tat, erzitterte die Erde, als hätte sie Angst vor ihm.
 

Der Drache brüllte. Sein Brüllen war so lang und laut, dass es wie Donner war. So laut, dass man meinte, man könnte es in ganz Aramar hören.

Als das Monster schrie, da glaubte Will zu hören, wie die Menschen, die es getötet hatte, schrieen, vor Angst und Verzweiflung. Als hätte der Drache die Seelen der Toten gefressen, und nun waren sie in seinem Leib und stießen Klageschreie aus.
  

Tote. Davon lagen reichlich herum. Es waren mindestens sechs, vielleicht auch sieben Leichen, die im Gras um König Zahn lagen. Das Gras war rot gefärbt vom Blut, und es sah aus, als würde der Erdboden selbst bluten.

Die Leichen waren allesamt grausam verstümmelt. Manche hatte das Monstrum zertrampelt, anderen fehlte ein Arm, oder ein Bein, oder auch beides. Einem hatte König Zahn sogar den Kopf abgebissen.
 

Dabei wollten sie bloß flüchten. Weg von dem Dorf, weg von dem Drachen. Weg vom Tod. Doch obwohl er so grauenhaft dick und massig war, so war König Zahn doch überraschend flink. Keiner war ihm entkommen. Er hatte sie alle dafür bestraft, dass sie noch ein wenig weiterleben wollten. Es war schrecklich, sich vorzustellen, welche Qualen sie in den letzten Augenblicken ihres Lebens erdulden mussten.
 

Für Will war dies der schlimmste Anblick, den er je in seinem Leben ertragen hatte müssen. Eeza und Thêl kannten diese Welt. Sie waren Drachen gewohnt, und ihnen war Blut und Tod sicherlich nicht fremd. Aber Will? Er kannte diese Angst nicht, die er jetzt verspürte. Noch nie, bei allem was ihm je passiert war, war sein Leben jemals in solch einer Gefahr gewesen. Noch nie war er von etwas bedroht worden, das nicht menschlich war.

Da war zwar der Setarkoid, dem er erst vor kurzem begegnet war. Doch die Erinnerung daran war schon verblasst. In diesem Moment, als diese gewaltige Bestie vor ihm stand, da war alles andere egal.
  

Mit zitternden Gliedern, unfähig, sich zu bewegen, blickte Will zu Thêl und Eeza hinüber. Er wartete darauf, dass die beiden irgendetwas sagten oder taten. Er hatte keine Ahnung, was er nun tun sollte. Sein Geist war voll von Angst: Angst, von dem Ungetüm König Zahn gefressen zu werden. Angst zu sterben. Angst, hilflos darauf warten zu müssen, getötet zu werden, ohne auch nur das Geringste tun zu können. Er wusste einfach nicht, wie man sich in so einer Situation verhalten sollte. Er wäre wohl schon überfordert gewesen, hätte er einem Löwen oder einem wilden Hund gegenübergestanden. Wenigstens hätte er sich da noch eine Chance erhofft. Doch hier? Bei einem Monstrum, so groß wie ein Haus, das einem in einem Bissen verschlucken konnte? Was sollte man da schon tun? Die Beiden konnten doch nicht ernsthaft nur herumstehen und darauf warten, gefressen zu werden, dachte sich Will. Irgendetwas mussten sie tun können.
  

„Wir müssen doch irgendetwas unternehmen.“ platzte da plötzlich Thêl heraus, der dieselben Gedanken wie Will zu hegen schien. „Sollen wir nur abwarten, bis er uns frisst? Warum würzen wir uns nicht gleich mit Salz und Pfeffer und springen gleich in sein Maul?“

„So einfach ist das nicht.“ erwiderte Eeza forsch. Auch er schien in Panik zu sein, und das war fast schon überraschend, bei einem Mann seines Alters, der schon viel gesehen hat mochte.

„Wenn es einfach wäre, dann hätten wir es schon getan, nicht wahr?“ erwiderte Thêl, gleichsam unwirsch.

„Also ich stimme zu.“ warf Will ein. „Ich bin nicht darauf erpicht, gefressen zu werden. Ich meine, sollte ich nicht eure Welt retten oder so was? Das wird schwer aus dem Magen eines Drachen, schätze ich.“

„Ich sagte doch: Das ist nicht so einfach.“ wiederholte Eeza. „Einen Drachen kann man nicht so einfach töten. Seine Haut ist wie Baumrinde, hart und zäh. Da kommt ein Schwert zwar durch, doch viel kann es nicht ausrichten. Und meist gibt es keine Gelegenheit für einen zweiten Schlag. Drachen sind flink. Dieser hier ebenso, auch wenn er nicht den Eindruck macht.“

„Was Ihr nicht sagt.“ meinte Will. „Interessante Geschichte. Aber…“

„Zur Seite!!!“ brüllte Thêl plötzlich.
 

Seine Warnung kam keine Sekunde zu früh. Ganz plötzlich machte König Zahn einen gewaltigen Satz vorwärts, und seine riesigen Kiefer waren bedrohlich geöffnet.
 

Während der Drache nach vorne schnappte, da sprangen Thêl und Eeza zu seiner linken Seite, und entgingen so dem todbringenden Angriff.

Will dagegen machte zwei schnelle Schritte in Richtung Dorfeingang, und mit einem großen Satz sprang er hinter den Palisadenzaun. Nur eine Sekunden später krachte das Holz des Zaunes. Er verbog sich nach innen, und Holzsplitter fielen zu Boden.
 

Will holte tief Luft, und er keuchte. Sein Herz raste. Er hatte Glück gehabt. Wäre er nur einen Moment zu langsam gewesen, so hätte das Maul von König Zahn ihn statt dem Zaun erwischt. Das wollte er sich gar nicht vorstellen.
  

Hinter dem Zaun hörte Will das Knurren des Drachen. Er war der Gefahr für diesen Moment entronnen, doch sie war noch lange nicht vorbei. König Zahn musste nur den Kopf durch das Dorftor stecken, und mit ein paar schnellen Schritten hätte er ihn geschnappt. Würde er weiter in das Innere des Dorfes flüchten, so hätte er dem Ungeheuer gegenüber einen Vorsprung, und wäre für den Moment in Sicherheit.
 

Doch aus irgendeinem Grund konnte er es nicht. Seine Beine waren schwer wie Blei. So sehr er ihnen auch befahl, sich zu bewegen und aufzustehen, sie taten es nicht. Vielleicht war es die nackte Angst, wegen der er sich nicht zu rühren vermochte. Vielleicht es auch die Gewissheit, das Unvermeidliche nur hinauszögern zu können. Vielleicht aber konnte er es nicht übers Herz bringen, Thêl und Eeza schutzlos dem Drachen zu überlassen.

Will konnte es selbst nicht glauben, doch er schien es tatsächlich nicht wagen zu können, die Beiden zurückzulassen und den scharfen Zähnen von König Zahn auszuliefern. Er wusste zwar, dass Thêl ein ungewöhnlich starker Krieger war, doch vermutlich war auch er hilflos gegen so ein Ungetüm. Wenn nicht, dann hätte er sich ihm sicherlich zum Kampf gestellt.
 

In diesem Moment, als Will grübelte, da konnte er ihre Stimmen hören.
 

„Tut doch was, Eeza.“ hörte er Thêl sagen. „Ihr seid doch ein mächtiger Zauberer, oder etwa nicht?“

„Und was erwartet Ihr von mir?“ erwiderte Eeza. „Soll ich ihm einen Feuerball an den Kopf werfen? Oder Blitze schleudern? Oder vielleicht wollt Ihr, dass ich ihn mit einem Zaubertrank in etwas verwandle, das leichter zu töten ist. Ein Frosch, vielleicht? Nur wie sollte ich einen Trank brauen, hier, mit nichts in der Hand?“ Den letzten Satz schrie der Alte schon fast.

„Könnt Ihr denn nichts tun, das uns hilft?“ sagte Thêl.

„Ich fürchte nein.“ antwortete Eeza. „Meine Fähigkeiten sind eher friedlicher Natur. Für den destruktiven und offensiven Kampf sind sie nicht geeignet.“
 

Danach sagte keiner der beiden mehr etwas. Auch bei ihnen schien die Panik Überhand zu nehmen.
  

Will hielt den Atem an. Er überlegte, wie er den Beiden helfen konnte. Wenn überhaupt. Viel Vertrauen hatte er nicht, dass er irgendetwas gegen den Drachen unternehmen konnte. Schließlich war er doch nur ein junger Mann, noch nicht einmal ausgewachsen. Wäre er ein großer Krieger, mit Schild und Schwert bewaffnet, dann hätte er vielleicht seinen Mut zusammengenommen und König Zahn angegriffen.
 

Will kam zu dem Schluss, dass er Thêl und Eeza nicht helfen konnte. Was sollte er tun? Kämpfen konnte er nicht. Er war gut im Davonlaufen, das hatte er oft daheim geübt, wenn auch unfreiwillig. Hier brachte ihm das nicht viel. Er konnte sich nur weiter ins Dorf zurückziehen und hoffen, dass er dem Drachen so irgendwie entkommen konnte. Thêl’s und Eeza’s Schicksal war bedauerlich. Doch Will konnte nichts tun.
  

Langsam stand Will von seiner Hocke auf, und langsam ging er in Richtung des Dorfplatzes. Dabei ließ er seinen Blick nie vom Dorftor abschweifen. Er sah König Zahn draußen, wie er Thêl und Eeza beäugte. Will fürchtete um sie, und es tat ihm unendlich leid, dass er sie so im Stich ließ. Aber es war ihm sein Leben wichtiger als ihres.

Eigentlich wollte er das nicht mit ansehen, doch er konnte seinen Blick einfach nicht von dem Drachen lassen. Immer wieder wollte er wegsehen, doch irgendetwas hielt ihn zurück. So rückte er langsam in das Innere des Dorfes vor, rückwärts, das Untier nicht aus den Augen lassend.
  

Plötzlich spürte er eine Hand auf seiner Schulter. Er erschrak fürchterlich, und blitzschnell drehte er sich um. Er blickte in ein bekanntes Gesicht.
 

„Jaron!“ rief Will aus.
 

Vor ihm, da stand Jaron, mit einer Hand auf seiner Schulter. Er lächelte freundlich, und Will wusste nicht, was er davon halten sollte. Er kannte Jaron kaum, doch gestern hatte er sich heftig mit ihm wegen seiner Ansichten gestritten. Nun war er unsicher, was sein freundliches Gesicht zu bedeuten hatte.

Jaron nahm die linke Hand wieder von Wills Schulter, und jetzt sah Will, dass er zwei kurze Äxte in seiner Rechten hielt. Eine davon nahm er jetzt in die linke Hand.
 

„Was habt Ihr vor?“ fragte Will, obwohl er sich die Antwort bereits dachte.

„Das, was notwendig ist, um unser Dorf zu schützen.“ antwortete Jaron.

Zuerst war sich Will unsicher, was er damit meinte. Kurz darauf jedoch verstand er es. „Aber... dann werdet Ihr sterben.“ sagte er, etwas leiser.

„Vielleicht. Aber ich werde nicht zulassen, dass Beléssan und seine Haustiere meine Heimat vernichten.“ erwiderte Jaron, während er den Drachen anstierte.

„Ich dachte, ihr wollt Euch auf Beléssan’s Seite schlagen.“ meinte Will.

„Ja. Ich weiß das. Ihr wisst das. Aber Beléssan weiß es nicht. Es war dumm von mir zu denken, dass ich sein neuer bester Freund werden könnte, und dass mich das von all dem Schrecken verschont.“

„Ich halte das für keine gute Idee.“ sagte Will kopfschüttelnd.

„Wie Ihr meint. Doch ich muss das tun.“ entgegnete Jaron, und dann blickte er Will freundlich an. „Ihr hattet wohl Recht. Sich auf seine Seite zu stellen ist eine dumme Idee. Jetzt, wo das Ende nahe ist, erkenne ich das. Es tut mir leid, dass ich Euch gestern so angeschrieen habe.“

„Schon in Ordnung.“ meinte Will. „Trotzdem finde ich, Ihr solltet das nicht…“
 

Doch Jaron hörte es nicht. Er war schon ein paar Schritte weitergegangen, ein paar Schritte auf den Drachen zu. Ein Feuer brannte in seinen Augen.
  

Ohne König Zahn aus den Augen zu lassen, marschierte er mit entschlossenen Schritten auf ihn zu. Als er nur noch zwanzig Schritte von ihm entfernt war, da hob er seine Axt. Der Drache blickte ihn neugierig an. Sein schuppiger Schweif peitschte wild von einer Seite auf die anderen.
 

Jaron hob die Axt in seiner Rechten über seine Kopf, und mit dem Schrei wie der eines Bären, so wild und gewaltig, da schleuderte er sie nach vorne. Sie wirbelte durch die Luft, und man konnte hören, wie sie sie durchschnitt. Mit großer Wucht traf sie König Zahn in den Hals. Der Drache schrie auf vor Schmerz. Er schüttelte heftig seinen gewaltigen Kopf, und die Axt fiel heraus. Blut quoll aus der Wunde, und floss heraus, dass es wie ein roter Wasserfall war. Das Ungetüm brüllte laut. Schmerz und Wut überkamen es. Sein Schrei war grausam. Doch Jaron ließ sich davon nicht beirren.
 

Er machte zwei Schritte auf den Drachen zu, und dann begann er zu laufen. Will staunte darüber, wie sich dieser kleine Mann auf das riesige Ungetüm stürzte, als wäre es ein Hund. Dabei zeigte er keine Furcht, keine Verzweiflung, kein Zaudern und kein Zagen.
 

Wild vor Schmerz, da starrte König Zahn Jaron plötzlich an, als er ihn kommen sah. Er brüllte laut; nicht vor Pein, doch vor Hass oder Wut. Als der Mann auf wenige Schritte herangekommen war, da hechtete das Monster vorwärts, seinem Angreifer entgegen. Kurz bevor sich die beiden trafen, da machte König Zahn einen gewaltigen Satz vorwärts und riss sein zahnbewehrtes Maul auf. So wollte er Jaron verschlucken.
 

Doch dieser sah es kommen. Als die Bestie ihr Maul zuschnappen ließ, da sprang er blitzschnell zur Seite. Rechts des Drachen schnellte er, und das Untier biss nur die Luft. Dabei fiel Jaron auf seine Knie, doch er hielt nicht einen Moment inne. Rasch rappelte er sich auf und lief noch ein paar Schritte vorwärts. In diesem Augenblick, da holte er weit mit seiner zweiten Axt aus. Geschwind schlug er seine zweite Axt entlang des Leibes des Drachenungeheuers. Dann hielt er inne.
 

Zuerst konnte Will nicht erkennen, was Jaron erwischt hatte. Doch König Zahn schrie plötzlich klagend auf, und als er einen Schritt machen wollte, da fiel mit einem Plumps sein rechtes Vorderbein zu Boden. Dort, wo es bisher war, da war jetzt ein blutiger Stumpf. Erneut brüllte der Drache laut, und sein Wehklagen war groß. Er schien große Schmerzen zu leiden, und war verwirrt. Es war wohl das erste Mal, dass ihm jemand solche Wunden zufügte. Axthiebe und Schwertstreiche verheilten, doch sein Bein konnte er nicht nachwachsen lassen.
 

König Zahn versuchte, einige Schritte vorwärts zu gehen, doch es schien mühsam. Trotz seiner verbleibenden fünf Beine humpelte er, und er konnte kaum gerade marschieren. Es waren wohl die Schmerzen und die Verwirrung, die ihm die Fähigkeit zu gehen raubte. Diese Qualen waren völlig neu für ihn, so kam es Will vor, und er schien damit nicht umgehen zu können.
 

Zufrieden strich Jaron über die Klinge seiner Axt. Er war stolz auf seine gelungene Tat. Mit einem triumphalen Grinsen starrte er den verwundeten Drachen an. Er war überzeugt, dass er ihm nun ohne weiteres den Todesstoß versetzen konnte. So oft hatte er den Umgang mit der Axt geübt, beim Holzhacken, aber auch durch viel Training, intensiv und hart. Er war erfreut, dass sich dies nun auszahlte.

Frohgemut ging er in Richtung des Kopfes des lahmen König Zahns, den Griff seiner Axt fest umklammert. Es würde ein leichtes sein, so dachte er, dem Ungeheuer den Garaus zu machen.
 

In diesen Moment, als er an der Mitte des Drachen vorbeiging, da schlug dieser plötzlich heftig mit seinem Schwanz aus. Jaron konnte sich kaum umdrehen, da erwischte es ihn. Der Stoß traf ihn heftig, direkt in den Rücken. Laut schrie der Mann von Schmerzen auf. Der Hieb war so kraftvoll, dass er weit geworfen wurde. Nur ein paar Schritte vom Zaun des Dorfes blieb er liegen. Seine Axt, die ihm aus der Hand gefallen war, flog nicht weit, und sie verweilte neben dem Drachen im Gras.
 

Mühsam versuchte sich Jaron aufzurappeln. Er stemmte sich auf einem Arm hoch, doch schnell begann er zu zittern, und er konnte sich kaum aufrecht halten. Er hustete heftig. Mit dem Speichel kam auch Blut aus seinem Rachen, und der Mann stöhnte auf. Er erschrak, als er das Blut sah.
 

Nur mit viel Mühe konnte Jaron aufstehen. Seine Beine zitterten stark, und er konnte das Gleichgewicht kaum halten. Auch konnte er sich nicht richtig aufrichten; Schmerzen in der Brust machten das unmöglich. Er hielt sich den Brustkorb, und da fühlte er, dass ein paar Rippen gebrochen waren. Sein Herz schlug schnell. Noch einmal hustete er, und wieder war es Blut, das mit herauskam.


Jaron wollte einen Schritt machen, doch es gelang ihm kaum. Seine Beine waren schwach, und sie brannten vor Schmerz. Er taumelte, und schließlich hielt er sich am Palisadenzaun fest. Die Welt um ihn begann sich plötzlich zu drehen. Ihm wurde schwindlig, und hätte er sich nicht am Zaun festgehalten, so würde er gewiss gleich wieder auf die Knie fallen. Schmerzen durchzuckten seinen ganzen Körper.
 

König Zahn brüllte laut. Nicht vor Schmerz, doch vor Wut und Verbitterung. Er war erzürnt über diesen Mann, dieses kleine Geschöpf, das solche Wunden gerissen hatte, ihm solche Qualen zugefügt hatte. Sein Schrei klang zornig, und seine blutroten Augen waren fest auf Jaron gerichtet.
 

Dieser erstarrte. Er vergaß seine Schmerzen, als er den hasserfüllten Blick des Drachen auf sich ruhen sah. In diesem Moment bekam er es heftig mit der Angst zu tun. Panik erfüllte jeden Teil seines Körpers und seiner Seele. Ihm wurde bewusst, dass er seine Äxte verloren hatte, und mit bloßen Händen konnte er nichts ausrichten. Seine Beine waren schwer. Sie schmerzten, und ihm war schwummrig. Jaron wurde klar, dass er nicht davonlaufen konnte, und sich wehren erst recht nicht. Als König Zahn ihn anknurrte, da war ihm bewusst, dass er nun sterben würde.
  

Geschwächt fiel Jaron vor dem Drachen auf die Knie. All sein Mut und seine Zuversicht hatten ihn verlassen. Eben noch überzeugt, den Drachen im Alleingang töten zu können, so war er sich nun sicher, dass dies sein Ende war. Ohne Waffen und ohne Wagemut, was sollte er da noch ausrichten?
 

König Zahn brüllte noch einmal laut. Er brüllte Jaron ins Gesicht, und sein Atem roch nach Tod. Ohne sich um sein fehlendes Bein zu kümmern, machte er einen Schritt vorwärts und schickte sich an, seinen verhassten Angreifer zu zermalmen.
 

In diesem Moment lief Thêl herbei. Er hatte sein Schwert gezogen, und als der Drache herankam, da verpasste er ihm einen Hieb mit seiner Klinge. Das Ungetüm zuckte für einen Moment zurück und knurrte, doch sogleich blickte er die beiden Menschen wütend an. Er ließ sich nicht von einem Mann und einem so kleinen Stück Metall beirren.
 

Rasch griff Thêl Jaron mit seiner freien Hand unter die Schulter, und versuchte ihm aufzuhelfen.

„Auf, Jaron! Hoch! Ihr müsst es schaffen!“ rief er, und dabei ließ er den Drachen keinen Moment aus den Augen.

Mit viel Mühe schaffte es Jaron, sich aufzurappeln. Seine Beine bebten, und wäre Thêl nicht gewesen und würde ihn mit einer Hand stützen, so wäre er sicher gleich wieder umgefallen.
 

Gemeinsam machten die beiden Männer kleine Schritte rückwärts, stets langsam. Sie vermieden hastige Bewegungen, um König Zahn nicht noch mehr zu reizen. Sie ließen ihn dabei nicht aus den Augen, und Thêl hielt sein Schwert bereit.
 

Jaron konnte kaum gehen. Jeder Schritt schmerzte ihn, und seine Beine gaben dabei nach. Nur dadurch, dass er gestützt wurde, konnte er sich einigermaßen bewegen.
 

König Zahn starrte die beiden Männer an, die sich schleppend von ihm wegbewegten. Dies schien ihn zu verwirren, denn er blickte beide immer wieder an, erst Jaron und dann Thêl. Doch in seinen Augen brannte dasselbe Feuer wie eh und je, und er würde sie ganz sicher nicht aufgeben.
 

Plötzlich stemmte der Drache seine Beine fest in den Erdboden. Er öffnete sein gewaltiges Maul und hielt dann inne. Will blickte den Geschehen voll Neugier zu, und er bekam ein mulmiges Gefühl bei diesem Anblick. Währenddessen war Eeza zu ihm gelaufen, und gemeinsam warteten sie mit rasenden Herzen, was passieren würde.

Es dauerte nicht lang, da spürten sie einen Sog, der von König Zahn zu kommen schien. Anfangs nur schwach und nicht mehr als ein laues Lüftchen, nahm er über Kurz immer mehr zu. Bald war der Sog so stark, dass sich Will gegen den Zaun stemmen und die Beine fest in den Boden drücken musste, denn sonst wäre er wohl fortgerissen worden. Blätter und Äste flogen vorbei. Sogar ein abgetrennter Arm von einem der getöteten Männer wirbelte durch die Luft. Alles wurde angesaugt und landete direkt im aufgerissenen Schlund des Drachen.
 

Thêl und Jaron wurden ebenfalls von der starken Anziehungskraft des Soges erwischt. Sie liefen noch schneller, und es gelang ihnen, ihre Beine auf dem Boden zu behalten. Doch sie kamen kaum vorwärts, so stark wurden sie gezogen.
 

Dann, mit einem Mal, hörte der Sog auf. Einfach so war es wieder still. Thêl und Jaron fielen beinahe um, weil sie sich plötzlich nicht mehr gegen den Wind stemmen mussten. Will konnte nun wieder sicher hinter dem Zaun durchs offene Dorftor blicken.
 

König Zahn stand reglos da, sein Maul stand noch immer offen. Er bewegte kein Bein, kein Muskel zuckte. Selbst sein Schweif, der sonst durch die Gegend peitschte wie wild, rührte sich nun nicht. Es war, als wäre der Drache versteinert.
 

„Was nun?“ fragte Will besorgt. „Was tut er? Spuckt er gleich Feuer?“ Dabei ließ er seinen Blick nicht von dem Untier.

„Nein, das nicht.“ erwiderte Eeza. „Dazu ist er nicht fähig. Doch…“
  

Mehr konnte Eeza nicht mehr sagen, denn mit einem Mal kam wieder Leben in den Drachen. Er machte eine schnelle Kopfbewegung, als würde er niesen. Und dann kam ein gewaltiger Wind aus seinem Maul. Es war wie ein Sturm, stark und zerstörerisch, doch er war zielgerichtet. Eine schwache Böe ging ihm voraus, und gleich dahinter folgte ein Orkan, der so stark war, dass er Bäume und Steine mit sich riss. Der Wind war genau auf Thêl und Jaron gerichtet, und die beiden konnte sich vor Schreck nicht mehr rühren. Sie standen wie angewurzelt, mit Angst auf dem Gesicht und der Gewissheit, dass sie nichts tun konnten, um sich zu schützen.
 

Der Wind riss einen Baum aus, der in seinem Weg stand. Er flog durch die Luft, unaufhaltsam, direkt auf die beiden Männer zu. Nur ganz knapp verfehlte er Jaron's Kopf, er wirbelte rechts von ihm vorbei. Mit einem lauten Donnern brach er durch den Palisadenzaun. Dabei krachte er entzwei und blieb hinter dem Zaun, nur knapp neben Will, liegen.
 

Thêl und Jaron starrten den Baum sowie das Loch im Zaun an, und Panik machte sich auf ihren Gesichtern breit. Sie wussten, dass es ihnen nicht besser ergehen würde, würden sie von dem Sturm davongetragen werden. Thêl wurde wütend, dass er nichts tun konnte als auf das Unvermeidliche zu warten. Dies war nicht der Tod, den sich ein Krieger wie er erhoffte.
 

Im nächsten Moment, da hatte sie der Sturmwind auch schon erfasst. Thêl hielt sich seine rechte Hand schützend vors Gesicht, sein Schwert noch immer in der Hand. Mit seiner Linken hielt er Jaron's Schulter fest, da dieser unmöglich von selbst gegen den Sturm ankämpfen konnte. Panisch machte er sich so schwer wie möglich, damit er ja nicht davongeweht werden würde. So stark war der Wind, dass das fast unmöglich war, vor allem da er Jaron noch halten musste. Doch Thêl wollte mit allen Mitteln verhindern, dass einer von ihnen davongeweht wurde. Noch waren sie nicht tot, und diesen Zustand wollte er bewahren, solange er konnte.
 

Plötzlich, ohne jede Vorwarnung, da nahm Jaron all seine Kräfte zusammen. Er packte Thêl’s Hand, die auf seiner Schulter ruhte, riss sie von sich und schubste Thêl so weit weg wie er nur konnte. Besonders stark war der Stoß nicht, vor allem für einen Mann von Jaron’s Stärke. Doch es war genug, um Thêl aus der Bahn des Sturm zu bringen, außer Gefahr. Aber diese Aktion hatte Jaron all seine Kraft gekostet, und er sank beinahe wieder auf die Knie, doch der Wind war dafür zu stark. Nun hatte er keine Energie mehr, mit der er gegen den Orkan ankämpfen konnte.
 

Thêl streckte noch seine Hand aus, um Jaron festzuhalten, doch es war zu spät. Nur einen Augenblick später, da wurde er von seinen Füßen gerissen. So schnell, dass man es kaum mitbekam, wirbelte er durch die Luft, und donnerte kurz darauf gegen den Palisadenzaun. Er durchbrach ihn sogleich, und laut schrie er auf. Doch er wurde noch weiter geweht, in Richtung des Gasthauses, das unweit hinter dem Zaun stand. Mit einem Krachen, laut, von Holz und Knochen gleichermaßen, barst er durch die dicke Mauer des Gasthofes. Noch einmal schrie Jaron auf, lauter und schmerzvoller als zuvor. Dann war ein Poltern zu hören, und dann nichts mehr.
 

Das Loch, das in der Mauer des Gasthauses prangte, schien zu qualmen. Holzsplitter lagen rundherum verstreut, und einige wenige, durch die Wucht des Windes gelockert, fielen leise zu Boden. Auch der Zaun um das Dorf sah schlecht aus. Zwei große Löchern waren darin, und auch hier lagen überall Splitter und Bruchstücke. Gewaltig war der Schaden, den der Drache angerichtet hatte.
 

Doch das war Eeza und Thêl und Will egal. Zäune konnte man reparieren, und Wände mit ein paar Stücken Holz ausbessern. Doch ein Menschenleben konnte man nicht ersetzen. War es einmal weg, dann konnte man es nicht mehr zurückbringen.
  

Stille lag auf dem Platz vor Cestilla. Nur ein paar Vögel zwitscherten, und eine sanfte Brise ließ die Bäume flüstern. Doch sonst rührte sich nichts. Thêl, Eeza und Will starrten entsetzt auf das Loch im Gasthaus. Keiner der drei konnte fassen, was gerade passiert war. Will am allerwenigsten. Er hatte erlebt, dass Jaron kein guter Mensch war. Er war kein Held, selbstlos und mutig, wollte er sich doch auf die Seite der Feinde schlagen. Umso überraschender war es, dass die letzte Tat seine Lebens darin bestand, Thêl das Leben zu retten. Diese Selbstlosigkeit erstaunte ihn sehr, doch gleichzeitig beneidete er sie auch.
 

Eeza und Thêl dagegen konnten kaum fassen, dass der Mann, der sich dem Drachen so mutig entgegengestellt hat und ihm solch schwere Verletzung zugefügt hatte, so plötzlich tot war. Für einen Moment, da hatten sie beinahe so etwas wie Hoffnung gehabt, dass sie das Untier doch noch bezwingen konnten. So tapfer hatte Jaron gekämpft, so mutig und so stark. Doch nun war alle Hoffnung dahin.
 

„Jaron!“ brüllte Thêl plötzlich. Sein Schrei war verzweifelt, und gleich darauf fiel er auf die Knie. Er hielt sich seine Augen, und Will glaubte, ein paar Tränen darin zu sehen.
 

In diesem Augenblick, da schrie der Drache. König Zahn war wieder erwacht, wie es schien. Er blickte Thêl an, und der Zorn war wieder in ihm. Die Glut brannte in seinen Augen, die ihn gegen seine Feinde vorgehen ließ.
 

Als Thêl den Blick des Drachen auf sich spürte, da er sah das Untier an. Ihre Blicke trafen sich. Da plötzlich stand der Krieger auf, und er umfasste sein Schwert mit beiden Händen. Fest presste er den Griff seiner Waffe, und eine unbändige Wut überkam ihn. Seine Augen verengten sich, und er bleckte die Zähne. Sein Gesicht zierte eine Maske des Zorns und des Hasses.

„Du Monster.“ grollte er. „Wie kannst du es wagen. Dafür schlage ich dir deinen hässlichen Schädel ab.“

Darauf antwortete der Drache nichts.
 

Mit einer schnellen Bewegung hob Thêl das Schwert über seinen Kopf, und schon wollte er sich auf König Zahn stürzen. Doch da ging plötzlich Eeza dazwischen und hielt seine Hand fest.

„Nein. Das ist Wahnsinn!“ sagte er laut. „Ihr könnt nichts ausrichten. Er würde Euch genauso töten. Ein sinnloses Opfer. Kommt!“

Thêl zögerte für einen Moment. Er blickte zuerst Eeza an, dann den Drachen. Schließlich aber gab er dem Alten nach. Er senkte das Schwert, und so schnell die Beiden laufen konnten, eilten sie ins Dorf. König Zahn folgte ihnen, doch sein fehlendes Bein hinderte ihn, und er konnte nicht mit den Beiden mithalten.
 

„Komm, folge uns. Hier kannst du nur auf den Tod warten, und das hat keinen Sinn.“ rief Eeza Will zu, der noch immer hinter dem Zaun stand und das Geschehen verfolgte.

Will nickte, und hastete hinter den Beiden her.
 

Sie waren nur etwa zwanzig Schritte ins Innere von Cestilla gelaufen, da hielt Eeza inne und drehte sich zum Dorftor um. Der Drache hatte es inzwischen beinahe erreicht. Der alte Mann machte eine schnelle Handbewegung, und wie von Zauberhand schlossen sich die beiden Flügel des Tores von selbst. Ein schwerer Holzbalken fiel in die Halterungen, rastete ein und sperrte das Tor von innen.
 

Als die Tat vollbracht war, holte Eeza wieder zu Thêl und Will auf, die auf ihn gewartet hatten. Gemeinsam eilten sie noch tiefer ins Dorfinnere vor.
 

„Denkt Ihr, das wird ihn aufhalten, Eeza?“ sagte da Thêl.

„Nicht für lange, soviel ist sicher.“ erwiderte der Alte. „Doch sind Drachen nicht mit großem Verstand gesegnet. Für einige Minuten wird es uns Ruhe verschaffen.“

„Einige Minuten …“ sagte Thêl düster. „Einige Minuten. Das ist wenig, meine ich. Zu wenig, um einen Weg finden, das Untier zu töten, an dem schon so viele gescheitert sind.“

„Es mag wenig sein.“ warf Will ein. „Doch jede Sekunde mehr ist nützlich.“

Eeza nickte daraufhin, und er lächelte. „Das ist wahr.“ sagte er.
 

Eeza und Will gingen sogleich weiter, doch Thêl rührte sich nicht. Wütend starrte er das verschlossene Tor an, hinter dem der Drache lauerte, und seine Hand ruhte auf seinem Schwert.

Als Eeza dies bemerkte, da ging er zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter.

„Ich weiß, was Ihr fühlt.“ sagte er. „Ihr trauert um Jaron, und um die anderen. Nichts würdet Ihr lieber tun als da hinaus zu stürmen und Fungawar Euer Schwert näherzubringen. Doch das wäre Selbstmord, das wisst Ihr genauso gut wie ich.“ Als der Alte dies sagte, blickte ihn Thêl an; nicht wütend aber bekümmert. „Jaron’s Opfer war groß. Aber es soll nicht umsonst gewesen sein. Ich verspreche Euch, dass Ihr die Gelegenheit bekommen werdet, Rache zu üben.“ Daraufhin nickte Thêl, und er folgte Eeza.
   

So rannten die Drei zum Hauptplatz des Dorfes, und dort sagte Eeza: „Thêl, wir werden zu Indúlas dem Dorfältesten gehen. Seine Weisheit brauchen wir, und drei Geisteskräfte sollten eine Lösung finden.“ Zu Will aber sagte er: „Lauf zu Armári’s Haus, das kennst du schon. Versteck dich dort. Du solltest dort sicher sein. Ich habe Duncan angewiesen, sich auch dort zu verbergen.“
 

Will tat, wie ihm geheißen, und während Thêl und Eeza zum Haus des Dorfältesten gingen, das rechts des Dorfplatzes war, flitzte er in Richtung von Armári’s Haus, wo er seine Nächte verbracht hatte und das im Nordosten des Dorfes lag.
 

Es dauerte nicht lange, und da hatte er es auch schon beinahe erreicht. Hinter ihm krachte und rumorte es, und ein Brüllen war zu hören. Will drehte sich erschrocken um. Es war König Zahn, der versuchte, sich gewaltsam Zutritt nach Cestilla zu verschaffen. Er rammte das Tor mit dem Kopf, und er schlug es mit dem Schwanz. Doch obwohl es nur aus Holzstämmen war, so hielt es stand. Der Zauber, der darauf lag, machte es fest und unnachgiebig und schenkte den Dorfbewohnern etwas Zeit. Allerdings würde es nicht ewig halten. Will war besorgt deswegen, denn er wusste nicht, was war, wenn der Drache es durchbrechen würde. Er dachte daran, was man dann tun könnte, wenn es soweit war. Doch außer Verzweiflung und Tod kam ihm nichts in den Sinn.
 

„He, komm schon.“ ertönte da plötzlich eine Stimme nur unweit vor ihm. Will blickte nach vorn, und da stand Duncan, und er winkte ihm zu. Will war froh, ihn zu sehen. Doch auch in Duncans Gesicht waren Sorge und Mutlosigkeit. Nur zu verständlich, da er noch jünger war als Will. Für ihn musste das Ganze noch schrecklicher sein.

Will wollte sich schon anschicken, zu ihm zu gehen. Doch plötzlich spürte er etwas. Es kam aus dem Nirgendwo, völlig unvorbereitet. Es war in seinem Kopf, in seinem Verstand. Er hielt sich den Kopf, als hätte er Kopfschmerzen. Für einen Moment wurde ihm schwindlig, und auf einmal riss ihn etwas wach, als wäre er eingeschlafen, doch das war er nicht. Die Welt um ihn drehte sich, und er wankte für einen Augenblick, aber es war gleich wieder vorbei.
 

Da hörte er etwas in seinem Kopf. Jemand sprach zu ihm. Er bildete sich ein, jemand würde seinen Namen rufen. Doch da waren keine Worte, keine Stimme. Trotzdem verstand Will, was dieses Gefühl, dieser Eindruck, dieses Etwas in seinem Verstand zu ihm sagte. Es rief nach ihm. Rief ihn zu sich. Er wusste nicht, woher es kam, doch er wusste, wohin es ihn rief. Er hatte keine Ahnung, woher er es wusste. Es war, als hätte man ihm Wissen gegeben, das vorhin nicht da war.
 

Eeza’s Haus. Dorthin hieß es ihn, dorthin musste er gehen. Er wusste nicht warum, doch es war ihm gleich. Alles um ihn war plötzlich egal. Der Drache. Die Menschen. Der Tod. Mit einem Mal war es unwichtig. Was zählte, war das in seinem Kopf, das nach ihm verlangte.

Ohne zu zögern ging Will los. Zielstrebig marschierte er in Richtung Eeza’s Haus. Nichts würde ihn aufhalten.
 

Nein, ganz so war es nicht. Es war, als würde nur noch das Ziel existieren. Das Dorf, seine Bewohner und alles andere waren nicht mehr da, als wären sie vom Antlitz der Welt verschwunden. Um ihn herum schien nur mehr das Nichts zu sein und das Ziel, das vor ihm lag. Etwas anderes gab es für Will nicht.
 

„Was tust du?“ schrie Duncan plötzlich. „Was soll das? Wohin gehst du?“ Er war verwirrt ob des plötzlichen Sinneswandels von Will, und erstaunt sah er zu, wie sein Freund plötzlich nach links bog und den Weg zwischen den Häusern entlangging, der zu Eeza’s Haus führte.
 

Will’s Schritte waren schnell. Er rannte nicht, aber er ging auch nicht. Er marschierte schnell und zielstrebig, mit Eifer und Drang. Er bewegte sich wie jemand, der genau wusste, was er tat und wohin er ging, und der sich von niemandem aufhalten lassen würde.
 

Duncan lief zu ihm. Es fiel ihm nicht schwer, mit ihm Schritt zu halten. Einige der Dorfbewohner öffneten ihre Tür oder lugten aus dem Fenster, mit verängstigten Augen und doch neugierig, was da vor sich ging.
 

Duncan stellte sich vor Will, rief wieder seinen Namen. Mehrmals, mal laut, mal drängend, wie eine Mutter zu einem Kind, das nicht gehorchen wollte. Er fragte, was er tat und versuchte, ihn zum Umkehren zu überreden. Doch Will ignorierte ihn. Er ging einfach weiter. Ohne dabei etwas zu sagen, schubste er ihn einfach zur Seite. Dabei verzog er keine Miene, sagte nichts. Er blickte Duncan nicht einmal an. Für ihn gab es Duncan nicht, nur das Ziel, zu dem er zu gelangen suchte.
  

Es dauerte nur wenige Minuten, bis Will Eeza’s Haus erreicht hatte. Duncan folgte ihm, denn er hatte eingesehen, dass er Will nicht aufhalten oder gut zureden konnte.

Mit Schwung öffnete Will die Haustür, und ohne zu Zögern ging er hinein. Duncan schlich Will hinterher. Er ging auf leisen Sohlen. Warum wusste er selbst nicht, er tat es einfach ohne darüber nachzudenken. Er war sich unsicher, was mit Will los war, und er wusste nicht wie er auf einen Verfolger reagieren würde. Dabei wäre es völlig unnötig gewesen: Will beachtete ihn überhaupt nicht, egal ob er offen oder im Verborgenen ging. Für ihn existierte Duncan in diesem Moment nicht.
 

Nachdem er Eeza’s Haus betreten hatte, da steuerte Will zielstrebig eine Leiter an, die rechts neben der Tür zwischen zwei Bücherregalen stand. Sie führte ins Obergeschoss, anstatt einer Treppe, und dort kletterte Will hinauf.
 

Duncan wartete, bis Will die letzte Sprosse erreicht hatte, und dann erklimmte auch er sie. Geschwind stieg er empor. Die Leiter knarzte bei jedem seiner Schritte. Es kostete ihn wenig Anstrengung, und rasch war er oben. Als er angekommen war, ließ er seinen Blick schweifen, und es dauerte nicht lange, bis er Will entdeckt hatte. Er stand nur wenige Schritte von ihm entfernt, neben einigen Stapeln Büchern, einem Leinensack und ein paar vergilbten Schriftstücken, die zusammengerollt herumlagen. Will, beleuchtet durch Tageslicht, das durch ein Fenster neben ihm hereinströmte, war nach links gewandt, und sein Blick ruhte auf einer großen Truhe unweit von ihm. Aus hellem Holz war sie, mit silber-grauen Metallbeschlägen.
 

Will tat ein paar Schritte auf die Truhe zu, und als er davor stand, da kauerte er sich nieder. Duncan blieb bei der Leiter stehen und beobachtete ihn.

Als Will vor der Kiste hockte, betrachtete er sie für eine kurze Weile, und dann griff er danach.

„Halt! Was tust du?“ rief Duncan, als er dies sah. „Was soll das? Du darfst nicht…“

Doch Will hörte nicht. Mit einem kräftigen Ruck klappte er den Deckel der Truhe nach oben. Sie war nicht verschlossen, und sie knarrte ein wenig. Etwas Staub, der auf dem Deckel war, rieselte herab.

Ohne zu Zögern griff Will mit seiner Rechten in die Truhe, und Duncan sah nur zu und sagte nichts. Er war verwirrt ob des seltsamen Verhaltens seines Freundes.
 Als Will die Hand wieder herausholte, da hielt er ein Schwert. Als er es genommen hatte, stand er wieder auf. Es war ein großes Schwert, mindestens 3 Fuß lang. Sein Griff war aus dunklem Metall, das blau schimmerte. Es war ein dunkles Blau, viel dunkler als das des tiefen Meeres. Sein Heft war breit, und es hatte an jeder Seite eine Spitze, die sich in Richtung des Schwertendes streckte. In der Mitte des Heftes, da war ein Juwel eingefasst, das rot schimmerte, wie die untergehende Sonne, bevor sie hinter dem Horizont verschwindet. 

Will betrachtete das Schwert eingehend. Er blickte es an, von oben bis unten, und er strich über die breite Klinge. Duncan sah noch immer zu, und er beobachtete, wie Will das Schwert hin und her schwang, als würde er die Luft schneiden. Er war erstaunt, denn die Hiebe sahen gekonnt aus. Es war, als hätte Will schon sein ganzes Leben mit dem Schwert geübt, dabei war das Gegenteil der Fall.
 

Mit einem Mal spürte Duncan, dass etwas in der Luft lag. Er wusste nicht, was, doch er spürte eine Veränderung. Es war wie eine Energie, unsichtbar, doch für alle spürbar.

Auch Will spürte etwas, und er sah das Schwert verwundert an. Da sah er, dass das Juwel im Schwert zu leuchten begann. Erst ganz schwach und kaum bemerkbar, glühte es bald hell und kräftig. Will bekam es mit der Angst zu tun, doch etwas in ihm hielt ihn davon ab, das Schwert loszulassen. So stark seine Furcht auch war, genauso stark war auch sein Wille, die Klinge zu halten.
 

Das Juwel im Schwert glühte mehr und mehr, und plötzlich war es, als würde es zerbersten. Eine gewaltige Explosion von Licht ging durch den Raum. Will und Duncan hielten sich die Augen zu, dass sie nicht geblendet wurden. Der Explosion folgte eine Druckwelle aus rotem Licht, lautlos, die sich kreisrund nach allen Seiten ausbreitete. Sie fuhr durch Will, Duncan, und durch alles in Eeza’s Haus, doch sie schien nichts zu berühren, denn keiner der beiden spürte etwas, und nichts in dem Haus bewegte sich, als das Licht es streifte. Schließlich drang das Leuchten durch die Wände hinaus, und dann war es in Eeza’s Haus wieder so düster wie vorhin. Das Licht aber bewegte sich draußen weiter, denn es strahlte noch durch die Fenster herein, immer schwächer, je weiter es sich wegbewegte.
 

Lange erzählte man sich von diesem Phänomen. Es hieß, dass das rote Licht in ganz Aramar zu sehen gewesen war: ein blutrotes Leuchten, wie Mondlicht, doch um ein Vielfaches heller und kräftiger. Es raste über die Ebenen und durch Wälder und sogar übers Meer, so schnell wie eine Horde wilder Pferde. Doch es hinterließ keine Spuren. Was es berührte, ob Baum, ob Stein, ob Haus oder ob Mensch, dem passierte nichts, und wen es streifte, der blieb unverletzt.

Gairalthil wurde es genannt, der rote Schein. Keiner der Menschen in Aramar wusste, was es zu bedeuten hatten, denn in keiner Schrift, in keinem Dokument und keinem alten Buch wurde es erwähnt. Viele sahen es als ein Zeichen, ein Vorzeichen großer Ereignisse, die noch kommen mochten. Für andere war es ein Vorbote des Untergangs, der die kommende Zerstörung und Vernichtung der Welt ankündigt.
 

Es heißt, dass die Diener von allem, was dunkel und böse war, das Licht sahen und große Angst bekamen. Sie versteckten sich für einen Tag in dunklen Wäldern, Höhlen und im Schatten. Sogar die dunklen Könige und ihre Untergebenen sahen es, und sie wurden verstört und unsicher. Nur einer in seinem Turm, der sich der Feind des Friedens aller Länder nannte, sah es und blieb ruhig. Er hatte eine Ahnung, was es bedeutete, und seine Gedanken wurden rastlos und düster.

Von diesem Tag wurde in Aramar noch lange gesprochen.
 

Auch Thêl und Eeza, und der Dorfälteste in seinem Haus sahen es. Sie verließen das Haus, und sie blickten dem Licht nach, das schnell in der Ferne verschwand. Die Dorfbewohner kamen aus ihren Häusern, denn auch sie waren verwirrt, und sie trafen sich und sprachen miteinander. Sie schüttelten die Köpfe und rätselten, was dies zu bedeuten hatte. Keiner jedoch wusste eine Antwort, die den anderen befriedigte. Nur Eeza folgte dem Licht mit den Augen, so gut er konnte, und er lächelte.
  

In Eeza’s Haus war alles still. Das rote Licht hatte sich verzogen, und nur noch Kerzen, die einen ruhigen, lauschigen Schein verbreiteten, beleuchteten das Innere. Duncan blinzelte ein paar Mal und rieb sich über das Gesicht, um sich wieder an das düstere Licht zu gewöhnen.

„Was zum Teufel war das?“ murmelte er, und lauter sagte er schließlich: „He, Will, hast du eine Ahnung, was…?“
 

Bevor er diesen Satz beendete, da blickte er zu seinem Freund hinüber. Er erschrak, als er ihn da liegen sah. Will lag auf dem Boden, mit dem Gesicht zur Wand gedreht, und seine Hand umklammerte noch immer das Schwert, das jetzt wieder so matt glänzte wie zuvor, und nichts wies auf das hin, was gerade eben passiert war.
 

Duncan eilte sofort zu Will hinüber. Er schüttelte ihn ein paar Mal und rief seinen Namen, doch er bekam keine Antwort. Er wurde ängstlich, und rasch drehte er Will auf den Rücken. Er versuchte dabei, seine Hand zu lockern, die das Schwert umklammerte, doch so sehr er sich auch mühte, er konnte seinen Griff nicht lösen. Trotz dass Will ohnmächtig war, so schien eine Kraft in ihm zu sein, die das Schwert nicht hergeben wollte. Dies machte Duncan Hoffnung; hieß es doch, dass er nicht tot war. Doch er machte sich auch Sorgen, was es mit dem Schwert auf sich hatte.
 

Duncan horchte an seines Freundes Brust, ob denn sein Herz noch schlug, und er war erfreut, als er seinen Herzschlag hörte. Er überlegte gerade, was er denn nun tun sollte, als Will mit einem Mal die Augen aufriss. Ganz plötzlich und ohne Vorwarnung geschah dies, und es war, als wäre er aus einen tiefen Alptraum erwacht. Er setzte sich ruckartig auf und atmete schwer. Verwirrt blickte er sich um, als wüsste er nicht, wo er war. Dann erblickte er Duncan, und als er ihn sah, da wurde sein Geist wieder freier.

„Gott sei Dank. Ich dachte schon, du wärst tot.“ sagte dieser und lächelte.

Will sah ihn weiter an, und mehr und mehr lichtete sich der Nebel in seinem Kopf, und die Schleier verschwanden. „Duncan?“ sagte er schließlich.

„Geht es dir gut?“ fragte dieser.

„Ja. Ja, ich denke schon.“ erwiderte Will. „Mir fehlt nichts.“

„Du scheinst verwirrt. Weißt du, was passiert ist?“ sagte Duncan.

„Ja, natürlich.“ antwortete Will. „Und doch, kaum. Die Erinnerung ist da, doch sie ist irgendwie düster, so jung sie auch ist. Da war etwas in meinem Kopf, wie eine Stimme, aber ich habe nichts gehört. Es sagte mir, ich solle hierher kommen und das nehmen, was mein ist. Ich weiß nicht… Ich habe es einfach getan, obwohl ich nicht wusste warum, oder was die Stimme wollte. Es war, als ob es sich an meiner Statt entschied. Und dann war da nur noch schwarzes Nichts. Es war wie wenn das Dorf von Finsternis verschluckt worden wäre. Dann sah ich nur noch mich, und das, wohin mich die Stimme verlangte. Ich sah es so hell und deutlich in der Finsternis wie den Vollmond in einem sternenlosen Himmel. Ich ging einfach dorthin, ohne Zögern, ohne Fragen.“

„Ja, ich habe dich gesehen.“ warf Duncan ein. „Du warst so abwesend. Als wäre dein Körper hier, aber dein Geist woanders.“

„Ich weiß, ich…“ meinte Will, doch mehr er sagte er nicht. Er hielt sich den Kopf, und blickte Duncan verwirrt an. „Mein Geist…“

„Ich habe sogar versucht, dich zu fragen, wohin du gehst, und dich aufzuhalten.“ sagte Duncan weiter. „Doch du hast mich nicht beachtet. Es schien, als würdest du mich gar nicht sehen. So als würde ich für dich nicht existieren.“

„Tatsächlich?“ entgegnete Will verwirrt. „Daran kann ich mich nicht mehr erinnern.“ Einen Moment dachte Will nach, ob dies denn auch stimmte. „Nein, ganz und gar nicht. Ich bin einfach durch die Finsternis gegangen, weiter auf das Ziel zu. Es gab keine Hindernisse, nichts. Ich… ich bin einfach gegangen, ohne zu denken, ohne zu urteilen, als wären meine Schritte gelenkt worden und waren gar nicht meine gewesen. Einfach der Stimme nach, die mich rief.

Ich bin dem Licht nachgegangen, und irgendwann war es direkt vor mir. Es… es sah aus wie eine Kiste, und ich habe sie einfach geöffnet. Da wurde das Licht noch stärker, und ich habe… einfach hineingegriffen. Ich fragte mich nicht wieso, es war mir egal. Ich tat es einfach, aus Instinkt, so wie man beim Husten die Hand vorhält. Und dann war da dieses Schwert… Ich hielt ein Schwert in der Hand, und das Licht verschwand, doch die Finsternis blieb. Und obwohl da nur Dunkelheit war, sah ich es so deutlich wie am Tag. Ich sah es an, und… Ich weiß nicht, es… ich dachte, es sprach zu mir. Jetzt bin ich mir nicht mehr sicher, doch ich bildete mir ein, dass es zu mir sprach. Ich konnte es nicht verstehen, aber ich glaubte es zu hören. Und dann war da plötzlich dieses andere Licht. Dieses rote Licht… es war so stark, dass es fast wehtat. Es schien mir so, als leuchtete es direkt in meine Seele.

Das nächste, was ich dann sah, war dein Gesicht. Alles andere weiß ich nicht. Ich…“ Will schüttelte den Kopf, und erneut hielt er sich den Kopf. Irgendetwas schien in seinem Geist zu sein, dass ihm zu schaffen machte. Da erblickte das Schwert, das er noch immer fest in der Hand hielt. Lange starrte er es an. „Das Schwert… Dieses Schwert…“
  

Plötzlich ertönte ein lautes Krachen, wie von splitterndem Holz, und dann ein Brüllen und Donnern. Das Geräusch kam von draußen. Will und Duncan schreckten auf. Die beiden wussten genau, was dies zu bedeuten hatte.
 

„Der Drache.“ keuchte Duncan.

 

Da stand Will auf, mit einem kräftigen Ruck, und fest umklammerte er den Griff des Schwerts. Duncan sah ihn an, wortlos, denn er erschrak, als er sein Gesicht sah. Will’s Miene war ernst und entschlossen, so wie Duncan sie noch nie gesehen hatte. Düster war sein Gesicht, und Hass schien darauf zu sein.
 

Ohne Duncan anzusehen oder irgendetwas zu sagen marschierte Will los. Er ging zu der Leiter, die nach unten führte, doch anstatt an ihr abwärts zu klettern, sprang er einfach hinab. Die Regale zitterten, als er lautstark unten landete, und Duncan fürchtete, er würde sich verletzen. Doch Will kümmerte sich gar nicht darum, er lief einfach weiter. Schwungvoll riss er die Türe von Eeza’s Haus auf und rannte hinaus. Duncan kletterte währenddessen rasch die Leiter hinunter, und er versuchte ihm zu folgen, so gut er es konnte.
 

Will stürmte eilends durch das Dorf, das Schwert in der Hand. Die Dorfbewohner, die ihn sahen, waren sehr verwundert. Sie blickten ihm nach, und einige riefen ihm zu, andere nicht.

Als er über den Dorfplatz raste, wo die meisten Leute standen, da erntete er verdutzte Blicke. Einige dachten, er wäre wahnsinnig geworden, und bekamen es mit der Angst zu tun. Andere winkten ihm freudig zu. Die meisten aber waren sehr verwirrt ob seines seltsamen Verhaltens.
 

Auch Thêl und Eeza standen dort, und als sie Will sahen, da rief Thêl: „Halt! Was tust du? Bist du von Sinnen?“ Doch Will hörte ihn nicht, er lief einfach weiter. Sogleich wollte ihn der Krieger aufhalten, doch Eeza hielt ihn zurück. Der Alte sagte nichts, als Thêl in anstarrte. Er schüttelte nur den Kopf.
 

Will stürmte weiter durch Cestilla, und bald hatte er das südliche Dorftor erreicht. Dieses war jedoch nicht mehr: der Zauber, der es gehalten und gestärkt hatte, war verwirkt, und König Zahn war nun durch die Torflügel gebrochen. Kaputt hingen sie da, und sie waren zerbrochen und standen offen. Der Drache streckte seinen hässlichen Kopf durch, und langsam marschierte er vorwärts, der Zerstörung des Dorfes entgegen.
 

Da lief ihm Will schon entgegen. Als er das Untier sah, da wurde seine Miene noch zorniger und bitterer. König Zahn blickte ihn verwundert an, als er ihn kommen sah. Er knurrte und grollte. Er schien amüsiert über das bewaffnete Geschöpf, das noch kleiner war als die anderen, die er bereits mühelos getötet hatte, und dass auch dieses nur mit einem Stock aus Metall und Eisen bewaffnet war.
 

Will kümmerte es nicht, was der Drache tat. Dass dieser brüllte, laut, und immer lauter, je näher er kam, darauf achtete er gar nicht. Fest entschlossen stürmte er heran, und fest umklammerte er das Schwert.
 

Thêl beobachtete dies, und sein Herz wurde schwer, als er den Jungen auf das riesige Monstrum zulaufen sah. Er fürchtete um sein Leben, und laut rief er seinen Namen. Als Will darauf nicht reagierte, rannte er los und wollte versuchen, ihn zu stoppen. Doch der Bursche war schon zu weit gelaufen, und er konnte ihn nicht einholen.
 

Will hörte es, als Thêl ihn rief, doch es war ihm gleich. Er drehte sich nicht um, er zögerte auch nicht oder machte Anstalten, stehen zu bleiben. Er eilte weiter auf König Zahn zu, mit Mut und Tapferkeit, und einer Entschlossenheit, wie man sie selten in den letzten Jahren in Aramar erlebt hatte. Die Dorfbewohner, die dies sahen, staunten sehr, und hätten sie es nicht gesehen, so hätten sie es wohl selbst nicht geglaubt.
  

Als sich Will und der Drache schon fast getroffen hatten, da brüllte das Biest laut und lang, und er öffnete sein scheußliches Maul weit, dass er seinen Angreifer einfach zerbeißen würde. Doch Will sah es kommen, und als er gerannt kam, da holte er weit mit dem Schwert aus. Als König Zahn zubeißen wollte, da schlug er zu. Die Klinge traf das Unterkiefer der Bestie. Der Schlag war wuchtig, und König Zahn taumelte zurück. Er schrie auf, und eine tiefe Wunde klaffte an seinem Kiefer. Will zögerte nicht, und sogleich hieb er erneut zu. Der Streich traf den Drachen an der rechten Seite seines Schädels. Erneut tat er einige Schritte rückwärts, und schließlich war er wieder außerhalb des Dorfes.
 

Als Thêl dies sah, da blieb er abrupt stehen. Er traute seinen Augen nicht und glaubte, sie waren durch einen Zauber getrübt. Nur wenige Stunden war es her, da war der Junge noch trübsinnig gewesen, und unsicher ob der auf ihn zukommenden Rolle. Nun aber kämpfte er mutig und fähig gegen einen Drachen, als hätte er das schon sein ganzes Leben lang getan.

„Völlig unmöglich.“ keuchte er. Er zweifelte nun, ob er wirklich Hilfe bedurfte.
 

König Zahn schüttelte seinen Kopf hin und her. Ein Regen aus Blut tropfte aus den beiden Wunden an seinem Kopf und ergoss sich auf die Erde. Der Drache schrie vor Schmerzen, doch mehr noch war er erzürnt, dass dieser kleine Mensch ihm solches Leid zufügte.

Seine roten Augen leuchteten, und wütend stierte er Will an. Dieser hob sein Schwert, und mit entschlossenen Augen erwiderte er des Drachen Blick.
 

Plötzlich machte das Biest einen schnellen Schritt vorwärts, und die Erde bebte. Sein Schweif schlug wild hin und her. Er öffnete das Maul, und mit einer raschen Bewegung versuchte er Will mit den Kiefern zu schnappen. Dieser machte jedoch einen Schritt zur Seite, und des Drachen Hauer bissen nur Luft. Doch König Zahn gab nicht auf, und mit einer hastigen Kopfbewegung drehte er sich Will zu. Erneut versuchte er ihn zu zerbeißen, und wieder wich der Junge geschickt aus. So wiederholte sich dies mehrere Male. Immer wieder wollte das Ungetüm seinen Gegner zermalmen, doch Will war zu schnell und zu wendig, als dass er ihn erwischte. Und jedes Mal, wenn die Kiefer des Drachen zusammenklappten, da strömte ein kurzer aber starker Wind davon weg, als würde die Luft vor seinen Zähnen fliehen.
  

So wollte der Drache Will zerbeißen, doch es gelang ihm nicht. Und dann, plötzlich, sprang der Junge nicht einfach weg. Er nahm das Schwert und hielt die Klinge empor, dem Drachen entgegen. Als dieser seine Kiefer zusammenklappte, da biss er mit aller Kraft auf den scharfen Stahl. So kräftig war sein Biss, dass die Spitze an der Stirn des Untiers wieder herauskam.
 

Noch bevor der Drache überhaupt schreien konnte, da zog Will das Schwert wieder heraus. Blut spritzte aus dem Maul und von der Stirn des Untiers. Will aber machte einen schnellen Satz zur linken Seite von König Zahn, und dort stieß er das Eisen kräftig in seine Seite. Das Monster grollte, und es machte eine schnelle Bewegung und wollte erneut zubeißen. Doch wieder war Will schneller und wich aus, bevor die starken Kiefer lautstark neben ihm zusammenklappten.
 

Für einen Moment starrten sich die Beiden an, und sie atmeten schwer. Der Kampf schwächte sie, doch waren sie beide wild entschlossen, nicht aufzugeben, bis der Gegner tot war.
 

Mit einem Mal hob Will sein Schwert mit beiden Händen, und dann rannte er entschlossen auf den Drachen zu. Noch im Lauf holte er mit dem Schwert aus und ließ König Zahn nicht aus den Augen. Dieser machte einen Schritt vorwärts, und weit öffnete er die Kiefer, um seinen Gegner zu empfangen.

Will jedoch hatte dies geplant. Wie zuvor machte er im letzten Moment eine Schritt nach links, und das Untier verfehlte ihn. Will aber tat dies nicht. Er verpasste König Zahn einen kräftigen Hieb mit der Klinge, hinter dem Kopf und über den Beinen, und er hinterließ einen langen, tiefen Schnitt in dem gewaltigen Leib. Sogleich schoss heißes Blut aus der Wunde, und vom Ungetüm war ein Wehklagen zu hören.
 

Doch Will hatte nicht damit gerechnet, dass sich der Drache kräftig zu Wehr setzen würde. Schon als er zum nächsten Schlag ausholen wollte, da peitschte König Zahn mit seinem Schweif und suchte den Jungen zu erschlagen. In dem winzigen Moment, bevor der Schwanz Will traf, da erinnerte er sich daran, wie dies Jaron zum Verhängnis geworden war. Er erinnerte sich, wie der eine Schlag alles veränderte und zum Verhängnis dieses Baums von einem Mann wurde.

In der allerletzten Sekunde hielt er das Schwert schützend vor seinen Körper. Mit einem lauten Donnern trafen sich Metall und Drachenschwanz. Will wurde durch den Stoß weggeschleudert, und unsanft landete er im Gras. Das Schwert blieb neben ihm liegen, und rasch ergriff er es. Dann rappelte er sich schnell wieder auf. Der Junge taumelte etwas, doch er war unverletzt. Wütend und entschlossen starrte er das Drachenungetüm an.
  

König Zahn grollte, und heiße Wut erfüllte seinen Geist. Seine zahlreichen Wunden bluteten stark, und er litt große Schmerzen. Obwohl nur geleitet von Instinkt und von einem bösen Willen, so wusste das Biest doch, dass er den Menschling nicht durch Beißen und Schlagen würde töten können. Er wusste, dass er noch eine Waffe hatte, die er nutzen musste, um den kleinen Störenfried zu beseitigen, um den dunklen Willen seines Herren zu erfüllen.
 

Fest stampfte König Zahn seine Beine in die Erde, und er öffnete das Maul weit. Und schließlich kam wieder der Sog auf, der alles, was sich nicht festhielt oder zu leicht war, in den Schlund des Drachen trieb.

Thêl und die anderen, die den Kampf beobachteten, versteckten sich hinter dem Palisadenzaun, um dem Wind zu entgehen. Will aber stak sein Schwert in den Erdboden und klammerte sich mit aller Kraft daran fest. Der Sog war stark, aber allein sein Wille war es, der es ihm erlaubte, einen festen Stand zu behalten.
 

Als Will den Drachen sah, wie er bewegungslos dastand und die Luft einsaugte, da kam ihm ein Gedanke. König Zahn konnte sich nicht bewegen, so dachte er, und war einem Angriff schutzlos ausgeliefert. Dies wollte er nutzen, um ihn zu erledigen.
 

Er zog das Schwert aus dem Boden und bewegte sich rasch auf das Untier zu. Der Wind aus des Drachen Maul zog ihn zu sich, doch bevor er ihn von den Beinen reißen konnte, machte er einige schnelle Schritte nach links und entging so der Sogwirkung. Frei von jeglichen Winden und Stürmen, lief er geschwind auf König Zahn zu, und noch während er rannte, hob er das Schwert über den Kopf, und er stieß einen gellenden Schrei aus.
 

Als Will nahe genug war, da sammelte er noch mal seinen Kraft. Mit Geschick ließ er das Schwert niedersausen. Doch bevor es das Fleisch des Drachen berühren konnte, da war plötzlich ein Zischen in der Luft, und plötzlich wurde er hart an der Seite getroffen. Er wirbelte durch die Luft, und nur unweit vom Kopf des Ungetüms blieb er liegen.

König Zahn starrte auf den Menschling, der jetzt unter seinen mächtigen Kiefern lag. Er knurrte zufrieden. Sein Schwanz war es, der Will erwischt hatte. Der Junge hatte das Untier unterschätzt, und nun lag er da, und er hatte Schmerzen.
 

Will war nicht sicher, ob er verletzt war. Schmerzen durchzuckten seine Körper, und das Atmen fiel ihm schwer. Doch er fühlte sich nicht schwach oder erschöpft, und er hätte mühelos aufstehen und weiterkämpfen können. Doch da war König Zahn, der nun über ihm stand und ihn drohend ansah. Seine Augen funkelten, und seine gewaltigen Zähne, die wie Fleischermesser waren, blitzten im Licht der Sonne. Sein Maul war wie ein tiefer Abgrund, von dem man den Grund nicht sehen konnte, so schwarz und tief.
 

Als Will den Drachen so über sich sah, da verließ ihn plötzlich der Mut. Seine Entschlossenheit schwand. Er blickte sich schnell um, und er suchte sein Schwert, das ihm aus der Hand gefallen war. Er fand es im Gras liegend, nicht weit von sich selbst, doch konnte er nicht danach greifen. König Zahn stand über ihm, bedrohlich. Will wollte nicht wagen, eine schnelle Bewegung zu machen, und er konnte den Drachen auch nicht aus den Augen lassen. Er war sich tatsächlich unsicher, was er denn nun tun sollte.
 

Da plötzlich brüllte der Drache, und dann erhob er sich, so weit er konnte. Er wollte Will mit seinem Körper, der so groß und schwer war wie ein Haus, einfach zermalmen. So schwang der massige Leib des Untiers für einige Momente in der Luft, und dann ließ er ihn mit einem Schrei niedersausen.

In diesem Augenblick sirrte ein Pfeil heran, und er traf König Zahn direkt in den Hals. Das Monster schrie auf und schwankte. Will nutzte diesen Augenblick und rollte blitzschnell aus dem Weg, zu seinem Schwert. Die Erde bebte, als der Körper des Drachen auf den Boden donnerte. Er verfehlte Will, und dieser atmete erleichtert auf.
 

Er blickte in Richtung Dorfeingang, aus der der Pfeil gekommen war. Dort stand Thêl, mit seinem Bogen bewaffnet. Seine Hand auf der Sehne zitterte, doch seine Augen waren ernst und entschlossen. Er hatte bereits einen weiteren Pfeil gespannt und wartete nur auf die passende Gelegenheit, ihn abzuschießen. Er blickte Will an, mit energischen Augen, doch er sagte nichts, sondern nickte nur. Will lächelte und nickte zurück.
 

König Zahn war wütend, und er brüllte laut und bedrohlich. Er achtete nun gar nicht mehr auf den Jungen zu seinen Füßen, denn er stierte Thêl zornig an. Als er auf den Krieger zulaufen wollte, da schoss dieser seinen zweiten Pfeil ab, und er war gut gezielt. Er traf den Drachen direkt in sein Auge. Das Untier schrie und brüllte, und er schüttelte den Kopf. Er hatte nun vollkommen den kleinen Mensch vergessen, den er eben noch zerstampfen wollte. All seine Aufmerksamkeit lag auf den Schmerzen und der Blindheit in seinem Auge. Dies nutzte Will zu seinem Vorteil.
 

Mit großem Mut rollte er sich so, dass er unter dem Kopf des Drachen war. Er blieb direkt auf dem Erdboden liegen. Als das Monstrum für einen Moment den Kopf ruhig hielt, da nahm er all seine Tapferkeit und seine Entschlossenheit zusammen, und er stieß ihm das Schwert direkt in die Kehle.
 

Mit aller Kraft trieb Will dem Untier die Klinge in Hals, immer tiefer, bis er beim Heft angelangt war und die ganze Spitze in seinem Körper steckte. König Zahn konnte gar nicht schreien, und da packte Will den Griff des Schwerts, und mit aller Kraft riss er das Schwert seitwärts heraus, so dass es durch den halben Hals der Bestie fuhr.
 

Eine Fontäne von Blut ergoss sich auf den Erdboden. Alles Gras rund um den Drachen wurde gebadet im Blut des Ungetüms. Sogar Will wurde davon getroffen, als er sich in Sicherheit rollte, doch es kümmerte ihn nicht. Rasch stand er auf, und mit ruhigem Blick beobachtete er den Todeskampf des Drachen.
 

Das Untier wand sich hin und her. Sein Brüllen war laut und kraftvoll, mehr als jemals zuvor, und es war weithin zu hören, sodass viele Vögel in der Umgebung ängstlich die Flucht ergriffen.
 

König Zahn blutete nun stark, und immer mehr Blut rann aus seinen Wunden, doch nirgendwo soviel wie aus seinem Hals. Von dort ergoss sich so viel, dass es kleine rote Pfützen bildete, und das Gras, das davon genässt wurde, wurde bald welk und verdorrte.

So ging es auch dem Drachen. Er wurde immer schwächer. Die Kraft, die ihn lenkte und der böse Wille, der ihn antrieb, und alles, was ihn mit Hass und Zorn erfüllte, wich aus ihm. Das Feuer, das ihn seinen Augen loderte, wurde schwächer. Er taumelte, und sein Kopf und sein Schweif gingen hin und her. Noch ein letztes Mal schrie er klagend auf, und dann fiel er nieder und rührte sich nicht mehr. König Zahn war tot.
 

In diesem Moment, da der Drachen verstarb, da war alles still. Kein Laut rührte sich. Weder Will noch Thêl noch sonst einer der Umstehenden wagte es, irgendetwas zu sagen. Sie waren zu erstaunt über das, was gerade eben passiert war. Sie freuten sich sehr, dass die Bedrohung vorbei war, und doch konnten viele nicht glauben, was ihre eigenen Augen gesehen hatten. Sogar Thêl, der schon so manches erlebt hatte, war verdutzt ob dessen, was Will eben geleistet hatte. Nur Eeza lachte, und seine Freude war groß.
 

Schließlich wagten sich die Dorfbewohner langsam vor die Tore von Cestilla. Sie gingen auf die Leiche des Drachen zu, und sie betrachteten sie und staunten. Thêl zog sein Schwert, und er stupste damit den Drachen an, mal hier, mal da. Dann nahm er seine Klinge, und mit einigen kräftigen Schlägen hieb er den Kopf von König Zahn ganz ab, dass er ja nie wieder aufstehen würde.
 

Auch Indúlas der Dorfälteste trat unter die Leute, die das Untier bestaunten, und er mochte seinen Augen nicht trauen. „Ich habe in meinem Leben schon so manches Wunder gesehen, von denen die Hälfte niemand erblickt hat und die andere Hälfte niemand glaubt.“ sagte er. „Doch das hier übertrifft alles. Ein Wunder von epischem Ausmaß, das ist es wahrhaftig.“ Und zu den Dorfbewohnern sagte er: „Lasst uns frohlocken und feiern. Der Drache ist tot, und Cestilla ist wieder sicher. So schwer er auch erkauft wurde, es ist doch ein Sieg. Dieser Tag soll ein Tag der Freude werden, an dem wir den Triumph feiern werden und all diejenigen, die starben, um ihn möglich zu machen. Doch wollen wir den Drachen nicht vergeuden. Sein Fleisch können wir essen, und seine Knochen verwerten. Seinen Schädel aber werden wir aufbewahren, als Erinnerung an diesen gar unglaublichen Tag.“ Und er wies die Leute an, den Drachen zu zerkleinern und ins Dorf zu bringen.
  

Will sah dem Treiben zu, und er sagte nichts. Schließlich ließ er sein Schwert aus der Hand gleiten, und dann stürzte er nieder und fiel ihn Ohnmacht. Thêl kam sofort herbei, und er schüttelte ihn und rief seinen Namen. Doch der Junge reagierte nicht. Thêl war sehr besorgt, doch da kam Eeza heran und sagte: „Keine Sorge. Er wird nicht sterben. Der Kampf hat nur all seine Kraft gekostet. Er muss sich ausruhen und neue Kräfte sammeln. Bringt ihn in Armári’s Haus, dort soll er schlafen und Ruhe pflegen. Wir werden uns um ihn kümmern.“
 

Also nahm Thêl den Jungen in seine Arme und hob ihn auf, und langsam trug er ihn ins Dorf hinein, weg vom Blut und vom Tod. Eeza hob das Schwert auf, das Will hatte fallen gelassen, und so gingen sie gemeinsam die Straßen des Dorfes entlang.
 

„Ihr habt viel riskiert.“ sagte das Thêl plötzlich zu Eeza.

„Was meint Ihr?“ erwiderte der Alte.

„Ihr habt das Leben des Jungen aufs Spiel gesetzt, Eeza.“ antwortete Thêl. „Und nicht nur seines. Das war ein gewaltiges Risiko. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das gutheißen kann. Fast schon unverantwortlich war es, was Ihr tatet. Glücklicherweise ist es gut ausgegangen, doch…“

„Aber warum denkt Ihr, dass dies mein Tun war?“ unterbrach ihn Eeza, und er lächelte.

„Ich kenne Euch gut, alter Mann.“ entgegnete Thêl. „Ich verstehe nicht, was hier vorgefallen ist. Warum der Junge ein solches Monstrum bezwingen konnte. Das alles ist mir schleierhaft. Doch eines weiß ich gewiss, Eeza: Ihr habt das alles geplant, nicht wahr?“

„Wenn Ihr meint…“ sagte Eeza verschmitzt, und er grinste.

„Hört auf!“ schrie Thêl. „So etwas ist unvertretbar. Außerdem wäre es mir lieber, Ihr hättet mich vorher davon in Kenntnis gesetzt. Ihr wisst, ich mag es nicht, wenn Ihr solch Geheimnisse habt. Das... das... das ist nicht richtig. Tut so etwas nie wieder.“ sagte er und zeigte drohend mit dem Finger auf den Alten.

„Wie Ihr meint.“ erwiderte Eeza. „Doch versprechen kann ich Euch nichts. Beruhigt Euch lieber. Freue Euch. Heute ist ein guter Tag.“

„Ein guter Tag? Ihr... Nicht auszuhalten ist das mit Euch“ grummelte Thêl. „Erklärt mir doch wenigstens, was hier passiert ist. Ich habe es gesehen und verstehe es nicht. Erklärt es mir.“
„Nur die Ruhe.“ sagte der Alte ruhig gelassen. „Alles zu seiner Zeit. Erstmal kümmern wir uns um den Jungen. Morgen ist auch noch ein Tag.“

Die Geschichte von Aramar

Stille lag über dem Dorf. Es war weniger als eine Stunde her, seit die Sonne aufgegangen war. Den Himmel schmückte noch ein rötlicher Schein, der sich langsam in ein helles Blau verwandelte. Die warmen Strahlen der Sonne küssten das Gras, noch feucht vom Morgentau, und die Blumen erwachten langsam aus ihrem Schlummer. Mit zarten und bedächtigen Bewegungen reckten sie ihre bunten Köpfchen gen Himmel und wärmten sie im Sonnenlicht.

Cestilla war in Nebel getaucht. Ein grauer Schleier hüllte das Dorf ein, und auch die Bäume und das Gras. In der Wärme und dem Licht der Sonne, die die Ebenen von Aramar füllte, begann sich der Nebel langsam aufzulösen. Allmählich wurde der Blick frei auf die weite Graslandschaft, die Cestilla umgab, und auf die bunte, lebendige Natur, und dies erfreute viele Gemüter.

Es beruhigte auch die, die befürchtet hatten, dass sich die Welt über Nacht verändert hatte oder gar verschwunden war. In dieser Zeit war es tatsächlich nicht ungewöhnlich, dieser Angst anheim zu fallen und sich zu fragen, ob die Welt morgen noch da sein würde.

Auch die Häuser des Dorfes waren von Nebel bedeckt. Gehüllt in grauen Dunst, waren sie schwer aus der Ferne auszumachen, und erst aus der Nähe wurden die braunen Mauern sichtbar.

Die Bewohner von Cestilla aber kümmerte der Nebel nicht, und auch nicht die Sonne oder der Himmel. All ihre Sorgen, all ihre Gedanken waren auf ein Haus im nordöstlichen Teil des Dorfes gerichtet. Ein Haus, in dem ein junger Mann lag, nicht von dieser Welt, der nicht aus seinem Schlummer erwachen wollte.

Zwei Tage waren vergangen, seit Will den grausamen König Zahn besiegt hatte; ein Vorfall, der von den Bewohnern von Cestilla als nichts Geringeres als ein Wunder angesehen wurde. Für die Leute war dies ein Tag der Freude und des Glücks gewesen. Sie hatten Freunde verloren, doch die meisten von ihnen lebten. Sie hatten gefeiert und getanzt, und mit freudigen Liedern die Nacht erfüllt.

Nur einer war ernst geblieben und hatte sich nicht von Fröhlichkeit und Alkohol die Sinne trüben lassen. Thêl hatte mahnende Worte gesprochen: „Unserer Feinde Ziel war es, uns alle zu töten und das Dorf dem Erdboden gleichzumachen. Dieses Ziel haben sie nicht erreicht, daher sollten wir annehmen, dass sie es wieder versuchen werden. Ich bitte euch, lasst nicht alle Vorsicht fallen.“ Alle hörten es, doch kaum einer hörte darauf. Sie waren trunken vom Sieg, und noch mehr vom Bier.

Nun aber, viele Stunden später, waren Freude, Jubel und Trunkenheit abgeklungen. Die Menschen gingen wieder ihrer gewohnten Wege. Sie pflegten ihre Gärten, hackten Holz oder kümmerten sich um die Felder vor den Toren des Dorfes. Den Schaden, den König Zahn angerichtet hatte, beseitigten Cestilla's fleißige Zimmermänner, Harthak und Faalis. Ihre Hämmer klopften einen ganzen Tag lang, ihre Sägen teilten einen Baumstamm nach dem anderen, und danach mussten sie sich einen Tag und eine Nacht lang ausruhen. Und doch, trotz all ihrer Mühen konnten sie den Dorfzaun und das Gasthaus nicht vollständig reparieren. Zwar war beides ganz wiederhergestellt, doch war es offensichtlich, dass sie erneuert wurden, und sie würden nicht mehr so sein wie zuvor. Es war ein stilles Mahnmal, das dafür sorgen sollte, dass niemand diesen Tag vergessen würde.

Die Menschen, die von König Zahn gemeuchelt worden waren, wurden anständig begraben. Sieben Tote waren es, die auf dem Friedhof von Cestilla ihre letzte Ruhe fanden. Zu ihren Ehren wurde eine große Trauerfeier abgehalten. Man gedachte der vielen Stunden, die man mit ihnen verbringen durfte.

Jaron wurde am meisten geehrt, für seinen Mut und seine Tapferkeit. Er wurde direkt neben seinem Vater begraben, und ihm wurde ein großer Grabstein geschenkt, auf dem seine Taten niedergeschrieben waren, auf dass sie niemand vergessen möge. Seine beiden Äxte, die er in seinem letzten Kampf ehrenvoll geführt hatte, wurden mit ihm in sein Grab gelegt, damit er sie auch im Jenseits mit Stolz tragen konnte.

Vor allem anderen war es der Speiseplan, der seit zwei Tagen anders war als zuvor. So oft es ging, stand Drachenfleisch darauf. Es schmeckte etwas merkwürdig, bitter und salzig, doch es war nahrhaft, und die Bewohner von Cestilla lehnten es nicht ab. Vor allem, da sich das Dorf Fleisch durch Händler von größeren Städten liefern lassen musste. War es also einmal reichlich vorhanden, so beschwerte sich niemand.

Nach und nach kehrte so Normalität nach Cestilla zurück. Nur eines gab es noch, das von einem normalen Alltag ablenkte: Will, der noch immer ohnmächtig in Armári’s Haus lag. Die Leute sorgten sich sehr um ihn. Sie würden es nicht ertragen, sollte ihr Retter, in den sie so viel Hoffnung gelegt hatten, dahinsiechen. In der Tat war es ihre größte und einzige Angst in dieser Zeit. Alles andere, so schlimm es auch sein mochte, war vergessen.

Eeza versicherte ihnen immer wieder, dass es dem Jungen gut ginge, und dass er bald erwachen würde. Es war weder Zweifel noch Sorge in der Stimme des Alten, und die Leute glaubten ihm, zumindest für eine Weile, bis ihre eigene Bangnis wieder Überhand nahm.

Von allem Menschen in Cestilla aber sorgte sich Thêl am allermeisten. Er schlief keine Nacht und verbrachte Stunde um Stunde an Will’s Bett. Er hatte große Angst, dass der Junge sterben könnte. Für dessen Zustand machte er sich selbst verantwortlich, und dass er nichts getan hatte, um es zu verhindern. Insgeheim aber wünschte er sich, dass Eeza an Will’s Stelle wäre, denn ihn machte er noch mehr für alles verantwortlich. Der Alte wusste Dinge, die er nicht verraten wollte, und er war sich unsicher über dessen Absichten. In der Zeit, da er an Will’s Bett wachte, da kam sich Thêl besonders hilflos vor.

Langsam nun krochen die Sonnenstrahlen über die Mauern von Cestilla. Sie vertrieben die letzten Nebelschleier, und die Wärme des Tages machte sich zwischen den Häusern breit.

Einige starke Lichtstrahlen drangen in Armári’s Haus. Um Will’s Bett saßen Eeza, Duncan und Thêl. Sie waren tief in Gedanken versunken. Ihre Augen, schwer von Kummer und Sorge, blickten ins Leere. Nur Thêl starrte Eeza an, mit einem Blick voll Ungeduld und Zorn.

Hinter Will’s Bett kam das Sonnenlicht durch das blaue Fensterglas herein. Es wanderte über seines Bettes Kopfende, über das Kissen und schließlich berührte es sanft sein Gesicht. Es dauerte nur wenige Minuten, bis sein ganzer Kopf im Sonnenschein gebadet war.

Kaum eine Minute später sprang Thêl auf. Er brauchte frische Luft, verkündete er, und ohne ein weiteres Wort ging er hinaus.

Er hatte kaum den Raum verlassen, als plötzlich ein Geräusch die Stille durchbrach. Zuerst war es ein Husten, und dann ein Stöhnen, leise und kurz. Alle drei starrten erschrocken in Richtung Fenster.

In jedem Moment, der vergangen war, mit jedem Atemzug, den sie taten, hatten sie diesen Moment herbeigewünscht. Dass der Junge erwachen möge, und ihre Sorgen ein Ende haben. Nun war dieser Moment endlich gekommen. Will war erwacht.

Der Junge zwinkerte einige Male. Dann gab er ein lautes Stöhnen von sich, und er hielt sich den Kopf, als würde er ihn schmerzen. Schließlich wischte er sich mit der Hand über die Augen und ließ dann seinen Blick durch den Raum wandern.

„Wa... wo... wo... bin ich?“ ächzte er.

In Windeseile liefen Thêl, Eeza und Duncan herbei. Thêl war der Erste. Er überholte die beiden anderen und setzte sich eilends auf den Sessel neben Will’s Bett.

„Geht es dir gut?“ fragte er voll Erleichterung, während sich Eeza und Duncan an das Fußende des Bettes stellten.

Will stöhnte noch einmal. „Ich denke schon.“ sagte er schwacher Stimme. „Mein... mein Kopf tut weh, und der Rest meines Körpers noch mehr. Sonst fühle ich mich gut, denke ich, nur etwas schwach.“

„Keine Sorge, das ist normal. Dir wird es bald besser gehen.“ meinte Eeza, und er lächelte freudig.

„Wenn Ihr meint...“ sagte Will. „Was ist denn passiert? Ich... kann mich nicht erinnern.“

„Was passiert ist? Du hast uns allen den Hintern gerettet!“ erwiderte Duncan lautstark.

„Du hast König Zahn getötet, ganz allein.“ fügte Eeza hinzu.

„König Zahn? Ach ja, der Drache...“ murmelte Will. „Langsam fällt es mir wieder ein. Ja. Aber die Erinnerung ist verschwommen. Neblig. Und... und... Aah, mein Kopf tut weh. Ich kann kaum denken.“

„Auch das ist normal.“ meinte Eeza.

„Mag sein, aber das heißt nicht, dass ich es verstehe.“ entgegnete Will.

„Keine Sorge, du bist nicht der Einzige, der Eeza nicht versteht.“ sagte da Thêl, und dabei blickte er den Alten streng an. „Zauberer und ihre Geheimnisse. Ich habe langsam genug davon.“

„Wann gebt Ihr endlich Ruhe?“ entgegnete Eeza forsch. „Ich habe Euch gesagt...“

„Ich gebe euch Ruhe, wenn Ihr Klartext redet!“ unterbrach Thêl. „Auch meine Geduld hat Grenzen.“

„Ich sagte Euch doch, dass ich Euch alles zur rechten Zeit verrate.“ antwortete der Alte.

„Und wann ist für Euch die rechte Zeit?“ sagte Thêl, schon fast schreiend. Er war kurz davor, aufzustehen. „In einem Jahr? Oder zwei? Oder vielleicht an Eurem Totenbett, als Eure letzten Worte?“

Eeza wollte antworten, doch dazu kam er nicht, denn Will stöhnte plötzlich wieder. Sein Kopf schmerzte ihn, und er hielt sich die Stirn.

„Was soll das denn? Habt doch Respekt!“ meinte Duncan vorwurfsvoll. „Könnt ihr eure Streitereien nicht lassen? Das ist doch nicht wichtig.“ Und zu Will sagte er: „Brauchst du irgendetwas? Essen? Trinken?“

„Wasser.“ antwortete Will wie aus der Pistole geschossen. „Bitte. Ich glaube, ich verdurste gleich.“

Duncan nickte, und sogleich eilte er aus dem Zimmer.

Während er weg war, meinte da Thêl: „Er hat Recht, Eeza. Wir haben über unseren Streit alles andere vergessen. Tut mir Leid, Will.“

„Schon gut.“ erwiderte dieser.

„Nein, er hat Recht.“ sagte Eeza. „Du bist wichtiger als unsere Probleme.“

Will schüttelte den Kopf. „Warum nur hebt ihr mich auf ein Podest? Ich bin nicht wichtiger als ihr.“

„Doch, das bist du.“ sagte Thêl. „Warum hast du Angst davor?“
„Wegen der Verantwortung. Der Bürde, die ihr mir auferlegt.“ antwortete Will. „Sie ist zu groß für mich.“

„Aber du musst sie doch nicht alleine tragen.“ meinte Eeza lächelnd.

Will blickte ins Leere. „Und warum fühle ich mich dann so allein?“

Darauf wusste keiner eine Antwort. Will hatte wohl auch keine erwartet.

In diesem Moment kam auch schon Duncan herbei. Er trug eine silberne Kanne voll mit Wasser und einem silbernen Becher dazu. Er lief herbei, und dabei verschüttete er etwas Wasser, doch das kümmerte ihn nicht. Keuchend blieb er neben dem Bett stehen. Will erhob sich mühevoll und setzte sich aufrecht hin. Er bedankte sich, nahm die Kanne, und zum Erstaunen aller leerte er sie in einem einzigen Zug. Er rülpste leise und entschuldigte sich höflich, dann gab er Duncan die Kanne zurück.

„Fühlst du dich besser?“ fragte Eeza. Will nickte.

Zufrieden lächelte der Alte. Dann griff er hinter sich und packte die hölzerne Lehne eines Sessels. Er stellte ihn neben den von Thêl und setzte sich elegant darauf. Will und Duncan waren erstaunt und fragten sich, wo dieser Stuhl plötzlich herkam. Sie waren sich sicher, dass in dem Raum nur einer war, und auf dem saß bereits Thêl. Dieser hatte als Einziger nicht vergessen, dass Eeza immer noch einige Tricks kannte. Er musste über den kindlichen Humor des Alten schmunzeln.

Eeza lächelte Duncan an. „Möchtest du auch einen?“ frage er verschmitzt, doch der Junge lehnte dankend ab.

„Möchtest du vielleicht etwas essen?“ fragte der Alte Will.

Der Junge schüttelte den Kopf. „Nein, danke. Momentan bin ich wunschlos glücklich. Nun ja, nicht ganz, aber... Ihr wisst schon, was ich meine.“

Dann herrschte Stille im Raum. Keiner wusste etwas zu sagen, und jeder wartete darauf, dass der andere etwas sprach. Will hustete einmal kurz, und Thêl blickte wieder Eeza an, und in seinen Augen war etwas wie Entschlossenheit und Verlangen. Doch die anderen, die nicht wussten, was in Thêl vorging, konnten es nicht genau erkennen. Er seufzte einmal, sagte aber nichts.

Schließlich war es Will, der als erster sprach.

„Ich möchte wissen, was passiert ist, Eeza. Bitte.“ sagte er.

Eeza blickte ihn verwundert an. „Was meinst du?“

„Ich meine, was geschehen ist vor...“ Er überlegte eine kurze Weile und fragte dann: „Wie lange ist es her?“

„Zwei Tage.“ erwiderte Thêl mit einem Lächeln.

„Zwei Tage.“ wiederholte Will, mehr für sich selbst. „Zwei Tage. Nun, was vor zwei Tagen passiert ist. Ihr wisst, was ich meine, Eeza. Der Drache. Ich... ich kann mich erinnern, was geschehen ist, wenn auch nur nebelig. Doch die Einzelheiten kenne ich nicht. Ich weiß, was passiert ist, aber nicht warum. Und ich verstehe es einfach nicht. Also... bitte, erklärt es mir. Ich fürchte, dass ich vielleicht den Verstand verliere.“

Eeza lachte. „Deine Angst ist unbegründet. Du bist bei klarem Verstand, vielleicht noch klarer als zuvor.“

„Und warum verstehe ich dann überhaupt nichts?“ fragte Will.

„Weil niemand etwas verstehen kann, dass er noch nie zuvor getan hat.“ erwiderte Eeza. „Ein Koch kann auch kein fünfgängiges Mittagessen zubereiten, wenn er vorher nur Brote geschmiert hat. Man kann niemanden ins Wasser stoßen und erwarten, dass er auf diese Weise Schwimmen lernt. Doch... ich befürchte, genau das habe ich getan.“

„Was meint Ihr?“ fragte Will verdutzt.

Der Alte seufzte. „Ich habe dich unnötig einer Gefahr ausgesetzt. Du hättest so leicht sterben können... Ich habe dich benutzt. Ja. Anders kann man es nicht sagen. Weißt du, als der Drache angriff... Es gab eine Möglichkeit, ihn zu töten, doch ich wusste nicht, ob sie funktioniert. Doch ich wollte sie testen, und auch, ob du tatsächlich auserwählt bist.“
„Nun wird es interessant.“ murmelte Thêl.

„Wovon sprecht Ihr?“ sagte Will ungeduldig.

„Erinnerst du dich an das Schwert?“ fragte Eeza. Will nickte. „Dies war kein gewöhnliches Schwert. Keine normale Waffe kann gegen einen Drachen etwas ausrichten. Sie kann ihn verletzen, doch sie kann ihm keine ernsthaften Wunden zufügen. Nein, das Schwert, das du gefunden hast, war alles andere als gewöhnlich. Es war ein Drachentöter.“

Nun wurden auch Duncan und Thêl hellhörig, und sie lauschten Eeza aufmerksam.

„Drachentöter sind mächtige Waffen. Wie ihr Name schon sagt, sind sie eigens dazu geschaffen, diese Ungeheuer zu töten. Es sind magische Klingen. Sie haben einen eigenen Willen, sagt man, der dem seines Besitzers ebenbürtig ist. Ein solches Schwert spürt, wenn es gegen einen Drachen kämpft. Dann ist es um ein Vielfaches stärker. Es... ist schwierig zu erklären. Es ist eine sehr alte Magie, die diesen Waffen innewohnt. Nur wenige wissen, wie sie geschmiedet werden. Selbst ich kenne die Technik nur oberflächlich. In der Glut, in der so ein Schwert geschmiedet wird, werden die Knochen von Drachen verbrannt. Außerdem wird das Eisen in Drachenblut getaucht, um ihm den letzten Schliff zu geben. Mehr aber weiß ich auch nicht.“ Für einen Augenblick hielt Eeza inne, um seine Gedanken zu sammeln. „Was ich aber weiß, ist dass Drachentöter äußerst selten sind. Es gibt kaum mehr als zwanzig auf dieser Welt. Viele sind außerdem in alten Ruinen und Höhlen verschollen. Ja, Junge, du hattest eine solch seltene Waffe. Es hatte sogar einen Namen: Calagar.“

„Calagar?“ wiederholte Will. „Ein Drachentöter... Das ist kaum zu glauben. Und sagt, Eeza, was ist damit geschehen?“

„Ich habe es genommen, als du es nach dem Kampf fallen gelassen hast. Ich habe es sicher verwahrt. Derzeit bist du zu schwach, aber ich werde es dir wiedergeben. Wenn du das möchtest.“ erklärte der Alte.

„Ich... ich weiß nicht...“ sagte Will zaghaft. „Es fühlte sich schon gut an. Diese Macht in Händen zu halten. Ich hatte soviel Entschlossenheit. Mut. Kraft. Es war... großartig. Ein wunderbares Gefühl. Aber... ich weiß nicht, ob das nicht zuviel für mich ist. Zuviel Macht für jemanden wie mich. Ich... ich bin mir nicht sicher.“

Eeza lächelte zufrieden. „Nun, dann werden wir zu gegebener Zeit, wenn es dir besser geht, darüber nachdenken.“ sagte er.

Will nickte. „Ja. Ja, einverstanden.“ Er hielt kurz inne. „Nun ja, Eeza, ich weiß jetzt, was das Schwert ist. Wie mächtig es ist. Und doch weiß ich immer noch nicht, warum ich mich davon angezogen fühlte. Warum ich nur noch diese Waffe im Sinn hatte, als würde sie mich zu sich rufen. Als würde sie mich... kontrollieren. Bitte, erklärt mir das.“

„Na gut.“ Eeza holte tief Luft. „Dein Schwert, Calagar, ist sogar unter den Drachentötern etwas Besonderes. Es ist, so sagt man, das älteste dieser Schwerter, und es wurde nur von Helden geführt. Von Helden, die damit in Schlachten große Siege errungen haben. Es heißt, die Waffe erkennt einen wahren Helden, wenn sich einer in ihrer Nähe befindet; und droht Gefahr, so ruft sie ihn zu sich. Ich weiß, es klingt unglaublich. Fantastisch. Das Schwert hat einen starken Willen. Es will geschwungen werden. Es will kämpfen. Es sehnt sich danach, zu töten, Wunden zu reißen und Blut zu trinken. Manche würden es grausam nennen, doch ist es schließlich ein Schwert; was sonst sollte es anstreben? Und nur dank dem Willen dieses Schwertes wurde so manche Schlacht gewonnen, weil es den Mut und den Willen seines Trägers hervorgebracht hat. Manche sagen, dass man erst durch solch eine Klinge zum Helden wird. Aber das ist Unsinn. Der Zauber eines Drachentöters gräbt sich tief in das Herz und die Seele eines Menschen, und dort holt es die Stärke und Tapferkeit hervor, die oftmals versteckt ist und von der man vielleicht gar nichts wusste. Doch... von Nichts kommt Nichts. Es kann nicht hervorbringen, was nicht da ist. So funktioniert es nicht. Denn es...“

„Wartet mal, Eeza, wartet mal.“ unterbrach Will plötzlich. „Wollt Ihr damit sagen, dieses Schwert hat mich als Helden auserwählt?“

„So ist es.“ erwiderte der Alte. „Als du es genommen hast, da hat es tief in deine Seele geblickt und gesehen, dass dort viel Mut und Stärke steckt, und die hat es hervor gebracht. Oh ja, du hast mehr in dir, als du glaubst.“ Er seufzte. „Allerdings gebe ich zu, dass all das kein Zufall war, und das ist der Punkt, der mir Leid tut. Es war... es war ein Test, weißt du. Ich wollte dich testen, und das Schwert. Nachdem du hier angekommen bist, habe ich es in die Truhe in meinem Haus getan, in der Hoffnung, du würdest es spüren... oder es dich. Ich konnte natürlich nicht ahnen, dass der Drache angreifen würde. Doch ich habe geahnt, dass Durzog uns irgendetwas Übles auf den Hals hetzen würde. Ich habe gehofft, dass dies das Schwert wecken würde, und das Schwert wiederum den Heldenmut in dir. Als ich sah, wie du geistesabwesend zu meinem Haus marschiert bist, da wusste ich, dass mein Vertrauen in dich gerechtfertigt war, und dass mein Plan aufgehen würde. Ich habe dich benutzt. Dich eines großen Risikos ausgesetzt. Das... das tut mir leid. Ehrlich.“

Thêl schüttelte den Kopf. „Verrückte Pläne. Verrückter alter Mann. Was wäre wohl gewesen, wenn es nicht geklappt hätte? Wenn der Junge nur ein ganz gewöhnlicher Mensch wäre wie Ihr und ich?“ fragte er mit einer erhobenen Augenbraue.

„Daran, mein lieber Thêl, möchte ich gar nicht denken.“ sagte Eeza. „Doch tut nicht so, als hätte ich König Zahn herbeigerufen. Ich, ich habe lediglich den Stein bereit gelegt, und jemand anderer hat ihn ins Rollen gebracht.“ Dann lächelte er Will an. „Nun weißt du es genau. Das Schwert hat dich erwählt. Es gibt keinen Zweifel.“

„Keinen Zweifel?“ sagte Will leise. „Das ist nicht wahr. Ich habe sie. Ich habe Zweifel daran.“ Er sagte dies mit unerschütterlicher Stimme, doch in seinem Inneren war er sich unsicher, was er tatsächlich glauben sollte.

„Warum zweifelst du daran?“ fragte Thêl. „Wenn es doch so eindeutig ist.“

„Das ist doch lächerlich!“ erwiderte Will. „Ein Held? Ich? Lachhaft! Wo ich doch vor allem immer davonlaufe. Nein, an mir ist gar nichts Heldenhaftes.“

„Gar nichts?“ sagte Thêl. „Bist du sicher? Denn wenn dem so ist, dann sag mir, wie konntest du den Drachen töten?“

„Ich... na ja...“ stammelte Will, zögernd, was er auf diese Frage antworten sollte. „Ich... Jaron hat...“

„Jaron hat seinen Teil beigetragen.“ gab Thêl zurück. „Er war ein Ehrenmann, und mutig. Er war größer als du, stärker, erfahrener. Trotzdem hat der Drache ihn getötet, und nicht er den Drachen. Auch ich nicht, und Eeza genauso wenig. Das war auch sonst keiner. Nein, du hast ihn getötet. Ganz allein, nur mit einem Schwert. Ein Feigling hätte das nicht gekonnt.“

Will starrte Thêl an, und dann starrte er ins Leere. Schließlich ließ er sich ins Bett zurück

fallen. „Kann nicht sein. Ich glaube das nicht. Das ist... ich...“ stammelte er, wieder und immer wieder.

Da stand Eeza auf und mit einem Lächeln sagte er: „Ich verstehe dich. Es fällt dir schwer, es zu akzeptieren. Zu akzeptieren, dass mehr in dir steckt, als du es dir jemals vorzustellen vermagst. Wem würde es nicht so gehen? Doch gräme dich nicht. Niemand erwartet von dir, dass du gleich aufspringst und die Welt rettest. So etwas braucht Zeit, und wir haben Zeit. Nicht ewig, und nicht viel, aber zumindest etwas. Also ruhe dich erstmal aus.“ Und zu Thêl und Duncan sagte er dann: „Kommt, gehen wir. Lassen wir den Jungen mit seinen Gedanken allein. Später können wir ja wiederkommen und weiter plaudern.“

„Keine Einwände.“ erwiderte Will. Thêl und Duncan nickten.

„Wenn du etwas brauchst, dann ruf mich einfach.“ fügte Duncan hinzu.

So gingen Eeza, Thêl und Duncan und ließen Will im Bett zurück. Er sagte nichts, doch eigentlich war es ihm Recht so. Er war mit seinen Gedanken allein und niemand störte ihn mit irgendwelchen belanglosen Gesprächen. Für so etwas hatte er derzeit keine Muße.

Es gab vieles, über das er nachdenken wollte. Er mochte es nicht glauben, dass er tatsächlich ein Held sein sollte. Er dachte daran, wie oft er in seinem Leben vor seinen Problemen davongelaufen war. Wie oft hatte man ihm gesagt, dass er sich den Dingen stellen soll. Den Problemen in der Schule. Seinen Eltern. War er je irgendetwas davon entgegen getreten? Nein, natürlich nicht.

Als er seinem Großvater einmal etwas Geld gestohlen hatte, da ging er ihm aus dem Weg. Er wusste, dass sein Großvater dahinter gekommen war. Deshalb kam er zu keiner Familienfeier mehr, zu keinem Geburtstagfest. Als sein Großvater starb, da ging er nicht einmal zu dessen Beerdigung. Er wusste, dass sein Opa todtraurig war, weil er ihn vor seinem Tod nicht mehr gesehen hatte. Aber Will hatte seine Furcht einfach nicht überwinden können. Nun tat es ihm freilich Leid, und wenn er es hätte können, so hätte er sich bei seinem Großvater entschuldigt. Bestimmt hätte dieser es ihm verziehen, da war er sich sicher. Doch jetzt... jetzt war es zu spät für alles.

Und nun dies! Er sollte hier eine ganze Welt von dem Bösen befreien, das sie befallen hat. Seinem Großvater gegenüber treten zu müssen oder eine Welt retten – das waren zwei völlig verschiedene Dinge. Und wenn er schon das Eine nicht zustande gebracht hat, wie sollte er dann das Andere schaffen? Sogar für einen richtigen Helden, stark, schnell und furchtlos, wäre das eine Aufgabe, die ihresgleichen sucht. Aber er? Er war ja noch nicht einmal erwachsen.

Auf der anderen Seite bekam er es nicht aus dem Kopf. Er hat wahrhaftig einen Drachen besiegt, und sogar getötet. Er allein! Ein Monstrum, das größer war als alles, dem er jemals gegenüber gestanden war. An dem schon unzählige richtige Männer gescheitert waren. Er hat ihn getötet. Daran gab es keine Zweifel. Es ließ sich nicht ignorieren. Wie war das möglich?

Sprach Eeza die Wahrheit? Hatte das Schwert ungeahnte Kräfte aus ihm herausgeholt? Es schien nur ein Stück Metall gewesen zu sein. Der Träger verleiht dem Schwert Macht, nicht umgekehrt. So kannte es Will. Magie? Daran glaubte er nicht, zumindest bisher.

Doch je mehr er darüber nachdachte, desto mehr Sinn ergab es. Er begann tatsächlich daran zu glauben. Die Zweifel verschwanden, wenn auch nur langsam und in geringem Maße.

Während all dem Nachdenken hallten ihm immer wieder die Worte durch den Kopf, die er in den letzten Tagen gehört hatte: dass er Eeza vertrauen sollte. Dass er ihm glauben könne, was auch immer passiert. Es fiel ihm nicht leicht, denn der Alte hatte etwas Seltsames an sich, etwas Geheimnisvolles und Undurchschaubares. Doch er beschloss, sich diesen Rat zu Herzen zu nehmen.

Der Vormittag verging und die Mittagsstunde brach heran. Duncan brachte Will etwas zu Essen: eine Suppe mit Fleisch und Kartoffeln, damit er wieder zu Kräften kam, und reichlich Brot.

Danach plauderten sie eine Weile. Sie erzählten sich von Zeiten in ihrer eigenen Welt, und sie lachten viel. Will erzählte auch von den Dingen, die ihm in letzter Zeit durch den Kopf gegangen waren. Von seinen Ängsten und Zweifeln. Duncan versicherte ihm, dass er stets hinter ihm stehen würde, und er erzählte auch von den positiven Seiten des Heldentums: von Ruhm, Ehre und Bewunderung, jedoch mit mäßigem Erfolg.

Will erzählte von seinen Zweifeln an dem Drachentöter, und dass es ihn als Held auserkoren hatte. Er sagte, wie seltsam und unglaubwürdig ihm ein solch magisches Schwert vorkam. Als er dies hörte, da sagte Duncan: „Weißt du, ich bewundere dich in vielen Dingen, und beneide dich um noch mehr. Doch hier tust du mir leid. Da grübelst du doch ernsthaft über das Märchen im Märchenland. Das verstehe ich nicht.“

Darauf erwiderte Will nichts, aber er beschloss, darüber nachzudenken. Er versprach Duncan auch, dass er bald eine Entscheidung treffen würde.

So brach der Nachmittag herein. Wolken bedeckten den Himmel und verbargen die Sonne hinter ihren hellgrauen Massen. Ein Wind kam auf, stark genug um die Baumkronen zu bewegen und auf dem Wasser Wellen zu schlagen. Blätter regneten aus dem Bäumen heraus. Sie wurden durch die Luft getragen, bis sie irgendwann geräuschlos zu Boden schwebten. Die Luft kühlte ab, nicht sehr, aber es wurde doch ungewöhnlich frisch für einen Frühlingsnachmittag.

Will lag zu dieser Zeit noch immer im Bett. Er las ein Buch, das Duncan ihm gebracht hatte. Waffen und Magie hieß es. Darin wurden verschiedenen verzauberte Waffen und ihr Einfluss in der Geschichte Aramars beschrieben.

Zum Beispiel der Hexenhammer; ein Streithammer, der der Zauberin Whalduun einst die Macht verliehen hatte, jeglicher Magie zu trotzen. Oder das Schwert Ney-Ya; eine uralte Klinge, die angeblich in jeder großen Schlacht dem, der sie führte, zum Sieg verholfen hat. Eines Tages wurde es gestohlen und ward seitdem nie wieder gesehen. Oder auch der Schwarze Bogen von Heriand, der jeden Pfeil haargenau ins Ziel schoss. Man sagt, er wurde in der Schlacht um die Festung Heriand benutzt. Dort soll sein Träger den feindlichen Anführer quer über das Schlachtfeld mit nur einem Pfeil getötet haben.

In den Buch gab es auch ein Kapitel über Drachentöter. Dies interessierte Will besonders, denn er wollte sehen, ob das, was Eeza gesagt hat, wahr war.

Sein Schwert, Calagar, war nicht verzeichnet. Tatsächlich wurde nur ein Schwert namentlich erwähnt: Aravesa, der Juwelendorn, der große Berühmtheit erlangt hatte, weil es einem König gehört hatte, der es mit den wertvollsten Edelsteinen verziert hatte, die er besaß.

In langen, wortreichen Sätzen wurde über die Macht, aber auch über die Geschichte und die berühmtesten Träger der Drachentöter berichtet. Vieles sagte Will gar nichts. In dem Buch standen viele Worte, die er nicht kannte; sie verwoben sich mit altbekannten Worten zu nicht enden wollenden Sätzen, eloquent, die es Will nicht leicht machten, sie zu lesen. Doch er war nicht dumm, und er verstand das Meiste davon.

Als er durchgelesen hatte, was er für relevant hielt, da wusste er nicht, was er fühlen sollte. Er war einerseits enttäuscht, dass Eeza mit seinen Erklärungen Recht hatte. Alles, was er ihm erzählt hat, stand in dem Buch. Andererseits freute er sich sogar ein wenig. Er wusste nicht genau, warum. Vielleicht wollte er insgeheim doch ein Held sein, auch wenn er es nicht glauben wollte. Er war sich nicht sicher. Allerdings war er überzeugt, dass das, was Eeza ihm gesagt hat, die Wahrheit war. So schwer es ihm auch fiel, er glaubte es. Dass man ihn angelogen hatte, wäre möglich gewesen. Aber er war sich sicher, dass das Buch echt war und nur Wahrheit daran war.

Will beschloss, noch weiter in dem Buch zu lesen, und nach mehr Informationen zu suchen, die für ihn nützlich waren.

Er hatte kaum eine Seite gelesen, als er Schritte hörte, und plötzlich kam Eeza in das Zimmer spaziert, lächelnd. Er setzte sich auf den leeren Sessel neben Will’s Bett und sagte: „Nun wie

geht es dir?“

„Danke, besser.“ erwiderte Will. „Ich fühle mich noch erschöpft, aber zumindest tut mir nichts mehr weh.“
„Das ist gut.“ meinte Eeza und nickte. „Sehr gut.“

„Es ist nur... Nur im Bett herumzuliegen ist etwas langweilig. Ich habe zwar dieses Buch gelesen…“ Er hielt das Waffen und Magie hoch. „… aber das nützt nicht viel.“

„Ich verstehe. Dir mangelt es an Zerstreuung.“ sagte Eeza. „Nun, da könnte ich Abhilfe schaffen.“

„Ach ja? Wie wollt Ihr das tun?“ fragte Will. „Indem Ihr tanzt? Oder mir etwas vorsingt?“

Eeza lachte. „Ich könnte dir in der Tat etwas singen. Lass mich überlegen… Vielleicht ‚Die Ballade vom Himmelskrieger und der Sonnentochter’. Oder… Oder ‚Das Lied von Kaërun’, in dem der Held Kaërun den Schattendämon Yaggath Sonnog vernichtet.“ Einen Augenblick hielt Eeza inne und überlegte, doch dann schüttelte er lachend den Kopf. „Nein, das würde deiner Genesung nicht gut tun. Eher das Gegenteil, und das wollen wir beide nicht, denke ich.“ Will schüttelte den Kopf. „Nein, ich werde dir etwas erzählen.“

„Aha. Was denn?“ fragte Will neugierig. „Eine Geschichte?“

„Nicht ganz.“ erwiderte Eeza. „Nicht eine Geschichte, sondern die Geschichte. Die Geschichte von Aramar werde ich dir erzählen. Weißt du, das soll nicht nur deiner Unterhaltung dienen. Ich möchte, dass du verstehst, worum es geht. Warum wir in schlechten Zeiten leben und etwas dagegen tun wollen. Wenn du für uns kämpfst… falls du für uns kämpfst, kann ich nicht erwarten, dass du für etwas kämpfst, dass du nicht verstehst. Nur wenn du weißt, warum du etwas tust, kannst du es mit ganzem Herzen tun. Ja?“

Will nickte. „Ja, einverstanden.“

„Gut. Dein Interesse freut mich.“ sagte Eeza und lächelte. „Aber ich sollte dich warnen. Es ist eine längere Geschichte. Das macht dir hoffentlich nichts aus.“

„Kein Problem.“ entgegnete Will und lachte. „Ich habe sowieso nichts anderes vor.“

„Ausgezeichnet. Solltest du Fragen oder Anmerkungen haben, so halte dich nicht zurück. Nun gut.“ Eeza holte tief Luft, und dann begann er zu erzählen.

„Zuerst solltest du wissen, dass wir uns im Jahre 1662 befinden. 1662 Jahre, nachdem diese Welt erschaffen wurde, vom unserem Gott Aeon. Nun, eigentlich ist sein Name Amaron dal-Ûr, doch wir nennen ihn Aeon. Er ist der Herr der Allmacht und der Unendlichkeit; der ewige König, der über uns wacht.

Weißt du, Aeon ist nicht der einzige Gott, den es gibt. Es gibt viele Götter, die für alle Dinge wie Wasser, Feuer, Ernte oder die Himmelsrichtungen zuständig sind. Wir nennen sie die Ûr.

Es gibt Höhere Götter, die Ûron, und Niedere Götter, die Ûrng. Aeon aber ist der höchste aller Götter. Er ist als einziger allmächtig, und herrscht über alle Dinge, die existieren. Er ist König, Vater und Richter zugleich.

Aeon ist außerdem ein Künstler. Seit Anbeginn der Zeit hatte er mit seinen Händen Dinge erschaffen, um die anderen Götter zu beeindrucken und um sein eigenes Herz zu erfreuen: Dinge wie Sterne, Galaxien, Sonnen und Planeten.

Doch eines Tages wollte er etwas schaffen, das neu war. Etwas Besonderes und noch nie Dagewesenes. Er wollte Leben schaffen.

Von der Idee bis zum Erfolg dauerte es allerdings viel Zeit; eine so lange Zeitspanne, dass wir Menschen sie uns nicht vorstellen können. Es kostete Aeon viel Mühe und viele Versuche, bis er die richtigen Bedingungen für Leben fand. Er versuchte es oft, doch stets war das Leben schnell gestorben. Ja, auch ein Gott macht Fehler, doch er kann auch daraus lernen.

Schließlich, nach unzähligen Versuchen, gelang es Aeon, den perfekten Planeten zu kreieren, mit der richtigen Entfernung zur Sonne, genügend Sauerstoff und Unmengen an Wasser. Er nannte ihn Arkan, doch in unserer Sprache heißt er Erde.

Als der Planet fertig war, erschuf Aeon das Leben. Zuerst schuf er Pflanzen, in allen möglichen Variationen: Blumen, Büsche, Gras und Moos, und Bäume, die Sauerstoff produzieren sollten, damit er niemals ausgeht. Danach kamen die Tiere an die Reihe, in allen Größen und Formen, die du dir vorstellen kannst. Mit vier oder sechs oder acht Beinen, mit Fell oder Haut oder Schuppen, mit Flossen, Federn, Krallen oder Zähnen.

Und zum Schluss erschuf Aeon zwei Rassen, die das Glanzstück seiner Kreation waren. Zwei außergewöhnliche Rassen, völlig unterschiedlich und doch mit demselben, großen Verstand. Zum einen waren dies große Kreaturen mit Schuppen, Flügeln und Klauen, und mit einem feurigen Atem. Es waren, die ‚Lon’ oder ‚Drachen’.

Die anderen Kreaturen erschuf Aeon nach seinem Ebenbild. Es waren Wesen auf zwei Beinen, ohne Fell und mit wenig Haaren, dafür aber mit geschickten Händen. Sie nannte er ‚Mar’ oder ‚Menschen’.

Gott Aeon wies die Menschen und Drachen an, dass sie von nun an die herrschenden Rassen auf der Erde sein sollten. Dazu gab er ihnen einen Intellekt, der größer war als der aller anderen Lebewesen. Mit diesem Intellekt gab er ihnen auch das Wissen über die Welt, die Götter und über ihn selbst. Deswegen wissen wir auch, dass es ihn gibt, und wie er die Welt erschaffen hat. Die Menschen und Drachen, die Aeon erschaffen hat, wurden mit diesem Wissen geboren; es war schon immer in ihrem Verstand. Erst der nächsten Generation mussten sie es selbst lehren.

Aeon befähigte sie zu logischem Denken, zu einem eigenen Willen und zum Sprechen. Den Menschen gab er ein großes handwerkliches Geschick, sowie die Fähigkeit zu beobachten und zu schreiben. Den Drachen schenkte er dafür einen größeren Verstand, und er trug ihnen auf, als Könige über die Erde zu herrschen.

Dann entsandte Aeon fünf große Drachen, die er selbst ausgewählt hatte, dass sie auf den fünf Kontinenten der Erde als Könige herrschen sollten. Ihre Namen waren Yrvas, Takorn, Parmuun, Csar und Aramar. Die fünf Kontinente wurden nach ihnen benannt, und sie tragen ihre Namen heute noch.

Als dies getan war, war Aeon's Werk vollendet. So wie man ein Gemälde aufhängt und nicht mehr weiter malt, so beschloss auch Aeon, die Erde nicht mehr anzurühren und zu verändern. Von nun an wurde er nur noch beobachten und sehen, wohin sich sein Werk entwickelt. Ob zum Guten oder zum Schlechten, es war ihm alles recht und sowieso einerlei.

Der Kontinent Aramar, auf dem wir uns hier befinden, wurde also vom Drachen Aramar regiert, von seiner Festung Hrunyai im Norden aus. Wie auch die anderen Drachenkönige regierte er gut und gerecht, denn das Land lag ihm sehr am Herzen. Er schätze alle Lebewesen sehr, Mensch wie Drache, und er war bemüht, für alle das Beste zu tun. Stets stellte er die Wünsche hinter die aller anderen. Die Drachen waren mit ihrem Herrscher äußerst zufrieden.

Doch leider war nicht alles eitel Sonnenschein. Die Menschen kamen nicht so gut miteinander aus, wie der Drache Aramar gehofft hatte. Die Drachen sahen auf die Menschen herab und betrachteten sie aus unwürdig. Die Menschen wiederum neideten ihnen die Herrschaft, da sie sich selbst als mächtiger und wichtiger erachteten. Sie konnten es nicht ertragen, im Schatten von Kreaturen zu leben, die sie als wilde Bestien sahen.

Aus diesem Grund gab es stets Zwist und Uneinigkeit zwischen den beiden Rassen.

Als der Drachen Aramar dies sah, da wurde ihm schwer ums Herz. Er war verbittert und enttäuscht, wie leicht sich die Seelen von Seinesgleichen, aber auch die der Menschen, von Neid und Hass vergiften ließen. Schließlich dankte er ab und überließ das Zepter seinem Sohn Raubek. Ein Fehler, denn Raubek war viel weniger gerecht als sein Vater. Er verabscheute die Menschen wie viele seiner Artgenossen, und unterstützte die Auseinandersetzungen.

Viele Jahrzehnte lang gab es nichts außer kleineren Streitigkeiten zwischen Menschen und Drachen. Karawanen oder Nahrungstransporte wurden überfallen, und es wurde hin und wieder ein Haus angezündet. Doch es kam niemand ernsthaft zu Schaden. Bis zum Jahre 202. Ein Transport mit Wertgegenständen wurde ausgeraubt, der für Raubeks Festung bestimmt war. Der Drachenkönig selbst erschien und tötete einen der Menschen. Dies war etwas, das niemand wollte, und so wurde Raubek abgesetzt.

Danach berieten Menschen und Drachen gemeinsam, um einen Herrscher zu finden, mit dem alle zufrieden waren. Die Wahl fiel schließlich auf einen Drachen namens Goldschuppe, dem Sohn von Silberzahn, den man für einen außergewöhnlichen Drachen hielt. Seine Haut und Schuppen schimmerten herrlich golden, so dass man glauben konnte, sie beständen aus eben diesem Metall. Goldschuppe war ein weiser Drache, und obwohl er wenig unter andere Drachen oder Menschen ging, so verstand er viel vom Geschehen in Aramar, den Problemen seiner Bewohner und wie ihnen beizukommen war. Sein überragender Intellekt schenkte ihm viele Bewunderer, und man war zuversichtlich, dass er die Dinge zum Guten wenden würde. Man schenkte ihm einen verzauberten Stab, ein Zepter namens Larech. Es sollte ihm Stärke und Weisheit verleihen, aber auch magische Kräfte.

Der neue Herrscher war bald als Aarlon oder Sonnendrache bekannt. Jeder war mit ihm zufrieden. Seine Güte war groß und er vermochte, jedem zu helfen, der in Nöten war, und er konnte jedes Problem lösen, nicht zuletzt dank seinem Stab Larech. Viele Jahrhunderte herrschte Frieden in Aramar.

Während dieser Zeit begannen die Menschen, ihr Volk in verschiedene Rassen zu unterteilen. Dies war kein Akt der Ausgrenzung; die Menschen wurden nicht nach Dialekt, Aussehen oder Hautfarbe unterschieden. Vielmehr klassifizierten sie sich selbst aufgrund ihrer Eigenarten und Talente, und auch aufgrund der Weise, wie sie ihr Leben lebten.

Im Westen, im Reich Maaram, lebten die Haria, ein Volk, das Disziplin, Kriegskunst und Weisheit in sich vereint. Sich selbst betrachteten sie als weiser und gebildeter als andere Rassen.

Ihre Nachbarn waren die Makai, die in Etharo Aduun lebten. Ähnlich gebildet wie die Haria, waren sie doch um ein vielfaches wilder, und lebten sehr im Einklang mit der Natur. Sie waren ein gewalttätiges Volk, die schnell zu einer Waffe griffen.

Nahe verwandt den Makai waren die Kasai aus Darest, die heute ausgestorben sind. Sie waren die intellektuellsten Menschen in Aramar, die das Buch dem Schwert vorzogen und die schönen Künste pflegten, während sie in Frieden lebten und Gewalt ablehnten. Andere Rassen erachteten sie oft als ‚primitiv’.

Einige Menschen zog es weg von den Städten in die Wälder. Als Waldmenschen bekannt, bauten sie Häuser auf Bäumen und lebten von dem, was die Natur hergab. Sie mieden meist den Kontakt mit anderen Rassen.

Die ungewöhnlichste aller Rassen war die der Sarga. In Höhlen im Gebirge zuhause, waren sie mehr Tier als Mensch. Sie sprachen eine eigene Sprache, die wir nicht verstehen, und sie besaßen Intelligenz und Weisheit, die jedoch mehr auf Instinkt als auf Logik beruht. Sie waren jedoch nicht weniger angesehen als andere Menschenrassen. Ganz im Gegenteil, sie wurden von vielen hoch geschätzt, da sie keine Gedanken an Hass, Diebstahl oder Krieg verschwendeten.

Obwohl diese Rassen getrennt lebten, waren sie doch nicht darum bemüht, sich zu streiten und zu bekriegen. Sie alle gibt es heute noch, und noch einige mehr.

Doch alle Dinge sind im Wandel. Nichts bleibt, wie es ist, und ein einzelner Mann sollte ganz Aramar verändern. Der Name dieses Mannes war Dagat.

Dagat tauchte 738 auf. Er trug einen schwarzen Umhang, und hatte trügerische Augen. Er kam in das Schloss des Sonnendrachen und bot mit verdrehten Worten und falschen Versprechen seine Dienste als Zauberkünstler und Alchimist an. Der Sonnendrache, so weise er auch war, konnte nicht in Dagat’s verräterisches Herz blicken, und so akzeptierte er ihn.

Es dauerte keine drei Tage, da gab es großen Aufruhr in Hrunyai. Dagat hatte den magischen Stab Larech gestohlen und den Berater des Sonnendrachen, Jaronin, getötet, bevor er geflohen war. Die Drachen suchten nach ihm, doch ohne Erfolg. Sie wussten nicht, dass er bei einem Verbündeten Zuflucht suchte: beim Fürsten Lhurmogir. Lhurmogir war ein Menschenfürst, der wie Dagat und viele andere die Drachen abgrundtief hasste. Doch während andere sie ausrotten wollten, so sah er in ihnen ein nützliches Werkzeug. Er ließ junge Drachen entführen und für ihn kämpfen, indem er ihren Willen an den seinen band. Sein persönlicher Drachensklave hieß Raukyra; ein schwarzer Drache von gewaltiger Kraft.

Als nun den Drachen zu Ohren kam, dass sich Dagat bei Lhurmogir versteckte, da kamen sie zu seinem Schloss und forderten die Herausgabe des Diebes. Lhurmogir aber heuchelte Unschuld und gab vor, niemanden zu verstecken, und dass er genauso das Verschwinden des Zauberzepters bedauerte. Er sprach viele besänftigende Worte, doch die Drachen glaubten ihm nicht. Sie wurden zornig, und schließlich griffen sie sogar sein Schloss an.

Doch Lhurmogir lachte, denn dies hatte er geplant. Als nämlich die Menschen diese für sie ungerechtfertigten Gewalttätigkeiten sahen, da erwachte in ihnen der Hass auf die Drachen, und sie griffen zu den Waffen. Ein Krieg war unvermeidbar.

Die Menschenkönige von Aramar hielten eine große Versammlung, um zu entscheiden, was zu tun war. Von jeder Rasse in Aramar war ein Herrscher gekommen: König Hâmon von den Haria, König Skalagrim von den Makai und seine Leibgarde Baladan, und Maladamacil, König der Waldmenschen; und von den Sarga kamen gleich drei: Ikken, Ikkdo und Ikkord, die Brüder waren.

Und auch der König der Kasai war da; ein Mann, dessen Name heute bekannter ist als damals: Beléssan!“

Als Will diesen Namen hörte, da bekam er große Augen. Eeza fuhr fort:

„Ja, du hast richtig gehört. Damals war Beléssan ein König, und ein hoch angesehener dazu. So seltsam es klingt, doch er war friedliebender Herrscher, der Krieg verabscheute. Er versuchte stets, die Gunst seines Volkes mit Güte und Geschenken zu gewinnen, mit Erfolg. So wurden die Kasai auch Siremar oder Friedensmenschen genannt.

Doch bei der Versammlung der Könige fand seine friedliebende Einstellung keine Zustimmung. Seine Reden über die Bemühung, eine friedliche Lösung zu finden, wurden als Gewäsch abgetan. Die anderen Könige waren sich einig, dass sie die Drachen nicht mit versöhnlichen Plaudereien bezwingen konnten und dass sie die Herrschaft über Aramar nur durch Krieg erlangen konnten. Sie lachten Beléssan aus, und schließlich ignorierten sie ihn, und all das schürte seinen Hass.

Nun war die Lage also angespannt, und die Könige stimmten der Waffengewalt zu. Ausschlaggebend war aber die Ermordung von Derdigan, einem Hohepriester der Götter, durch die Drachen. Dies führte dazu, dass die Menschen zu den Waffen griffen, und schließlich kam es zu einer großen Schlacht am Fuße des Grünen Berges. Bis heute ist sie bekannt als Aroth Liarn-val-Manadh: die Schlacht der Drachen gegen die Menschen.

Auf der Seite der Drachen stand der Sonnendrache und sein Vater Silberzahn, der gutherzige Melethril und der mächtige Fanagil, sowie 5000 Drachen.


Auf der anderen Seite standen Lhurmogir und Dagat mit über 9000 Menschen, darunter einige berühmte Helden wie Dahilon, Kaagar Vlinorman und Silian der Bogenschütze. Auch waren viele Drachen auf der Seite der Menschen, meist aus Lhurmogir’s Sklavenarmee. Unter ihnen war Lhurmogir’s persönlicher Kampfdrache Raukyra, der graue Drache Ornan, Tashkarn Feuerzahn, Lumbango die Schattenschlange und Ragada, dessen Atem giftig war.

Es gab einige Menschen und Drachen, die nicht an der Schlacht teilnehmen wollten, vor allem Kinder und Frauen, aber auch friedliebende Männer. Auf Geheiß des Sonnendrachen wurden sie vom Wulf dem Winddrachen in Sicherheit gebracht. Auch Beléssan erschien nicht zur Schlacht, doch keiner wusste um seinen Verbleib. Seit der Versammlung hatte ihn niemand mehr gesehen. Dabei waren seine Kasai zum Kampf erschienen, doch er selbst nicht. Allerdings kümmerte sich kaum einer um seinen Verbleib, denn jeder hatte nur die bevorstehenden Kämpfe im Sinn.

Schließlich gingen die beiden Parteien aufeinander los. Es war ein harter Kampf, brutal und blutig. Keiner der Kämpfer, weder Mensch noch Drache, hielt sich zurück. Jeder einzelne von ihnen ließ seinem Zorn freien Lauf. Dabei möchte man meinen, dass die Menschen den gewaltigen Drachen unterlegen waren. Doch dem war nicht so. Die Menschen waren flink, so dass sie leicht unter den Drachen hindurch schlüpfen konnten, und Lhurmogir verriet ihnen die Schwachstellen der Bestien.

Außerdem waren Drachen zu diesen Zeiten noch nicht so widerstandsfähig wie heute, und ihre Haut konnte durchaus von Schwertern und Speeren durchbohrt werden. Da es früher Gewalt und Mord noch nicht gab, entwickelten die Drachen keine so harte Haut wie heute; dies änderte sich erst nach dem Krieg.

Die Schlacht dauerte fünf Tage, ohne dass eine der Parteien siegreich daraus hervorging. Die Drachen, die sich als Sieger gesehen hatten, waren überrascht ob der Stärke und Gegenwehr der Menschen. Vielleicht war es auch die Enttäuschung, dass einige ihrer Artgenossen gegen sie kämpften.

Denn Lhurmogir’s Drachen waren mächtig und gnadenlos. Allen voran Raukyra, dessen dämonische Kraft die aller anderen Drachen weit übertraf. Er tötete viele seiner eigenen Rasse, und selbst der mächtige Fanagil starb durch seinen Feueratem. Ragada’s giftiger Atem raffte viele dahin, und Lumbango eilte wie ein Schatten durch das Kriegsgetümmel und tötete hier und da einen, ehe er es überhaupt bemerkte.

Am schlimmsten aber war Dagat. Er benutzte Larech, den Stab, und schoss leuchtende Kugeln in die Meute der Drachen, die bei Berührung zerbarsten und jeden in den Tod rissen, der in der Nähe verweilte.

So war die Ebene vor dem Grünen Berg fünf Tage lang ein Hort des Todes. Es war eine Zeit von Feuer, Blut und Eisen, das sich mit Kriegsgebrüll und Schreien des Todes vermischte. Die Ebene heißt heute Ebene von Dhelusin, was Totenstille bedeutet. Dies war wahrlich eine schlimme Zeit für Aramar.

Als nach fünf Tagen kein Sieger festzustellen war, da beschlossen die Menschen, den Kampf zu ihren Gunsten zu entscheiden. Sie saßen nachts in ihrem Lager, da man für die Nachtstunden Waffenstillstand vereinbart hatte. Dagat aber entschied sich, diese Abmachung zu brechen. Niemand sprach ein Widerwort, denn sie alle wollten den Sieg, und dafür war ihnen jedes Mittel recht.

Als der Mond hoch am Himmel stand, schlichen sie sich also in das Lager der Drachen. Sie nutzten den Überraschungseffekt und schlachteten geschwind viele der Drachen ab.“

Plötzlich stand Eeza auf. Er ging zu dem Krug mit Wasser, den Will neben dem Bett stehen hatte und goss sich etwas davon in einen Becher, den er sogleich in einem Zug leerte. Danach ging er zurück auf seinen Platz, jedoch nicht ohne Duncan zuzulächeln, der sich während der Erzählung dazu gesellt hatte und ebenfalls aufmerksam zuhörte.

Schließlich sprach Eeza weiter:

„Dagat’s List ging also auf. Die Menschen dezimierten brutal ihrer Gegner. Natürlich setzten sich daraufhin die restlichen Drachen zur Wehr. So entbrannte erneut ein Gemetzel, bei dem fast alle Kämpfer ihr Leben ließen, und wer es nicht tat, der wurde schwer verwundet.

Am Ende, als der Morgen schon fast graute, da standen sich nur noch Zwei gegenüber: Dagat und der Sonnendrache. Die beiden fochten einen übermenschlichen Kampf aus. Während Dagat Larech’s Magie nutzte, so setzte der Sonnendrache seine eigene Kraft ein. Ohne seinen Stab war er geschwächt, aber immer noch stärker als andere Drachen, und er war Dagat ebenbürtig.

Die Beiden kämpften eine ganze Stunde lang, ohne dass sich einer geschlagen gab. Doch schließlich gelang es dem Sonnendrachen, Larech an sich zu reißen. Daraufhin griff ihn Dagat mit bloßen Händen an, und die beiden rangen um den Stab. In dem Gerangel aber fiel Larech plötzlich zu Boden, und er zerbrach. Die Folgen waren fatal. Er zerbarst in einer gewaltigen Explosion aus Licht, die beide Kontrahenten schwer erwischte. Dagat starb sofort, und der Sonnendrache kämpfte noch einige Minuten mit dem Tod, bevor er ihm erlag. Mit seinem letzten Atemzug verfluchte er die Menschen, niemals in Frieden leben zu können.

So endete die Herrschaft des Sonnendrachen. Es war das Jahr 740.

Bald darauf kam der Drache Wulf mit den Menschen, die nicht am Krieg teilgenommen hatten, auf das Schlachtfeld. Sie kümmerten sich um die überlebenden Menschen, derer nicht einmal 1000 waren. Sie versorgten die Verwundeten und pflegten sie gesund.

Doch leider gab es keinen Frieden. Die Menschen waren sich uneins; sie gaben sich gegenseitig die Schuld am Krieg und an den Folgen. Keiner wollte selbst Fehler eingestehen, denn die Menschen waren stolz und betrachteten sich als weise. Sie waren zu blind, um die Sache einfach zu begraben. So zogen sie sich in die verschiedensten Winkel Aramars zurück und versuchten, so gut es ging ihr normales Leben fortzuführen.

Bedauerlicherweise hielt die Ruhe nicht lange. Es wahr im Jahr 741, als Aramar erneut angegriffen wurde. Im Osten des Landes nämlich lebte ein Volk, das dem Treiben im restlichen Aramar sonst fern blieb und sich nicht in den Krieg eingemischt hatte. Es waren die Nakani, ein kriegerisches Volk, angeführt von ihrem König Sallasarin, das Aramar angriff. Sallasarin war ein kluger Mann, der den Moment nutzte, da die Völker Aramars zerstritten waren, um einzufallen. Er kam mit über 3000 Mann, darunter seine Söhne Karakai, Khamee und Kuda der Grausame.

Die wilden Nakani-Horden fielen über die Dörfer des Landes her; sie brannten sie nieder und töteten das Vieh und jeden Mensch, der ihnen begegnete. Die Leute flohen, doch viele schafften es nicht und wurden gnadenlos niedergemetzelt. Die Flüchtlinge versteckten sich in den großen Städten Aramars, deren steinerne Mauern die Nakani nicht niederbrennen konnten.

In diesen Stunden der Verzweiflung suchte man nach einer Lösung, um die Eindringlinge zurückzuschlagen. Da trat ein Mann hervor, der Arnan Annand hieß und der im Drachenkrieg ein General gewesen war. Er sagte, dass sich die Völker Aramars einfach zusammenschließen mussten in dieser Zeit der Not; gemeinsam wären sie stark genug, Sallasarin zu besiegen. Zuerst etwas zögernd, wurde Annands Vorschlag schließlich einstimmig angenommen. So stolz die Menschen auch waren, am Ende war ihre Todesangst größer. Alle Männer, die fähig waren, ein Schwert zu führen, kamen zusammen. Es waren über 2000 Mann, die den Nakani entgegen traten.

Sie verfolgten das feindliche Heer und stellten es schließlich bei der Festung Heriand zum Kampf. Es wurde ein Gemetzel, in dem die Kämpfer Aramars die Oberhand gewinnen konnten, denn obwohl die Nakani wild und stark waren, so waren sie wenig erfahren und diszipliniert. In dem Schlachtgetümmel vor den Toren Heriands wurde sogar Sallasarin von einem Pfeil getötet.

Doch dann fielen Aramars Krieger einer List zum Opfer. Sallasarin hatte nämlich einen Teil seiner Armee, darunter auch seine Söhne, in Heriand versteckt, und als er starb, da kamen sie heraus und überraschten ihre Feinde.

Die Soldaten Aramars flohen daraufhin. Sie liefen nach Westen, zu einer anderen Festung, die in der Nähe war: Alagos. Festung Alagos war eines der ältesten Schlösser Aramars, und sie hatte besonders dicke Mauern, die jedem Angriff standhielten. Dort versteckten sich Arnan Annand und seine Mannen, und sie bewaffneten sich mit Bögen, um die Nakani in einem letzten Widerstand zu töten.

Die Nakani bemühten sich sehr, Alagos zu erobern. In ihrer Wildheit kannten sie kein Zaudern und kein Zögern. Doch am Ende scheiterten sie. Die Mauern der Festung waren zu stark, zu hoch. Sie konnten sie nicht überwinden. Die Verteidiger von Alagos dagegen errangen einen glorreichen Sieg. Mit ihren Pfeilen und Bögen töteten sie viele der Nakani, bevor sie überhaupt die Burg erreicht hatten, und wer es schaffte, den erwarteten an den Zinnen scharfe Langschwerter.

Am Ende mussten sich die Nakani geschlagen geben. Die Überlebenden waren so verstört, dass sie bis in den Osten in ihre Heimat flohen. Ihre Verluste waren groß, und selbst zwei von Sallasarin’s Söhnen waren ums Leben gekommen.


Als all dies vorbei war, da wuchs in den Menschen der Wunsch nach Zusammenhalt und Frieden. Sie hatten mit eigenen Augen gesehen, dass Uneinigkeit nur zu mehr Streit und Tod führte. Niemand wollte einen erneuten Krieg herbeiführen, weder gegen Feinde von außerhalb noch gegen Aramar selbst.

Nach langen Beratungen wurde beschlossen, einen König zu benennen, der über ganz Aramar herrschen sollte. So entstand der Titel des Großkönigs. Über die einzelnen Provinzen und Reiche Aramars regierten verschiedene Könige, und der Großkönig stand über ihnen. Er sorgte für Einigkeit zwischen den Völkern, und für Recht und Ordnung in jedem Winkel des Landes. Er schrieb die Gesetze, und hatte bei Zusammenkünften mit anderen Ländern stets das letzte Wort. Jeder König konnte in seinem Reich eigene Regeln aufstellen, doch der Großkönig schuf bestimmte Gesetze, die an jedem Ort in Aramar zu gelten hatten. Sie sollten Niedertracht und Korruption verhindern.

Ein Regierungssitz des Großkönigs war schnell gefunden: Festung Alagos wurde dazu ausgesucht. Und auch die Wahl des ersten Großkönigs fiel nicht schwer: Arnan Annand wurde aufgrund seiner Verdienste im Kampf um das Land erwählt. Liebevoll nannten sie ihn ‚König Aramar’.

Annand kam 742 auf den Thron, und er regierte bis 797. In dieser Zeit gelang es ihm, alle Völker Aramars zu vereinen, und während seiner gesamten Regentschaft herrschte Frieden. Es gelang ihm sogar, sich mit den Drachen zu versöhnen. Die wenigen Überlebenden waren seit dem Krieg nicht gut auf die Menschen zu sprechen. Doch sie begrüßten die Bemühungen der Menschen auf Frieden, und sie sahen Annand als einen würdigen König, um dieses Ziel zu erreichen. Mit den Jahren wuchs der Respekt und die Achtung der Rassen voreinander.

Aufgrund der vergangenen Ereignisse befahl Annand, im Osten Aramars eine große Mauer zu bauen, die die Nakani und andere Wilde fernhalten sollten. Glandia hieß sie, und sie reicht von der Nord- bis zur Südküste. Sie ist höher als die Baumkronen, mit dicken Mauern aus Stein, und sie steht auch heute noch. Von da an hieß nur noch das Land von der Westküste bis zur Glandia Aramar; alles dahinter nannte man Rhavanari, das Fremde Land. So ist es bis heute.

Nach Annands Tod 797 wurde ein neuer Großkönig vom Volk gewählt, und nach diesem noch einer, und so weiter. Ihre Namen erwähne ich hier nicht, denn sie sind ohne Bedeutung. Es waren gute Könige, die Annands Erbgut weiterzuführen vermochten.

Erst der sechste Großkönige ist es wert, genannt zu werden, wenn auch nicht im positiven Sinn. Sein Name war Glirit Mortin, und er wurde 988 gekrönt. Er war bis zu seiner Thronbesteigung unbekannt, und die genauen Gründe seiner Wahl sind heute unbekannt. Tatsache jedoch ist, dass seine Herrschaft das Schlimmste war, das Aramar bis dorthin passiert war.

Mortin schaffte es, alles zu zerstören, was Arnan Annand und seine Nachfolger aufgebaut hatten. Er machte viele Fehler, doch gab er nie sich selbst die Schuld daran, sondern stets Anderen. Dies führte zu Misstrauen und Streit. Die schlimmste Folge aber war, dass sich viele Rassen spalteten, und neue Menschenrassen entstanden. Zum Beispiel die Silivar, die in den Bergen leben, oder die Tulan Ciamis, die in ihrer Festung Tylis die Ostgrenze verteidigen.

Gab es einmal Kritik an Mortins Entscheidungen, so kümmerte er sich nicht darum, da er als Großkönig niemandem Rechenschaft schuldig war. Egal, was er bestimmte, er hatte stets das letzte Wort, und niemand konnte etwas dagegen tun. Man weiß bis heute nicht, was genau seine Absichten und Ziele waren.

Doch die Menschen duldeten Mortins Taten nicht auf ewig. 1044 kam es zu einer großen Revolution, bei der Glirit Mortin gestürzt wurde. Unter seiner Nachfolgerin, Kelakura, der ersten Großkönigin, wurde er hingerichtet.

Kelakura bemühte sich sehr, Mortins Fehler wieder gutzumachen. Mit starkem Willen und beeindruckender Tatkraft gelang es ihr, die Verhältnisse in Aramar wieder herzustellen, so gut sie es konnte. Es war jedoch kein makelloser Frieden, denn leider ließ sich das entstandene Misstrauen nicht vollständig beseitigen. Bis heute gibt es keine zwei Rassen, die sich vollständig vertrauen.

Nach Kelakura und ihrem Nachfolger war der neunte Großkönig erneut eine Frau: Telian Carac kam 1150 an die Macht. 15 Jahre regierte sie gerecht und mit starkem Herzen. Doch 1165 wurde ihr Geheimnis offenbart: Telian Carac gehörte der Menschenrasse der Kasai an. Man dachte bisher, dass die Kasai im Drachenkrieg ausgerottet wurden. Die Leute verabscheuten dieses Volk, da sich ihr damaliger König Beléssan gegen den Krieg ausgesprochen hatte. Daher wurden die Kasai als Verräter an der eigenen Sache beschimpft, obwohl die meisten von ihnen auf der Seite der Menschen im Krieg gekämpft hatten. Telian Carac wurde sofort entmachtet und verbannt. Ihr Name ‚carac’ wurde in die Sprache Aramars aufgenommen, und es bedeutete von da an ‚vergessen’ oder ‚verloren’ oder auch ‚verdammt’.

Ein Jahr lang war Aramar ohne Großkönig, bis 1166 Belletor gekrönt wurde. Ihm folgten viele Großkönige, die zwar den Frieden bewahrten, doch sie herrschten ohne wesentliche Bedeutung für Aramar.

Einige Jahrhunderte war Aramar ein friedliches Land. Doch die Wende kam 1524. In diesem Jahr, unter der Herrschaft von Großkönig Bhán Amrog, tauchte nämlich Beléssan wieder auf.“

Will unterbrach Eeza augenblicklich. „Wartet mal! Ist das Euer Ernst?“ fragte er. „Ihr sagtet, der Krieg war… Moment… wann, 750?“

„740.“ antwortete Eeza.

„Ja, richtig, 740.“ meinte Will. „Und 1524 kommt Beléssan wieder. Aber das sind doch fast 800 Jahre! Das kann nicht sein. Niemand lebt so lange.“

„Das ist uns bewusst.“ erwiderte Eeza und seufzte. „Doch es war Beléssan und kein anderer, zweifellos. Wie er das gemacht hat, ist allen ein Rätsel, außer ihm selbst. Wir wissen es nicht.“

„Vielleicht war es jemand, der ihm ähnlich sah. Wäre das nicht möglich?“ warf Duncan ein.

Eeza schüttelte den Kopf. „Nein, ganz unmöglich.“ sagte er streng. „Er war es. Ganz sicher sogar. Ich weiß, was ihr denkt. Jeder, der Beléssan damals kannte, war inzwischen längst tot, und darum gab es keine Zeugen, die bestätigen konnten, dass er es war. Doch da irrt ihr. Es gab lebende Augenzeugen. Die Drachen nämlich. Viele von ihnen können mehrere tausend Jahre alt werden, und die meisten Veteranen des Krieges waren 1524 noch am Leben. Sie waren es, die bestätigten, dass es tatsächlich Beléssan war und niemand sonst.

Dabei sah er anders aus als damals. Weder Krone noch Gewänder trug er, sondern eine Rüstung aus grauem und schwarzem Metall, und besetzt mit blutroten Edelsteinen. Sie war schön anzusehen, detailreich verziert, ein Meisterwerk der Schmiedekunst, doch auch voll dunkler Magie. Seit seinem Erscheinen wurde er nie ohne sie gesehen. Es war ein Rätsel, woher er sie hatte; eines von vielen. Zumindest war gewiss, dass er Herr über die Unsterblichkeit geworden war, denn seit 1524 bis heute ist er um keinen Tag gealtert.

Es ist überhaupt fragwürdig, ob Beléssan noch ein Mensch ist, denn er hat nichts Menschliches mehr an sich. Er ist nun ein Meister von dunkler Hexerei. Er ist ein Zauberer von furchterregender Macht, ein Meister der Schatten und Phantome, voll ruchloser Weisheit und grausamer Stärke. Verunstaltend, was immer er anfasst, verderbend, wen er regiert; er ist der Herr des Todes, sein Reich ist der Schmerz.

Seine Macht ist entsetzlich. Er kann mit einem Gedanken und einer Handbewegung ein ganzes Heer auslöschen und eine Stadt vernichten. Er kann überall und an jedem Ort sein, und weder Stein noch Eisen noch Zauberei kann ihn aufhalten. Mit unheiligen Kräften kann er jeden Menschen, sei es Bauer oder König, manipulieren und versklaven, sodass er nur noch seinen Willen tut. Es gibt keinen Zauberspruch und kein Schwert, dass ihn verletzen kann. Glaubt mir, das wurde oft genug versucht. Er ist wie... wie ein Gott mit einem verkommenen Herzen, der in Menschengestalt auf die Erde herabstieg, weil ihn der Himmel verbannt hat und die Hölle ihn fürchtet. Es ist... mein Gott...“

Plötzlich hielt Eeza inne. Er vergrub das Gesicht in den Händen, als würde er weinen, doch er vergoss keine Tränen. Schließlich zeigte er sein Gesicht wieder. Er blickte Duncan und Will an, und dann Thêl, der sich zu ihnen gesellt hatte. Dann fuhr er fort:

„Verzeiht. Ich weiß nicht, was... Nun ja, wie dem auch sei. Wo war ich? Ach ja. Als Beléssan 1524 auftauchte, da griff er als erstes die kleine Stadt Krakon an und vernichtete sie fast vollständig. Dann trat er vor den Großkönig Bhán Amrog und verkündete, dass er nun der neue Herrscher von Aramar sei. Amrog weigerte sich freilich, ihm die Krone zu überlassen. Als er Beléssan fragte, warum er ihm die Krone nicht einfach gewaltsam entreiße, da antwortete dieser, dass ihm das zu primitiv sei. Er würde warten, bis Amrog vor ihm kriechen und ihm die Krone zu Füßen legen würde.

Dann zog Beléssan zur alten Drachenfestung Hrunyai, und er riss sie nieder und erschuf sein eigenes Schloss, das er Vilgerdar taufte. Dort ernannte er sich in seinem Größenwahn zum Höchsten König von Aramar. Er hatte vier Kasai an seiner Seite, die mit ihm die Jahrhunderte überdauert hatten. Ihre Namen waren Dargot, Drákan, Nogroth und Chardion. Manche nannten sie Nagamora, Schattendiener, denn sie folgten der Finsternis in Gestalt ihres Herren. Für die Meisten aber hießen sie einfach Die Vier, da kein Name ihrer Grausamkeit gerecht wurde. Beléssan kleidete sie in furchterregende Rüstungen und gab ihnen große Macht. Er machte sie zu Königen und gab jedem ein Viertel von Aramar, in dem sie seinen Willen verbreiten sollten.

Freilich gab es Einige, die Beléssan fürchteten und nicht glaubten, dass irgendjemand etwas gegen ihn ausrichten könne. Also schworen sie ihm Treue, und es gefiel ihm. So wurden sie seine Generäle und Leutnants, seine Hauptmänner und Soldaten. In wenigen Jahren hatte Beléssan eine große Armee.

Großkönig Bhán Amrog blieb hart und ließ sich nicht einschüchtern. Selbst als einige seiner Berater, Leibwächter und sogar engsten Freunde ermordet wurden. Amrog gab nicht nach und bis zu seinem Tod 1572 verweigerte er Beléssan die Krone.

Es dauerte fast drei Jahre, bis jemand den Mut fand, Amrogs Nachfolge anzutreten. Es war ein Mann namens Daravyn der Graue, der 1574 den Thron bestieg. Er war ein guter Herrscher mit einem starken Herzen, der sich nicht von Beléssan unterkriegen ließ. Er tat alles, was in seiner Macht stand, um dem Schrecken etwas entgegenzusetzen. Zum Beispiel veranlasste er, dass jeder Mann im Umgang mit einer Waffe geschult wurde, und jede Frau sollte die Heilkunst erlernen. Während all dem war er stets bemüht, den Zusammenhalt zwischen den Völkern zu wahren, den er in dieser Zeit für besonders wichtig erachtete. Daravyn kämpfte wie kein anderer vor ihm, den Schutz von Aramar zu wahren. Es gingen Gerüchte um, dass er einen verzauberten Ring besaß, der ihn immun gegen Gift und Zauberei machte und davor bewahrte, ermordet zu werden, und der ihm seinen Mut schenkte. Leider nutzte am Ende alles nichts. 1608 wurde Daravyn von einem Mann namens Delgariun im Schlaf ermordet.

Das Datum von Daravyns Tod war der 14. Oktober 1608. Seit diesem Tag hat es niemand mehr gewagt, die Krone zu tragen. Seitdem ist Aramar ohne Großkönig. An diesem Tag wird Beléssan gelacht haben, denn es besteht kein Zweifel, dass er Daravyns Ermordung veranlasst hat. Ihm war klar, dass niemand es wagen würde, den Thron zu besteigen. Und ohne Großkönig zerfällt die Einigkeit der Rassen in Aramar. Die Aufgabe des Großkönigs war es, die Verbundenheit zu bewahren, doch damit war es vorbei. Ein gewiefter Plan des dunklen Königs, denn wenn die Völker streiten, so werden sie nicht zusammenhalten, um sich gegen Beléssan zur Wehr zu setzen. Teile und herrsche. Ein uneiniges Volk lässt sich leichter kontrollieren.

Seit Daravyns Tod hat Beléssan seinen Schatten über alle Königreiche Aramars ausgebreitet, seinen Arm überall hin ausgestreckt. Er selbst sitzt in Vilgerdar und kommt selten heraus. Doch seine Diener sind überall. In jeder Stadt streifen sie umher, teils offenkundig, teils im Verborgenen. Sie kontrollieren alles: jedes Gespräch, jeden Ort, sogar jeden Atemzug, den man tut. Beim kleinsten Anzeichen von Rebellion, bei jedem Widerwort gegen Beléssan schnappen sie den Aufrührer, und er wird nie wieder gesehen. Ich weiß nicht, ob sie ihn einsperren, töten oder gar in einen Bündling verwandeln. Ich weiß nur, dass sie jede Möglichkeit des Widerstandes im Keim ersticken. Selbst die Könige werden von ihnen manipuliert. Die Nagarmora, Beléssan's Vier, kontrollieren all ihre Taten. Bei jeder großen Entscheidung haben sie das letzte Wort, dass sie im Namen ihres Meisters nach seinen Anweisungen aussprechen. Die Könige können keine politischen Aktivitäten mehr selbstständig tun. Jede Aktion, die Beléssan nicht zugute kommt, wird abgelehnt, selbst wenn sie dem Wohl des ganzen Landes dienen würde. Es ist... schrecklich.

Einzig solch kleine Dörfer wie Cestilla hier sind noch sicher. Ich weiß nicht, warum Beléssan diese Nester außer Acht lässt. Vielleicht unterschätzt er die Leute hier. Er denkt wohl, dass sie zu simpel sind, um an Gegenwehr zu denken, oder dass sie sich nicht um den Rest des Landes kümmern. Dabei bin ich lange genug hier, um zu wissen, dass sie sich die Not anderer genauso zu Herzen nehmen wie andere, vielleicht sogar mehr.“

„Darf ich etwas fragen?“ unterbrach Will plötzlich. Eeza nickte. „Wenn Beléssan's... Diener das Handeln der Leute so sehr kontrollieren, auch heimlich, woher weiß man dann noch, wem man vertrauen kann?“

„Eine gute Frage.“ antwortete Eeza. „Es ist wahr, man muss Acht geben, wem man vertraut. Offen sprechen ist ebenso gefährlich. Darum passen die Leute auf, was sie sagen, und sprechen selten über heikle Themen, und noch seltener mit Fremden. Zweifellos ist das Misstrauen Anderen gegenüber in den letzten Jahren gestiegen. Menschen, die sie nicht kennen, vertraut wahrscheinlich kaum jemand. Allerdings muss ich sagen, dass ich sehr lange nicht mehr in einer großen Stadt gewesen bin. Aber...“ Er blickte Thêl an. „Vielleicht kannst du uns ja belehren.“ sagte er zu ihm. „Du bist doch eher ein Stadtmensch.“

„Meint Ihr? Nun ja, auch mein letzter Besuch in einer Stadt liegt schon länger zurück, wenn auch sicher nicht so lange wie Eurer.“ erwiderte Thêl. „Jedenfalls denke ich, dass Ihr etwas übertreibt, Eeza. Es ist nicht so, dass man keinen Schritt tun kann, ohne beobachtet zu werden. Allerdings können Freunde zu Feinden werden, und in der Tat kann ein Wort gegen Beléssan sehr gefährlich sein.“ Und zu Will sagte er. „Ich rate dir, aufzupassen, wem du da draußen Vertrauen schenkst.“

Will nickte. „Dann stellt sich aber auch die Frage, ob ich euch vertrauen kann. Euch, Eeza, und... nun, allen anderen.“
Daraufhin lachte Eeza. „Du bist ein schlauer Bursche.“ sagte er. „Jetzt hast du uns durchschaut. Wir sind eigentlich gut Freund mit Beléssan. Die Suppe, die du zu Mittag gegessen hast, war vergiftet. Deine Abenteuer sind schon zu Ende.“

Will antwortete ihm mit einem verwirrten Blick, und kurz darauf lachte Eeza noch lauter, sodass er beinahe von seinem Stuhl herabfiel.

„Ich finde das nicht sehr lustig.“ sagte Thêl kopfschüttelnd.

„Ach, seid doch nicht so.“ entgegnete der Alte lachend und wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. „War doch nur ein kleiner Spaß.“ Dann wandte er sich an Will „Verzeih. Ich habe es nicht böse gemeint. Aber lass mich ernsthaft antworten. Wie bereits gesagt, in einem Nest wie Cestilla gibt es keine Verbündete von Beléssan. Das sage ich so sicher, weil ich hier schon viele Jahre lebe und die Leute gut kenne. Außerdem, wenn wir dich töten wollten, warum haben wir das nicht schon längst getan?“

„Vielleicht wollt ihr erst mein Vertrauen gewinnen.“ meinte Will ohne Zögern.

„Nein, so raffiniert sind die Diener Beléssan's nicht.“ erwiderte Eeza. „Du warst zwei Tage lang bewusstlos, und du bist lange achtlos im Dorf umherspaziert. Gelegenheiten, dich zu ermorden, gab es viele. Wie gesagt, wollten wir dich töten, hätten wir es schon getan.“

Will überlegte einen Augenblick, und dann sagte er: „Ihr habt wohl Recht. Es wäre auch... Irrsinn, wenn ich anfangen würde, jedem zu misstrauen, denke ich.“

„Wohl wahr.“ sagte Eeza, und dann hielt er einen Moment inne.

„Nun ja, ich denke, mehr gibt es nicht zu erzählen.“ sagte er. „Ich habe dir alles berichtet: über Beléssan, über unsere Geschichte... ja, alles, was ich erzählen wollte. Ich kann nicht erwarten, dass du dir alles merkst. Das verlange ich auch nicht. Also... Solltest du dich dafür interessieren, so besitze ich einige Bücher, die du jederzeit lesen kannst.“

„Ja, danke. Mal sehen.“ sagte Will, und ließ er sich schwungvoll zurück ins Bett fallen. Dann, mehr als Aussage und nicht an eine bestimmte Person gerichtet, sagte er: „Mein Kopf dröhnt. Ich glaube, das waren einfach zu viele Informationen. Hätte ich noch mehr erfahren, wäre mein Kopf geplatzt.“

Eeza lachte. „Das wollen wir zu vermeiden versuchen. Deinen Kopf brauchen wir noch, und den Rest des Körpers auch.“

Dann blickte er durch das Fenster über Wills Bett und sah, dass kein Licht mehr hindurch schien. Das Fensterglas war dunkel wie der Grund eines Sees, und es war nichts draußen zu erkennen, weder Schatten noch Schemen.

„Es ist aber auch schon spät.“ sagte er. „Die Sonne ist schon untergegangen. Liebe Güte, da haben wir uns aber verplaudert. Nun ja, dann wollen wir dich nicht länger stören, mein Junge. Gönne dir Ruhe. Wir wollen sehen, was der neue Tag bringt.“

Nachdem er dies gesagt hatte, da stand Eeza auf, und Thêl und Duncan taten es ihm nach. Sie verabschiedeten sich von Will und wünschten ihm einen geruhsamen Schlaf. Duncan wiederholte sein Angebot, dass Will ihn nur zu rufen brauche, wenn er etwas benötigen sollte.

Will konnte sie noch die Treppe hinuntergehen hören. Er lauschte, ob sie etwas über ihn sagten, doch es wurde kein einziges Wort gewechselt. Er bekam auch noch mit, wie sich die Haustüre öffnete und wieder schloss.

Seine Gedanken waren aber ganz woanders. Er dachte an Aramar und was es mitgemacht hatte. Obwohl die Geschichte seiner eigenen Welt viel ereignisreicher war, so war er doch beeindruckt, wie so wenige Dinge so viel ausrichten können. Er empfand Mitleid, aber auch Faszination für die außergewöhnlichen Geschehnisse der Vergangenheit, aber auch der Zukunft.

Vor allem aber dachte er an Beléssan. Daran, dass ein einzelner Mann so viel Angst und Schrecken verbreiten konnte. Ihm behagte nicht, dass gerade er es sein sollte, der ihn zu bezwingen auserwählt war. Doch ihn überkam keine Furcht. In diesem Augenblick, da er im Bett lag und der Raum von Stille und Ruhe erfüllt war, da dachte er nur daran, dass er sich vielleicht zu viele Sorgen machte. Dass er ja auserwählt war, und dafür gab es sicher einen Grund. Er beschloss, einfach abzuwarten, was auf ihn zukommen würde.

Dann schlief er ein.

Ein Schatten in der Finsternis

„Ich bin begeistert. Begeistert, sage ich. Entzückt und begeistert. Begeistert, begeistert, begeistert. Ja, wirklich. Begeistert bin ich. Erwähnte ich das schon?“

Will grinste falsch und etwas verwirrt. „Flüchtig, ja.“
 

Vor ihm stand ein seltsamer Mann. Er war jung, und doch etwas älter als Will. Über seinem Mund wuchs ein zarter Schnauzbart, und aus seinem Kinn sprossen einige Haare hervor, wenn auch zaghaft. Er trug eine einfache Hose und ein einfaches Hemd mit kurzen Ärmeln. Sie hatten dicke, grobe Nähte, und einige Löcher hier und da. Dazu kamen zahlreiche dunkelbraune Flecken, die seinen gesamten Körper überzogen. Sie stanken, und Will wollte nicht wissen, worum es sich dabei handelte. Schuhe trug der Mann keine. Er ging barfuss, was dem Aussehen seiner Füße nicht zugute kam. Seine Haare, hellblond und von der Sonne gebleicht, waren nach hinten gekämmt und sollten wohl den Versuch der Körperpflege darstellen. Es gelang nicht; den Haaren war eindeutig anzumerken, dass sie lange nicht mehr mit Wasser in Berührung gekommen waren. Alles in allem machte der Mann einen sehr unsauberen Eindruck. Ob er viele Freunde unter den Menschen hatte, war fraglich. Die Fliegen aber schienen ihn zu lieben, denn sie umschwirrten in Massen seinen Kopf.
 

„Und Ihr seid?“ fragte Will zaghaft, in einem Versuch, seinen Ekel und seine Verwirrung zu verbergen und freundlich zu sein. Dass der Fremde ihm plötzlich die Hand schüttelte, half dabei wenig.

„Rovallog. Rovallog heiße ich.“ sagte der Mann, und seine Stimme klang aufgeregt. „Ich bin der Bruder von Villog. Der kleine, wohlgemerkt.“

„Sehr erfreut.“ erwiderte Will und hoffte, dass es überzeugend klang. „Ist euer Bruder auch so... reinlich wie Ihr?“

„Mein Bruder? Ach was!“ sagte Rovallog und lachte. „Der hat keine Ahnung von Körperpflege. Ist manchmal ein richtiges Drecksschwein. Aber wieso fragt Ihr?“

„Ach, nur so aus Neugier.“ Will wurde übel. Er suchte verzweifelt nach einem Weg, das Gespräch so schnell wie möglich zu beenden. „Nun, also... Was ist... was... Was kann ich für Euch tun?“ stotterte er schließlich.

„Ich wollte Euch einfach nur die Hand schütteln.“ entgegnete Rovallog vollerBegeisterung. „Euch sagen, wie sehr ich Euch dafür bewundere, was Ihr getan habt. Ihr... Mein Gott, Ihr habt uns allen das Leben gerettet. Ohne Euch wäre das Dorf vernichtet worden, und wir wären jetzt alle tot. Ich bin Euch ja so dankbar. Dankbar, dankbar, dankbar. Ich kann es gar nicht in Worte fassen.“

„Nichts zu danken, war doch nicht der Rede wert. Gern geschehen.“ sagte Will mit einem falschen Grinsen. Er wollte sich irgendwie verabschieden und versuchte, beschäftigt auszusehen. Rovallog aber plapperte einfach weiter.

„Ihr erinnert mich an einen anderen Helden, der einmal hier war. Wartet, wie hieß der noch... Hele... nein, nein, so ähnlich... Verflixt, mein Gedächtnis lässt nach. Hmm... Hil... nein... Ah, jetzt habe ich es. Halavara! So hieß der. Genau. Der hat hier auch eine Heldentat vollbracht. Ein Grüner Oger hat vor vielen Jahren unser Dorf terrorisiert. Hat unsere Häuser zerstört, unsere Felder zertrampelt und hin und wieder auch mal einen Dorfbewohner gefressen. Wir hatten schon geglaubt, es gäbe keine Hoffnung mehr. Doch da kam Halavara hier vorbei, tötete den Oger und zog sogleich wieder davon. Was für ein Mann! Und Ihr seid genau so. Vielleicht noch toller. Ja, sicher sogar, denn Ihr seid der Therûn, und Ihr steht leibhaftig vor mir, während ich Halavara nur von der Ferne gesehen habe. Das ist doch gleich etwas anderes. Ich meine... ich... ich bin so aufgeregt, dass ich Euch die Hand schütteln darf. Ich...“
 

„Genug, genug!“ unterbrach plötzlich Duncan, der dem ganzen Gespräch gelauscht und meist den Kopf geschüttelt hat. Er hätte Rovallog am liebsten gleich zu Beginn weggeschickt, doch er wollte nicht unhöflich sein. Nun aber hatte er genug. „Es reicht jetzt. Es ist wirklich sehr freundlich von Euch, Eure Dankbarkeit zu zeigen. Der Therûn fühlt sich äußert geehrt.“ Er begann, Rovallog wegzudrängen.

„Aber...“ Der Bauer ließ nicht locker.

„Nein, schon gut.“ sagte Duncan und drängte ihn noch weiter. „Es gibt sehr viele Dinge zu tun. Er muss sich mit einer wichtigen Mission beschäftigen. Also bitte, geht.“

„Wichtige Mission? Meint Ihr etwa...?“

„Ja, ja, ja. Genau.“ erwiderte Duncan ungeduldig. „Äußert wichtig. Bitte, geht. Und sagte es auch Euren, äh... Freunden. Der Therûn ist sehr beschäftigt.“
  

Schließlich gab Rovallog nach. Er ging von dannen, jedoch nicht ohne Will anzugrinsen wie ein Wahnsinniger und zu winken. Will winkte zurück und lächelte ebenfalls, wenn auch falsch. Obwohl er durchaus glücklich war, dass er Rovallog los war. Er freute sich zwar, dass die Leute ihm dankbar waren und ihn mochten, aber gar so aufdringlich mussten sie auch wieder nicht sein. Schließlich war es Will nicht gewohnt, Bewunderer zu haben.
 

Ganz im Gegenteil. Es war eigentlich üblich, dass die Leute ihn verachteten und hinter seinem Rücken über ihn redeten, ganz besonders seine Mitschüler. Daran hatte er sich mittlerweile schon fast gewohnt, und es kümmerte ihn kaum. Er hatte einige echte Freunde; nicht viele, aber dafür konnte er sich auf sie verlassen. Qualität über Quantität, sagte er immer.
 

Dagegen war das hier das genaue Gegenteil. Hier hasste ihn niemand. Nein, die Leute liebten ihn. Sie verehrten ihn. Zugegeben, es war zumindest hier in Cestilla so. Wie es an einem anderen Ort aussah, wusste er nicht. Schließlich hatte er nur den Bewohnern von Cestilla das Leben gerettet, und niemandem sonst, bis jetzt.

Aber was sollte es ihn kümmern, wie es anderswo war? Hier zeigte ihm ein jeder seine Dankbarkeit. Es gab keinen, der ihm nicht freundlich zuwinkte, ihn freundlich grüßte oder ihm sogar applaudierte. Will gab es nicht zu, doch ihm gefiel dies sehr.
 

Vielleicht war dies einer der Gründe, warum er immer mehr Gefallen an dieser Welt fand. Oder war es der einzige Grund? Will war sich nicht sicher. Was er jedoch genau wusste, war, dass er sich in Aramar mit jeder Minute, die er hier verbrachte, mehr und mehr zuhause fühlte. Es erstaunte ihn selbst, aber das einfache Leben gefiel ihm. Außerdem gab es hier keine Schule, keine Eltern und auch sonst keine der Probleme, die er daheim hatte. Hier gab es zwar andere Probleme, doch die waren ihm fast schon lieber. Denn es gab immerhin einen wichtigen Unterschied: Diese hier musste er nicht alleine bewältigen.


 

„Tut mir sehr leid.“ sagte Duncan. „Die Leute hier können manchmal lästig sein.“ Seine Hände waren triefnass. Er hatte sie kräftig im Friedwasser-See gewaschen, nachdem er Rovallog zu lange angefasst hatte.

„Schon gut. Nicht deine Schuld.“ meinte Will. „Es ist nur ungewöhnlich, so beliebt zu sein.“

„Dann solltest du dich daran gewöhnen.“ erwiderte Duncan. „Sie sind dir äußerst dankbar, dass du den Drachen getötet hast, und sie freuen sich, dass du nicht tot bist. Das zeigen sie dir auch, ganz ohne Zurückhaltung.“

„Hmmja, ist wohl so.“ murmelte Will, und er kratzte sich an seinem Bart. „Aber, sag mal, was war eigentlich dieses Wort, das dieser Bauer zu mir gesagt hat? Terrier oder so?“

Duncan lachte. „Nein, nein, Therûn. Das ist ein aramarisches Wort und bedeutet soviel wie Retter oder Erlöser. Denn... nun ja, für sie bist du genau das.“
  

Will seufzte. Es war kaum zu glauben, wie viel Vertrauen die Leute in ihn setzten. Dabei war er doch nichts Besonderes.

Nein, das stimmte nicht. Dummer Junge, dachte er sich. Er hatte einen Drachen erschlagen. Etwas, das die Meisten als ein Wunder bezeichnet hatten. Wen überraschte es da, dass die Leute ihn feierten und verehrten? Die Frage war nur, ob er ihrem Vertrauen gerecht werden konnte.
 


„Alles in Ordnung?“ fragte Duncan plötzlich und riss Will aus seinen Gedanken.

„Hmm? Oh, ja. Ja, alles in Ordnung.“ entgegnete Will, ein wenig durcheinander. „Ich habe nur daran gedacht, wie viel Vertrauen die Leute mir entgegenbringen.

„Aber doch zu Recht, oder nicht?“

„Na ja, ich bin nicht sicher.“ antwortete Will. „Ich weiß nicht. Ich meine, ich habe doch nichts Besonderes... Na gut, nein, das stimmt nicht. Ich habe einen Drachen getötet. Das ist eine Leistung. Aber das heißt doch nicht, dass ich die ganze Welt retten kann. Oder?“

„Die Frage ist eher, warum du daran zweifelst.“ sagte Duncan. „Du bist stärker, als du denkst. Ich glaube sogar, du bist stärker geworden, seit du hier angekommen bist. Fühlst du das nicht?“

„Ehrlich gesagt... doch, ich fühle es. Du hast Recht.“ erwiderte Will. „Ich fühle mich... stärker. Selbstsicherer. Als hätte ich eine unsichtbare Verbindung zu diesem Land. Ich glaube, seit ich das Schwert angefasst habe. Das... ja, seit diesem Moment.“
 

Duncan lächelte. „Na bitte. Das Schwert hat dich stärker gemacht. Das ist doch gut so. Wer sagt denn, dass es dich nicht auch stark genug gemacht hat für... na ja, für das, was noch kommen mag?“

„Glaubst du?“ fragte Will ungläubig und schüttelte den Kopf. „Ein Schwert... einfach so... daran zu glauben fällt mir schwer.“

„Siehst du? Das ist das ist dein Problem.“ antwortete Duncan mit einem Seufzen. „Dein Mangel an Glauben. Aber... ich meine, es ist nun mal so: Es gibt Dinge hier, in dieser Welt, die den Gesetzen von Physik, Biologie und was weiß ich was widersprechen. Hier laufen die Dinge eben anders. Hier... gibt es eigene Gesetze. An das solltest du dich gewöhnen.“ Will sagte darauf nichts, und Duncan blickte ihn schweigend an, bis er schließlich hinzufügte: „Aber wenn du schon nicht daran glaubst, kannst du dann wenigstens an dich selbst glauben?“

Will nickte. „Ich denke, das kann ich.“
  

So spazierten sie am Ufer des Friedwasser-Sees entlang, wo weiße und gelbe Blumen blühten und Bienen die Luft mit ihrem Summen erfüllten. Die Beiden sprachen kein Wort, denn sie waren tief in ihren eigenen Gedanken. Sie überlegten, was sie sagen sollten, das in dieser Situation angebracht war, doch keinem von ihnen fiel etwas ein. Stattdessen warteten sie nur darauf, bis der andere etwas sagte.
 

Schließlich aber konnte Duncan seine Neugier nicht mehr verbergen.
 

„Hast du... Hast du eigentlich schon eine Entscheidung getroffen?“ fragte er Will etwas zaghaft.

„Entscheidung? Was meinst du?“ entgegnete dieser, im ersten Augenblick verwirrt, doch sogleich begriff er, was Duncan meinte. „Ach ja, ja. Schon klar. Tja... ich weiß nicht genau.“ sagte er. „Ich meine, ich will schon helfen. Und ich bin auch etwas zuversichtlicher mittlerweile, dank dem Schwert. Trotzdem... es ist eine große Verantwortung. Ob ich würdig bin, sie zu tragen? Ich weiß es einfach nicht.“

„Aber du hast doch gesagt, dass du bald...“

„Ich weiß! Ich weiß, was ich gesagt habe.“ unterbrach ihn Will etwas unwirsch. „Ich werde bald eine Entscheidung treffen. Sehr bald. Aber... so einfach ist das nicht. Du weißt nicht, wie schwer so etwas ist.“

„Na gut, da hast du auch Recht.“ erwiderte Duncan. „Tut mir leid, ich wollte nicht... Es war nicht böse gemeint.“

Will seufzte. „Ich weiß. Schon gut. Es ist nur... Jeder erwartet von mir, diese Bürde zu tragen. Voll Gier und Ungeduld warten sie und können es kaum erwarten, bis ich endlich zusage. Und... und... Wer von den Leuten würde sie selber tragen? Die sind doch froh, dass ich sie habe und sie ihnen erspart bleibt.“

„Glaubst du?“ fragte Duncan. „Ich denke, sie würden es akzeptieren. Sie würden sich nicht freuen, aber sie würden es akzeptieren und für ihr Land, das sie lieben, ihr Leben riskieren.“

„Aber das ist es ja: Dies ist nicht mein Land. Nicht einmal meine Welt.“ entgegnete Will schroff. „Erwartest du wirklich, dass ich für etwas, dass ich kaum kenne, mein Leben aufs Spiel setze? Ich meine... Ganz ehrlich, Duncan, würdest du es akzeptieren?“

„Nun... ich... nein. Nein, wahrscheinlich nicht.“ sagte der Junge unsicher. „Aber ich bin auch nur ein Kind. Ich...“

„Und was bin ich?“ schrie Will plötzlich und starrte Duncan an. „Hm? Was bin ich? Bin ich etwa kein Kind? Ich bin erst 17! Ich bin kein Mann, und schon gar kein Held oder Krieger. Ich habe auch keine besonderen Fähigkeiten. Ich bin nur ein... ein Junge. Ein gewöhnlicher Mensch, so wie Millionen andere auch. Also warum? Warum ich?“
 

„Ich weiß es nicht.“ antwortete Duncan nach einiger Zeit. „Wirklich, ich weiß es nicht. Aber es muss einen Grund dafür geben, dass dich das Schicksal auserwählt hat.“

„Und welchen? Kannst du mir das sagen?“ fragte Will kalt.

„Nein, das weiß ich nicht.“ antwortete Duncan. „Ich glaube, das weiß man in solchen Fällen nie so genau. Wir sind nur Menschen; die Absichten höherer Mächte bleiben uns verschlossen.“
 

„Soll mir das ein Trost sein?“ sagte Will. Er nahm einen flachen Kieselstein auf und ließ ihn mit einer schnellen Handbewegung über den Friedwasser-See flitzten. Der Stein sprang zweimal auf der Oberfläche auf, bevor er lautlos in den Grund sank. „Weißt du, dass ich auserwählt bin, bereitet mir keine schlaflosen Nächte. Damit habe ich mich schon fast abgefunden. Es ist eher das Warum, das ich nicht verstehe. Darüber denke ich oft nach. Sehr oft. Glaubst du, dass es überhaupt einen Grund gibt? Oder hat... hat Gott in einen Hut gegriffen und zufällig meinen Namen gezogen?“

„Nein, das glaube ich nicht. Sicher nicht.“ erwiderte Duncan überzeugt. „Ich meine, ich bin nicht gläubig, aber... wenn es einen Gott gibt, dann überlässt er nichts dem Zufall. Dann hat alles, was er tut, einen Sinn. Auch wenn wir ihn nicht verstehen.“

„Aber hat Eeza nicht erzählt, dass der Gott hier den Menschen den Rücken zugekehrt hat?“ fragte Will. „Dass er sich nicht darum kümmert, was hier geschieht? Wie soll er mich dann erwählt haben?“

„Ganz ehrlich?“ entgegnete Duncan. „Eeza ist ein weiser Mann, und er weiß mehr als viele andere. Aber woher sollte er wissen, was ein Gott denkt und tut? Er ist schließlich nur ein Mensch.“

„Nur ein Mensch...“ murmelte Will. „Mmhmm. Nun gut. Aber weißt du, was ich mich auch frage? Eine weitaus interessantere Frage, finde ich. Nehmen wir an, es gibt hier tatsächlich einen Gott. Doch was bedeutet das für solche wie uns? Für Menschen, die nicht aus dieser Welt stammen? Welchen... Einfluss hat Gott wohl auf Fremde?“

„Das weiß nur er selbst.“ antwortete Duncan. Er wusste, dass dies keine befriedigende Antwort war, doch auf die Schnelle fiel ihm nichts anderes ein. Will sagte nichts darauf; er hatte sich wohl keine Antwort erwartet.
  

Die Beiden spazierten weiter, während sie sich anschwiegen, tief in Gedanken. Sie erreichten das Ende des Friedwasser-Sees im Nordwesten des Dorfes. Dort sahen sie eine Sitzbank stehen, einfach gezimmert, ohne Lehne und Verzierungen. Die Bank wurde überschattet von einem gewaltigen Nadelbaum, einer Fichte nicht unähnlich. Es war ein Khálanasto, mit langen und breiten Ästen, die sich dem Himmel entgegenreckten und den Stamm vor allen Augen verbargen. Sie waren voller saftig grüner Nadeln und goldgelben Trieben, die am Ende jedes Astes säulenartig in die Höhe sprossen.
 

Als Will den Baum und die Bank darunter sah, da überkam ihn ein Gefühl der Ruhe. Der Anblick wirkte auf ihn friedlich, und es gefiel ihm. Er beschloss, sich für eine Weile dorthin zu setzen. Der Mittag war vorbei, gegessen hatte er und derzeit standen keine Verpflichtungen an. Deshalb wollte er den Frieden genießen, solange er es konnte.
 

Er teilte Duncan sein Vorhaben mit, und dieser widersprach ihm nicht. Dann lief Will zu Eeza’s Haus, das gleich dort stand, wo der Friedwasser-See in den Fluss mündete. Er holte sich einige Bücher, die er zu lesen plante.
 

Will entschied sich schließlich für drei Bücher: einerseits ein aramarisches Wörterbuch, denn er wollte mehr über die Sprache dieser Welt lernen. Er hoffte, dass wenn er einige Wörter darin beherrschte, würde er vielleicht weniger auffallen.

Das zweite Buch behandelte die Geschichte von Aramar. Obwohl Eeza viel darüber erzählt hatte, so wollte Will noch mehr darüber erfahren. Er sagte sich, dass ein Buch immer noch mehr wusste als ein Mensch. Denn auch wenn das Wissen von Menschen kommt, so können diese es vergessen, ein Buch jedoch nicht.

Das dritte Buch behandelte Beléssan; ein Thema, das ihn ganz besonders interessierte. Kurz hatte er es durchgeblättert, als er es sich ausgesucht hatte, und obwohl er enttäuscht war, dass keine Bilder darin waren, so erstaunte ihn, wie es geschrieben war. Die Schrift in dem Buch war krakelig und wirkte hastig niedergeschrieben, so als hätte der Schreiber vor irgendetwas Angst gehabt.
  

Mit diesen drei Büchern ging Will zu dem Khálanasto-Baum zurück und setzte sich auf die Bank, die darunter stand. Für einen Moment genoss er die Stille und den Frieden, das Vogelgezwitscher und das sanfte Rauschen des Windes. Einen kurzen Augenblick lang ließ ihn dies alle Sorgen und Probleme vergessen.
 

Dann begann er zu lesen. Er blätterte zuerst das Wörterbuch durch. Er überflog die Seiten, auf der Suche nach einem Thema, das ihn interessieren würde. Anfangs ohne Erfolg, blieb er schließlich bei einem Kapitel hängen, das sich „Beleidigungen und Schimpfwörter“ nannte, welches seine Aufmerksamkeit erregte. Interessiert las er die Wörter, und er fand einige, die ihn ansprachen. Zum Beispiel Fellar, Hohlkopf. Oder Useth Pasannas, was Blinder Narr bedeutete. Oder auch Ridanar, was mit Kuhfladengesicht übersetzt wurde. Will konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Er überlegte, wie er diese und andere Wörter anwenden konnte und versuchte, sie sich zu merken.
 

Dann stieß er auf ein weiteres Wort: Morkkan. Als er es las, lief Will ein kalter Schauer über den Rücken. Es wirkte unheimlich und machte ihm beinahe Angst. Die Bedeutung des Wortes schien mit der Zeit verschollen zu sein, denn es wurde als alt bezeichnet, und es gab mehrere Übersetzungen, unter anderem Schatten, Finsternis, Hölle und Teufel. Es war vermerkt, dass das Wort eine sehr arge Beleidigung war und niemals achtlos in den Mund genommen werden sollte. In Gedanken sagte sich Will, es nicht zu verwenden, auch wenn er nicht verstand, warum, denn er kannte weit schlimmere Schimpfwörter.
  

Will las weiter in dem Wörterbuch. Er konnte sich allerdings nicht recht konzentrieren. Immer wieder blickte er auf und beobachtete die Bewohner von Cestilla. Sie konnten ihn nicht sehen, da die Bank abschüssig lag, doch dafür sah Will sie ganz genau. Wie Ameisen flitzten sie durch die Gassen und Felder zwischen den Häusern umher, und sie schleppten Wasser, trugen Feuerholz und beackerten den Feldboden. Keiner von ihnen war faul oder leistete sich Müßiggang. Trotzdem hatte sie alle ein Lächeln im Gesicht, und sie schienen heiter und vergnügt. Will war erstaunt darüber. Obwohl die Lage in Aramar angeblich sehr schlecht war, war den Leuten nichts davon anzumerken. Sie schienen sich keinerlei Sorgen zu machen und hatten keine Angst, weder vor Beléssan noch vor einem drohenden Krieg noch vor dem Tod. Hatten sie so viel Vertrauen darauf, dass Will sie retten würde? Dachten sie gar nicht daran, dass er vielleicht scheitern könnte? Entweder war das Optimismus oder pure Dummheit. Waren sie wirklich so hoffnungsvoll, dann beneidete sie Will. Er konnte diese Zuversicht nicht teilen.
  

Die Zeit verging, während Will durch das Wörterbuch blätterte. Er überlegte, ob er ein anderes Buch lesen sollte, während er immer wieder seinen Blick durch das Dorf schweifen ließ und den Leuten zusah. Er war blind für alles andere, was um ihn vorging.
 

Während er in Gedanken versunken war, da wurden die Schatten zwischen den Bäumen hinter Will dunkler. Ein Nebel trat hervor, der nicht grau und trübe war, sondern schwarz wie eine mondlose Nacht. Er breitete sich gemächlich aus, lautlos. Jeder Baum, den er berührte, wurden von einem schwarzen Dunst umhüllt, und jedes Tier, das ihm zu nahe kam, ergriff verängstigt die Flucht.
 

Langsam nahm der Nebel Gestalt an; keine erkennbare, aber eine Gestalt zweifellos. Er war wie ein gewaltiger Schatten, der sich bewegte und verformte. Bald nahm er die Form ähnlich eines Menschen an. Er hatte keine erkennbaren Konturen oder Gesichtszüge. Nur zwei Augen waren sichtbar, die Will wissend und mit einem fast furchteinflößenden Blick anstarrten. Zweifellos war es ein denkendes Wesen, menschenähnlich und mit Verstand.
 

Will bemerkte nichts von all dem, denn es geschah ohne Geräusch, und er war in Gedanken vertieft. Er merkte nicht, wie der schwarze Nebel um ihn herum waberte und auch ihn einhüllte.

Doch sein Gemüt verfinsterte sich. Alle Zuversicht und Hoffnung verschwand, als der Unbekannte seinen finsteren Schleier um ihn wob. Will legte das Buch zur Seite und starrte vor sich hin. Seinem Gesicht war es nicht anzumerken, doch in seinem Inneren verzweifelte er. Mutlosigkeit und Panik erfüllten sein Herz. Er war kurz davor, völlig aufzugeben und alles, was er sich vorgenommen hatte, in den Wind zu schießen.
  

Ein unnatürlicher Schmerz durchzuckte plötzlich und ohne Vorwarnung seinen Körper. Er nagte an jeder Nervenfaser seines Leibes und war so stark, dass Will fast ohnmächtig wurde. Er konnte nicht mehr atmen. Nichts anderes gab es mehr für ihn als den Schmerz, und eine Sekunde war wie eine Stunde. Jeder Zentimeter seines Körpers, jedes Organ, jede Zelle und sogar seine Seele brannten in einem unsichtbaren Feuer, das gnadenlos loderte und ohne Unterlass.

Will biss die Zähne zusammen. Er wollte schreien, doch kein Ton kam von seinen Lippen. Er konnte nicht denken, so stark waren seine Qualen.
 

Dann aber wanderte der Schmerz in seinen Kopf, wo er verweilte. Es war ein gewaltiger Druck in seinem Schädel, und es fühlte sich an, als würde sein Hirn im Flammen stehen. So schlimm war es, dass sein Verstand drohte, sich abzuschalten.
 

Dann, mit einem Mal, war alles vorbei. Nichts mehr schmerzte ihn. Er fühlte sich besser. Er schwitzte, und er musste heftig atmen, denn die Schmerzen hatten ihm alle Luft aus den Lungen getrieben.
  

Keuchend saß Will da und überlegte voll Angst und Unsicherheit, was dies wohl gewesen war. Doch ihm blieb keine Zeit, eine Antwort zu finden, denn in diesem Moment begann der Unbekannte hinter ihm zu sprechen.

„Ich grüße Euch, junger Therûn. Ich grüße Euch, der Ihr so voller Leid seid.“
 

Will erschrak, als er die Stimme hörte, denn sie war tief und schwarz wie der Grund eines Sees. Er bekam Angst. Doch der Dunkle beruhigte ihn mit seinen Worten und versicherte ihm, kein Leid zu wollen. Viele Worte der Ruhe sprach der Fremde, und in keinem war Lüge. So zügelte sich Will, und seine Furcht wich. Jedoch wollte ihm der Unbekannte nichts über sich verraten, noch nicht einmal seinen Namen, aber Will musste es akzeptieren.
 

Doch dem Finsteren gelang es, das Vertrauen von Will zu erlangen. Eine bizarre Macht ging von ihm aus, die ihm erlaubte, den Jungen zu besänftigen. Nicht ein einziges Mal kam Will der Gedanke, dass der Gesichtslose ein Bösewicht sein könnte, der ihm Übles wollte. So groß war dessen dunkle Macht.
 

Seltsamerweise hatte Will nicht den Wunsch, sich umzudrehen und dem Fremden ins Gesicht zu blicken. Das wunderte ihn gar nicht; es war für ihn aus irgendeinem Grund selbstverständlich. Auch dies schien ein Effekt des Unbekannten zu sein. Seine Macht erlaubte es ihm, Will’s Vertrauen zu gewinnen und dafür zu sorgen, dass der Junge mit ihm sprach wie mit einem guten Freund, ohne Angst und Sorgen.
  

„Wie ich sehe, fällt es Euch schwer, Euch an diese Welt zu gewöhnen.“ sagte der Namenlose schließlich. „Diese Menschen sind soviel anders als Ihr, nicht wahr, mein Herr?“

Will seufzte. „Das ist wahr. Ich lebe hier, inmitten dieser ungewöhnlichen Menschen, und obwohl es keine Gitter gibt, die meine Schritte versperren, so fühle ich mich hier gefangen.“

„Ich verstehe Euch. Ihr passt hier nicht dazu.“ meinte der Dunkle. „Und doch, Euer Ansehen ist groß. Ist es nicht so?“

„Ja, man begegnet mir hier mit großer Achtung.“ erwiderte Will. „So, als wäre ich soviel mehr als ein einfacher Mensch.“

„Oh, aber ja, für die Leute seid Ihr das. Sie rufen Euch Therûn, heißen Euch ihren Erlöser. Für sie seid Ihr der, der diese vom Dunkel erfüllte Welt wieder ins Licht führt. Ist Euch das nicht bewusst?“

„Doch, das ist es, und doch begreife ich es nicht.“ antwortete Will. „Warum gerade ich? Ich bin nicht besser als all die anderen Menschen hier.“

„Trotzdem sind die Leute vom Gegenteil überzeugt. Dafür muss es doch einen Grund geben, meint Ihr nicht?“ fragte der Fremde.
 

„Nein, ich... Wisst Ihr, das Problem ist, dass diese Leute über die Maßen zuversichtlich sind, dass ich sie retten werde.“ antwortete Will nach einigen Augenblicken. „So sehr, dass sie nicht zweimal darüber nachdenken. Sie sind einfach nur glücklich und zufrieden in ihrer Hoffnung. Irgendwie töricht, wenn Ihr mich fragt.“

„Diese Leute... sie sind einfache Geschöpfe.“ entgegnete der Unbekannte. „Stellt Euch vor, Ihr wärt an ihrer Stelle. Sie leben am Rand der Vernichtung. Nahe des Untergangs. Plötzlich kommt jemand und erzählt ihnen, dass er sie retten würde. Was würdet Ihr an ihrer Stelle tun?“

„Ich habe nie gesagt, dass ich sie retten werde!“ sagte Will schroff.

„Doch, das habt Ihr. Entweder direkt oder indirekt. Aber Ihr habt es gesagt, ja.“

„Nein, ich... nie... ich... wie?“ fragte Will verwirrt.

„Wie ich schon sagte: Einfache Geschöpfe. Ein abergläubisches Völkchen.“ antwortete der Namenlose. „Sie glauben an so gut wie alles. Wenn ihnen ein Mann, weiser als sie, sagt, dass laut einer Prophezeiung ein Junge ihr Retter wäre, und wenn jener Junge einen Drachen tötet... nun, was sonst würden sie glauben?“
  

Will seufzte. Für einen Moment hielt er inne. Er überlegte, und dann sagte er: „Denkt Ihr, dass meine Zweifel unsinnig sind?“

„Oh nein, nein. Ganz und gar nicht.“ antwortete der Gesichtslose. „In einer Situation wie der Euren sind Zweifel verständlich. Natürlich. Trotzdem, eines ist mir nicht klar. Ich frage mich: Warum, mein Herr, sucht Ihr die Einsamkeit und vertieft Euch in Gedanken, die längst schon gestorben sein sollten? Was geschehen ist, ist geschehen.“

„Also... Wollt Ihr damit sagen, dass dies ohne mich entschieden wurde?“ fragte Will. „Dass ich gar keine Wahl habe?“

„Nun, ich denke, dass... ja, diese Entscheidung wurde bereits getroffen, ohne Euch.“ gab der Dunkle zurück. „Hier sind höhere Mächte am Werk, viel höher als Ihr. Natürlich könnt Ihr Euch dazu entscheiden, Eurer Bestimmung nicht zu folgen. Leider sind die Alternativen... nun ja, nicht schöner. Ewige Schuldgefühle. Das Wissen, eine ganze Welt dem Untergang überlassen zu haben. Doch wenn Ihr Euch daran nicht stört...“

„Eure Worte machen die ganze Sache nicht willkommener.“ sagte Will ruppig.

„Das sollten sie auch nicht.“ erwiderte der Unbekannte. „Nein. Dies ist kein Spaß. Warum also sollte ich es als solchen darstellen? Euch etwas vorzumachen, hilft kein bisschen.“

„Aber die Wahrheit ist doch nicht unbedingt besser.“ sagte Will zaghaft.

„Doch. Doch, ist sie.“ bellte der Namenlose. „Die Wahrheit ist immer besser, egal wie schlecht. Die schlimmste Wahrheit ist immer noch besser als die schönste Lüge.“

„Die schlimmste Wahrheit...? Was?“ murmelte Will, und dann sagte er entschlossen: „Nein! Nein, Ihr irrt Euch. Es gibt Zeiten, da ist die Wahrheit zu schlimm, um sie zu ertragen. So schlimm, dass die Leute sie nicht aushalten.“

„Unsinn! Dummer Junge!“ entgegnete der Finstere zornig. „Die Wahrheit ist wichtig. Sehr wichtig. Die Leute verdienen immer die Wahrheit, und nicht weniger. Wie unwissend Ihr seid. Ignorant! Seht Ihr, das ist einer der Gründe, warum ich Euch nicht als den Therûn ansehe!“

„Tut Ihr nicht?“ Will war überrascht, diese Worte zu hören. Dies war das erste Mal, dass jemand an seinen Fähigkeiten zweifelte, außer ihm selbst.
  

„Wenn ich ehrlich sein darf... nein, ich frage nicht. Ich bin einfach ehrlich.“ begann der Namenlose. „Ihr, Ihr seid nur ein Kind. Ein normales Kind, wie alle anderen auch. Am Euch ist nichts Besonderes.“

„Ja, das... Ich meine, ich weiß! Ich weiß das!“ sagte Will laut, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. „Ich habe versucht, das den Leuten zu erklären, aber sie hören mir nicht zu. Sobald sie gehört hatten, dass ich ihr Retter sei, war es unmöglich, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Dass ich diesen Drachen getötet habe, war schlicht das Sahnehäubchen.“

„Oh bitte, hört auf, die Leute zu beschuldigen.“ zischte der Unbekannte. „Sie können nichts dafür.“
„Aber ich doch auch nicht!“

„Nein, Ihr auch nicht. Dem stimme ich zu.“ erwiderte der Dunkle. „Aber die Frage ist nicht, wer die Schuld dafür trägt. Die Frage ist: Was werdet Ihr deswegen tun?“

„Was meint Ihr?“ fragte Will verwundert. „Deswegen tun...? Das verstehe ich nicht.“

„Die Leute in Cestilla sind sich sicher, dass Ihr der Therûn seid, und Ihr könnt ihre Meinung nicht ändern. Nicht mehr. Unmöglich. Die Frage also lautet: Was werdet Ihr nun tun?“

„Tja, was sollte ich tun? Ich weiß es nicht.“

„Wenn Ihr meine Meinung hören wollt, so sage ich sie Euch.“ meinte der Namenlose. „Dies solltet Ihr tun: Fragte Euch... fragt Euch wirklich, ob es das wert ist. Diese Leute, meine ich. Ist sie zu retten wirklich wert, Euer eigenes Leben zu riskieren?“
 

Will atmete tief ein und aus. Etwas unsicher biss er sich auf die Lippe, und dann antwortete er mit ruhiger Stimme: „Um ehrlich zu sein... ja. Ja, ist es. Ich kann nicht glauben, dass ich das sage, aber... es ist das wert. Ich weiß nicht, ich... ich wurde mit der Idee großgezogen, dass Anderen zu helfen das Richtige ist. Besonders wenn die Menschen Hilfe verdienen. Es...“

„Ha! Lächerlich!“ unterbrach ihn der Fremde und lachte finster. „Ein falscher Sinn für Ehre. Ist es das, was Euch antreibt? Wie lachhaft! Ihr seid ein noch größerer Narr, als ich dachte. Ja, Ihr seid ein Schwächling.“

„Schwächling? Was... was meint Ihr? Ich...“

„Ganz genau das!“ fuhr der Gesichtslose dazwischen. „Ihr seid ein Schwächling! Schwach! Was seid Ihr als ein einfacher Mensch? Ihr könnt kein Schwert und keinen Bogen führen, und Ihr habt kein Wissen über die Magie. Den Therûn stelle ich mir anders vor. Nicht als einen schwachen Menschen wie Euch. Was gedenkt Ihr zu erreichen? Ich sehe Euch nicht als einen Krieger oder einen Ritter, nein. Ich sehe Euch als einen weiteren Scheiternden, einer von vielen, einen weiteren Verlierer im Buch des Lebens. Einen Versager sollte man Euch nennen, Agracal heiße ich Euch.“

Plötzlich erhob Will seine Stimme, jedoch ohne sich umzudrehen: „Das ist genug! Warum die Beleidigungen? Was soll das? Ihr geht zu weit!“

„Zu weit? Nein, ganz und gar nicht!“ sagte der Dunkle grimmig. „Ich sage schlicht und einfach die Wahrheit. Wenn Ihr sie nicht ertragen könnt, dann seid Ihr noch weniger Mann als ich dachte.“

„Nein, Ihr geht wirklich zu weit.“ erwiderte Will lautstark. „Genug damit! Ich werde das nicht tolerieren. Ihr geht jetzt besser, Ihr... Ihr...“ Geschwind blickte Will in das Wörterbuch, auf der Suche nach einem passenden Schimpfwort. Schließlich nahm er das erste, das ihm ins Auge fiel. „Ihr Morkkan!“

Da begann der finstere Unbekannte zu lachen. Er lachte laut und unheimlich, und sein Gelächter dröhnte in Will’s Ohren. „Morkkan? Ist das Euer Ernst? Ihr seid ein größerer Idiot, als ich anfangs dachte. Ihr sprecht ein Wort aus, ohne seine Bedeutung zu kennen. Ich meine, seine wahre Bedeutung. Wie dunkel und mächtig dieses Wort ist. Narr! Närrischer Junge.“

„Genug! Geht! Jetzt! Fort mit Euch! Schert Euch endlich.“ schrie Will, mit einer Wut, wie er sie selten zuvor gehabt hatte. Doch selbst jetzt war die Macht des Fremden so groß, dass er sich immer noch nicht umdrehte.

Der Namenlose grummelte angewidert. „Schön, wie Ihr wollt. Ich werde gehen. Ich scheine hier meine Zeit zu verschwenden. Doch lasst mich Euch vorher eines sagen: Wir werden uns wiedersehen, ehe Euch der Tod ereilt. Dies verspreche ich Euch.“

„Das will ich nicht hoffen.“ entgegnete Will aufgebracht.

„Hoffnung. Wie amüsant... und elendig nutzlos.“ Der Finstere grinste hörbar, und dann lachte er leise. „Oh, eine letzte Sache noch.“ sagte er schließlich. „Solange Ihr noch über Eure Rolle hier nachdenkt, bedenkt dies: Menschen. Sie sind nutzlos. Denkt daran, was Menschen dieser Welt antun. Dass sie diejenigen waren, die den Krieg gegen die Drachen begonnen haben. Dass sie voll von Hass, Neid und Kriegstreiberei sind. Dass sie niemals in Frieden leben können. Fragt Euch, ob Ihr sie wirklich retten wollt. Dies sage ich Euch, Menschen waren dieser Welt noch nie von Nutzen.“

„Was? Nein, da irrt Ihr Euch. Menschen sind...“ Für einen Moment hielt Will inne, unsicher, während er versuchte, den gerade gehörten Worten einen Sinn zu geben. „Wartet eine Sekunde. Was... Menschen? Was meint Ihr? Was ist mit Euch? Seid Ihr... seid Ihr etwa kein Mensch?“
  

Plötzlich kroch eine Furcht in sein Herz, und ihm kam ein Gedanke, der ihm bisher nicht durch den Kopf gegangen war. Er hatte das starke Verlangen, sich umzudrehen, und mit etwas Anstrengung tat er es schließlich. Er blickte dem Unbekannten direkt in die Augen. Doch wie er sich in diesem Moment wünschte, er hätte es nicht getan! Was er sah, war ein Schrecken jenseits seiner Vorstellungskraft.
 Will war unsicher, was er da tatsächlich ansah. Da war keine richtige Form, kein Körper. Da war nur ein Schatten, der mit der Dunkelheit der Bäume verschmolz. Dunkler war er als alles, was er sich vorstellen konnte, dunkler als seine dunkelsten Träume. Es war eine schwarze Masse, und in dieser Masse war eine Vielzahl von Schatten, die sich bewegten. Obwohl sie sich von selbst bewegten, schien es so, als wäre da ein Gedanke, ein Verstand, der sie steuerte, ein Wille, der sie alle mit demselben dunklen Zweck antrieb. Inmitten dieser Masse von Schatten war ein Paar roter Augen, die Will anstarrten, als wollten sie ihn mit ihrem Blick durchbohren. Sie leuchteten rot, wie ein loderndes Feuer. In ihnen war eine unvorstellbare Menge an Hass und Wahnsinn. Will wusste, dass er sie niemals vergessen würde. Die Erinnerung daran würde seine Träume heimsuchen.  „Was seid ihr?“ flüsterte Will atemlos, voll Angst und Panik. Der Unbekannte antwortete mit einer Stimme noch dunkler und hasserfüllter als zuvor. „Was ich bin, übersteigt Euren Verstand.“ Er lachte, lang und tief. In diesem Moment begann Will’s Kopf wieder zu schmerzen. Es war schlimmer als zuvor; ein unzumutbarer Schmerz, der tief aus seinem Kopf zu kommen schien. Sein Hirn war kurz vor dem Zerbersten, und die Pein war unerträglich. Er konnte nicht denken, nicht atmen, noch nicht einmal vor Verzweiflung schreien. Will’s ganzer Körper bebte, zerbissen vom Schmerz, und er war sich sicher, dass er nun sterben würde. Die dunkle Gestalt lachte nur über Will’s Folter, als würde sie sie viel zu sehr genießen. Unter diesem furchtbaren Gelächter, das an dem Konstrukt seiner Seele nagte, wurde Will schließlich ohnmächtig.

Er erwachte zum Trommeln von Regen; ein Konzert der Natur, das ihn sanft weckte. Mit einem melodiös zarten Ton landeten die Regentropfen auf Gras, Blättern, Holz und Stein. Alleine zu leise, um gehört zu werden, waren sie in ihrer Vielzahl wie ein Feuerwerk aus leisen Klängen, das die gesamte Gegend erfüllte. Abrupt schlug Will die Augen auf, als er die kalten, feuchten Tropfen auf seinem Gesicht spürte. Er richtete sich auf. Sein Kopf tat nicht mehr weh. Er fühlte sich gut, wenn auch ein wenig schwindelig. Mit einer schnellen Bewegung stand Will auf. Er überlegte, wie lange er wohl ohnmächtig gewesen war. Seine Kleidung war nass, doch nur in geringem Maße. Darum schätzte er, dass er nur wenige Minuten bewusstlos gewesen war, oder dass es zumindest erst vor kurzem zu regnen begonnen hatte. Es war immer noch hellster Tag, und auch wenn der Himmel nun von grauen Wolken bedeckt war, so war die Sonne als hellgrauer Schein dahinter erkennbar, und darum konnte nicht viel Zeit vergangen sein. Auch dass noch keiner der Bewohner Cestillas zu ihm geeilt war und sich nach seinem Wohlbefinden erkundigt hatte, bestätigte seine Vermutung. 

Will kam ein seltsamer Gedanke. Er wunderte sich, warum niemand bemerkt hatte, was hier vorgefallen war. Hatte keiner gesehen oder gehört, wie er vor Schmerzen geschrieen hatte? Hatte er überhaupt geschrieen? Er konnte sich nicht mehr recht daran erinnern. Trotzdem musste doch jemand gehört haben, wie er lautstark mit der finsteren Gestalt diskutiert hatte. Hatte niemand den Unbekannten gesehen?

Der Unbekannte! In diesem Moment fiel er Will wieder ein. Für einen Augenblick hatte er völlig auf ihn vergessen.

Er blickte zwischen die Bäume, wo die Figur gestanden hatte. Doch dort war gar nichts. Nur der Khálanasto und die anderen Bäume standen still da, mit feuchten Ästen und feuchten Nadeln, die mit glitzernden Tropfen bedeckt waren. Der Fremde war verschwunden. Fast war es so, als sei er nie da gewesen. Einzig eine unheimliche Ruhe zwischen den Bäumen und ein leichtes Ziehen in Will’s Kopf zeugten von seiner Anwesenheit.

Der Regen nahm an Intensität zu. Die Tropfen fielen schneller und stärker, und aus dem Konzert wurde ein Trommelwirbel. Will sah gen Himmel. Er war sich nicht sicher, doch irgendetwas kam ihm seltsam vor. Der Regen fühlte sich eigenartig an, unnatürlich. So als gehöre er nicht hierher. Die Wolken hatten einen widernatürlichen Glanz. Der Donner, der zwischen den Wolken widerhallte, klang bedrohlich, so als würde irgendetwas seine Wut zum Ausdruck bringen. Will verwarf diesen Gedanken. Ihn kümmerte nur der Unbekannte. Er fragte sich, wer er war, und vor allem, was er bezweckte. Er dachte an die roten Augen, die direkt in seine Seele zu blicken vermocht haben. Selbst jetzt, als er sie sich bloß vorstellte, machten sie ihm eine gewaltige Angst. War das der Zweck des Fremden gewesen? Ihm Angst zu machen? Doch wovor? Oder wollte er ihn einfach nur quälen? Ihn verspotten und foltern? Dabei schien es doch zuerst so, als sei er ein freundlich Gesinnter gewesen. Vielleicht war er einfach nur ein Wahnsinniger, dessen Tun keinen Sinn hatte, außer was er sich selbst einbildete. Doch ein einfacher Irrer wäre nur ein Mensch, doch der Fremde war mehr als das gewesen, oder vielleicht auch etwas ganz anderes. Möglicherweise einer mit dunklen Kräften, schwarzer Magie, dessen Benutzung ihn wahnsinnig werden ließ. Eeza würde es wissen. Da war sich Will sicher. Wenn es einen hier in Cestilla gab, der darüber Bescheid wusste, dann sicherlich der Alte. Außerdem wollte er nicht länger im Regen stehen bleiben, der nun zu stark war, als dass man ihn ignorieren konnte. Würde Will noch einige Minuten länger herumstehen, so wäre er sicherlich bald bis auf die Haut durchnässt.  Mit schnellen Schritten lief Will in Richtung von Eeza’s Haus, denn dort vermutete er ihn. Die Bücher, die er sich geborgt hatte, nahm er mit, dass sie im Regen nicht völlig kaputt wurden. Eeza’s Haus lag zum Glück nicht weit weg, denn es war der Bank und den Bäumen am allernächsten. So hatte Will nicht weit zu laufen. Unterwegs sah er keinen einzigen der Dorfbewohner. Vermutlich hatten sie sich alle vor dem Unwetter in die Häuser geflüchtet. Vielleicht hatte deswegen niemand etwas bemerkt. Will hatte das Haus des Alten bald erreicht. Geschwind öffnete er die Türe und ging hinein. Innen war es düster, denn keine Kerze brannte, und es sah so aus, als wäre niemand da. Will legte die drei Bücher auf den nächstgelegenen Tisch. Dann rief er Eeza’s Namen. Er rief ihn dreimal, doch es kam keine Antwort. Seine Stimme hallte in dem großen Raum wider, doch sonst regte sich nichts. Eeza schien nicht daheim zu sein. Darum beschloss Will, wieder zu gehen und den Rest des Dorfes nach ihm abzusuchen.  Als er aus dem Haus trat, lief gerade eine Dorfbewohnerin vorbei; eine ältere Dame mit einer stärkeren Figur. Sie trug eine Decke über dem Kopf, um sich vor dem Regen zu schützen. Als sie Will aus dem Haus kommen sah, da rannte sie auf ihn zu und sagte: „Junger Herr! Wenn Ihr Eeza sucht, den findet Ihr beim nördlichen Dorftor. Ihn und ein paar andere Leute.“ Will bedankte sich höflich, und dann lief er eilenden Fußes zum oberen Dorfeingang. Er mied das Gras und rannte auf dem mit Kieselsteinen und Erde bedeckten Weg, um nicht noch nässer zu werden, als er ohne schon war.  Er erreichte das Tor in wenigen Minuten. Sogleich sah er eine Gruppe von Personen auf der kleinen Brücke über dem Friedwasser stehen, sowie ein Pferd. Fünf Leute waren es, und die meisten erkannte er. Eeza, Thêl und auch Duncan standen dort. Die anderen beiden Personen waren ihm unbekannt. Es waren ein Mann und eine Frau. Der Mann war etwas kleiner als Thêl, doch von kräftiger Statur und breit um die Hüften. Er trug ein braunes Hemd, und darüber einen silbernen Brustharnisch. Um seine Hüfte hatte er einen großen Gürtel geschwungen, und an seiner linken Seite hing ein Schwert daran. Er hatte ein breites Kinn, das von einem langen, rotbraunen Bart bewachsen war, und am Kopf hatte er dichtes Haar in derselben Farbe, sowie buschige Augenbrauen. In seiner Hand hielt er einen Krug aus Ton, aus dem er hier und da trank. Sein Blick wirkte geistesabwesend, und er wankte ein wenig. Will konnte sich gut vorstellen, was für ein Getränk in dem Krug war. Die Frau neben ihm war unscheinbar. Sie trug einen langen, braunen Mantel, den sie um den Körper gewickelt hatte, und eine Kapuze dazu. So sah man sehr wenig von ihr, außer ihrem schmalen Gesicht und ihren pechschwarzen Haaren. Sie wirkte seltsam angespannt, fast schon genervt. Ihr Blick hing dabei auf dem Mann neben ihr, und vielleicht war das der Grund dafür. Als Will zu der Gruppe stieß, begrüßten ihn Thêl und Duncan freundlich. Eeza und Duncan trugen lange, braune Umhänge mit Kapuze dazu, als Schutz vor dem Regen. Thêl reichte Will ebenfalls einen Umhang, den er gerne und sofort umnahm. Er war aus einem festen Stoff, der als Kleidung sicher unangenehm und steif war, dafür als Regenschutz geeignet war. Er schützte zwar nicht völlig vor den Tropfen, aber hielt sie zumindest ein wenig ab. Will wunderte sich, warum Thêl keinen Umhang trug, aber vielleicht störte ihn der Regen einfach nicht. Er schenkte dem keine Beachtung.  Eeza und der Mann sprachen gerade miteinander. Der Unbekannte redete auf eine seltsame Weise, viel primitiver und weniger vornehm als die anderen Leute hier. Diese Art zu Sprechen kam Will interessanterweise aus seiner Welt sehr vertraut vor. Scheinbar war die Wirkung alkoholischer Getränke immer gleich, egal in welcher Welt man sich befand. Plötzlich bemerkte auch Eeza, dass Will sich dem Grüppchen angeschlossen hatte. Er lächelte ihn an, und dann sagte er zu dem Mann, etwas stolz: „Seht Ihr, das ist der Junge, vom dem ich Euch erzählt habe. Der den Drachen getötet hat. Das ist er.“ Der Mann trat einige Schritte auf Will zu, auf eine schwankende und doch fast bedrohliche Weise. Er blieb vor ihm stehen, und dann musterte er ihn von oben bis unten. Schließlich sagte er, fast zu laut: „Was bitte ist diese Lächerlichkeit?“ Eeza blickte ihn verwirrt an, dann Will, dann wieder den Mann. „Verzeiht, aber was...“ sagte er unsicher, bevor ihn der Mann unterbrach.„Ich will ja nich’ respektlos sein oder so, aber da hab’ ich was anderes erwartet. Ich mein’, was is’n das? Das is nur ’n Kind. Kein Held, wie ihr gesagt habt. Lächerlich, sowas.“


Will fühlte sich beleidigt, und er wollte sich dies nicht gefallen lassen, schon gar nicht von einem Fremden.

„Ich bin nicht lächerlich.“ erwiderte er laut. „Mein Name ist Will. Und wer seid Ihr, bitteschön?“

Der Fremde lachte. „Du kennst mich nich’? Ach, natürlich nich’, was kennst’n du schon? Mein Name ist Balraun. Balraun Scheitelbrück. Ich binner Enkel von Tyver Bienenbrück, dem Helden, der in der Schlacht von Ionith gekämpft hat.“

„Tyver? Ionith? Das sagt mir gar nichts.“ erwiderte Will mit etwas Hohn.

„Was is’? Nix? Das ist doch...“ rief Balraun mit Bestürzung. Er wurde schließlich ernster, und seine Stimme wurde ruhiger, als er weitersprach. „Hast du denn keine Ahnung? Die Große Schlacht von Ionith? Wo Beléssan uns fast ganz alleine besiegt hat. Die Blutfeste von Ionith, wo tausende Männer auf grausamste Weise abgeschlachtet wurden, sogar nachdem die Schlacht schon vorüber war. Ist doch erst sechzig Jahre her!“

„Tja, vor... vor sechzig Jahren war ich noch gar nicht geboren...“ sagte Will etwas kleinlaut.

„Ausreden, nix als Ausreden!“ fuhr Balraun dazwischen, sichtlich erzürnt, und nun sprach er wieder auf angeheiterte Weise. „Die Jugend heutzutage. Kein’ Respekt vor der Geschichte. Kein’ Respekt vor nix! Nix erlebt ham, aber groß daherreden! Das hab’ ich gern, hab’ ich. Ich sollte dir in dein’ Arsch...! Aber das wäre ’ne Verschwendung von Energie, die du nich’ wert bist. Und ich bin ja ’n friedlicher Mensch. Sprich einfach nich’ mehr mit mir, ja?“ Dann wandte er sich an Eeza. „Wo war’n wir steh’n geblieben?“
  

Will warf Thêl und Duncan einen verwirrten Blick zu. Die beiden entschuldigten sich für Balraun. Sie erklärten, dass er aus Pelin kam, einem Dorf an der Küste weit im Norden. Er stammte aus einer Familie ruhmreicher Helden, und obwohl er selber wenig heldenhaft war, sah er sich ebenfalls als einen großer Krieger. Tagein, tagaus erzählte er von Abenteuern, die er erlebt hatte, wenn auch in Wirklichkeit nichts davon passiert war. Doch alles, woran er glaubte, alles, was das Leben für ihn noch lebenswert machte, war auf dem Heldenblut aufgebaut, dass seiner Meinung nach auch in ihm floss. Er wusste, dass die Zeit für Heldentaten für ihn vorüber war, da er nicht mehr der Jüngste war, doch das hinderte ihn nicht daran, wilde Geschichten zu erzählen. Wer daran Kritik übte, den erinnerte er an die ruhmreichen Taten seiner Vorfahren. Er war an vielen Orten bekannt für seine Angebereien, wenn auch nicht im positiven Sinne, doch das störte Balraun nicht, hauptsache man kannte ihn. Berüchtigt war er allerdings auch dafür, andauernd Alkohol zu konsumieren, was sich freilich auf seine Persönlichkeit auswirkte. Es machte ihn vergesslich und verwirrt. Er wurde ausfallend und schimpfte und vergaß den Respekt, den er selbst von anderen erwartete.
 

Will aber war das egal. Er konnte ihn nicht leiden. Er hielt sich aus der Unterhaltung raus, und auch nur, damit er nicht mehr mit Balraun reden musste. Thêl dagegen nahm mit Interesse daran teil.
  

„Ihr erzähltet gerade von Dondoran.“ sagte Eeza in diesem Moment. „Ihr meint doch Dondoran das Schwergewicht, nicht wahr?“

„Jaja, genau der. Der angeblich so mutige Held.“ entgegnete Balraun. „Dondoran das Schwergewicht. Dondoran das Starkherz. Pah! Dondoran der Feigling! Er hat die Bröckelburg allein betreten, aber keine zwanzich Minuten später kam er wieder raus. Leichenblass. Hat selber ausgeseh’n wie so ’n Gespenst.“

„Und sagt, hat er Euch erzählt, was er sah?“ fragte Thêl gespannt.

„Ach, das Übliche.“ antwortete Balraun mit einem Schulterzucken. „Geflüster inner Dunkelheit. Huschende Schatten. Menschenähnliche Schemen, weiß und durchsichtig, mit leeren Augen. Der ganze Mist halt. Oh, ach ja, und Schritte.“

„Schritte?“

„Jaja, Schritte. Sag ich doch.“ erklärte Balraun. „Schritte, die durch die verlassenen Korridore der Burg hallen, obwohl niemand zu sehen is’, der sie macht. Das Getrappel war... wie hat er das gesagt...? Ach ja: War mal nah, mal fern. Mal weit weg, dann wieder direkt neben ihm. Das... hat Dondoran jedenfalls erzählt. Was weiß ich. Feiger Bastard.“
  

„Faszinierend. Also sind die Geschichten wahr. Es gibt tatsächlich Geister in der Bröckelburg. Unglaublich.“ sagte Eeza, jedoch mehr zu sich selbst.

„Na, das könnt Ihr aber glauben!“ erwiderte Balraun laut. Er trank einen großen Schluck aus seinem Krug, bevor er lautstark und mit übertriebenen Gesten weitersprach. „Total verrückte Viecher, das könnt Ihr glauben. Wisst Ihr, ich hab’ selber mal gegen so’n Geisterdings gekämpft. Von ’ner alten Hexe ihr Geist oder so. Das war vielleicht ’ne hässliche Kreatur. Richtig alt und runzlich. Grauenhaft! Und ’ne Stimme hatte die! Konnte einem das Blut in den Adern gefrieren lassen. Ihr Schrei war ’n Alptraum. So...“ Balraun tat einen Schrei, der hoch und kreischend war und den Anderen in den Ohren wehtat, obwohl er äußerst lächerlich klang. „So ungefähr. Schreckliches Monstrum! Aber ’n Held wie ich lässt sich von so ’nem Zeugs nich’ abschrecken. Ich hab’ mein Schwert gezogen und...ZACK!“ Er tat so, als würde er mit einem Schwert herumfuchteln und zuschlagen, als ihm die Frau neben ihm plötzlich eine Ohrfeige verpasste.

„Jetzt hör doch auf mit deinen albernen Geschichten.“ sagte sie streng, wie zu einem kleinen Kind. „Es gibt wichtigere Dinge zu bereden.“

Balraun rieb sich seine linke Wange, und dann sagte er grimmig: „Oh, Verzeihung. Mein Fehler. Ich hab’ mich geirrt, hab’ ich mich. Ich hab’ die Hexe nicht getötet. Ich hab’ sie geheiratet!“
 

Er brach in schallendes Gelächter aus. Er wand sich vor Lachen regelrecht hin und her, und dabei verschüttete er ein Bisschen von seinem Getränk. Will und Duncan unterdrückten ihr Lachen, während Thêl und Eeza den Spaßvogel etwas angewidert anstarrten. Die Frau aber verpasste Balraun noch eine Ohrfeige; diesmal so stark, dass dieser beinahe das Gleichgewicht verlor.

„Jetzt sei endlich still und komm zum Punkt, du Saufbold!“ schrie sie. „Sag ihnen, warum wir hier sind.“
 

Balraun, in einer unerwartet schnellen Bewegung, zog sein Schwert und hielt es der Frau direkt ins Gesicht. „Verdammich, Weib, sag mir nicht, was ich zu tun hab’!“ brüllte er grimmig. „Sonst steck’ ich dir mein Schwert ins Maul, anstatt wie sonst...“

„Du Großmaul!“ unterbrach ihn die Frau schreiend, und dafür waren die anderen äußerst dankbar. „Lächerlich! Ich weiß, dass du mich niemals töten würdest. Kannst du nicht.“

Balraun starrte die Frau für einen Moment wortlos an. Dann steckte er sein Schwert weg und sagte: „Na, das stimmt. Recht hast du, Rebi. Das kann ich wirklich nich’. Wir wurden vom Schicksal vereint, und wir bleiben bis zu unserem Tod zusammen.“
Die Frau seufzte. „Andererseits, vielleicht solltest du mir die langen Qualen ersparen und mich gleich umbringen...“ Als er das gehört hatte, da lachte Balraun laut. „Du bist mir vielleicht eine.“ gackerte er. Er legte einen Arm um sie, und dann wandte er sich an die Anderen. „Ich hab’ sie euch noch nich’ vorgestellt, gell? Das is’ meine Frau, Rerebras. Ich nenn’ sie immer Rebi, denn das mag sie. Ni’ wahr, Rebi?“„Ach, halt doch einfach deinen Mund.“ antwortete die Frau kalt und rollte mit den Augen.„Jaja, sie liebt mich.“ meinte Balraun lachend.  Schließlich schubste Rerebras Balraun zur Seite und tat einen Schritt vorwärts.„Ich glaube, ich sollte jetzt sprechen.“ sagte sie. „Aus dem Mund meines Mannes kommt nichts Intelligentes, und für Streit und Ohrfeigen bin ich nicht hierher gekommen. Das kann ich daheim auch haben.“„Das glaube ich Euch gerne, Mylady.“ erwiderte Thêl mit einem Grinsen. „So sagt uns, warum ihr den weiten Weg von Pelin hierher genommen habt.“„Ganz einfach: Weil es Pelin nicht mehr gibt.“

Eeza und Thêl schüttelten ungläubig den Kopf, doch bevor sie Fragen stellen konnten, sprach Rerebras schon weiter: „Pelin wurde überfallen und niedergebrannt. Von Beléssan’s Truppen. Von seinen Bündlingen und anderen Kreaturen. Sie kamen am helllichten Tag, was ungewöhnlich ist, doch dadurch konnten wenigstens einige fliehen. So auch wir, glücklicherweise. Doch viele waren nicht schnell genug. Die, die nicht schnell weglaufen konnten... die Alten und die Kinder... Sie wurden gnadenlos niedergemetzelt. Und... unsere Heimat ist zerstört. Wir können nie wieder dorthin zurück.“ Tränen bildeten sich in ihren Augen, als sie an das Ereignis zurückdachte, doch sie wischte sie sich weg und vermied es zu weinen. „Das ist schrecklich.“ meinte Eeza bestürzt. „Eine Katastrophe! Mein Beileid für euch und all die anderen, die ihr Zuhause verloren haben. Ein schwerer Schicksalsschlag. Ich verstehe nicht, warum Beléssan dies getan hat.“„Ich auch nicht.“ fügte Thêl hinzu. Dabei warf er einen nachdenklichen Blick auf Will. Dieser verstand, was sich der Krieger dachte, doch er sagte nichts.„Ich will nicht abweisend erscheinen, doch... warum kamt ihr gerade hierher?“ fuhr Eeza fort. „Wo Cestilla doch so weit weg ist. Gab es keine einfachere Möglichkeit, Unterschlupf zu finden?“„Ihr habt schon Recht.“ entgegnete Rerebras. „Sicher hätte es nähere Zufluchtsorte gegeben. Doch leider haben wir keine lebenden Verwandten, doch dafür einen guten Freund, der hier lebt.“„Tatsächlich? Wer ist es?“ fragte Thêl neugierig. „Sein Name ist Jaron. Jaron Anuun.“ antwortete Rerebras. Thêl und Eeza waren überrascht, und Will zog die Augenbrauen hoch.

„Jaron?“ fragte Thêl verblüfft. „Jaron ist der Freund, den ihr sucht?“

„Ja, kennt Ihr ihn? Er ist ein alter Freund aus Kindertagen.“

„Freilich, gut sogar.“ erwiderte Thêl. „Doch es überrascht mich, das zu hören, denn ich dachte, Jaron sei in Cestilla geboren worden.“

„Mitnichten, er stammt aus Pelin.“ sagte Rerebras. „Wir haben als Kinder oft zusammen gespielt. Doch als wir alle etwas zehn Jahre alt waren, da hat sein Vater Jahan mit ihm zusammen Pelin verlassen und ist hierher gezogen. Warum, das... das weiß ich nicht mehr.“

„Wo is’n der alte Bastard?“ rief Balraun plötzlich, und dann er schrie er Jaron’s Namen, so laut, dass einige Dorfbewohner verwundert aus dem Fenster sahen. Rerebras gebot ihm sogleich, still zu sein, und er folgte.
 

Thêl und Eeza warfen sich einen traurigen Blick zu, und schließlich seufzte Eeza und sagte bedrückt: „Nun, ich weiß nicht, wie ich das sagen soll. Darum sage ich es direkt. Er ist tot.“

„TOT!?“ rief Balraun, und dabei spuckte er den Schluck, den er gerade getrunken hatte, aus. Sogleich packte er Eeza am Mantel und brüllte ihm ins Gesicht: „Was heißt, er ist tot? Was ist passiert? Wie ist das passiert? Sagt schon, los! Sprecht!“ Rerebras aber hielt ihn zurück, und schließlich ließ Balraun den Alten wieder los.

„Er ist im Kampf gefallen.“ fuhr Eeza fort. „Der Drache, von dem ich Euch erzählt habe... der das Dorf angegriffen hat... Jaron hat sich ihm entgegengestellt. Er hat tapfer gekämpft, doch er konnte das Monster nicht besiegen. Tut mir leid.“

„Ein Drache? Ein Drache!“ keuchte Balraun. „Das glaub’ ich nich’! Wartet, war das derselbe Drache, den der Kleine...?“ Er zeigte auf Will, und Eeza nickte. Daraufhin schrie Balraun Will an: „Wie kann das sein!? Wie konntest du einen Drachen töten, an dem Jaron gescheitert ist? Er war hundertmal soviel Mann wie du.“

„Es tut mir leid um Euren Verlust.“ erwiderte Will ruhig. „Jaron war ein guter Mensch und ein Ehrenmann, der bis zu seinem Tod tapfer gekämpft hat. Doch bitte, gebt nicht mir die Schuld dafür.“
 

Auf einmal wurden Balraun’s Augen voll von Trauer. Mit schwacher Stimme sagte er: „Ich... geb’ dir ja gar nicht die Schuld. Es ist nur... Ich... Ich kann das alles einfach nicht glauben. Unser Zuhause ist zerstört. Jaron ist tot. Das... das... das ist sogar für einen wie mich zuviel.“

Nun bekam sogar Rerebras Mitleid mit ihrem Mann. Tröstend legte sie eine Hand um ihn, und er griff hilfesuchend danach.
 

„Es tut mir wirklich sehr leid. Alles.“ sagte Eeza schließlich. „Selbstverständlich könnt ihr Jaron’s Haus als Unterkunft nutzen. Das ist das Mindeste, was wir für euch tun können. Ich wünschte, es gäbe noch mehr, das wir so vom Schicksal gestraften Leuten anbieten können. Ihr könnt solange in Cestilla bleiben, wie ihr es wünscht. Zwar steht es eigentlich nicht in meiner Macht, dies zu entscheiden, doch das ist mir egal. Bleibt. Hier werden euch alle mit offenem Herzen empfangen.“
 

Balraun und Rerebras dankten Eeza für seine Freundlichkeit. Sie nahmen das Angebot gerne an. Immer wieder betonten sie, wie sehr sie dies zu schätzen wussten. Sie versuchten, ihre Tränen zu verbergen, doch es gelang ihnen kaum. Balraun wischte sich mehrmals mit der Hand übers Gesicht, doch er weinte nicht, denn er wollte seinen Kriegerstolz nicht verletzt sehen. Rerebras sagte nichts, sie blickte nur traurig zu Boden.
 

Eeza, Thêl und die Knaben führten die Beiden zu Jaron’s Haus, nachdem sie ihr Pferd in einem Stall untergebracht hatten. Das Haus war eine kleine Hütte mit Garten, die im Südosten des Dorfes lag. Dort ließen sie Balraun und Rerebras mit ihren Gedanken und ihrer Trauer allein.
  

Die Vier gingen dann den Weg durch das Dorf entlang, während sie sich berieten.
 

„Ich verstehe das alles nicht.“ begann Thêl. „Warum sollte Beléssan Pelin angreifen? Bisher hat er sich damit begnügt, friedlich auf seine Art zu herrschen. Was hat sich jetzt geändert?“

„Ich weiß, was ihr alle denkt.“ sagte Will plötzlich, und er starrte Thêl und Eeza an. „Es ist meinetwegen. Das denkt ihr doch, oder? Beléssan weiß, dass ich hier bin, und nun greift er andere Dörfer an. Ich... weiß zwar nicht, warum, aber wird schon einen Grund haben. Vielleicht um uns oder andere einzuschüchtern. Ich weiß es nicht.“

„Nein, das haben wir nicht...“ erwiderte Eeza abweisend.

„Gesagt?“ unterbrach ihn Will. „Nein, aber ihr denkt es, nicht wahr?“

„Ich schwöre dir, wir geben dir keine Schuld für irgendetwas. Du hast nichts Falsches getan.“ sagte Thêl beschwichtigend.

„Wisst ihr, was ich wirklich denke?“ meinte Eeza. „Ich denke, Cestilla ist nicht mehr sicher. Der Drache, den Durzog geschickt hat, um dieses Dorf zu vernichten... Er wurde getötet. Doch wie lange, bis Beléssan oder einer seiner Handlanger noch ein Monster schickt? Oder vielleicht selbst vorbeikommt? Das ist ein Risiko, das wir nicht eingehen können.“

„Sorgt Ihr Euch um die Sicherheit des Jungen?“ fragte Thêl.

„Um die, und um die der Bewohner von Cestilla.“ antwortete der Alte. „Die Leute tragen keine Schuld an dieser Sache. Wir haben schon zu viele durch den Drachen verloren. Ich werde nicht zulassen, dass das noch einmal geschieht.“

„Was wollt Ihr tun?“ fragte Duncan.

„Ich denke, es gibt nur eine Möglichkeit. Wir müssen Cestilla verlassen.“

„Cestilla verlassen?“ Thêl schüttelte ungläubig den Kopf. „Fortgehen? Haltet Ihr das für eine gute Idee?“

„Ja, ich denke schon.“ meinte Eeza. „Wenn wir hier bleiben, dann gefährden wir das Leben der armen Leute hier. Kommt der Feind, dann unseretwegen. Es klingt hart, aber es ist so.“

„Aber was, wenn der Feind kommt, auch wenn wir nicht mehr hier sind?“ sagte Thêl. „Wenn Beléssan das Dorf trotzdem angreift? Dann sind wir nicht mehr hier, um die Leute zu beschützen.“

„Wenn Beléssan wieder einen Drachen schickt, oder Schlimmeres, wie viel können wir Vier dann schon ausrichten? Beim letzten Mal hatten wir Glück. Doch wenn eine ganze Armee hier anrückt, werden uns selbst der Junge und das Schwert nicht retten können. Warum erneut sein Leben riskieren? Thêl, mein Freund, ich sage Euch, im Zweifelsfall ist das Leben des Therûn mehr wert als das dieser Leute. Es ist leider so.“ Er atmete einmal tief ein und aus, seine Gedanken sammelnd. „Doch ich denke trotzdem, dass das Dorf ohne uns sicherer ist. Es wäre zwar möglich, dass ich mich irre, doch... Wenn wir hier bleiben, gefährden wir Cestilla auf jeden Fall. Garantiert. Aber wenn wir gehen, dann haben sie eine Chance, dass Beléssan ihnen keine Beachtung schenkt. Vergesst nicht, er will uns. Den Therûn! Diese Bauern sind für ihn ohne jegliche Bedeutung. Außerdem... Wir müssen so oder so irgendwann fortgehen, wenn wir etwas gegen Beléssan unternehmen wollen. Warum also gehen wir nicht gleich?“

„Aber wohin sollen wir gehen?“ fragte Thêl aufgebracht. „In die Wildnis? Nach Eurer Logik ist kein Ort für uns sicher. Ich weiß, Ihr denkt, dass der Feind uns beobachtet. Das tue ich auch. Doch heißt das nicht, dass egal wohin wir gehen, wir jedes Dorf in Gefahr bringen? Weil Beléssan jedes Dorf und jede Stadt angreifen würde, in die wir ziehen? Ist es nicht so? Wohin also können wir gehen?“

„Macht Euch keine Sorgen, Thêl. Ich kenne einen Ort, der sicher ist.“ erwiderte der Alte.
 

Thêl seufzte. „Was ist das für ein Ort? Wohin sollen wir gehen?“

Eeza überlegte für einen kurzen Moment, und dann sagte er: „Ich denke, die beste Lösung wäre Bessain. Das ist eine kleine Stadt, die nördlich des Mirdare-Waldes liegt, und westlich von dort, wo der Fluss Nenuin sich teilt.“

„Bessain? Ist das ein sicherer Ort?“ fragte Thêl.

„Das ist es, mein Freund.“ antwortete Eeza. „Denn es ist keine Ortschaft, wie Ihr sie erwarten würdet, sondern eine unterirdische Stadt.“

„Eine Stadt unter der Erde?“ entgegnete Thêl überrascht.

„In der Tat.“ erklärte der Alte. „An der Oberfläche sieht man nur Ruinen; die Überreste der stolzen Stadt, die Bessain einst war. Doch unter der Erde gibt es ein gewaltiges Netzwerk aus Kammern, Hallen und Korridoren.“

„Aber ist diese Stadt sicher?“ fragte Thêl ungeduldig.

„Ja. Der Feind weiß nicht, dass es sie gibt. Er denkt, er hätte sie vor Jahrzehnten zerstört. Außerdem habe ich dort Freunde. Freunde, die uns bei unserem Vorhaben helfen können.“
 

Für einige Augenblicke sagte niemand etwas, und sie starrten sich nur an, auf eine Reaktion des anderen wartend.
Schließlich aber sprach Thêl verbissen: „Freunde. Pah! Eure Freunde sind nicht meine Freunde, und das ist mir nur recht so. Ich stimme Euch zwar zu, dass wir hier nicht bleiben sollten, doch ich bin mir nicht sicher, ob Bessain eine so gute Idee ist.“

„Also ich vertraue ihm.“ warf Will plötzlich ein, und seine Stimme war fest und sicher.

„Natürlich tust du das.“ erwiderte Thêl. „Irgendjemandem musst du ja vertrauen, gerade hier in einer für dich so fremden Welt. Du weißt es eben nicht besser. Doch gerade bei Eeza solltest du vorsichtig sein.“

„Ich habe da etwas Anderes gehört.“

„Ach? Nun, du wirst viel hören.“ meinte Thêl, und sein strenger Blick ging zwischen Will und Eeza hin und her.

„Werde ich das?“ fragte der Junge mit einer erhobenen Augenbraue.

„Ja. Zum Beispiel, dass man vorsichtig sein sollte, wem man traut. Besonders den Leuten, die einem nahe stehen.“ Thêl’s Blick ruhte dabei auf Eeza.
 

Will zögerte für einen Moment, und dann verschränkte er die Arme und sagte: „Also... gilt das auch für Euch, Thêl?“

Der Krieger riss die Augen auf, überrascht, dass seine etwas schwache Logik zerbrach. Er schwieg für einen Augenblick, bevor er schließlich grummelte: „Wie auch immer.“ Er seufzte. „Also gut. Gehen wir nach Bessain. Aber wir gehen alle gemeinsam. Irgendjemand muss ja auf dich aufpassen.“

„Soll mir recht sein.“ erwiderte Will schulterzuckend.

„So sei es.“ fügte Eeza hinzu. „Euer Schwert wird nützlich sein, Thêl, zumindest mehr als Eure Zunge.“

„Und Ihr wundert Euch, warum ich Euch nicht leiden kann.“ knurrte Thêl.

„Nein, das tue ich gar nicht.“ entgegnete Eeza mit einem Lächeln.
  

„Was ist eigentlich los mit euch?“ fragte Will plötzlich, als Thêl und Eeza schon am Gehen waren. „Ich dachte, ihr mögt euch. Dass ihr Freunde seid. Zumindest hatte ich diesen Eindruck. Warum dieses Misstrauen? Warum diese Streitereien?“

„Freunde? Ha! Dass ich nicht lache! Ein guter Witz!“ antwortete Thêl ernst. „Nein, wir sind keine Freunde. Wir sind Partner, in Ermangelung eines besseren Wortes. Aber ich mag ihn nicht. Ich kann ihn tolerieren, zumindest meistens. Ja, manchmal respektiere ich ihn sogar. Er ist weise und klug; viel klüger, als ich jemals sein kann. Aber... Eeza, er... er hat Geheimnisse. Nein, er ist ein lebendes Geheimnis. Er schmiedet Pläne. Geheime Pläne... über wichtige Dinge. Und er teilt keinen einzigen davon. Deshalb scheint es mir so, als würde er mir nicht vertrauen, und doch erwartet er dasselbe von mir, was mir schwer fällt.“ Für einen Moment hielt der Krieger inne, um seine Gedanken zu sammeln. „Trotzdem, ich weiß, was er erreichen will, und ich weiß, auf welcher Seite er steht. Für den Moment ist mir das gut genug.“
 

Ohne etwas darauf zu erwidern, wandte sich Will an Eeza. „Was habt Ihr dazu zu sagen?“

„Ich habe kein falsches Wort vernommen.“ meinte der Alte. „Es ist wahr, ich habe viele Geheimnisse. Doch ich habe meine Gründe dafür. Mehr werde ich dazu nicht sagen.“ Er begann, langsam von dannen zu gehen. Doch dann blieb er stehen, und er sagte: „Thêl, ich verspreche Euch dies: Ich vertraue Euch. Das tue ich wirklich. Ansonsten würde ich gar nicht mit Euch arbeiten.“

Thêl fühlte sich dadurch angestachelt. „Warum trefft Ihr dann all Eure Entscheidungen alleine?“ rief er mit einer fast schon verzweifelten Stimme. „Warum habt Ihr dabei kein Vertrauen in mich? Obwohl Ihr wisst, dass ich dasselbe will wie Ihr. Warum diese Geheimniskrämerei?“

„Wie ich schon sagte, ich habe meine Gründe.“

„Das genügt mir aber nicht.“ schrie Thêl laut und zornig.

„Thêl, Ihr habt mir vom ersten Tag, an dem wir uns getroffen haben, vertraut. Immer.“ sagte Eeza ruhig. „Was hat sich geändert?“

„Ganz im Ernst? Ihr!“ erwiderte Thêl verbissen, und er richtete seinen Zeigefinger auf den Alten. „Ihr habt Euch verändert. Ich bin nicht ganz sicher wie, doch ich weiß es. Ihr habt Euch verändert, Eeza.“

„Nun, das mag schon sein.“ meinte dieser gelassen. „Die letzten Jahre waren schwierig. Dauernd Krieg und Tod und Hoffnungslosigkeit vor Augen... Das verändert jeden Mann, macht ihn härter. Unerbittlicher. Erbarmungsloser. Das gilt für Euch, wie wohl genauso für mich. Doch... habe ich mich so sehr verändert, dass Ihr all Euer Vertrauen in mich verloren habt?“

„Nein, nicht alles.“ antwortete Thêl kühl. „Und doch, sehr viel davon.“
 

„Das ist wegen der Sache mit dem Drachen, nicht wahr?“ fragte Eeza mit einem strengen Blick.

„Das ist nur die Spitze des Eisbergs.“ sagte Thêl ungestüm. „Ich will nicht alle Eure Taten aufzählen, die unrecht waren. Doch wie oft habt Ihr Dinge riskiert... Dörfer. Städte. Menschenleben! Und zu welchem Zweck? Damit Ihr eine Theorie beweisen könnt, an die Ihr fest glaubt. Das ist nicht richtig!“

„Das mag sein. Doch sagt mir eines: Habe ich nicht jedes Mal Recht behalten?“ konterte Eeza mit ruhiger Stimme. „Haben sich meine Theorien nicht jedes Mal als wahr herausgestellt, und wurden dadurch nicht all die Städte und Menschenleben, die Ihr erwähnt habt, vor dem sicheren Tod bewahrt? Ist es nicht so?“

„Das ist so, und daran gibt es auch nichts auszusetzen. So falsch Eure Methoden auch sind, gerettet haben sie uns oft. Aber... Mein Problem ist ein anderes. Eines Tages werdet Ihr wieder eine Theorie haben. Ihr werdet ein Leben riskieren, oder viele, oder etwas anderes. Und dann werdet Ihr Euch irren. Dann werdet Ihr daran Schuld haben, dass viele Menschen ihr Leben verlieren. Nur weil Ihr ein unnötiges Risiko eingehen musstet. Das wird passieren, irgendwann. Ich weiß es. Und dann werden wir sehen, ob Ihr dann immer noch so überzeugt von Euch seid.“
 

Für einen Moment, der ewig lange schien, fixierten sich Thêl und Eeza mit einem durchdringenden Blick, ohne ein Wort zu sagen.
 

Schließlich aber seufzte Eeza, und er sprach: „Euer Mangel an Vertrauen in mich ist enttäuschend, Thêl. Ich dachte, dass Ihr mittlerweile meiner Weisheit und meinem Urteil vertraut. Doch... daran werde ich so schnell nichts ändern. Denn Ihr seid stur. Warum es also versuchen? Warum versuchen, Dinge zu ändern, die außerhalb meiner Kontrolle liegen? Wir werden sehen, wer am Ende Recht hat.“
 

Er drehte sich um und wollte bereits gehen, doch Thêl, aufgeregt und zornig, ließ sich nicht mit leeren Worten abspeisen.

„Warum lauft Ihr davon?“ rief er. „Fürchtet Ihr die Wahrheit? Lauft Ihr vor der Wahrheit davon?“

„Die Wahrheit? Nein, Thêl.“ erwiderte Eeza. „Etwas wird nicht zur Wahrheit, nur weil Ihr es als solche erachtet. Es ist bloß Eure Meinung, die ich jedoch respektiere. Ich habe auch meine Meinung, und ich denke, egal wie lange wir hier diskutieren, wir werden uns niemals einig werden. Nein, dies kostet uns nur wertvolle Zeit. Zeit, die zu verschwenden wir uns nicht leisten können. Thêl, hört zu, ich verspreche, wir werden weiter über dieses Thema sprechen. Wir werden eine Zeit und einen Ort dafür finden. Doch nicht hier und nicht jetzt. Wir sollten nach Bessain gehen, wie wir es abgesprochen hatten. Ich denke, es ist das Beste, wenn wir gleich morgen in der Frühe aufbrechen. Einverstanden?“

„Schon wieder wollt Ihr Euch herausreden. Aber gut. Auch ich bin das Diskutieren leid. Insofern stimme ich Euch zu, es führt zu nichts.“ grummelte Thêl. „Von mir aus. Doch dies ist noch nicht vorbei. Ich werde es nicht vergessen, alter Mann.“

„Da bin ich mir sicher.“ entgegnete Eeza mit einem Lächeln.
  

Sodann verließ Thêl mit einem genervten Gesicht die Gruppe, zu seinem Haus, um sich auf die Abreise vorzubereiten. Eeza blickte ihm eine Weile mit traurigen Augen hinterher und schüttelte den Kopf. Dann war es, als wäre er aus einem Traum erwacht. Sogleich wandte er sich an Will und Duncan. Er riet ihnen, sich ebenfalls auf die Reise vorzubereiten. Duncan stimmte dem zu, und versprach, sich darum zu kümmern. Will dagegen vertraute dabei auf seinen Freund. Er hatte keine Ahnung von dieser Welt, und was man auf einer Reise hier so brauchte. Damit schien Duncan kein Problem zu haben.
  

Auf dem Weg zu Armári’s Haus vertiefte sich Will wieder in seine Gedanken. Ein wenig ärgerte es ihn doch, dass sie Cestilla nun verlassen mussten. Fast hatte er sich daran gewöhnt. Ja, es gefiel ihm hier schon beinahe. Doch andererseits stimmte er den Anderen zu, dass es gut war, die Leute hier nicht unnötig in Gefahr zu bringen. Besonders, wo er es doch war, der andere in Gefahr brachte. Er war es, den der Feind wollte. Der Gedanke missfiel ihm, doch er machte sich deswegen keine großen Sorgen, denn er war hier nicht auf sich allein gestellt. Außerdem war er doch sowieso völlig fremd hier, da war ein Ort genauso gut wie der andere. Hauptsache, Thêl, Eeza und Duncan waren da, um ihm zu helfen und ihn zu beschützen. Er vertraute ihnen allen, egal was der andere sagte.
 

Was ihn mehr störte, noch mehr als die Streitereien von Eeza und Thêl, war die Tatsache, dass er nicht von dem finsteren Unbekannten erzählen hatte können. Er hätte Eeza zu gerne gefragt, wer er war und was er von ihm gewollt hatte. Eeza hätte es bestimmt gewusst.

Auf der anderen Seite, der Weg nach Bessain würde bestimmt länger dauern. Sicherlich würden sich Gelegenheiten finden, ihm davon zu berichten. Derzeit schien Eeza sowieso andere Gedanken zu haben, und er hätte jetzt sicher nicht die Muße dafür gehabt. Außerdem, wie wichtig konnte es schon sein?

Die Reise nach Bessain

Will blickte zurück. Der Palisadenzaun von Cestilla war deutlich zu erkennen. Wie die Mauer einer Festung ragte er aus dem Nebel empor.

 

Sie hatten Cestilla vor nicht einmal zehn Minuten verlassen. Und doch hatte Will bereits Sehnsucht, wieder dorthin zurückzukehren. So ungern er sich auch in dieser Welt befand, so wäre er doch lieber hinter den Mauern des Dorfes geblieben, wo er sich sicher fühlte. Zumindest sicherer als hier draußen.

 

Doch ihm war klar, dass dies nicht möglich war. Er verstand, warum sie Cestilla verlassen mussten. Sie durften das Dorf und seine unschuldigen Bewohner nicht zum Ziel von Tod und Zerstörung werden lassen. Er war der Auserwählte, und als solcher musste er die Menschen davon bewahren. Obwohl er sich nicht sicher war, ob dies die richtige Lösung war. Aber er vertraute auf das Urteil von Eeza und Thêl. Wenn er ihnen nicht vertrauen konnte, wem dann?

 

 

Will erinnerte sich an den Abschied von Cestilla. Er war herzlicher ausgefallen, als er sich gedacht hatte; zumindest von Seiten der Bewohner. Viele weinten, dass er sie verlassen musste, und die meisten wollten seine Hand schütteln. Obwohl er sich über soviel Liebe freute, war ihm das dann doch etwas zuviel gewesen.

Doch während ihn die Meisten mit viel Zuneigung verabschiedeten, war es Indúlas der Dorfälteste, der ihm als einziger ein Geschenk zum Abschied machte. Es war ein Ring. Den Federfuß-Ring hatte ihn der Alte genannt. „Ein magisches Schmuckstück.“ hatte Indúlas gesagt. „Wer ihn trägt, kann die schwersten Lasten ohne jegliche Mühen schleppen. Ein wahrhaft nützliches Ding.“

 

Will freute sich über dieses Geschenk, auch wenn ihm Thêl dies etwas verdorben hatte. Als ihm Indúlas den Ring gegeben hatte, da hatte er das Juwel mit etwas Spott betrachtet und gelacht. Als ihn Indúlas gefragt hatte, ob er den Ring lustig fand, da hatte der Krieger höhnisch geantwortet: „Aber nicht doch. Macht Ihr ihm nur Geschenke, so viele Ihr wollt. Ich für meinen Teil werde dafür sorgen, dass der Junge Aramar und uns alle rettet. So leistet jeder, was er kann. Wir werden sehen, wessen Beitrag mehr wert ist.“

 

Dies gab Will zu denken. Nachdenklich hielt er den Ring zwischen zwei Fingern und betrachtete ihn von allen Seiten. In der Tat wirkte er wenig besonders. Er war dünn, und nur dort breit, wo er mit einem kleinen, blauen Edelstein besetzt war. An seinen Rändern war er mit einem Wellenmuster verziert. Der Ring bestand aus Gold, das jedoch matt glänzte und von einem hohen Alter zeugte. Bestimmt war er vor Jahren ein schönes Schmuckstück gewesen, doch nun wirkte er gebraucht und wertlos.

 

Will spürte auch keinerlei magische Kräfte, die dem Ring innewohnten, obwohl er eigentlich nicht wusste, wie sich so etwas anfühlte. Vielleicht müsste er ihn zuvor aufsetzen, doch dies zu tun wagte er nicht. Er war sich unsicher, ob der Ring nicht unangenehme Nebenwirkungen haben könnte. Lieber steckte er ihn in seine Hosentasche. Er war Indúlas dankbar dafür, und vielleicht würde er ihm einmal nützlich sein.

 

Doch derzeit brauchte er ihn sowieso nicht. Er hatte nichts zu tragen, außer den Kleidern an seinem Leibe, die noch immer dieselben waren wie an den Tagen zuvor. Sie wurden in der Zwischenzeit gewaschen, was aber an ihrer Unbequemheit nichts änderte.

An seine eigenen Sachen, die er aus seiner Welt mitgebracht hatte, verschwendete er keinen Gedanken. Was sollte er hier auch damit anfangen? Außerdem versprachen ihm die Leute in Cestilla, dass sie darauf aufpassen würden. Wenn er zurückkehrte, würde er sie wiederbekommen. Falls er zurückkehrte.

 

 

Will warf einen letzten Blick auf Cestilla, und dann lief er seinen Gefährten hinterher. Sobald er aufgeschlossen hatte, folgte er ihnen mit gemächlichen Schritten. Er musste herzhaft gähnen. Es war so zeitig am Morgen, dass die Sonne erst vor weniger als einer halben Stunde aufgegangen war. Das Gras, das sich in alle Richtungen erstreckte, war grau vom kalten Tau. Die Blätter der Bäume glitzerten und jeder Zweig tropfte. Kühler Nebel bedeckte die Ebenen von Aramar und hüllte alles mit seinem undurchsichtigen Schleier ein. Keine zwanzig Meter konnte man blicken, denn eine graue Mauer tat sich vor einem auf, kalt und abweisend. Alles war ruhig, und ferne Geräusche schienen nah und klar: das morgendliche Rufen von Vögeln, das Knacken von Zweigen und Rascheln im Unterholz, und auch das schnelle Zuschlagen einer hölzernen Türe, irgendwo im grauen Nichts.

 

Thêl und Eeza gingen voran. Mit sicheren Schritten führten sie die Gruppe durch den Nebel. Sie schienen genau zu wissen, welcher Weg am schnellsten ans Ziel führte. Doch während Thêl das Land von vielen Reisen kannte, hatte Eeza sein Wissen darüber nur aus Büchern, was dessen Wert aber nicht minderte. Duncan und Will gingen ihnen voll Vertrauen hinterher; beide ahnungslos ob dieser Welt. Das Schlusslicht bildete Balraun, der sich spontan dazu entschlossen hatte, sie zu begleiten.

 

Darüber war keiner besonders glücklich, am allerwenigsten Will. Er hatte nicht vergessen, wie Balraun am Tag zuvor mit ihm umgesprungen war. Seine Trunkenheit war für Will keine Entschuldigung. Dabei versuchte Balraun sogar, ihre Beziehung, sofern man dies so nennen konnte, zu verbessern.

 

Als er nämlich einmal neben Will herging, da klopfte er ihm plötzlich kräftig auf den Rücken, mit genug Kraft, einen Bären umzuhauen. Dann sagte er lachend: „Du bist mir doch nicht böse wegen der Sache von gestern, oder, Kleiner? War nicht böse gemeint, ja? Gut?“

„Schon... schon gut. Nicht... der... der Rede wert.“ keuchte Will, verzweifelt nach Luft ringend.

 

Daraufhin lachte Balraun, und ging zufrieden weiter. Will trottete atemlos hinterher. Er konnte ihn immer noch nicht leiden, doch er glaubte zumindest, dass Balrauns Entschuldigung, so plump sie auch war, ehrlich gemeint war. Schließlich war er dabei nüchtern.

 

 

Die fünf Wanderer passierten die Felswand, auf deren Spitze der Wolfshain stand. Doch sie gingen nicht zu ihm empor, sondern über einen Pfad links neben der Klippe vorbei.

 

Will starrte das Wäldchen an. Selbst jetzt, wo das Sonnenlicht durch den Nebel getrübt war, schien der Hain zu leuchten. Er strahlte eine Schönheit aus, die mit Worten nicht zu beschreiben war. Er war wie ein Smaragd in einem Haufen wertloser Kiesel.

 

Will konnte seine Augen nicht vom Wolfshain lassen. Er ging weiter, ohne seine Schritte zu verlangsamen, doch sein Blick war fest auf das Wäldchen gerichtet. Sein Herz schlug schneller, und er hatte das Gefühl, dass ein Feuer in seiner Brust brannte. Es fühlte sich gut an. Vielleicht war es Sehnsucht, oder Verlangen. Will wusste es nicht, doch er suchte auch nicht nach einer Antwort.

 

Plötzlich bewegte sich eine Hand vor seinem Gesicht auf und ab, und das zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Der Hand folgte ein Gesicht: Es war Thêl, der Will mit einem Lächeln und doch ernst anblickte. „Lass dich nicht ablenken.“ sagte er. „Konzentriere dich auf unser Ziel.“ Da war es, als würde Will aus einem Traum aufwachen. Er wischte sich über die Augen, und dann sah er Thêl an, etwas verwirrt. Der aber lächelte nur und ging dann weiter.

 

Will trappelte hinterher, durcheinander. „Unser Ziel...“ murmelte er leise, aber doch deutlich hörbar. „Wohin genau gehen wir eigentlich?“ fragte er schließlich. „Ich meine... nach Bessain, das ist mir klar. Aber wohin genau. Nein, besser: Wie gehen wir dorthin?“

„Auf direktem Wege nach Bessain.“ erwiderte Eeza, ohne sich umzudrehen. „Es ist kein komplizierter Weg. Wir gehen nach Norden, bis wir einen namenlosen Fluss finden. Dann biegen wir nach Westen ab und folgen dem Verlauf des Flusses. Wir überqueren den Nenuïn, und dann, nur ein Stück westlich des großes Flusses, kommen wir in Bessain an.“

„Verstehe. Und wie lange wird das dauern?“

„Drei Tage wahrscheinlich. Vier, im schlimmsten Fall.“

 

„Drei Tage...“ wiederholte Will, jedoch leise und zu sich selbst.

 

Er ließ sich das Szenario durch den Kopf gehen, doch wie er es auch drehte und wendete, es gefiel ihm nicht. Zwei oder drei Nächte im Freien zu schlafen war ihm alles andere als Recht. Er hatte noch nie draußen geschlafen, noch nicht einmal in einem Zelt. Darauf konnte er liebend gerne verzichten. Jedoch, was hatte er für eine Wahl? Es war zu spät, um zurückzukehren. Außerdem würde das nicht ihrem Vorhaben entsprechen. Nein, Will beschloss, die Zähne zusammenzubeißen und Mut zu zeigen. Er war der Auserwählte, er hatte einen Drachen getötet, da würde er sich von so einer Kleinigkeit nicht abschrecken lassen.

 

 

Die Zeit verging, während die Fünf unaufhaltsam voranschritten. Der Nebel hatte sich schon lange gelichtet und den Blick auf Aramar freigegeben. Sie machten nur einmal Rast, zur Mittagszeit, um einen Happen zu essen. Hier und da legten sie eine Pause ein, fünf Minuten oder weniger, wenn einen von ihnen, meist Duncan oder Will, die Kraft verließ.

 

Mittlerweile waren sieben oder acht Stunden vergangen, seit sie Cestilla verlassen hatte. Will zählte nicht mit, denn er hatte keine Uhr bei sich, und auch sonst keine Möglichkeit, die Zeit zu messen. Er konnte sich nur am Sonnenstand orientieren, doch davon hatte er wenig Ahnung. Die Sonne hatte ihren Zenit überschritten, und es war Nachmittag, soviel konnte er sagen, aber mehr auch nicht. Damit musste er sich zufrieden geben.

Will nahm sich einen Augenblick Zeit und blickte zurück, in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Er konnte Cestilla sehen, ganz deutlich, und er seufzte. Es lag jetzt unter ihnen, denn die ganze Landschaft war angestiegen, und die fünf Wanderer mussten ein gutes Stück aufwärts gehen, bevor der Weg flach weiterführte. So hatten sie nun einen guten Ausblick über Aramar, und auch auf Cestilla, das in dem riesigen Land winzig wirkte.

 

Will sah das Dorf verträumt an, als er plötzlich einen heftigen Klaps auf die Schulter bekam. Es war Balraun, der ihn nun angrinste. „Vorwärts, mein Junge.“ sagte er, und sein Atem roch nach Alkohol. „Unser Ziel liegt vor uns. Nicht hinter uns. Nichts von Bedeutung gibt es dort.“

Will antwortete nichts darauf. Er wunderte sich nur ein wenig? Nichts von Bedeutung? Ja, Cestilla war nicht Balrauns Heimat, aber war nicht seine Frau dort?

 

 

Noch eine ganze Weile gingen die Gefährten weiter, bis die Sonne langsam unterzugehen begann. Ein leichter Wind kam auf, und es wurde merklich kühler. Thêl, dem die Gegend vertraut war, suchte einen Platz, wo sie die Nacht verbringen konnten.

 

Er fand schließlich eine kleine Baumgruppe, nur unweit rechts des Pfades, und dorthin führte er die Freunde. Höchstens dreißig oder vierzig Bäume standen dort, alle in gebührendem Abstand zueinander. Das Gras war kurz und weich, und es eignete sich gut zum Liegen. Inmitten der Bäume, da war ein Teich, kaum drei Meter breit und kreisrund. Das Wasser darin war ruhig, nur sanft bewegt durch den Wind, und auf der Oberfläche tanzten lautlos ein paar Blätter.

 

Jeder der Wanderer hatte einen dicken Schlafsack aus braunem Stoff. Rund um den Teich legten sie sie ab, mit nur ein wenig Abstand zueinander. Thêl suchte einige große Äste und Zweige zusammen und warf sie auf einem Haufen, um ein Lagerfeuer zu machen. Mit zwei Steinen, die er aneinander schlug, versuchte er, ein Feuer zu entfachen. Minutenlang mühte er sich, doch es gelang ihm nicht, sehr zu seinem Ärger. Da trat Eeza neben ihn. „Lasst mich machen, mein Freund.“ sagte er. Dann kauerte er sich neben Thêl nieder und legte die Hand auf den Holzhaufen. Ein rötlich glühendes Licht trat darunter hervor, und als der Alte die Hand wieder wegnahm, brannte da eine kleine Flamme. Sie wurde größer und größer, bis sie zu einem prächtigen Feuer gewachsen war. Stolz lächelte Eeza Thêl an, aber der schüttelte nur den Kopf. „Hättet Ihr das nicht früher machen können?“ sagte er genervt. Der Alte aber lachte nur.

 

Will stand am Rand der Baumgruppe und blickte auf die weite Ebene, die sich vor ihm auftat. Die Schatten der Dämmerung machten sich breit, doch noch beleuchteten die letzten Sonnenstrahlen das Land. Deutlich konnte Will den großen Wald sehen, in dem er gelandet war, und auch das weite Meer in der Ferne. Alles wirkte ruhig und friedlich, als hätte sich das ganze Land schlafen gelegt.

 

 

Plötzlich aber schreckte Will hoch. Er hatte etwas gehört. Er war sich nicht sicher, doch es hatte geklungen wie das Wiehern eines Pferdes. Er konnte nicht genau sagen, aus welcher Richtung es gekommen war. Will lauschte etwas in die Ebene hinein, und da war es ihm, als würde er Hufgetrappel hören. Auch jetzt aber war er unsicher, woher es kam.

 

Mit einem Mal trat Thêl neben ihn und ließ seinen Blick konzentriert umherschweifen.

„Hast du auch etwas gehört?“ fragte ihn Will besorgt.

„Ja. Ein Pferd, zweifellos.“ erwiderte Thêl. „Irgendwo dort draußen ist ein Reiter unterwegs.“

„Müssen wir uns Sorgen machen?“ fragte Will weiter.

„Unnötige Angst ist hier fehl am Platz.“ sagte Eeza, der sich ihnen gesellte. „Es könnte auch nur ein Wanderer gewesen sein. Es gibt nicht viele in diesen Zeiten, aber möglich wäre es. Nicht jedes kleine Geräusch ist von böser Gesinnung.“

„Wir sollten auf jeden Fall vorsichtig sein.“ fügte Thêl hinzu. „Ihr könnt aber beruhigt schlafen. Ich werde die Wache halten übernehmen. Ich werde auf euch aufpassen.“

 

So gingen Eeza und Will zu ihren Schlafsäcken zurück, während sich Thêl an einen Baum lehnte und Wache hielt.

 

„Ich fragte mich, wieso wir nicht auch Pferde genommen haben.“ meinte Will.

„Das wäre zu auffällig gewesen, mein Junge.“ entgegnete Eeza. „Je geheimer unsere Reise ist, desto besser.“

„Und ein großes Lagerfeuer in der Wildnis ist weniger auffällig?“

„Das nicht unbedingt. Aber notwendig, außer du willst erfrieren. Und nun geh und leg dich schlafen. Du wirst deine Kräfte brauchen.“

 

Will tat, wie ihm geheißen. Er legte sich in seinen Schlafsack, direkt neben Duncan, der schon die Augen zugemacht hatte. Zu seiner Überraschung war er warm und angenehm, obwohl das Kopfkissen, nur eine zusammengerollte Decke, alles andere als bequem war. Immerhin war das Gras unter ihm weich. Trotzdem zweifelte er, dass er hier gut schlafen würde. Das alles war viel zu fremd, und er war zu aufgeregt, als dass ihn die Müdigkeit einfach übermannen würde. Er konnte seine Augen einfach nicht von den Sternen lassen, die über ihm durch die Bäume blitzten; so intensiv, wie er es daheim noch nie gesehen hatte.

 

 

Es war bereits hellster Morgen, als Will erwachte. Er konnte sich überhaupt nicht erinnern, eingeschlafen zu sein. Er musste sich erst orientieren, wo er denn war und was passiert war.

 

Die Sonne schien hell von einem wolkenlosen Himmel. Sie schien durch die Bäume und zauberte helle Flecken auf das Gras. Sonnenlicht glitzerte auf der Oberfläche des Teiches. Über seinem Kopf, in den Baumkronen, zwitscherten Vögel ein heiteres Lied.

 

Will setzte sich auf. Er sammelte seine Gedanken, und sah sich um. Eeza und Duncan saßen auf ihren Schlafsäcken, in ein Gespräch vertieft. Worüber, das konnte Will nicht verstehen, aber er hörte auch nicht recht hin.

Balraun war auf der anderen Seite des Teiches. Er schien Übungen mit dem Schwert zu machen, denn immer und immer wieder schlug er damit die Luft. In seiner Hand war eine Flasche, in der, wie Will dachte, sicher kein Wasser war.

 

Will sah in die andere Richtung, und dort stand Thêl, noch immer an derselben Stelle, an der er letzten Abend gestanden hatte. Wenn er es nicht besser wüsste, hätte er Will gesagt, er hätte die ganze Nacht dort verbracht. Aber das war lächerlich. Oder?

 

Als Will sich mühsam aus der Decke schälte, da bemerkte es Thêl, denn er ging lächeln auf den Jungen zu.

„Gut geschlafen?“ fragte er.

„Mit Verlaub, das ist eine dumme Frage.“ erwiderte Will gähnend. „Und keine Antwort wert.“

„Verstehe.“ Thêl nickte und lächelte.

„Obwohl... Ich kann mich eigentlich nicht erinnern, wie ich geschlafen habe. Um ehrlich zu sein, ich kann mich nur an gestern Abend erinnern, und daran, wie ich gerade aufgewacht bin. Sonst an nichts.“

„Na, das ist doch gut.“ sagte Thêl und lachte. „Das heißt, dass die Nacht gut war, wenn du nicht aufgewacht bist, um dich darüber zu beklagen.“

„Schon möglich. Vielleicht war ich aber auch einfach nur müde.“ entgegnete Will. „Aber sag mal: Was ist mit dir? Hast du die ganze Nacht Wache gehalten?“

 

Thêl hatte während dieser Frage einen Stock vom Boden aufgehoben. Damit schlug er gegen die Äste des Baumes, unter dem er stand, um Äpfel herunterzuholen. Sie waren Will gestern nicht aufgefallen.

„Ja, das tat ich.“ antwortete Thêl und reichte Will zwei Äpfel. „Es musste sein. Den Anderen kann ich das nicht zutrauen.“ Bei diesen Worten deutete er mit dem Stock auf Eeza, Duncan und Balraun. „Ist leider so.“

„Aber brauchst du denn keinen Schlaf?“

„Manchmal muss man Prioritäten setzen. Ich halte das schon aus.“

Will seufzte. „Du wirst schon wissen, was du tust.“

 

Schließlich rappelte sich Will ganz auf. Er wusch sich das Gesicht im Teich und versuchte, sich die Haare in Form zu bringen, so gut es ging ohne Kamm.

 

Dann setzte sich die Gruppe zusammen, und es wurde geredet; zum größten Teil über Triviales: darüber, wie man geschlafen hatte, dass der Schlafsack unbequem war, was es zum Frühstück gäbe, und ob man in der Nähe ein Gasthaus finden konnte (diese letzte Frage kam freilich von Balraun).

 

Das Gespräch fiel auf das Pferd, das man letzten Abend gehört hatte. Thêl und Eeza waren wenig besorgt, da die Nacht über alles ruhig gewesen war und niemand, weder Freund noch Feind, am Lager vorbeigekommen war. Sie würden auf dem Rest des Weges vorsichtig sein und keine unnötigen Risiken eingehen. Doch sie wollten nicht übermäßig Angst haben und dadurch alle Vernunft vergessen.

 

 

Nachdem sie sich gestärkt und ihre Wasserflaschen aufgefüllt hatten, setzten sie ihre Reise fort.

 

Je weiter sie gingen, desto mehr veränderte sich die Gegend. Während bisher kaum mehr als kleine Bäume vereinzelt in der weiten Landschaft umherstanden, wuchsen hier mächtige Gehölze empor: Birken und Eschen, und Ahorne mit weit ausladenden Kronen. Birken mit schneeweißer Rinde und riesige Pappeln vermischten sich mit Kiefern und Fichten, höher als jedes Haus. Blumen wuchsen zwischen den Gräsern umher, groß und klein, in allen Farben, die man sich vorstellen konnte. Ein angenehmer Geruch erfüllte die ganze Gegend: nach Blüten und Honig, vermengt mit duftenden Tannennadeln. Dementsprechend herrschte ein reges Treiben auf den Wiesen. Bienen, Schmetterlinge und Käfer summten umher, von einer Blüte zur nächsten.

 

Die herausragendste Pflanze, im wahrsten Sinne des Wortes, war eine Blume, die weit über das Gras hinauswuchs. Sie hatte einen dünnen Stängel, der zu allen Seiten mit dolchförmigen Blättern bewachsen war. An der Spitze waren goldgelbe Blüten, die wie Fächer wirkten: Dünne Zweige waren da, die sich in Bögen nach außen krümmten und an denen unzählige kleine gelbe Blüten wuchsen. Will erinnerten sie an einen Staubwedel, wenn auch um ein Vielfaches schöner. Mallahíbon nannte Eeza sie, oder Goldfeder. Heilende Kräfte sollen sie haben, und die Nerven beruhigen.

 

Die Fünf marschierten stetig voran, mit raschen Schritten, und sie machten selten Pause. Nur wenn Duncan oder Will die Ausdauer verließ, so ruhten sie sich für einige Minuten aus.

 

In solchen Momenten fielen Will die Mauerreste auf, die hier und da aus dem Boden ragten. Sie waren alle recht klein, kaum mehr als zwei Meter von einem Ende zum anderen. Alt waren sie zweifellos, und überall mit Moos und Flechten bewachsen.

„Relikte aus alter Zeit.“ erklärte Eeza. „Sie stammen aus einer Ära, in der die Menschheit noch jung war. Jung und dumm. Reste von Wachtürmen und großen Schutzwällen sind das.“

„Erinnerungen an eine friedlose Zeit, nicht wahr?“ meinte Will.

Eeza seufzte. „Nun ja. Ich glaube, wahren Frieden hat es hier nie gegeben. Wir Menschen sind kein friedfertiges und vertrauensvolles Volk.“ Mit traurigen Augen sah der Alte in die Ferne. „Nein, es ist schon so. Aramar ist kein perfektes Land...“

„Und das is gut so. Alles, was perfekt is, is langweilich.“ warf Balraun auf seine gewohnt charmante Art und Weise ein.

„Wie ich schon sagte...“ fuhr Eeza fort und versuchte, die Bemerkung zu ignorieren. „Aramar ist nicht perfekt. Doch es ist wert, dafür zu kämpfen.“

„Da bin ich ausnahmsweise mit Euch einer Meinung.“ fügte Thêl hinzu. Eeza blickte ihn an, und beide lächelten.

 

 

Der Weg der Gefährten begann sich zu wenden, nach Westen, entlang zahlloser Wiesen und Bäume, die mal einzeln und mal in großen Gruppen die Landschaft schmückten.

 

Während sie wanderten, sprachen sie über vieles. Will redete selten mit, entweder weil er sich den Atem sparte, oder weil er nicht wusste, worüber die Anderen sprachen. Doch zwischendurch fand er endlich eine Gelegenheit, Thêl und Eeza von seiner Begegnung mit dem finsteren Unbekannten zu erzählen.

 

Die Reaktionen darauf waren gänzlich unterschiedlich. Duncan sagte nichts, denn ihm hatte es Will bereits erzählt. Balraun schien kaum Kenntnis davon zu nehmen und lauschte mit nur einem Ohr. Thêl und Eeza allerdings reagierten völlig anders. Sie blieben stehen und starrten Will entgeistert an. Eeza flüsterte „Unmöglich!“ und schüttelte den Kopf.


„Warum hast du uns das nicht früher erzählt?“ sagte Thêl schließlich forsch.

„Na ja, ich... ich weiß nicht.“ erwiderte Will unsicher. „Ihr wart so mit Streiten beschäftigt, dass ich nicht dachte, dass ihr den Kopf frei habt. Außerdem hielt ich es für irrelevant.“

„Irrelevant!? Irrelevant!!??“ schrie Thêl voll Zorn. „Du nennst das irrelevant!? Hast du eine Ahnung, wer das war?“

„Wer denn?“ gab Will schulterzuckend zurück.

„Beléssan! Wer sonst?“

„Beléssan? Sehr witzig.“ meinte Will und lachte ungläubig.

Thêl packte den Jungen am Kragen. „Sehe ich vielleicht so aus, als würde ich Scherze machen?“

 

Da ging Eeza dazwischen und hielt Thêl zurück. Dieser ließ Will wieder los.

„Ganz ruhig, mein Freund. Das führt zu gar nichts.“ sagte er zu dem Krieger, und zu Will sagte er: „Leider hat Thêl Recht. Das Ganze ist ernst. Todernst. Das war Beléssan. Leider.“

 

Will sagte erstmal gar nichts. Seine Gedanken rasten. Er ging auf und ab und strich sich nachdenklich durchs Haar. Zuerst wollte er es nicht glauben. Schließlich sagte er: „Woher... woher wusste er, dass ich dort bin? Und was viel wichtiger ist: Warum lebe ich noch? Bin ich nicht der Auserwählte, der ihn töten soll? Warum würde er mich am Leben lassen?“

„Ganz langsam, der Reihe nach.“ antwortete Eeza. „Er wusste, wo du bist, weil Durzog er ihm gesagt hat. Schließlich hat er uns ausspioniert. Nun, warum er dich nicht getötet hat? Ich kann es nur raten, aber... Ich denke, er wollte dich kennen lernen. Sehen, wer du bist. Woraus du gemacht bist. Er hat dich wohl nicht als Bedrohung angesehen. Er dachte einfach nicht, dass du in deinem jetzigen Zustand gefährlich für ihn bist.“

„Und, ehrlich gesagt, ist das wohl auch so.“ warf Thêl ein.

„Nun ja. Mag sein.“ fuhr Eeza fort. „Es ist eine Tatsache, dass Beléssan überheblich ist. Er ist kein Narr, aber aufgrund seiner Kräfte glaubt er nicht, dass ihn jemand töten könnte. Vielleicht, aber nur vielleicht, können wir das zu unserem Vorteil nutzen.“

„Aber besteht nicht die Gefahr, dass er uns auf unserer Reise angreift?“ fragte Will weiter, aufgeregt. „Dass er noch mal versucht, uns... mich zu töten?“

„So schnell, schon wieder?“ entgegnete Thêl. „Nachdem er gerade erst eine Gelegenheit nicht genützt hat? Kaum. Natürlich werden wir vorsichtig sein. Aber, ehrlich gesagt, bin ich mir nicht sicher, ob er überhaupt von unserer Reise weiß. Vielleicht rechnet er damit.“

„Oder vielleicht will er das so. Vielleicht hat er sich deshalb gezeigt, damit wir die sicheren Mauern von Cestilla verlassen. Damit wir schutzlos sind, wenn er uns anzugreifen gedenkt.“

„Unwahrscheinlich. Ob geschützt in einer Stadt oder nicht, wenn er uns vernichten will, macht das keinen Unterschied.“ winkte Eeza ab. „Und selbst wenn, sind wir schon zu weit gegangen, um jetzt umzukehren. Außerdem bringt es nichts, Panik zu verbreiten. Das führt nur dazu, dass man nicht mehr logisch denkt. Was wir uns nicht leisten können.“

 

Will blickte Thêl und Eeza an. Er sagte nichts. Schließlich schüttelte er den Kopf und atmete tief ein und aus. „Das... das... das... das ist... das ist heftig.“ meinte er schließlich aufgewühlt. „Ich meine... Beléssan... das... Ich soll ihn töten? Ihn!? Der Kerl hat mich nur angesehen und ich bin in Ohnmacht gefallen. Das ist unmöglich. Das... Ich...“

„Ganz ruhig. Beruhige dich.“ sagte Eeza. „Das alles ist viel für dich. Das verstehen wir. Das ist eine große Verantwortung. Aber du bist auserwählt. Darum kannst du sie tragen, auch wenn du es nicht glauben willst.“

 

 

Erneut erwiderte Will nichts, sondern schüttelte einfach nur den Kopf. Er wusste, dass es nur nett gemeinte Worte waren, die ihm Selbstvertrauen schenken sollten, doch in diesem Moment war das zwecklos. Er schnappte sich seine Wasserflasche und trank einen großen Schluck daraus. Dann schüttete er sich Wasser ins Gesicht. Er wischte es sich mit der Hand weg und atmete tief ein und aus.

 

Schließlich, langsam aber sicher, beruhigte sich Will wieder. Sein Atem wurde ruhig und sein Puls langsam. Er starrte Thêl und Eeza an, und sagte dann: „Wisst ihr, ihr verlangt schon sehr viel von mir.“ Die Beiden antworteten nicht, nickten aber ruhig. Will überlegte erst einmal, bevor er fortfuhr. „Also wenn ihr schon erwartet, dass ich Beléssan töte, dann solltet ihr mir auch mehr von ihm erzählen. Wissen ist Macht. Also, macht mich stärker.“

„Wie du willst. Nur, können wir das unterwegs tun? Wir sollten weitergehen.“ erwiderte Thêl.

 

Will war einverstanden. Also marschierten die Fünf weiter, ihren Weg nach Westen fortsetzend.

„Nun, was möchtest du wissen?“ sagte Eeza schließlich.

„Seine Kräfte.“ erwiderte Will nach einer kurzen Pause. „Was er für Fähigkeiten hat. Was er kann, außer einem höllische Kopfschmerzen bereiten. Das wäre ein guter Anfang.“

 

Eeza überlegte für eine Weile und strich sich nachdenklich durch seinen Bart. Dann sprach er: „Das genaue Ausmaß von Beléssans Kräften kennt niemand außer ihm selbst. Kaum einer, der ihn von Angesicht zu Angesicht gesehen hat, hat überlebt. Was wir wissen, ist dass keine menschliche Waffe ihn töten kann. Schwerter und Äxte gehen einfach durch ihn durch. Dafür kann er eine Armee vernichten, nur durch... nun, das wissen wir nicht genau. Wir wissen nicht, was für Kräfte er beherrscht. Oder woher sie kommen. Theorien gibt es viele. Sie reichen von Schwarzer Magie bis zu einem Pakt mit dem Teufel. Die interessanteste und glaubwürdigste Theorie ist die, dass Beléssan eine Art der Elementaren Magie beherrscht. Nun, hier muss ich wohl etwas weiter ausholen. Es gibt in Aramar... Und das ist eine Tatsache... Es gibt neben der normalen Magie, die viele verschiedene Bereiche wie Illusionszauber, Beschwörungen und Alchemie umfasst, auch die Elementare Magie. Sie umfasst die vier Elemente: Feuer, Wasser, Erde und Luft. Es gibt Magier, die sich nur mit der Elementarmagie beschäftigen. Manche, die mächtigsten, beherrschen alle vier Elemente. Wir nennen sie Elementaria. Andere konzentrieren sich auf ein einzelnes Element, das sie bis zur Perfektion beherrschen. Sie sind bekannt als Feuerschamanen, Wasserdruiden, Erdhexer und Luftmystiker.“

„Und was hat das alles mit Beléssan zu tun?“ fragte Will plötzlich, der etwas ungeduldig geworden war.

„Dazu wollte ich gerade kommen.“ antwortete Eeza. „Es gibt nun Leute, die glauben, dass es noch ein weiteres Element gibt, das Beléssan als Einziger entdeckt hat und beherrscht: das Element der Finsternis.“

„Finsternis?“ sagte Will ungläubig. „Ich habe ja schon von Holz und Metall als Element gehört, aber Finsternis...?“

„Ja, na ja. Es klingt etwas seltsam, das gebe ich zu.“ entgegnete Eeza. „Aber es entbehrt nicht einer gewissen Logik. All die Kräfte, die Beléssan besitzt, haben einen gewissen Aspekt von Schatten und Finsternis. Er... er strahlt eine Aura aus, die einem den Geist trübt und das Selbstvertrauen nimmt. Sogar Tiere und Pflanzen beeinflusst er damit. Er kann Angriffe gegen jemandes Verstand einsetzen. Im Kampf benutzt er eine Art dunkle Energie, um sie zu Waffen und anderen Gegenstände zu formen und vernichtende Schockwellen zu erzeugen. Er kann sich selbst in einen Schatten verwandeln, was du ja bezeugen kannst. Noch dazu kann er Kreaturen aus dem Nichts erschaffen, die ebenfalls aus Schatten bestehen. Das sind Fähigkeiten, die allesamt der Finsternis zuzuordnen sind. Oder etwa nicht?“

„Nun ja... Sicher. Das stimmt schon.“ meinte Will. „Aber vielleicht steckt auch etwas ganz anderes dahinter.“

„Vielleicht, aber das glaube ich nicht. Ich meine, natürlich ist es nur eine Theorie, aber... Es ist eine logische Theorie, die eigentlich alles erklärt.“

 

„Im Grunde ist es doch nicht von Bedeutung, woher seine Kräfte stammen.“ warf Thêl plötzlich ein. „Wichtig ist, dass er sie besitzt. Das allein ist schlimm genug.“

„Vielleicht ist der Ursprung seiner Kräfte relevant, wenn es darum geht, etwas gegen sie auszurichten.“ erwiderte Eeza. „Man kann einen Gegenzauber nur gegen etwas wirken, das man kennt.“

„Mag sein, doch soweit sind wir noch nicht.“ meinte der Krieger abweisend, und darauf sagte Eeza nichts.

 

Die Gruppe marschierte weiter, über Wiesen und Felder. Keiner sagte etwas, bis Will schließlich das Schweigen brach.

„Ich habe noch eine Frage.“ sagte er. „Zu Beléssan.“

„Aber bitte, nur zu. Frag.“ entgegnete Eeza.

„Was hat mit seiner Langlebigkeit auf sich?“ fragte Will. „Nach dem, was Ihr mir erzählt habt... Wenn er heute noch lebt, und auch damals gelebt hat, dann muss er doch 1000 Jahre alt sein. Ist er unsterblich?“

„Erlaube mir, darauf zu antworten.“ erwiderte Thêl. „Es gibt dafür leider keine eindeutige Erklärung. Es gibt lediglich zwei...“

„Eine! Bloß eine Theorie!“ unterbrach Eeza plötzlich ungehalten.

„Es sind zwei, und beide haben dasselbe Maß an Glaubwürdigkeit.“ gab Thêl zurück. „Auch wenn Euch nicht beide gefallen.“

„Hört auf! Kein Streit!“ rief Will lautstark. „Also, Thêl, was sind das für Theorien?“

 

„Nun ja, die erste dreht sich um die Elloth Ilfirin. Das ist eine legendäre Blume, die auch als Blume der Unsterblichkeit bekannt ist.“ erklärte der Krieger. „Interessanterweise gibt es diese Blume wirklich, und sie ist nicht einmal selten. Kocht man sie in heißem Wasser und fügt einige Zutaten bei, ergibt das einen Trank, der einem Unsterblichkeit verleiht. Außerdem muss man auch noch eine Zauberformel sprechen: Neth gala i Adan ned Brûn. Was diese Worte bedeuten, weiß man nicht, denn es ist eine sehr alte Sprache, die heute nur noch wenige beherrschen. Aber man muss ihre Bedeutung auch nicht kennen, damit sie wirkt. Das Problem ist allerdings, dass niemand das genaue Rezept kennt. Niemand weiß, wie lange man die Blume kochen muss und welche Zutaten beigemengt gehören. Und sollte das Rezept falsch sein... sollten die Zutaten um nur ein Gramm daneben liegen, so wird der Trank zu einem starken Gift, das einen sofort tötet. Ja, das ist wahr. Geschafft hat es bis jetzt niemand, und es wagt auch keiner zu versuchen. Niemandem ist der Preis das Risiko wert. Beléssan aber könnte es gelungen sein. Er hat zahlreiche Diener und viel Geduld. Wer weiß.“

„Versteht. Interessant. Und was ist die andere Theorie?“

 

„Die zweite Theorie... Die, die Eeza so missfällt...“ Bei diesen Worten sah den Alten abwartend an, doch dieser sagte nichts. „Nun ja, manche glauben, dass Beléssan ein Angehöriger der Nendili ist. Die Nendili sind eine uralte Blutlinie, die bis ins Jahr 139 zurückreicht, zu einem Mann namens Uresti. Diesem, so heißt es, wurde von den Göttern die Unsterblichkeit geschenkt. Jeder Nachkomme, den Uresti zeugt, wird ebenfalls unsterblich, und ebenso dessen Nachkommen, und so weiter. Die Nendili leben unerkannt unter uns, schon seit vielen Jahrhunderten. Man nennt sie auch die Blutlinie vom unsterblichen Fluss, da man sie mit einem Fluss vergleicht, der unaufhaltsam weiterfließt. Jedenfalls, manche vermuten eben, dass auch Beléssan zu den Nendili gehört und daher unsterblich ist.

 

„Aber das ist doch Schwachsinn.“ warf Eeza ein, erneut erbost. „Die Nendili sind ehrbare Leute mit reinen Herzen, von den Göttern gesegnet. Sie würden nie zu Tyrannen werden.“

„Die Unsterblichen sind auch nur Menschen.“ entgegnete Thêl ruhig. „Man kann von den Göttern am Morgen gesegnet werden und sie trotzdem am Abend verfluchen.“ Diese Bemerkung erntete dem Krieger einen bösen Blick von Eeza, worauf er hinzufügte: „Wie es auch sein mag, ich habe dem Jungen nur diesen Erklärungsversuch näher gebracht. Ich habe kein Wort davon gesagt, ob er wahr oder falsch ist. Ehrlich gesagt, steht das auch nicht zur Debatte.“

 

Eeza seufzte, doch er sagte nichts. Wie Thêl schien auch er keinerlei Verlangen nach Streitereien und Diskussionen zu haben. Will wartete ab. Seine Neugier war befriedigt, trotzdem wartete er darauf, dass einer der Beiden etwas sagen würde, was am Ende doch einen Disput verursacht. Es hätte ihn nicht überrascht. Jedoch geschah nichts dergleichen. Alle Fünf gingen schweigend den Weg entlang; jeder in seine eigenen Gedanken vertieft.

 

 

Nur einige Momente später ertönte plötzlich ein Rülpser vom Ende der Gruppe, und dann, völlig unerwartet, sagte Balraun: „Himmel, was seid ihr alle so ernst, hmm? Müsst euch ein bisschen beruhigen. Ein bisschen entspannen. Lachen, Tanzen, Saufen bis zum Umfallen. Hilft bei mir immer. Soll ich euch aufheitern?“ Keiner wagte darauf zu reagieren, und nachdem keiner antwortete, fuhr Balraun fort: „Schon gut. wer schweigt, stimmt zu. Also, dann werde ich euch ein Lied vortragen. Ich habe es selbst komponiert.“

 

Er räusperte sich, und dann stimmte er sein Lied an. Doch es war mehr ein Gedicht, denn er sang es sehr langsam, und es gab auch keine Melodie dazu. Balraun trug es mit einer hohen Stimme vor, die zwar lieblich hätte klingen sollen, bei ihm aber eher lächerlich klang. Zumindest war er ziemlich nüchtern, weshalb er es ohne Fehler und Aussetzer sang.

 

„Ich wand’re querfeldein und –aus,

Durch Wiesen, grün und weit.

Ich bin so weit weg von zuhaus,

Weit weg von Hast und Zeit.

 

Das Wandern ist des Sängers Lust.

Doch jener bin ich nicht.

Mein Herz schlägt schnell in meiner Brust,

Mein ganzer Körper sticht.

 

Ich setz’ mich hin, ich ruh mich aus,

Nach Luft schnapp’ ich gar wild.

Ich denk’, die Seel’ fährt aus mir raus.

Das wär kein schönes Bild.

 

Ich gehe weiter durch den Wald,

Durch Bäume, lang und breit.

Durch Orte, wie die Bäume alt,

Und Welten ohne Zeit.

 

Wo Fliegen fliegen durch die Luft

und Vögel in der Stille.

In meine Nase steigt ein Duft

Nach Veilchen und Kamille.

 

Und Nelken, Raps und Glockenblumen,

Und Rosen, zart und schön.

Stehen zwischen Gänseblumen

’S ist hübsch anzusehen.

 

Hier zu verweilen wäre fein.

Doch weiter drängt es mich.

Über Stock und über Stein,

Hinaus ins Sonnenlicht.

 

Ich wand’re querfeldein und –aus,

Durch Wiesen, weit und grün.

Aus dem Wald bin ich lang raus

Und kann mein Ziel schon seh’n.

 

Die große Stadt aus grauem Stein,

Sie liegt vor meiner Nas’.

Ich zög’re nicht und geh hinein.

Ich freu mich auf den Spaß.

 

Aus einem Grund nur bin ich hier,

Der wert ist all mein Geld.

Hier gibt’s das allerbeste Bier,

Das beste auf der Welt.

 

Es ist ein Fest in meinem Mund,

Ein Trunk für jeden Held

Ich trink’s, auch wenn ich werde rund.

Das beste Bier der Welt.

 

Für dieses geh ich querfeldein,

Durch Welten, lang und weit.

Ich bin weit weg von Frau und Heim.

Ach, wie mich dieses freut.“

 

 

Als Balraun fertig war, herrschte erstmal Stille. Keiner der Anderen sagte etwas, als sie ihren Weg gingen.

 

Schließlich blieb Eeza stehen. Er drehte sich zu Balraun um und starrte ihn mit finsteren Augen an. Er zeigte drohend auf ihn und dann zischte er: „Tut das nie wieder!“

„Was is’n?“ erwiderte Balraun entgeistert. „Das war doch’n schönes Gedicht. Oder nicht?“

„Bei allem Respekt, Balraun, aber wenn Ihr noch einmal wagt, dies als ‚Gedicht’ zu bezeichnen, dann verwandle ich Eure Zunge in eine Schlange, dass sie Euch jedes Mal beißt, wenn Ihr zu Sprechen versucht.“

„Jetzt hört aber auf. Ich bitte Euch.“ schnauzte Balraun und nahm einen großen Schluck aus seinem Krug. „Da ham immerhin drei Leute, nämlich meine Wenigkeit und meine Kumpel dran gearbeitet. Ne Menge Herz und Gefühl sind in dieses Ged... äh... also, da hinein geflossen.“

„Wohl eher eine Menge Bier.“ grummelte Eeza. „Ich meine, die Verse sind viel zu kurz, und es fehlt die Poesie und das Gefühl. Außer Durst vielleicht. Und dann die Thematik! Alkohol? So etwas geht doch nicht.“

„Also ich fand es nicht so schlecht.“ warf Will ein. „Es stimmt schon, es hat eher schlecht angefangen. Na ja, in der Mitte ist es dann etwas schwächer geworden, und je weniger man über das Ende sagt, desto besser. Aber abgesehen davon war es wirklich exzellent.“

 

Darauf mussten Thêl und Duncan laut lachen, und Eeza grinste von einem Ohr zum anderen. Nur Balraun wurde knallrot vor Wut. Er packte schon den Griff seines Schwertes und zog es ein Stück heraus, doch Thêl reagierte blitzschnell. Er zog sein eigenes Schwert und drückte die flache Spitze auf Balrauns Hand. Er starrte ihn streng an und schüttelte den Kopf, sagte aber sonst nichts. Balraun schien für einen Moment zu überlegen, und dann steckte er sein Schwert wieder weg, und Thêl tat dasselbe. Am Ende setzte sich die Gruppe wieder in Bewegung, mit Balraun als Schlusslicht, der eingeschnappt vor sich hin grummelte.

 

 „Eigentlich fand ich das Gedicht ja wirklich nicht so schlecht.“ flüsterte Will Duncan zu, während sie nebeneinander gingen.

„Ist es auch nicht.“ entgegnete Duncan. „Für unsere Verhältnisse war es gut. Aber hier in Aramar ist so eine Poesie nichts als Schund. Na ja, andere Länder, andere Sitten eben. Außerdem ist Eeza ein Liebhaber der Dichtkunst. Für ihn so etwas wahrscheinlich wie ein Stich in den Bauch.“

Will sagte nichts darauf. Er schüttelte den Kopf darüber, dass jemand wegen einer solchen Kleinigkeit soviel Aufheben macht.

Die Gruppe setzte ihren Weg über die Ebenen von Aramar fort. Sie machten nur eine große Rast, zur Mittagszeit, um sich mit Brot, Käse und Äpfeln zu stärken. Danach marschierten sie gleich weiter. Zwischendurch hielten sie selten an, außer einem der Fünf ging die Puste aus. Vor allem Thêl drängte immer wieder zur Eile. Außer der Mittagsrast wollte er nie länger als ein paar Minuten verweilen.

 

Will vermochte nicht zu sagen, wie weit sie seit dem morgendlichen Aufbruch gekommen waren, denn er fand keine Möglichkeit, die Länge der Strecke zu bestimmen, außer durch das Zählen seiner Schritte, und das war ihm zu mühsam. Er schätzte die Strecke aber auf mindestens 30 Kilometer. Inzwischen schmerzten seine Beine schon sehr. Am liebsten hätte er sich hinfallen lassen und sich geweigert, weiterzugehen. Doch er sagte sich, dass dies den anderen gegenüber egoistisch wäre, und er schwor sich, durchzuhalten.

 

 

Die Gefährten erreichten bald eine Gegend, in der Gruppen von Bäumen umherstanden und kleine Haine bildeten. Meist waren es Nadelbäume, die recht dicht beieinander standen. Nicht weit in der Ferne ragte in der Ebene ein großer Hügel hervor. Bis auf ein paar einzelne Bäume war er völlig nackt, mit zahlreichen Rissen in der grauen Felsenfläche.

 

„Das ist der Kahle Berg.“ erklärte Thêl. „Er ist es eigentlich kaum wert, Berg genannt zu werden. Doch er ist ein gutes und markantes Zeichen, das jedem Reisenden erlaubt, seinen Weg zu finden. Hier werden wir die Nacht verbringen.“

 

Tatsächlich begann die Sonne bereits, langsam unterzugehen. Immer mehr näherte sie sich dem Horizont, und es wurde mit jeder Minute kühler.

 

 

Die Wanderer näherten sich rasch dem Hügel. Um ihn herum wuchs hohes Gras, das einem Erwachsenen bis zur Hüfte reichte. Es war nicht grün, sondern hatte eine goldbraune Farbe, ganz ähnlich wie Getreidehalme. Es glich mehr Schilf als Gras.

 

Direkt vor dem Kahlen Berg lief ein Fluss über die Ebene. Er kam aus dem Nordosten, doch konnte man den Anfang nicht sehen. Er floss nach Westen, machte kurz vor dem Hügel eine Kurve und floss nach Süden, bevor er erneut eine Biegung machte und wieder nach Westen verlief, wo er in einem Wald verschwand.

 

 

Die fünf Gefährten ließen sich am Ufer des Flusses nieder. Sie fanden ein paar Äste hier und da, und daraus machten sie ein schönes Lagerfeuer. Darüber brieten sie Würste und Fleischscheiben, die sie aus Cestilla mitgenommen hatte, und sie schöpften Wasser direkt aus dem Fluss. Sie ruhten sich aus und entspannten ihre müden Leiber, während Thêl und Eeza ihnen unterhaltsame Geschichten erzählten. Gerade Will und Duncan genossen diese friedvolle Zeit sehr.

 

Schließlich begaben sie sich zur Nachtruhe. Sie legten sich in ihre Schlafsäcke, die sie zwischen die hohen Grashalme gelegt hatten, und ließen dich die Ereignisse des Tages noch einem durch den Kopf gehen. Thêl meldete sich erneut freiwillig, die Wache für die Nacht zu übernehmen. Doch die Anderen waren dagegen, denn sie meinten zu Recht, dass auch er Schlaf brauchte. Sie diskutierten, und am Ende erklärte sich Thêl einverstanden, sich die Wache mit Eeza zu teilen. Endlich zufrieden, legten sich die müden Wanderer nieder und schlossen die Augen, gerade als die Dunkelheit der Nacht hereinbrach.

 

 

 

Will blickte sich um. Um ihn herum waren Bäume. Soweit sein Auge blicken konnte, sah er nur Wald. Er schien sich auf einem breiten Pfad zwischen den Bäumen zu befinden. Und was für Bäume das waren: Sie waren alle ohne Blätter oder Nadeln, und mit einer Rinde grau wie Stein. Sie waren verzerrt, mit unförmigen Stämmen und verdrehten Ästen, und ihre Rinde war voller Beulen.

 

Zwischen den Bäumen war nichts außer Finsternis. Es war, als wäre dort dunkelste Nacht draußen. Doch Will wusste instinktiv, dass dem nicht so war. Es kam ihm eher so vor, als wäre hinter den Bäumen ein endloses Nichts. So als existierten nur der Wald und er selbst. Und doch, obwohl alles so konfus war, so fühlte es sich doch natürlich an.

 

Will entschloss sich, den Pfad in eine Richtung entlangzugehen, da es nicht wusste, was er sonst tun sollte. Er ging und ging und ging durch die finsteren Bäume. Doch es kam ihm seltsam vor. Es fühlte sich an, als würde er gar nicht vorankommen, egal wie schnell er ging. Vielleicht täuschte der Eindruck, weil all die Bäume gleich aussahen. Er war sich nicht sicher.

 

 

Will war schon weit gegangen (oder vielleicht auch nicht), als ihm plötzlich ein kalter Schauer über den Rücken lief. Hinter ihm hörte er undefinierbare Geräusche. Als er sich umdrehte, da erschrak er. Mitten auf dem Weg sah er etwas, das er nur als riesigen Schatten bezeichnen konnte. Er war entfernt menschenförmig, mit Armen, Beinen und einem Kopf. Darin saßen zwei rot glühende Augen, die Will anstarrten und ihm eine Heidenangst einjagten.

 

Der Schatten, der so groß wie die Bäume war, trat auf Will zu, und dabei machte er kein Geräusch. Er war eindeutig voller Hass und Zorn, das konnte man spüren, denn die roten Augen starrten Will wütend an.

Dessen Angst wurde größer und größer, je näher der Schatten ihm kam. In seiner Panik wusste er sich schließlich nicht anders zu helfen, als davon zu laufen.

 

Er lief, so schnell er konnte, weiter und weiter. Er rannte, ohne sich dabei umzudrehen. Die Bäume flogen nur so vorbei. Er rannte, so schnell es seine Beine zuließen. Dabei wusste er gar nicht, wohin er lief, aber alles andere wäre sein Tod gewesen.

 

 

Will war weit gelaufen, zumindest hoffte er das. Sein Herz raste, und Schweiß tropfte von seiner Stirn und über seinen ganzen Körper. Seine Beine brannten wie Feuer, aber er wollte nicht stehen bleiben, so groß war seine Angst.

 

Doch plötzlich bremste er abrupt, und sein Herz blieb beinahe stehen. Vor ihm tat sich eine Felswand auf. Sie war so hoch, dass Will ihre Spitze nicht sehen konnte. Seine Angst wuchs noch weiter, denn nun wusste er nicht, wohin er laufen sollte.

 

Auf einmal spürte er auch schon den bekannten Schauer seinen Rücken hinunterlaufen. Er wagte es kaum, sich umzudrehen, doch er tat es. Zuerst erschrak er, denn die Bäume sahen plötzlich ganz anders aus. Auf ihren Stämmen waren Risse, die wütende Augen bildeten und schrecklich aufgerissene Mäuler. Ihre knorrigen Äste wirkten wie Hände mit fingerartigen Zweigen. Und obwohl sie sich nicht bewegten, hatte er den Eindruck, sie wären alle nach ihm ausgestreckt. Es war, als wären sie Monster, die es auf ihn abgesehen hatten.

 

Dann, mit einem Mal, trat der Schatten zwischen den Bäumen hervor. Seine blutroten Augen stierten Will an, direkt in seine Seele. Er trat einige Schritte auf ihn zu, und die Angst des Jungen überschritt die Grenze zur quälenden Panik. Er konnte kaum atmen, und gar nicht denken, denn all seine Aufmerksamkeit lag auf dem Monster vor ihm.

 

Plötzlich machte der Schatten noch einige Schritte auf Will zu. Dann schien er sich aufzubäumen, wodurch er doppelt so groß wurde. Dabei verschwanden seine Arme und Beine, und er glich nun einer schwarzen Schlange. Nur seine roten Augen leuchteten weiter, als der Schatten mit einem Mal mit dem Kopf voran auf Will zustürmte.

 

Dieser geriet in Panik. Sein Herz schlug so schnell wie noch nie zuvor. Verzweifelt suchte er nach einem Ausweg, nach einer Möglichkeit sich zu wehren oder zu flüchten. Doch es war zu spät. Kaum dass er einen rechten Gedanken fassen konnte, fiel der Schatten über ihn her.

 

Will war überrascht. Er hatte erwartet, dass der Schatten ihn zerquetschen würde. Dass er einen qualvollen und blutigen Tod sterben würde. Doch dem war nicht so. Er spürte gar nichts. Es war, als wäre ein Schwall Luft über ihn hinweg gerauscht.

Eines jedoch wusste Will genau: Der Schatten hatte ihn mit sich gerissen, an einen Ort, wo es nur das schwarze Nichts gab. Einen Ort der Leere, ohne Boden und Himmel. Vermutlich gab es hier gar nichts, dass man als „Etwas“ bezeichnen konnte. Will hätte genausogut blind sein können, es hätte keinen Unterschied gemacht. Dieser Ort war so leer, dass er alle Gefühle wie Hoffnungslosigkeit oder Angst verschluckte.

Doch wenn dies das Nichts war, fragte sich der Junge, war er dann noch „Etwas“ oder auch „Nichts“? War er ein Teil des „Nichts“? Warum konnte er noch denken? Warum wusste er, dass er existierte, wenn er „Nichts“ war? Er konnte es nicht sagen. Er wusste nur eines: Über kurz oder lang würde er hier seine Seele verlieren, verschlungen von der Finsternis.

 

 

 

Will schlug die Augen auf. Sein Herz pochte noch immer schnell, und er atmete heftig. Er blickte sich um. Über ihm war strahlend blauer Himmel, fast frei von Wolken. Um ihn herum wuchs das altbekannte goldbraune Gras. Er griff nach dem Boden und fühlte die warme, weiche Erde.

 

Er hob seinen Kopf. Er sah seinen Körper, der in den Schlafsack gewickelt war. Dann hob er seine Hände und betrachtete sie. Eine davon war voll Dreck und Erde. In diesem Moment durchzuckte ein Stich seinen Nacken. Er war steif und tat weh. Ein nur allzu weltlicher Schmerz. Real. Da wurde ihm klar, dass alles nur ein böser Traum war.

 

Will rührte sich nicht; nicht weil er nicht konnte, sondern weil er nicht wollte. Er atmete tief ein und aus, und dabei lauschte er dem Schlagen seines Herzens, das sich langsam beruhigte. Er genoss es, die Erde unter sich spüren zu können, und auch jeden Teil seines Körpers, von der Nase bis zu den Zehen. Bis zu diesem Augenblick war es ihm gar nicht bewusst gewesen, wie gut es sich anfühlte, zu existieren.

 

 

Will gähnte herzhaft. Er entschloss sich, aufzustehen und sich die Weiterreise vorzubereiten. Er war davon wenig begeistert, doch er fügte sich seinem Schicksal. Er rappelte sich auf, und mit Mühe behielt er das Gleichgewicht. Dann blieb er einfach stehen und ließ seine Gedanken kreisen. Er erwartete, dass sogleich die Anderen (außer Balraun) auf ihn zukommen würden und ihn fragen würden, wie er geschlafen hatte oder wie es ihm ginge.

 

Doch nichts dergleichen geschah. Niemand kam auf ihn zu. Um ihn herum rührte sich überhaupt nichts. Bis auf Vogelgezwitscher und das leise Rauschen des Flusses herrschte Stille in der Ebene.

 

Da bekam Will Panik. Die schlimmsten Fantasien kamen sogleich in ihm auf. Dass die Anderen von Monstern verschleppt oder getötet worden waren. Dass sie in Wirklichkeit Schurken waren und ihn hier allein zurückgelassen hatten, auf dass er in der Wildnis umkommt.

 

Am Ende war es wohl aber einfach nur die Angst, alleine in einer völlig fremden Welt zu sein. Denn Will hatte das Gefühl, dass er allein völlig verloren wäre und nicht lange überleben würde. Auch wenn er Selbstvertrauen hatte, so war er doch der Ansicht, dass das an einem fremden Ort wie diesem nichts wert war.

 

 

In diesem Augenblick, in dem er verzweifelt nach einem Ausweg suchte, hörte er plötzlich Geräusche im hohen Gras. Es war ein Rascheln, das unweit von ihm ertönte, und als Will dorthin blickte, sah er, wie sich das Gras hin und her bewegte. Es zitterte und wurde hin und her geschüttelt. Ganz zweifellos war dort ein lebendiges Wesen, Tier oder Mensch, verborgen.

 

Will bekam es mit der Angst zu tun. Er wusste nicht, was er tun sollte. Er wollte um Hilfe schreien, denn er hoffte, dass seine Freunde noch in der Nähe waren. Doch er dachte sich, dass was immer sich dort im Gras verbarg, ihn vielleicht noch gar nicht bemerkt hatte. Er wollte nicht unnötig Aufmerksamkeit auf sich ziehen; vielleicht würde es dann friedlich vorbeiziehen.

 

Ganz plötzlich aber raschelte das Gras erneut, und dann flog ein ganzer Schwarm Vögel hervor; so groß wie Hühner und mit langen Schwanzfedern. Sie kreischten und schrieen, scheinbar durch irgendetwas aufgeschreckt. Sie flogen aufgeregt davon, doch sogleich schwirrte ein Pfeil aus dem Gras empor und durchbohrte einen der Vögel, welcher krächzend zu Boden fiel. Dem folgten ein zweiter Pfeil, und dann ein dritter, und auch diese trafen beide einen Vogel.

 

Die drei Vögel fielen nah beieinander zu Boden. Dort, wo sie landeten, bewegte sich erneut das Gras. Gleich darauf tauchte ein bekannter schwarzer Wuschelkopf auf. Es war Duncan, der das erlegte Federvieh in den Händen hielt. „Volltreffer!“ rief er triumphierend aus.

 

Wo Will vorhin schon Bewegungen im Gras gesehen hatte, bewegte es sich nun wieder, und dann erschienen Thêl und Eeza dort.

 

„Na bitte, Ihr habt sie alle erwischt. Gute Arbeit.“ sagte Eeza und entfernte ein paar Grashalme und Blätter aus seinem langen Bart.

„Ja, ich weiß.“ erwiderte Thêl, während er seinen Bogen wegsteckte. „Aber ich hätte mindestens einen mehr erwischt, wenn Ihr nicht so einen Lärm gemacht hättet.“

„Was wollt Ihr denn? Mich hat ein Grashalm ins Ohr gepiekt. Was hätte ich tun sollen?“

„Es wie ein Mann ertragen. Das wäre ein guter Anfang gewesen.“

„Hört auf zu streiten.“ warf Duncan ein, und dabei zupfte er sich Halme aus den Haaren. „Wir haben Drei erlegt. Das genügt voll und ganz. Alles andere ist unwichtig.“


Dem stimmten Thêl und Eeza zu. Gemeinsam gingen sie zum Lager zurück.

 

Als Will die drei sah, da füllte eine angenehme Wärme seinen Bauch. Er freute sich, sie zu sehen und war sehr erleichtert, dass es ihnen gut ging. Es beruhigte ihn zutiefst. Auf der anderen Seite aber ärgerte es ihn, dass sie ihn allein gelassen hatten.

 

„Wo wart ihr?“ rief er. Dabei klang seine Stimme zittrig, zu gleichen Teilen vor Freude und Wut.

Duncan hielt ihren Fang hoch. „Fasane jagen.“

„Wir dachten uns, dass dauernd nur Würste etwas langweilig sind.“ fügte Thêl hinzu. „Fasane sind eine Delikatesse. Über einem schönen Feuer gebraten, mit ein paar würzigen Kräutern, schmecken sie köstlich.“

„Das ist mir egal!“ sagte Will laut. „Warum habt ihr mich alleine gelassen?“

„Alleine? Wovon redest du?“

„Ihr seid einfach weggegangen und habt mich alleine und schutzlos hier gelassen. Noch dazu schlafend. Was mir hätte zustoßen können!“

„Aber... Wieso alleine?“ fragte Thêl, sichtlich verwirrt. „Wir haben doch Balraun angewiesen, auf dich aufzupassen, und...“ In diesem Moment hielt er inne und blickte sich suchend um. Eeza und Duncan taten dasselbe. „Wir... Balraun? Wo ist er?“

 

Sie sahen sich um, doch keiner entdeckte ihn. Da ertönte plötzlich ein tiefes, dumpfes Schnarchen von der Uferbank des Flusses. Eeza schüttelte den Kopf, und Thêl fasste sich ungläubig an denselben. Voller Wut ging er in die Richtung, aus der das Schnarchen kam, und dort fand er Balraun. Er schlief friedlich, in seinen Schlafsack gewickelt, und sein runder Bauch hob sich auf und ab.

 

Thêl trat ein paar Mal gegen Balrauns Rippen. „Wacht auf, Ihr fauler Sack!“ schimpfte er und trat noch mal zu. Als hätte man ihn sanft wie ein Engel geweckt, machte Balraun langsam die Augen auf. Er gähnte herzhaft und streckte sich.

„Was’n los?“ sagte er verschlafen.

„Habe ich Euch nicht ausdrücklich gesagt, Ihr sollt aufpassen, dass dem Jungen nichts geschieht? Habt Ihr es nicht hoch und heilig geschworen?“

Balraun blickte Thêl mit kleinen Augen an, dann Will, und dann wieder Thêl. „Was wollt Ihr? Ihm is doch nix passiert, oder etwa nicht?“

 

Diese Aussage ließ Thêl rot anlaufen, und beinahe wäre er auf Balraun losgegangen, hätte Eeza ihn nicht zurückgehalten.

 

„Warum habt ihr ihn nicht zur Jagd mitgenommen?“ fragte Will erbost. „Hätte nicht jemand anderer auf mich aufpassen können? Jemand verlässlicher, so wie Duncan, oder... na ja, eigentlich jeder außer Balraun.“

„Damit er uns die Jagd verdirbt?“ erwiderte Eeza. „Mit seinem Gestank und seinem Lärm vertreibt er uns doch die Vögel.“

„He, das nehm ich persönlich!“ brummelte Balraun schläfrig. Gleich darauf entfleuchte ihm lautstark eine Blähung. Die Anderen rollten die Augen.

 

So etwas könnt ihr nicht machen.“ fuhr Will fort, den Tränen nahe. „Ich weiß, dass ich der Auserwählte bin. Damit... damit kann ich mich abfinden. Aber ihr könnt mich hier nicht einfach zurücklassen. Alleine. Ohne Schutz. Hilflos. Mir hätte etwas passieren können. Euch hätte etwas passieren können. Und... und... ich...“ Er brachte die nächsten Worte kaum heraus, und schließlich weinte er. „Ich kann das einfach nicht allein!“

 

Da bekamen die Anderen Mitleid mit ihm. Thêl legte seinen Arm um ihn und drückte ihn gegen sich, sodass Will sich ausweinen konnte.

 

„Ich kann das nicht allein.“ schluchzte Will. „Ihr verlangt all diese Dinge von mir, und... Ich meine, das ist in Ordnung. Ihr braucht euren Glauben und eure Hoffnung, und die setzt ihr eben in mich. Aber... aber ganz alleine kann ich das nicht. Ihr dürft mich nicht alleine lassen. Die Vorstellung, das alles alleine tun zu müssen... Nein. Ich brauche euch.“

„Ich weiß.“ sagte Thêl leise. „Ich weiß. Das war ein Fehler von uns. Das hätten wir nicht tun sollen. Es tut mir leid. Wirklich, es tut mir leid.“ Er blickte Will in die Augen. „Aber ich verspreche dir hier und jetzt Folgendes: Egal was passiert, egal was dir aufgebürdet wird, du wirst nie alleine sein. Ich... nein, wir werden immer hinter dir stehen.“ Er legte eine Hand auf Wills Schulter. „Wir werden dir immer beistehen. Immer. Das schwöre ich dir.“ Will nickte mit einem Lächeln und atmete tief ein. „Gut. Sehr gut. Und jetzt geh und wasch dir das Gesicht. Auch wenn deine Tränen gerechtfertigt sein mögen, sind sie doch nicht sehr ansehnlich für einen Helden.“

 

Will nickte noch einmal, noch heftiger. „Danke.“ sagte er leise. Dann wischte er sich mit seinem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht, bevor er lächelnd zum Fluss ging.

 

 

Bald darauf waren alle gestärkt und zur Abreise bereit. Will füllte noch seine Wasserflasche auf.

„Alles in Ordnung?“ sagte Duncan, der sich neben ihn ans Ufer hockte.

„Ja. Ja, ich denke schon.“ antwortete Will. „Alles klar. Ich habe nur etwas die Nerven verloren. Nichts dabei.“

„Natürlich. Wem würde es nicht so gehen?“ meinte Duncan. „Kein Grund, sich dafür zu schämen.“

„Schämen? Ich? Sehe ich etwa so aus, als würde ich mich schämen?“ entgegnete Will scharf und sah Duncan mit ernsten Augen an.

„Ich meinte ja nur... theoretisch.“

„Ich weiß, was du gemeint hast. Aber ich schäme mich nicht.“ Will hielt inne, schweigend. Dann seufzte er. „Nein, es ist toll, das der Auserwählte, auf dem alle Hoffnung ruht, eine jämmerliche Heulsuse ist. Ich kann mir schon denken, was Thêl und Eeza jetzt von mir halten. Ein toller Held bin ich.“

„Ach komm. So denken die Beiden nicht. Sie wissen, in was für einer schwierigen Lage du bist, und dass du noch nicht so weit bist, deinem Schicksal gegenüberzutreten. Aber sie werden dir helfen, so weit zu kommen. Wegen so einer Kleinigkeit geben sie die Hoffnung nicht auf.“

„Hmm. Vielleicht.“ murmelte Will. „Vielleicht hast du Recht. Wir werden sehen. Aber du musst zugeben, es...“

 

 

Will konnte den Satz nicht beenden, denn plötzlich durchbrach ein Geräusch die lauschige Stille. Es war das Wiehern eines Pferdes, das aus einiger Entfernung zu kommen schien.

 

„Schon wieder? Das kennen wir doch schon.“ rief Will bestürzt aus.

 

Thêl gebot ihnen, sich ins hohe Gras zu ducken. Er selbst spähte in die Gegend, um zu erkennen, woher das Wiehern kam.

 

„Ich sehe ihn.“ sagte Thêl plötzlich. „Ein Reiter auf einem schwarzen Pferd. Er trägt eine Rüstung.“

 

Die Anderen lugten vorsichtig über das Gras, und sie sahen bald, was Thêl entdeckt hatte. Tatsächlich war dort ein Pferd, auf dem ein Mann saß. Er ritt aus einem kleinen, dichten Wäldchen, wo er sich gut verbergen konnte. Jedoch war er weit weg, und sie sahen kaum mehr als seine Silhouette. Die Rüstung, die Thêl erwähnt hatte, konnten sie nicht ausmachen.

 

„Wer ist das?“ fragte Duncan leise, als ob er Angst hatte, der Reiter könnte sie hören.

„Ich weiß es nicht.“ antwortete Thêl. „Ich kann nichts erkennen. Aber es ist ganz sicher niemand, der uns freundlich gesinnt ist. Eher das Gegenteil, fürchte ich.“

„Ob es derselbe ist, den wir letzte Nacht gehört haben.“ fragte Will aufgeregt.

„Ich kann nur raten, aber ich denke schon. Es wäre ein zu großer Zufall, wenn es nicht so wäre.“

 

„Also, was jetzt?“ fragte Eeza. „Hier bleiben und warten können wir nicht.“

„Da stimme ich Euch zu.“ erwiderte Thêl. „Wir sitzen hier auf dem Präsentierteller. Am besten, wir setzen unseren Weg fort. Durch den Wald, und weiter. Und am besten etwas zügig.“

 

 

Es gab keinerlei Diskussionen. Die Fünf packten ihre Sachen und verließen ihren Lagerplatz, so schnell sie konnten. Dabei ließen sie den Reiter nicht aus den Augen. Dieser aber bewegte sich nicht. Die ganze Zeit über blieb er stehen und schien sich damit zu begnügen, die Gruppe zu beobachten.

 

Die fünf Gefährten gingen, schneller als zuvor, und bald betraten sie den Wald, der am Rande des Kahlen Berges wuchs. Sie folgten dem Fluss, der in den Wald hineinführte und, so hofften sie, auch wieder hinaus.

 

Schnell gingen sie durch die Bäume hindurch, weg vom Eingang des Waldes, in der Hoffung, dass ein Verfolger ihre Spur verlieren würde.

 

Doch entgegen ihrer Erwartungen schwand ihre Angst nicht. Der Wald hatte etwas Unheimliches an sich. Er war düster und bedrückend, und bei allen Fünf erzeugte er ein beklemmendes Gefühl.

 

Die Wanderer gingen weiter und weiter. Um sie herum konnten sie nur Baumstämme in zahllosen Größen und Formen sehen: Gerade oder gebogen, krumm schief, gedrungen oder schlank, glatt oder knorrig und verzweigt, und alle Stämme waren braun oder grau mit Moos und feuchten, schrumpligen Auswüchsen.

 

Alle Bäume im Wald waren Nadelbäume, mit langen grünen Nadeln in buschiger Form oder langen, fingerartigen Zweigen. Spitze, braune Zapfen saßen an manchen Ästen, hängend oder hier und da stehend wie eine Kerze.

Der Waldboden war bedeckt mit Nadeln, braun und trocken. Wurzeln, lang und knorrig, traten aus dem Boden hervor und gingen kreuz und quer. Dazwischen wuchsen graue, braune und weiße Pilze.

 

 

Die Stunden vergingen, während die Fünf durch den Wald wanderten, auf einem Trampelpfad, der immer geradeaus führte. Es gab keinerlei Anzeichen irgendwelcher Verfolger, und die Reise verlief ohne Schwierigkeiten. Trotzdem waren sie unruhig. Die Stille im Wald war unheimlich. Da war kein Geräusch, außer den gelegentlichen Wassertropfen, die durch die ruhigen Äste fielen. Kein Tier war zu hören, und nicht einmal der Wind regte sich.

 

Dann war da auch noch das seltsame Gefühl, nicht alleine zu sein. Will konnte es spüren. Er hatte den Eindruck, beobachtet zu werden. Als würden zwischen den Bäumen körperlose Augen lauern und jeden seiner Schritte beobachten. Es machte ihn nervös. Immer blickte er sich um, doch er sah nie jemanden. Da waren nur Bäume, und dahinter noch mehr Bäume.

 

Trotzdem war er nicht der Einzige, der unruhig war. Auch die Anderen fühlten eine Präsenz, die sie nicht sehen konnten. Sie fühlten, dass jede ihrer Bewegungen aufmerksam verfolgt wurde. Auch sie beunruhigte es, doch die versuchten, dies so gut es ging zu ignorieren.

 

 

Die Fünf folgten dem Fluss, der sich seinen Weg in einer tiefen Schlucht durch den Wald bahnte. Sie machten so gut wie nie Rast, aus Angst, dass ein Verfolger sie einholen könnte. Selbst zu Mittag blieben sie nicht stehen; stattdessen nahmen sie ihr Essen im Gehen ein. Wurde jemand von ihnen müde, so bremsten sie ihre Schritte und marschierten langsamer. Doch sie hielten nie gänzlich an.

 

Die Zeit kroch dahin, während sie weiterwanderten. Laut Thêl hatten sie den größten Teil des Waldes bereits hinter sich gebracht. Keinen freute das so sehr wie Duncan und Will. Sie hassten den Wald und wollten ihn so schnell wie möglich wieder verlassen.

 

Plötzlich vernahm Will, der als Letzter ging, etwas Seltsames. Es waren Schritte, die hinter ihm erklangen. Er erschrak, denn er vermutete den geheimnisvollen Reiter. Doch als er sich umdrehte, war niemand zu sehen. Er hielt an, ging einige Schritte zurück und sah sich um, doch er entdeckte niemanden. Das verwunderte ihn, denn er war sich absolut sicher, Schritte gehört zu haben.


„Stimmt etwas nicht?“ hörte er da Thêl fragen, und Will zuckte zusammen, so konzentriert war er.

„Ich dachte, ich hätte hinter mir Schritte gehört. Aber da ist niemand.“ antwortete er nervös.

 

Thêl ging zu ihm, und er sah sich ebenfalls um. Er ließ seinen Blick schweifen, zwischen den nahen und den fernen Bäumen, nach links und rechts, und sogar nach oben, ob sich nicht jemand in den Baumkronen versteckte. Doch er kam zu demselben Schluss wie Will.

 

„Niemand zu sehen.“ sagte er überzeugt. „Bist du sicher, dass du es dir nicht nur eingebildet hast.“

„Ganz sicher.“ erwiderte Will. „Ich..“

„Der Wald kann einem so manchen Streich spielen.“ unterbrach ihn Thêl. „Es ist eine unheimliche Gegend. Mach dir nichts daraus. Wir haben es bald geschafft.“

 

Dann ging er wieder an die Spitze der Gruppe und führte sie weiter.

 

Will fühlte sich nicht besser. Der Wald machte ihn ziemlich nervös. Noch dazu, da die Schritte wiederkamen. Kaum hatten sich die Fünf wieder in Bewegung gesetzt, ertönten erneut Fußstapfen hinter Will, und erneut ängstigte es ihn. Doch egal, wie oft er sich umdrehte, hinter ihm war keiner. Die Schritte verstummten, wenn er sich in ihre Richtung umdrehte, und sie erklangen wieder, sobald er weiterging.

 

Hatte Thêl Recht? Bildete er sich das nur ein? Spielte ihm seine übernervöse Fantasie nur einen Streich? Er bezweifelte es. Ihm fiel auf, dass die Schritte anders klangen als seine eigenen. Sie waren schwerer und gingen langsamer. Wäre dem nicht so gewesen, hätten es seine eigenen sein können, die zwischen den Bäumen widerhallten. Doch so war es nicht. Das machte Will nur noch nervöser.

 

Plötzlich berührte ihn etwas an seiner Schulter. Es war sehr kurz, so konnte er nicht fühlen, was es war. Er konnte nur sagen, dass es kalt war.

Er erschrak fürchterlich; so sehr, dass er einen Satz nach vorne machte und einen kurzen Schrei ausstieß. Als die Anderen das hörten, erschraken sie ebenfalls.

 

„Was ist denn jetzt schon wieder?“ fragte Thêl ungehalten, weil Will ihn geängstigt hatte.

„Ich habe etwas gespürt. Etwas mich an der Schulter berührt. Es war eiskalt, und... und... und...“ stammelte Will ängstlich.

„Ach, das war sicher nur deine Einbildung.“ erwiderte Eeza. „Der Wald ist unheimlich, ja, aber hier gibt es nichts, vor dem man Angst haben muss, außer seiner eigenen Fantasie.“

„Bestimmt war es nur ein Ast, oder ein großer Wassertropfen, der von oben heruntergefallen ist.“ fügte Duncan hinzu.

 

Dann sagten sie nichts mehr, und sie gingen weiter. Will war sich unsicher. Vielleicht gab es ja wirklich eine logische Erklärung dafür. So nervös wie er war, wurde schnell aus ein paar Geräuschen ein Geist. Und an Übernatürliches glaubte er nicht. Vermutlich war es wirklich nur ein Wassertropfen. Zu seiner Beruhigung betastete er seine Schulter. Doch zu seiner Verwunderung war sein Hemd knochentrocken.

 

 

Die fünf Gefährten gingen vor sich hin. Das Gefühl, beobachtet zu werden, blieb, und auch die Schritte kamen wieder, sehr zu Wills Ärger. Er war auch darüber verwundert, wie kalt die Luft war, obwohl die Sonne noch am Himmel stand und kein Wind im Wald ging.

 

Wie freute es ihn doch, als Thêl sagte: „Wir haben es fast geschafft.“ Ein Stein fiel ihm vom Herzen. Tatsächlich wurde der Wald merklich heller. Die Schlucht, neben der sie wanderten, nahm an Tiefe ab, und der Fluss kam wieder zum Vorschein. Er wurde so schmal, dass man fast hinüber springen konnte.

 

Bald darauf bog sich der Weg nach rechts, und eine Brücke tauchte auf, die über den Fluss führte. Sie war klein, kaum drei Meter lang, doch dafür breit. Sie war aus einfachen Holzbrettern gezimmert. Sie hatte kein Geländer, doch war dies bei ihrer Kürze auch nicht notwendig.

 

Einer nach dem anderen überquerten sie die Brücke. So kurz, wie sie war, genügten ein paar schnelle Schritte, um die andere Seite zu erreichen. Will wagte einen Blick in die Fluten. Das Wasser strömte schnell durch die steinigen Wände. Am Grund waren unzählige Felsbrocken, und grüne Algen wuchsen dazwischen hervor und bogen sich in der Strömung.

 

 

Auf der anderen Seite führte der Weg nach links weiter, wieder Richtung Westen. Die Fünf folgten dem Pfad, der sich sanft durch die Bäume schlängelte. Dann kamen sie zu einem recht eigenartigen Konstrukt: Einige Bäume, die zu beiden Seiten des Weges standen, waren in einem Bogen nach unten gebeugt und wuchsen ineinander, sodass sie einen Tunnel bildeten. Fast sah er künstlich aus, so unwirklich schien er. Nur einige Äste standen hier und da ab, ansonsten war er makellos wie ein menschliches Bauwerk. Mindestens zwanzig Meter war er lang, und es fielen kaum Sonnenstrahlen hindurch. Das stärkste Licht war ein heller Schein, der an dessen Ende zu sehen war. Es war ein helles Leuchten, und warm, und es machte die fünf Freunde glücklich.

 

„Durch diesen Tunnel noch, dann haben wir es geschafft.“ verkündete Thêl hoffnungsvoll.

 

Voll Freude gingen sie in den Tunnel hinein. Er war düster, doch auf angenehme Weise. Ihre Schritte hallten an den hölzernen Wänden wider.

 

Gerade als Will marschierte, voll der Hoffnung, da spürte er plötzlich einen Widerstand in seinem Bein. Sein linker Fuß wollte sich nicht mehr recht vom Fleck bewegen. Als er dorthin sah, um die Ursache herauszufinden, musste er entsetzt feststellen, dass sich einer der Äste um seinen Fuß gewunden hatte. Wie eine Schlange umwickelte er ihn, und er zuckte hin und her.

 

Will schrie auf. Zuerst dachten die Anderen, er hätte sich wieder vor seinem eigenen Schatten geängstigt. Aber als sie den Ast sahen, der den Jungen festhielt, da erschraken sie. Thêl, geistesgegenwärtig wie immer, zog sein Schwert. Er machte einen Satz auf Will zu, und mit einem einzigen Hieb schlug er das bösartige Geäst durch.

 

In diesem Augenblick erklang ein hoher, pfeifartiger Schrei. Mit einem Mal begannen auch die anderen Äste zu zucken. Sie wanden sich wild hin und her, nach möglicher Beute suchend. Thêl übernahm wieder die Führung. „Los, lauft, so schnell ihr könnt!“ rief er. Dann rannte er los, dem Ausgang entgegen. Während die Anderen ihm folgten, zerschlug er jeden Ast, der zu nahe kam, mit dem Schwert. Balraun, in einem erstaunlich klaren Moment, tat dasselbe. Eeza, Duncan und Will liefen hinterher, die Hände schützend über dem Kopf.

 

So erreichten sie den Ausgang unversehrt und in kürzester Zeit. Das Licht wurde klarer, als sie vorwärts gingen. Das kamen sie aus den Bäumen heraus, und fanden sich in einer weiten, runden Fläche wieder. Eine Wiese war es, mit saftig grünem Gras und rundherum von einer Mauer aus Bäumen eingeschlossen. Über ihnen war Himmel, blau und klar. Kein Baum wuchs auf der Lichtung, nur Gras und viele hohe Pflanzen: verblühte Königskerzen mit langen Stängeln, und Einbeeren, Glockenblumen, die zwischen Brombeerbüschen blühten, und wild wuchernde Brennnesseln und Disteln. Ein einsamer und trostloser Ort, aber nach dem dichten Wald schien er wie ein bezaubernder und fröhlicher Garten. Als sie dies sahen, wurde ihr Gemüt froh.

 

Dann, mit einem Mal, fiel ihr Blick auf etwas, mit dem sie hier nicht gerechnet hätten: ein Haus. Klein war es, und bedeckt mit silbernen Spinnweben. Es wirkte alt und verfallen, so als würde es schon viele Jahrhunderte dort stehen, und doch nicht mehr lange. Die Mauern hatten Risse, und eines der Fenster war eingeschlagen. Trotzdem war es scheinbar belebt, denn um das Haus standen Fässer mit Werkzeugen wie Schaufeln und Harken, und hinter dem Haus war ein kleiner Acker mit großen und Gemüsepflanzen.

 

 

Die fünf Gefährten waren erstaunt über diesen Fund, aber auch erfreut, dass es hier andere Menschen gab. Sie gingen auf das Haus zu, und dabei genossen sie die warmen Sonnenstrahlen auf ihrer Haut. Doch lange währte die Freude nicht. Hinter ihnen, aus dem Wald, ertönte plötzlich das Wiehern eines Pferdes, und leise Huftritte waren hörbar.

 

Da erschraken sie fürchterlich. Nach der langen Reise durch den Wald hätten sie nicht gedacht, dass sie der Reiter tatsächlich verfolgen, geschweige denn einholen würde. Sie mussten schnell handeln. Thêl entschied sich dafür, in das Haus zu flüchten und sich dort zu verstecken. Es war eine einfache und auch die naheliegendste Lösung. Darum würde es der Reiter nicht erwarten, hofften sie.

 

 

Sie betraten das Haus, so schnell sie konnten, und doch leise. Als sie die Tür hinter sich schlossen, atmeten sie schwer. Sie schauten sich um. Ein natürliches Licht schien durch die Fenster herein und erhellte alles. Das Haus war klein, nicht größer als zwei oder drei Räume zusammen.

Überall waren Regale mit allerlei Krimskrams, wie Vasen, Bilder, Statuetten und Kerzen, und dazwischen standen Schmuckkästchen. Auch das eine oder andere Schwert war an der Wand befestigt. Es wirkte alles sehr alt, und auf allem lag Staub.

 

Dann, zu ihrer Überraschung, sahen sie einen Mann, der hinter einem Tisch saß, einen Haufen Kartoffeln vor sich liegend. Er war alt, was die unzähligen Falten in seinem Gesicht bezeugten. Er hatte keine Haare mehr, außer einem weißen Flaum auf seiner Oberlippe und seinen Augenbrauen. Er schien gerade Kartoffeln zu schälen, doch als er die Fünf hereinkommen hörte, da hielt er inne.

 

„Wer ist da?“ fragte er.

„Wir sind Wanderer.“ erwiderte Thêl, übertrieben ernst. „Wir sind in einem wichtigen Auftrag unterwegs. Wenn Euch die Zukunft dieses Landes am Herzen liegt, dann tätet Ihr gut daran, uns nicht zu hindern.“

„Immer mit der Ruhe.“ sagte der alte Mann und zog überrascht die Augenbrauen hoch. „Ich bin nur ein alter Greis, und blind noch dazu. Ich könnte euch nichts tun, selbst wenn ich es wollte.“

„Dann verzeiht uns unser Eindringen.“ meinte Eeza. „Wir sind auf der Flucht, und wir hielten dies für einen sicheren Unterschlupf. Der, der uns verfolgt, ist nicht weit hinter uns.“

„Auf der Flucht, sagt Ihr? Etwa vor Beléssan oder seinen Untergebenen?“

„Ja. Woher wisst Ihr das?“ fragte Eeza überrascht.

„Nun, vor wem soll man in diesen Zeiten denn sonst fliehen?“

„Ja, da habt Ihr allerdings Recht. Also, nun wo Ihr dies wisst, werdet Ihr uns wieder vor die Türe setzen? Oder gewährt Ihr uns Zuflucht?“

„Zuflucht? Oh, mehr als das. Ich werde euch helfen.“ sagte er Alte mit einem Lachen.

„Sehr nett von Euch.“ entgegnete Eeza und verbeugte sich. „Aber das ist ein Risiko für Euch. Nicht dass wir undankbar wären, aber warum tut Ihr das?“

„Warum? Ganz einfach. Ich hasse Beléssan. Er und seine Kumpanen sind das Abscheulichste, was diesem Land je passiert ist. Wisst Ihr, ich war einst der Dorfälteste von Dhura, einem hübschen kleinen Fischerdorf direkt am Meer. Dann haben es Beléssans Truppen angegriffen und zerstört. Die Männer haben sie versklavt, und die Frauen und Kinder... Gott, ich will gar nicht daran denken. Mich haben sie verschont, aber weil ich ihnen gedroht habe, haben sie mich zur Strafe hierher verfrachtet. Damit ich hier verfaule, Himmel noch einmal!“ Beinahe kamen dem alten Mann vor Aufregung die Tränen, aber er hielt sie tapfer zurück.

„Das tut mir sehr leid.“ sagte Eeza mitleidsvoll.

„Schon gut. Schon gut. Ich habe die letzten Jahre genug Tränen vergossen. Es ist genug.“ entgegnete der Alte abweisend. „Wisst ihr, ich bin schon alt, und ich weiß, dass mein Leben bald ein Ende finden wird. Ich war zwar Dorfältester, aber wenn ich auf mein Leben zurückblicke, dann sehe ich da nichts, worauf ich wirklich stolz sein kann. Nichts, was wirklich etwas wert wäre. So gerne würde ich jemanden helfen, sodass er stolz auf mich ist und mir von Herzen dankt. Dass er sagt: ‚Danke für deine Hilfe. Ohne dich hätte ich das nie geschafft.’ Ja, das würde mir gefallen. Nun, dank euch scheine ich nun die Möglichkeit dazu zu haben. Ja, darum werde ich euch helfen. Nur wie?“ Er überlegte für einen kurzen Augenblick. „Ja, ich denke, ich werde euch verstecken. Wenn euer Verfolger kommt, so habe ich euch nie gesehen. Ich kann ihn bestimmt abwimmeln. Das habe ich früher in Dhura oft erfolgreich getan.“

 

Die Fünf waren zwar etwas unsicher, ob das klappen würde, erklärten sich aber schließlich einverstanden. Der Alte führte sie zu einer Leiter, über der sie durch eine Luke auf einen Dachboden gelangten. Sie zogen die Leiter zu sich hinauf, und schlossen die Luke, sodass niemand mehr auf normalem Wege den Dachboden betreten konnte.

 

So klein das Haus war, so groß wirkte dafür der Dachboden. Er nahm fast die ganze Fläche des Hauses ein. Dafür war er niedrig, sodass die Fünf nicht aufrecht stehen konnten. Also kauerten sie sich hin, oder knieten. Der Speicher war voll mit Gerümpel und Kisten. Alles war voller Staub, und Spinnweben hingen an der Wand. Es war ein alter Ort, verstaubt, aber doch voller Erinnerungen.

 

 

Die fünf Gefährten warteten. Sie konnten nichts anderes tun. Sie waren fest davon überzeugt, dass der Reiter hier nach ihnen suchen würde. Geduldig mussten sie sein, und darauf hoffen, dass der alte Mann so überzeugend war, wie er sagte.

 

Zehn Minuten vergingen. Dann war plötzlich ein Wiehern zu hören, direkt vor dem Haus. Dem folgten schwere Schritte, und gleich darauf ein stürmisches Klopfen an der Türe. Will kroch die Dielen entlang; dorthin, wo der alte Mann saß. Er hatte entdeckt, dass es Lücken zwischen den Brettern gab, durch die man schauen konnte. Er wollte wissen, was unten vor sich ging. Die Anderen taten es ihm nach. Allerdings mussten sie sich vorsichtig bewegen, denn die Dielen knarrten, und sie wollten keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Nur Balraun mussten sie ausdrücklich darauf hinweisen.

 

Der Alte saß wie vorhin bei dem Tisch und schälte Kartoffeln. Er reagierte nicht auf das Klopfen; auch nicht, als es ein zweites Mal ertönte, noch heftiger und ungeduldiger. Kurz darauf öffnete sich die Tür, und der Reiter trat herein. Leider konnten Will und die Anderen sein Gesicht nicht erkennen. Nur seine Rüstung, die tiefschwarz war, mit silbergrauen Ornamenten und silbernen Dornen an Schulterpanzern und Fingerknöcheln. Auf seinem Rücken trug er ein Schwert in einer schwarzen Scheide. Er hatte einen schwarzen Helm mit silbernen Verzierungen auf. Darunter kam langes braunes Haar zum Vorschein.

 

Der Reiter trat auf den alten Mann zu und blieb vor dem Tisch stehen.

 

„Wer ist da? Wer seid Ihr? Nennt Euren Namen.“ sagte der Alte mit ruhiger Stimme.

„Wieso öffnet Ihr nicht, wenn man klopft? Was ist das für eine Gastfreundschaft?“ bellte der Reiter unwirsch, und seine Stimme war rau.

„Ah so? Was für einen seltsamen Namen Ihr doch habt.“ erwiderte der Alte grinsend.

„Lasst das, Greis. Ich bin nicht in Stimmung für solch Spiele. Ich suche jemanden. Fünf Leute; zwei Jungen und drei Erwachsene.“

„Ich habe niemanden gesehen.“ sagte der alte Mann. „Wobei ‚sehen’ sowieso viel verlangt ist, wenn man blind ist.“

„Blind, ja? Dann hört Ihr sicher gut. Vielleicht habt Ihr jemanden gehört. Nun?“

„Nicht hier drinnen. In meinem Haus war nur ich, und Ihr nun.“

„Mmhmm. Und draußen?“

Der alte Mann überlegte. „Nein. Das heißt... wartet, doch, ja. Da waren Stimmen vor meinem Haus. Ich... Es waren mehrere, aber ich kann nicht sagen wie viele. Zwei mindestens. Hektisch waren sie, und schnell unterwegs. Oh ja, zweifellos.“

„Interessant.“ brummte der Reiter. „Wann war das?“

„Nun... Vor etwa einer halben Stunde, denke ich.“

„So lange her!?“ rief der Reiter überrascht aus. „So einen Vorsprung haben die schon?“

 

Für einige Augenblicke starrten sich die Beiden wortlos an, den jeweils anderen fixierend und auf eine Reaktion wartend.

 

„Sehr flink, das muss ich sagen. Doch das nützt ihnen nichts.“ verkündete der Reiter schließlich. „Ich werde sie einholen, und dann rettet sie nichts mehr.“

 

Er schickte sich an, zu gehen, doch der Alte hielt ihn zurück.

 

„Wartet noch. Bevor Ihr geht, sagt Ihr mir, warum Ihr diese Leute sucht?“ fragte er.

„Es geht Euch eigentlich gar nichts an.“ entgegnete der Reiter entnervt. „Aber sei’s drum. Sie sind Feinde des Großkönigs, und damit des gesamten Landes. Wir haben Grund zur Annahme, dass sie einen Aufstand planen und den König stürzen wollen. Solch eine Volkserhebung können wir nicht dulden. Wir müssen sie im Keim ersticken. Darum werden wir sie fassen, und dann wird der Kerker das Kleinste ihrer Übel sein.“

„Des Großkönigs, ja? Vom wem sprecht Ihr? Aramar hat doch seit Jahrzehnten keinen Großkönig mehr.“

„Seid Ihr außer blind auch noch blöd?“ knurrte der Reiter. „Beléssan ist der Großkönig und der alleinige Herrscher dieses Landes. Was ist das für eine Frage?“

„Beléssan? Der Großkönig? Ihr scherzt. Wer hat ihn auf den Thron gewählt? Niemand! Er hat sich gewaltsam die Krone genommen, gegen jedermanns Willen. Er ist kein König, nur weil er das sagt.“ keifte der Alte, und seine Stimme wurde immer zorniger.

„Ganz vorsichtig, alter Mann.“ sagte der Reiter drohend. „Von Euch will ich nichts. Ich sollte eigentlich unnötige Opfer vermeiden. Aber wenn Ihr weiter so respektlos redet, dann werde ich eine Ausnahme machen müssen.“

„Ihr macht mir keine Angst.“ erwiderte der Alte. Er war voll in Fahrt, und konnte sich nicht mehr zurückhalten. „Beléssan ist kein König. Er ist ein Thronräuber, weiter nichts. Ein gieriger Usurpator! Niemals werde ich ihn als König akzeptieren! Komme was wolle!“

„Ihr schwachsinniger Greis. Jetzt habe ich genug von Euch.“

Mit diesen Worten trat der Reiter einen Schritt auf ihn zu. Will und die Anderen mussten zusehen, wie er eine Hand ausstreckte und dem alten Mann auf den Kopf legte. Er hielt ihn einige Augenblicke fest, in denen der Alte zuckte und keuchte. Dann ließ der Reiter los, und der alte Mann brach tot auf dem Tisch zusammen.

 

„Tja, das habt Ihr Euch selbst zuzuschreiben, alter Narr.“ knurrte der Reiter.

Will wollte aufschreien, als er dies sah, doch Duncan hielt ihm geschwind die Hand vor den Mund. Alle Fünf hielten den Atem an. Sie beobachteten, wie sich der Reiter im Haus umsah. Er ging unten umher, zweifellos auf der Suche nach ihnen. Daher rührten sie sich nicht, und wagten kaum zu atmen. Ihre Herzen pochten so sehr, dass sie fürchteten, er könnte sie hören.

 

Doch sie hatten Glück. Nachdem der Reiter lange genug umher geschaut hatte, verließ er unzufrieden das Haus. Er schlug die Haustür kräftig zu. Dann lauschten die Fünf. Nur kurze Zeit später ertönte draußen Hufgetrappel, das sich mehr und mehr entfernte. Als es schließlich gar nicht mehr zu hören war, atmeten die fünf Freunde erleichtert auf.

 

Sie warteten eine ganze Stunde, erst dann wagten sie es, den Dachboden zu verlassen. Ihre erste Sorge galt dem alten Mann, der leblos über dem Tisch lag. Doch sie konnten ihm nicht mehr helfen. Eeza untersuchte ihn, doch es war bereits alles Leben aus ihm gewichen. Darüber waren alle entsetzt, aber Thêl ganz besonders.

 

„Das darf nicht wahr sein.“ sagte er. „Es ist unsere Schuld. Unsretwegen ist er tot. Das darf nicht sein.“

„Reißt Euch doch zusammen.“ meinte Balraun und trank aus seinem Krug. „War doch der Böse, der ihn getötet hat. Das ham nich wir gemacht.“

„Aber nur weil wir hier waren!“ erwiderte Thêl zornig. „Das ist genau der Grund, warum wir Cestilla verlassen haben. Damit keine Unschuldigen sterben. Genau das wollten wir vermeiden!“

„Balraun hat Recht, auch wenn ich es ungern zugebe.“ warf Will ein. „Wir können gar nichts dafür.“

„Wenn’s Euch glücklich macht, könnt Ihr den schwarzen Typen ja umbringen.“ fügte Balraun glucksend hinzu.

 

Thêl ließ sich diesen Gedanken durch den Kopf gehen, doch er sagte nichts darauf. Auf eine Diskussion hatte er keine Lust, schon gar nicht mit Balraun.

 

Viel wichtiger schien ihm, aber auch den Anderen, die Frage, was sie nun tun sollten. Die Nacht brach bald herein, und sie mussten schlafen. Aber sie konnten draußen kein Lagerfeuer machen, da dies mit Sicherheit den Reiter anlocken würde. Also entschieden sie sich dafür, die Nacht im Haus zu verbringen, auch wenn manche dies für pietätlos hielten. Aus Respekt vor dem alten Mann benutzte aber niemand dessen Bett; stattdessen legten sie ihre Schlafsäcke auf den Boden. Sie zündeten ein paar Kerzen an, um zumindest ein wenig Licht und Wärme zu haben. Thêl, Eeza und sogar Balraun hielten Wache, und Balraun versprach, nüchtern zu bleiben.

 

Beim ersten Licht des Tages standen sie auf. Mit ein wenig Wasser aus einem Brunnen neben dem Haus erfrischten sie sich, bevor sie munter und gestärkt ihre Reise fortsetzten. Vorher aber nahm sich Thêl die Zeit, den alten Mann hinter seinem Haus zu begraben. Dies, so dachte er, war er ihm schuldig.

Als die Anderen zusahen, wie der Krieger die letzte Erde auf das Grab schüttete, da sagte Eeza leise: „Danke für Eure Hilfe. Ohne Euch hätten wir das nie geschafft.“

„Ich hoffe sehr, dass er das hört.“ fügte Will hinzu.

 

 

Ihr Weg führte die Fünf weiter nach Westen. Sie passierten die Lichtung und durchquerten dann den Ring aus Bäumen. Dahinter waren wieder Ebenen, so weit das Auge reichte. Über diese gingen sie mit schnellen Schritten, und ihre Augen und Ohren waren wachsam, dass sie es merkten, bevor sie auf den Reiter treffen sollten.

 

Die fünf Wanderer kamen in ein Gebiet, dass man Steinfelder nannte. Es war eine öde Gegend, mit wenig Pflanzenwuchs. Einzig ein paar Disteln und bernsteinfarbene Peruín-Blumen sprossen zwischen verzweigten Dornbüschen empor. Es gab größtenteils nur kargen Steinboden, der von unzähligen erodierten Gräben durchzogen war. Diese mussten die Fünf durchqueren. Dabei waren sie achtsam, denn die Wände, obwohl niedrig, waren steil. Große und kleine Felsbrocken ragten hervor, und drohten immer wieder herunterzufallen.

 

Unterwegs trafen sie auf ein Rudel Grauwölfe, die die Felder auf der Suche nach Beute durchstreiften. Da es in den Steinfeldern wenige Lebewesen gab, waren sie immer hungrig. In Notzeiten fraßen sie sich oft gegenseitig auf. Sie waren mit jeder Art von Beute zufrieden, und machten auch vor Menschen nicht Halt.

 

Zu zehnt griffen sie die Gefährten an. Sie waren schnell und wild. Doch gegen Thêls und Balrauns Schwerter hatten sie keine Chance. Die beiden Krieger töteten einen nach dem anderen, während Eeza die Knaben beschützte. Der Kampf war bald vorüber und endete mit zehn toten Wölfen.

 

 

Die fünf Freunde setzten ihren Weg stetig fort. Die Reise war beschwerlich. Will wurde mit jeder Stunde müder und müder. Er schwor sich immer wieder, tapfer durchzuhalten, denn der Auserwählte würde nicht so schnell schlappmachen. Er war aber für jede Pause dankbar, und freute sich über jeden Meter, den sie hinter sich brachten.

 

Die Fünf ließen die Steinfelder bald hinter sich. Je weiter sie marschierten, desto mehr veränderte sich die Landschaft. Die Felsen verschwanden, und an ihre Stelle traten Gräser und Bäume, in kleinen Gruppen angeordnet, und Blumen in allen Farben. Zu ihrer Linken floss der kleine Fluss, neben dem sie vor eineinhalb Tagen campiert hatten. Ihnen war gar nicht aufgefallen, dass er zwischenzeitlich verschwunden war. Zwischen dem Baumtunnel und den Steinfelder bahnte er sich nämlich unterirdisch seinen Weg. Nun begegneten sich die Wanderer und der Fluss wieder, doch während sie geradlinig nach Westen marschierten, bog der Fluss ab und schlängelte sich nach Süden weiter.

 

Sie waren etwa vier Stunden marschiert. Der Mittag war vorbei. Sie legten eine kurze Rast ein und nahmen ein Mittagessen aus Brot und Äpfeln zu sich. Balraun trank einen Wein von 1584 (ein guter Jahrgang), den er aus dem Haus des alten Mannes mitgenommen hatte, sehr zum Ärger der Anderen.

 

Nach der Mahlzeit gingen sie weiter, und kaum zwei Stunden später erreichten sie das Ufer eines gewaltigen Flusses. Ein riesiger Strom war es, fast einen halben Kilometer breit. Große Pappeln und Trauerweiden säumten das Ufer, und große Steine lagen am Wasserrand, mit Algen bedeckt. Binsen wuchsen direkt am Wasser, inmitten Heerscharen von Schilfrohren. Entlang des Ufers sprossen Unmengen verschiedener Kräuter und Gräser zwischen großen Hecken. Nelken und Sumpfdotterblumen blühten dort, und auch Schwertlilien, Spitzwegerich und Wasserkraut. Es war ein außergewöhnlicher Garten voll von Leben.

 

 

Es gab auch Tiere am Fluss, ganz besonders Vögel. Reiher flogen durch die Luft, und zwischen dem Schilf suchten Störche und Brachvögel nach Beute. In den Wiesen am Ufer liefen Kiebitze umher. Große Heuschrecken saßen auf den Blumen und Gräsern und zirpten fröhlich vor sich hin. Als die Wanderer ihnen zu nahe kamen, da hüpften sie ängstlich davon.

 

Der große Fluss hieß Noruïn. Er hatte dieselbe Quelle wie der Nenuïn, weit im Norden im Sunit-Gebirge. Als ein einziger Strom verließen sie die Berge und flossen gen Süden, doch ein paar Kilometer nördlich der Wälder von Mirdare teilten sie sich in zwei Flüsse und setzten ihren Weg als parallel laufendes Paar fort, bis zu den Südlichen Wäldern an der Küste, wo sie ins Meer flossen. Der Unterscheidung halber nannte man den linken Fluss Nenuïn, und den rechten Noruïn.

 

 

Direkt vor den fünf Gefährten war eine große Brücke, die über den Noruïn gespannt war. Es war eine Hängebrücke, mit starken Holzbrettern und dicken Tauen, die sie verbanden. Es gab sogar ein aus Seilen gefertigtes Geländer. Die Brücke wirkte sicher, aber Duncan und Will waren misstrauisch, denn der Noruïn floss mit einer eindrucksvollen Geschwindigkeit, und würde ein Mensch ins Wasser stürzen, gäbe es wohl keine Rettung für ihn. Aber Thêl und Eeza waren vertrauensvoll, und ohne zu Zögern überquerten sie die Brücke.

 

Thêl ging als erster, und dahinter die beiden Jungen. Hinter ihnen ging Eeza, zu ihrem Schutz, und Balraun bildete das Schlusslicht. So marschierten sie über die Brücke, einer nach dem anderen. Will und Duncan gingen vorsichtig, immer mit einer Hand am Geländer. Eeza aber versicherte ihnen, dass ihnen nichts geschehen würde.

 

Tatsächlich erreichten sie in etwas über 15 Minuten das andere Ufer, unversehrt. Die beiden Knaben waren sehr erleichtert, als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatten.

 

Auf der anderen Seite des Noruïn, zwischen dem Schilf, lagen weißgraue Steinplatten. Sie wirkten alt, und waren in den Boden eingebettet. Laut Thêl bildeten sie einen Weg, der zur Brücke über den Nenuïn führte. Den zweiten Fluss mussten sie auch noch überqueren, um nach Bessain zu gelangen. Thêl erklärte, dass sie mindestens drei Stunden brauchen würden, um die Brücke zu erreichen. Doch es wurde bereits Abend, darum entschlossen sie sich dazu, die Nacht hier zwischen den Flüssen zu verbringen.

 

Sie folgten den Steinplatten ein gutes Stück. Die Landschaft stieg an, sodass sie hier und da einen Hügel erklimmen mussten. Schließlich fanden sie eine flache Stelle im Schatten einer Pappel. Dort legten sie ihre Schlafsäcke ab, und sie machten ein Lagerfeuer, über dem sie die erlegten Fasane brieten. Es war eine willkommene Abwechslung, und besonders Will schmeckten sie sehr gut. Es erinnerte ihn an Hühnchen, doch mit einem weitaus intensiveren Geschmack. Er genoss besonders die knusprig gebratene Haut.

 

Nach dem Essen erfreuten sie sich noch etwas an den abendlichen Geräuschen, wie das laute Rauschen der beiden Flüsse und das Quaken von Fröschen. Als die Sonne gänzlich hinter dem Horizont verschwand, legten sie sich schlafen.

 

„Das ist unsere vorerst letzte Nacht im Freien.“ erklärte Thêl. „Morgen werden wir Bessain erreichen.“

 

Dies freute die Anderen, aber ganz besonders Will, der es kaum erwarten konnte, wieder in einem richtigen Bett zu schlafen.

 

 

Der nächste Morgen kam bald. Kurz nach Sonnenaufgang standen sie auf, erfrischten und stärkten sich und setzten ihren Weg dann fort. An diesem Tag war ihre Stimmung um ein Vielfaches besser, da sie sich darauf freuten, bald die Wildnis hinter sich lassen zu können. Umso engagierter marschierten sie auch.

 

Die Fünf folgten dem Weg aus Steinplatten quer durch Schilfwälder und Tümpel aus Wasser und Schlamm. Bald stieg die Gegend weiter an. Sie wurde trockener und steiniger, mit großen Felsen, die die Landschaft säumten.

 

Nach mehr als zweieinhalb Stunden Marsch erreichten sie die Ufer des Nenuïn, die mit Steinen und großen Nadelbäumen geschmückt waren. Der Fluss war gewaltig, aber nicht so mächtig wie der Noruïn. Hier und da war er wohl mehrere hunderte Meter breit, doch der Übergang, an dem Thêl sie wohlweislich geführt hatte, war kaum 50 Meter weit.


Dafür war die Schlucht, in der der Nenuïn floss, sehr tief. Sie war an manchen Stellen hundert Meter tief, an anderen auch nur die Hälfte. Unten strömte der Fluss mit einer rasanten Geschwindigkeit, und sein donnerndes Rauschen erfüllte die ganze Schlucht. Spitze Felsen ragten aus dem Wasser, das etwas seichter war als das des Noruïn. Ein Sturz wäre hier zweifellos tödlich.

 

Dementsprechend nervös waren Will und Duncan, dass sie den Fluss überqueren sollten. Die Brücke hier war ähnlich wie die über den Noruïn: aus Holz, mit kräftigen Seilen, die sie spannten und kräftigen Tauen als Geländer. Selbst Balraun war etwas unsicher, als er in Wellen in der Tiefe starrte. Thêl und Eeza aber versicherten ihnen abermals, dass die Brücke sicher war und ihnen nichts geschehen würde. Sie meinten, dass die Brücke sehr kurz war, und sie in wenigen Minuten auf der anderen Seite sein würden.

 

Dieses Argument überzeugte Balraun, und sogleich schickte er sich an, den Fluss zu überqueren. Er nahm allen Mut zusammen und ging mit vorsichtigen Schritten über die Brücke, beide Hände stets am Geländer. Die Brücke schwankte etwas und knarrte, aber binnen weniger Minuten erreichte er die andere Seite.

„Ha! Kein Hindernis ist zu groß für Balraun, den großen Krieger!“ brüllte er und warf die Fäuste triumphierend in die Luft.

 

Die Anderen sagten nichts dazu. Sie waren aber erfreut zu sehen, dass die Brücke jemanden von Balrauns Masse aushielt. Es machte sie sicher, dass sie sie auch tragen würde.

 

Will und Duncan zögerten noch etwas. Sie ließen Thêl und Eeza den Vortritt. Erst als die beiden die Brücke betraten, schlossen sich die Knaben an. Sie waren nicht ganz sicher, ob sie zu viert nicht zu schwer waren, doch Eeza versprach ihnen, dass nichts passieren würde.

 

 

Thêl erreichte als Erster das andere Ufer. Eeza, Duncan und Will folgten ein paar Meter hinter ihm. Thêl sah ihnen zu und wollte ihnen auf der letzten Strecke Mut machen. „Kommt, ihr habt es gleich geschafft.“ sagte er. „Nur noch ein paar Schritte, und... NEIN!!“ schrie er plötzlich.

 

Die Anderen waren verwundert über seinen Ausruf. Sie sahen seinen entsetzten Blick zum anderen Ufer. Sie schauten dorthin, und erschraken furchtbar. Dort, auf der anderen Seite, stand der Reiter in all seiner furchtbaren Pracht.

 

Seine schwarze Rüstung glänzte in der Sonne. Der schwarze Helm verdeckte sein Gesicht, sodass sie nichts erkennen konnten außer seinem kantigen Kinn und seinen böse funkelnden Augen. Doch das war genug, um ihnen Angst einzujagen, sodass sie starr vor Schreck wurden.

 

„Ich gebe zu, ihr habt es mir nicht leicht gemacht.“ sagte der Reiter spöttisch. „Zuerst dachte ich tatsächlich, ihr wärt mir nach dem Wald entwischt. Wo habt ihr euch versteckt? Doch im Haus des alten Mannes? Tja, gut, dass ich ihn schon getötet habe, sonst müsste ich zurückreiten und das nachholen. Habe ich nicht ein Glück?“

„Verschwindet, sofort!“ sagte Thêl zornig, aber mit zitternder Stimme, und er nahm seinen Bogen und spannte einen Pfeil ein.

„Uuh, eine Drohung.“ erwiderte der Reiter. „Wie niedlich.“

 

Daraufhin zielte Thêl auf ihn und schoss seinen Pfeil. Dieser flog zischend durch die Luft und traf den Brustharnisch des Reiters. Doch er prallte einfach ab und fiel wirkungslos zu Boden. Der Reiter lachte. „Guter Schuss.“ sagte er hämisch.

 

Entmutigt ließ Thêl den Bogen sinken. Er war ratlos und verunsichert, was sie gegen den Feind ausrichten sollten.

 

 

„Kommt doch her, wenn Ihr Euch traut.“ schrie Balraun plötzlich, das Schwert in der Hand, wild fuchtelnd. „Ich hab keine Angst vor Euch.“

Der Reiter aber lachte nur. „Warum sollte ich das tun? Ich kann euch auch anders aufhalten. Wisst ihr, mein Herr und Meister wünscht, dass ihr alle sterbt. Doch diese Mühe mache ich mir nicht. So wie ich das sehe, muss nur einer von euch sterben, damit euer Vorhaben scheitert.“

 

Mit diesen Worten zog er sein Schwert und trat grinsend auf die Brücke zu.

 

Thêl wusste sofort, was er vorhatte. „Runter von der Brücke! Sofort! Lauft, so schnell ihr könnt!“ brüllte er. Eeza, Duncan und Will verstanden, und sie rannten. Ihre Herzen rasten und ihre Beine brannten, als sie mit all ihrer Kraft auf die andere Seite liefen. Thêl schoss noch mehr Pfeile auf den Reiter, doch sie alle prallten an seiner Rüstung ab und behinderten ihn nicht mehr als ein paar Fliegen.

 

Eeza hatte gerade das sichere Ufer erreicht, als der Reiter mit dem Schwert ausholte und das Geländer der Brücke durchschnitt. Die beiden Seile fielen kraftlos zur Seite. Dadurch konnten sich Duncan und Will nicht mehr festhalten und verloren an Standfestigkeit. Die brauchten sie zum Glück aber nicht notwendigerweise, und unbeirrt liefen sie weiter.

 

Doch der Reiter war noch nicht fertig. Er holte noch einmal aus. Mit einem kräftigen Schlag durchtrennte er die Seile zwischen zwei der Bretter. Mit einem lauten Schnalzen riss die Brücke entzwei. Duncan konnte sich im letzten Moment mit einem beherzten Sprung auf festen Boden retten. Will jedoch war etwas zu langsam. Eine Seite der Brücke stürzte in die Tiefe, und er mit ihr.

 

Thêl, Eeza, Duncan und Balraun musste mit Entsetzen mitansehen, wie Will der Boden unter den Füßen weggerissen wurde und die Schwerkraft ihn unbarmherzig in die Tiefe riss. Der Junge schrie wie am Spieß, während den Zuschauern die Luft wegblieb. Würde er nicht im tosenden Wasser ertrinken, so würde er sich sicher an einem der Felsen alle Knochen brechen. In diesen Augenblicken, die wie Zeitlupe vor ihren Augen ablief, verloren sie alle Hoffnung.

 

 

Will hörte den Wind an seinen Ohren vorbeirauschen, und er spürte einen starken Druck in jedem Teil seines Körpers. Er war zu keinem klaren Gedanken fähig. Doch eines wusste er genau: Er wollte nicht sterben. In diesem Moment erwachte ein Keim, ein Wille, auf keinen Fall hier sein Leben zu verlieren.

 

Mit beeindruckender Reaktionsfähigkeit schnappte er nach einem der Balken der Brücke, und es gelang ihm, sich mit etwas Mühe daran festzuhalten. Ein Schmerz durchzuckte ihn, von den Fingern bis in die Brust. Beinahe renkte er sich die Schultern aus. Will biss die Zähne zusammen. Er würde es aushalten. Solange er nicht starb, war alles andere zweitrangig.

 

Mit den Füßen stieg er zwischen zwei Bretter. Vorsichtig verlagerte er das Gewicht seiner Beine darauf. So schaffte er es, Halt zu finden, wenn auch unsicheren. Mit den Händen hielt er sich an den Seilen der Brücke fest, die stabil genug waren, ihn zu tragen. Er nahm all seine Kraft zusammen, um sich so gut und sicher wie möglich festzuhalten. Er wusste, dass es nicht viel bedurfte, um ihn in den Tod stürzen zu lassen. Dies wollte er mit allen Möglichkeiten verhindern, egal was es kostete.

 

Thêl, Eeza und die Anderen beobachteten dies, und ihre Hoffnung wuchs wieder. Sie sahen, dass Will erfolgreich mit dem Tod kämpfte, der gierig die Finger nach ihm ausstreckte. Da entflammte auch in ihnen wieder der Mut. Thêl reagierte sofort. Er ordnete Balraun an, ihm zu helfen, die Brücke auf ihrer Seite hochzuziehen. Eeza sollte währenddessen aufpassen, dass der Reiter sie nicht daran hinderte.

 

 

Mit neuem Mut und großem Einsatz gingen sie ans Werk. Thêl und Balraun nahmen je ein Seil der Brücke und zogen daran. Sie zogen mit all ihrer Kraft (und derer hatten sie nicht wenig), doch sie kamen nur langsam voran. Die Brücke war schwer, und mit einem jungen Menschen daran noch schwerer. Sie zerrten, so gut sie konnten, und obwohl nur stückweise, kamen sie gut vorwärts. Als Will dies sah, da wurde er auch voller Hoffnung. Er klammerte sich fest an die Brücke, sodass er ja nicht herunterfallen konnte. Eine Träne der Erleichterung rann seine Wange herunter.

 

Derweil ließ Eeza den Reiter nicht aus den Augen. Er war sich unsicher, was er tun sollte, falls dieser irgendetwas unternehmen sollte. Er kannte wenige effektive Zaubersprüche, und Angriffe schienen bei diesem Feind wenig auszurichten. Er wusste nur, er musste irgendetwas tun, egal was, denn die Anderen verließen sich auf ihn.

 

Doch sehr zu seiner Überraschung schien dies nicht notwendig. Der Reiter unternahm gar nichts. Er stand einfach nur da und beobachtete zornig das Geschehen, während seien Gedanken zu rasen schienen. Das kam Eeza komisch vor. Ein Diener Beléssans hätte mit Sicherheit einige fiese Tricks in der Hinterhand, dachte er sich. Oder war das bei diesem anders? Hatte er vielleicht einen hinterhältigen Plan? Eeza konnte es nicht sagen. Er würde auf jeden Fall achtsam sein.

 

Währenddessen hatten Thêl und Balraun Will ein gutes Stück nach oben geschafft. Sie zogen kräftig, und obwohl ihre Stärke nachzulassen begann, waren sie nicht gewillt, aufzuhören, bis der Junge in Sicherheit war. Es fehlten nur noch wenige Meter. Ihre Hoffnung und Zuversicht wuchs, je höher sie Will brachten.

 

 

Da begann der Reiter plötzlich finster zu lachen. Thêl und die Anderen blickten ihn verwundert an. Auch Will hörte ihm zu, doch er wagte es nicht, seinen Kopf zu drehen und damit vielleicht seine Sicherheit zu gefährden.

 

„Ich bin erstaunt. Gute Arbeit. Ihr habt ihn fast gerettet.“ sagte der Reiter, und er grinste hämisch. „Einzig... Ich frage mich, wie lange die Brücke das noch aushalten wird. All dieses Ziehen und Zerren. Das kann doch nie und nimmer gut für sie sein.“

 

Zuerst verwundert über diese Aussage, verstanden die Anderen schnell, was der Reiter damit meinte. Die Planken der Brücke knarrten und knackten bedrohlich. Thêl und Balraun sahen die Seile entlang, die sie festhielten. Mit Entsetzten mussten sie feststellen, dass sie alt und brüchig waren, und durch den Stress, den sie ihnen zufügten, sich aufzulösen begannen. Die gerieten sie in Panik. Würden die Seile reißen oder eines der Bretter, an die Will sich klammerte, brechen, gäbe es keine Rettung mehr für ihn. Dies wollten sie nicht akzeptieren.

 

Thêl und Balraun zogen mit aller Kraft, die sie noch hatten, und so schnell sie konnten. Für sie wurde es ein Wettlauf mit der Zeit. Ihre Arme brannten wie Feuer. Doch sie ignorierten es. Nichts zählte, außer dass der Junge leben sollte. Wenn ihnen dafür ein Arm abfiel, so war dies ein Preis, den sie bereit waren zu zahlen.

 

Will klammerte sich noch fester an die Brücke. Sein Puls raste, und er hatte entsetzliche Angst. Sie nahe war er dem Tod noch nie gewesen, und er hätte darauf auch verzichten können. Doch noch war Hoffnung in ihm. Noch war er nicht tot. Das sagte er sich immer wieder vor. Thêl und Balraun zogen, so gut sie konnten. Noch war er nicht tot. Es ging schnell aufwärts, und das rettende Ufer war nah. Noch war er nicht tot!

 

 

Wenige Minuten später konnte Will den grasbewachsenen Boden sehen. Er sah Thêl und Balraun, die mit hochroten Köpfen am Rand der Schlucht standen und an den Seilen zogen. Er sah Eeza und Duncan, deren Augen aufleuchteten, als sie Wills Kopf auftauchen sahen. Und auch seine eigene Hoffnung war wieder groß.

 

Thêl ließ das Seil, das er hielt, mit einer Hand los, wodurch die Brücke etwas wackelte. Dann streckte er Will die Hand entgegen, dass er nie nehmen und Thêl ihn in Sicherheit ziehen konnte. Da machte sich Zuversicht und Erleichterung in ihm breit. Er streckte seine Hand der des Kriegers entgegen und wartete nur darauf, bis er hoch genug war, sie zu ergreifen. Dann war er gerettet. Noch einmal ging ihm dieser Satz durch den Kopf: Ich bin noch nicht tot!

 

 

Da plötzlich gab es einen lauten Krach, und die Seile gleich oberhalb von Will rissen durch. In Panik versuchte der Junge noch, nach Thêls Hand zu greifen. Jener beugte sich hinab und versuchte dasselbe. Doch es war zu spät. Mit einem lauten Schrei stürzte Will hinab in die Tiefe.

 

Thêl und den Anderen blieb das Herz stehen. So kurz davor waren sie gewesen, Will zu retten, und nun war alles umsonst. Sie konnten unmöglich noch irgendetwas tun. All ihre Hoffnung war dahin, wie eine Rauchwolke im Wind.

 

Will hörte den Wind in seinen Ohren rauschen. Er hörte Thêls verzweifelte Schreie und das dämonische Lachen des Reiters. Alle Geräusche verschwanden hinter einer Wand seines Unterbewusstseins. Er nahm sie nur dumpf wahr. Der einzige Klang, den er sich bewusst machte, war das dröhnende Pochen seines Herzens.

 

Die Sekunden, in denen er fiel, vergingen für ihn langsamer und kamen ihm wie Stunden vor. In diesem Moment schossen ihm unzählige Gedanken durch den Kopf. Dass er nicht sterben wollte. Dass er Angst vor dem Tod hatte. Was wohl nach dem Tod käme? Ob es weh tun würde? Ob seine Eltern ihn vermissen würden? Oder die wenigen Freunde, die er hatte? Würde es daheim überhaupt jemand mitbekommen, wenn er in dieser Welt starb?

 

Will fiel und fiel. Die Felswände um ihn wuchsen immer weiter gen Himmel. Jede Sekunde rechnete er damit, dass er nun ins Wasser fallen würde, und er war erleichtert, wenn es nicht geschah. Doch die Angst kam ihm nächsten Moment wieder.

Bald begann er die ersten Tropfen auf seinem Rücken zu spüren. Er wusste, dass es gleich soweit war.

 

 

Doch dann passierte plötzlich etwas, mit dem niemand gerechnet hatte, und das man wohl als Wunder bezeichnen konnte. Auf einmal begann das Wasser unter Will zu brodeln. Gleich darauf schoss ein gewaltiger Wasserstrahl, dicker als ein Baumstamm, aus dem Fluss. Er strömte aufwärts und drückte gegen Wills Rücken mit einer unbeschreiblichen Kraft. Er schob den Jungen aufwärts mit großem Druck, dem sicheren Boden entgegen.

 

Der Strahl hatte solch Kraft und Geschwindigkeit, dass es keine halbe Minute dauerte, bis Will die Spitze der Klippe erreicht hatte. Er sah Thêl und die Anderen, denen der Mund offen stand. Keiner der Fünf, auch nicht der Reiter, hatten die geringste Ahnung, was da vor sich ging.

 

Für einige Momente tanzte Will wie ein Ball auf der Spitze der Wassersäule, die schnell aber doch ruhig aus dem Nenuïn gekommen war. Dann kam ein größerer Schwall Wasser die Säule heraufgeschossen. An der Spitze angekommen, übte er plötzlich einen solchen Druck auf Will aus, dass der Junge ganz plötzlich in die Höhe geworfen wurde. Doch er flog nicht etwa gerade nach oben, nein, das Wasser stieß ihn schräg zur Seite, genau in Richtung des rettenden Ufers.

 

Thêl, Eeza, Duncan und Balraun, ja selbst der Reiter, sahen mit weit aufgerissenen Augen zu, wie das Wasser den Jungen offenbar gezielt auf festen Boden schleuderte. Sie konnten weder glauben noch verstehen, was da vor sich ging. Selbst Eeza, der ein enormes Wissen sein Eigen nannte, war völlig fassungslos.

 

Mit einem Schrei und einem dumpfen Geräusch landete Will auf dem Boden. Er stöhne, denn er wollte den Sturz mit den Armen abfangen und prellte sie sich bei der Landung. Sogleich drehte er sich auf den Rücken, wo er reglos liegen blieb. Er atmete heftig und sein Herz schlug schnell. Er fühlte das Gras unter seinen Händen, und da musste er vor Erleichterung lachen. Eeza und Duncan liefen sofort zu ihm, um zu sehen, ob es ihm gut ging. Wie erleichtert waren sie, als sie feststellten, dass Will zwar klatschnass war und einige blaue Flecken davontragen würde, sonst aber unverletzt war.

 

Thêl war ebenfalls glücklich, doch in diesem Augenblick galt seine Aufmerksamkeit der wundersamen Wassersäule, die nun langsam wieder in den Fluss zurück sank. Thêl und auch der Reiter beobachtete, wie die Säule sich mit dem Flusswasser vereinte, und es war, als sei sie nie da gewesen. In diesem Moment, wie sie mit dem Fluss verschmolz, da sahen die beiden Männer zu ihrer Überraschung einen Schatten in den Fluten, der nun davonschwamm. Er war schlangenförmig, und einige Meter lang war er und wie ein Baumstamm so dick. Er bewegte sich schlängelnd fort und gegen die Strömung, bis er irgendwann verschwand.

 

„Was war das? Was soll das? Was geht hier vor?“ knurrte der Reiter und fixierte Thêl drohend.

„Tut mit leid, ich weiß es nicht. Wir haben damit genauso wenig zu tun wie Ihr.“ erwiderte der Krieger. „Doch was auch immer es war, Ihr seid gescheitert. Gut so, sage ich. Das war Euer letzter Fehler.“

 

Thêl nahm erneut den Bogen und schoss einen Pfeil ab. Doch er prallte wirkungslos am Helm des Reiters ab. Dieser nahm kaum Notiz davon und sah Thêl finster an.

 

„Was tut Ihr? Das bringt noch nichts.“ warf Eeza ein.

„Ich weiß. Doch irgendetwas muss ich tun.“ entgegnete Thêl. „Ich werde ihn nicht davonkommen lassen. Das war nicht die einzige Brücke über den Fluss. Irgendwann jagt er uns wieder, und daran habe ich keinen Bedarf.“

„Aber was wollt Ihr tun? Thêl, Ihr könnt ihm nichts anhaben.“

„Vielleicht, vielleicht auch nicht. Wisst Ihr, ich habe, sofern es mir möglich war, nachgedacht. Ich glaube, dieser Kerl ist längst nicht so mächtig und gefährlich, wie wir glauben. Überlegt doch: Warum hat er nichts unternommen, als wir den Jungen hochgezogen haben? Warum hat er nicht Blitze oder sonst irgendetwas geschleudert?“

„Nun, ich... Keine Ahnung.“ meinte Eeza ratlos.

„Ich sage Euch, warum: Er kann es nicht. Ich denke, seine einzige Waffe ist sein Schwert. Und vielleicht diese tödliche Berührung. Doch wie viel nutzt sie ihm nun, wenn er dort drüben steht und wir hier?“ Er hielt für einen Moment inne. „Was aber noch viel wichtiger ist... Warum trägt er eine solch starke Rüstung? Ihr wisst es doch auch, Eeza. Die Diener Beléssans tragen eher leichte Panzerung, die ihnen viel Beweglichkeit ermöglich. Dafür machen ihnen normale Waffen auch weniger aus. Warum trägt dieser Kerl also solch schwere Rüstung? Wohl nur, weil er sie benötigt. Vermutlich ist er nur ein Mensch. Mit gewissen Fähigkeiten, ja, aber immer noch ein Mensch und Waffen gegenüber empfindlich.“

 

 

Eeza überlegte für einige Augenblicke. „Da könntet Ihr Recht haben. Tatsächlich, mein Freund, das könnte sein. Die Frage ist nun, ob uns das etwas nützt.“

„Wenn der Gegner eine Schwachstelle hat, egal welche, dann muss man diese nutzen.“ sagte Thêl entschlossen.

 

Er spannte einen Pfeil in seinen Bogen ein und zielte auf den Hals des Reiters, welchen keine Rüstung schützte. Für einige Sekunden hielt er den Atem an und legte all sein Können und Wissen in den Pfeil. Sodann ließ er die Sehne los, und das Geschoss schwirrte durch die Luft, direkt auf die Kehle des Feindes zu. Ein Meisterschuss! Doch genau in dem Moment, als er treffen sollte, da hob der Reiter seinen Arm und hielt ihn schützend vor den Hals.

 

„Ganz so einfach ist das nicht.“ sagte der Reiter selbstgefällig.

 

 

Thêl stieß einen leisen Fluch aus. Er hatte so viel Vertrauen in seine Treffsicherheit gesetzt. Doch es lag auf der Hand, dass der Reiter nicht einfach zusehen würde, wie sie ihn töteten.

 

Die beiden Parteien starrten sich an. Keiner unternahm etwas, da niemand wusste, was.

 

„Das langweilt mich.“ sagte der Reiter schließlich. „Ihr könnt mir ja doch nichts anhaben. Also, wie ihr schon sagtet, es gibt noch mehr Brücken. Ich finde euch schon. Einen besseren Jäger als mich gibt es nicht.

 

Mit diesen Worten drehte er sich um und ging zu seinem Pferd, das einige Meter hinter ihm stand.

 

Thêl und Eeza grummelten und fluchten. So nahe dran waren sie gewesen, ihn zu erledigen, und doch waren sie nun chancenlos. Würden sie ihm wieder begegnen, im Kampf Mann gegen Mann, würden sie ihm wahrscheinlich unterliegen. Das konnten sie nicht riskieren. Ihre Gedanken rasten. Verzweifelt suchten sie nach einer Möglichkeit, den Reiter noch zu stoppen, doch ihnen fiel nichts ein.

 

Da hörten sie eine schwache Stimme. „Sein... Sein Helm.“ Es war Will, der noch immer geschwächt am Rücken lag. Doch er hatte seinen Kopf gehoben und starrte Thêl und Eeza an, und eine Entschlossenheit war in seinen Augen. „Sein Helm.“ sagte er noch einmal.

 

„Natürlich. Der Junge hat Recht.“ meinte Eeza. „Wenn wir ihm den Helm abnehmen könnten, könnt Ihr ihn mit einem gezielten Schuss töten, Thêl. Groß genug ist sein aufgeblasener Schädel ja.“

„Eine gute Idee. Nur weiß ich nicht, wie uns das gelingen könnte.“ entgegnete Thêl.

„Ah, überlasst das mir, mein Freund.“ gab Eeza selbstsicher zurück. „Endlich kann ich mich nützlich machen.“

 

Bevor Thêl noch irgendetwas sagen konnte, krempelte der Alte die Ärmel hoch. Eine Hand hielt er in Brusthöhe vor den Körper, und mit der anderen stützte er sie ab. Dann schloss er die Augen und konzentrierte sich. Thêl wurde etwas nervös, denn der Reiter entfernte sich mit jedem Moment weiter. Doch im selben Augenblick noch spürte er etwas. Er fühlte Energien in der Luft, die er nicht beschreiben konnte. So als wäre die Luft aufgeladen. Gleichzeitig spürte er einen Wind, der aufkam, stärker und stärker. Er glaubte ihn sogar zu sehen: wie hauchdünne Nebelschleier sah es aus, durchsichtig und beinahe unsichtbar. Sie kamen aus allen Richtungen und sammelten sich in Eezas offener Hand, wo sie herumwirbelten. Das alles dauerte nur wenige Sekunden, in denen der Wind herangezogen wurde und Eeza ihn in seiner Hand konzentrierte; so lange, bis er eine Art Kugel formte. Nur aus Luft und Wind bestand sie, und sie war sie groß wie der Kopf eines Kindes.

 

Schließlich riss Eeza die Augen auf. Mit einer erstaunlich schnellen Bewegung seiner Hand schleuderte er die Windkugel direkt auf den Reiter. Dieser blieb stehen, als er das Geschoss bemerkte. Er war darüber überrascht, und so wusste er nicht, wie er sie abwehren sollte.

 

Die Kugel landete direkt vor den Füßen des Reiters, so wie Eeza es geplant hatte. „Bereitet einen Pfeil vor. Euer Talent wird von Nöten sein.“ sagte er zu Thêl, und dieser tat es, obwohl er nicht wusste, was passieren würde.

 

Als die Kugel den Boden traf, da zerplatzte sie, und genau in diesem Moment riss Eeza seine Hand nach oben. Eine starke Luftströmung, wie eine Säule geformt, zielgerichtet und mit der Stärke eines Orkans, strömte empor, direkt nach oben. Sie blies den gesamten Körper des Reiters entlang, und all die losen Teile seiner Rüstung zitterten. Der Reiter hielt sich die Hände schützend vors Gesicht. Zur selben Zeit wurde sein Helm durch den Wind immer weiter nach oben gedrückt. Er bemerkte es zu spät. Er wollte noch danach greifen, doch dazu kam er nicht mehr. Mit einem Ruck löste sich der Helm und wurde in hohem Bogen davongeweht.

 

Thêl reagierte blitzschnell. Er hatte längst einen Pfeil in seinen Bogen gespannt, und auch schon gezielt. Als der Helm des Reiters wegflog, da schoss er den Pfeil ab. Zischend flog er durch die Luft, und diesmal fand er sein Ziel. Er bohrte sich in den Kopf des Reiters, so stark, dass er auf der anderen Seite wieder herauskam.

 

Der Reiter kam nicht mehr dazu, zu schreien. Er stürzte auf die Knie. Er gab einige unverständliche Laute von sich, verwirrt und verzweifelt. Dann wurden seine Augen leer, und er fiel vornüber, tot.

 

Das Pferd, das hinter ihm stand, gab ein lautes Wiehern von sich. Seine Augen leuchteten rot, und da zerfiel es vor den Augen der Fünf wie Wasser. Es wurde zu einem Schatten auf dem Boden. Gleich darauf zerplatzte die schwarze Masse in viele Einzelstücke, die auf Befehl in alle Richtungen davon flitzten.

 

„Was in Gottes Namen war das, bitte?“ fragte Thêl angewidert.

„Eine von Beléssans Kreaturen.“ antwortete Eeza. „Er kann sie aus Nichts erschaffen und sie nach seinem Willen steuern... Oder es seinen Lakaien überlassen.“

„Was für einen perverse Kraft.“ meinte Thêl kopfschüttelnd.

 

 

Sie blickten noch eine kurze Weile aufs andere Ufer. Das Pferd hatte sich vollständig verflüchtigt. Es gab keine Anzeichen, dass es jemals da gewesen war. Dafür lag der Leichnam des Reiters dort, als Beweis für die Ereignisse dieses Tages. Eine blutige Pfütze hatte sich unter seinem Kopf gebildet. Thêl und Eeza starrten ihn an. Sie erwarteten fast, dass er wieder aufstünde, als wäre nichts passiert. Bei Beléssans Dienern musste man mit allem rechnen. Doch zu ihrer Erleichterung geschah nichts dergleichen. Der Reiter blieb reglos liegen. Nur seine Haare wehten im Wind.

 

Schließlich wandten sie sich ab und gingen zu Balraun, Duncan und Will zurück. Ihre einzige Sorge galt Will. Doch dieser war bereits wieder wohlauf. Er saß dort im weichen Gras, auf seine Hände gestützt und nass von oben bis unten. Sein Körper zitterte noch von der Aufregung, doch sein Atem war ruhig und sein Herz schlug normal. Er lächelte.

 

Sie gaben Will etwas zu essen und Wasser zu trinken, damit er zu Kräften kam. Doch er aß und trank wenig, denn er fühlte sich gut. Er war noch etwas entkräftet, aber er war stark genug, weiterzugehen. Dennoch überzeugten Thêl, Eeza und Duncan ihn, zumindest noch ein wenig zu ruhen. In dieser Zeit überlegten sie und diskutierten, was wohl das Wunder gewesen war, das Will das Leben gerettet hatte. Jeder von ihnen (außer Will, dem der Grund seiner Rettung nicht so wichtig war wie die Tatsache selbst) hatte seine eigene Theorie, eine wunderlicher als die andere, doch keine davon lieferte eine wirkliche Erklärung.

 

 

Eine halbe Stunde verging, und schließlich entschieden sie sich dafür, ihren Weg fortzusetzen. Jeder von ihnen trank etwas Wasser zur Stärkung, und dann marschierten sie. Thêl führte sie einen Trampelpfad entlang. Zuerst ging es über eine natürliche Treppe hinab durch Nadelbaumhaine, und dann geradeaus weiter über die riesigen Ebenen Aramars. Hellgrünes Gras bedeckte das Land, und dazwischen wuchsen bunte Blumen und Sträucher. Hohe Nadelbäume, sattgrün und ausladend, schmückten die Landschaft.

 

Will war erstaunt, denn nun sah er zum ersten Mal, wie gewaltig die Ebenen in Aramar wirklich waren. Sie erstreckten sich bis an den Horizont. Er sah Wiesen, soweit das Auge reichte. Einzig das Sunit-Gebirge im Norden stach heraus, und weiter südlich lag der Mirdare-Wald. Ansonsten war da nur ein Grasteppich. Es war zweifelsfrei die größte Wiese, die er je gesehen hatte. Er wollte kaum weitergehen, so sehr war er davon begeistert. Er fand es herrlich, ein solches Naturwunder zu erblicken, ohne den Einfluss von Menschenhand und Industrie.

 

 

Der Weg führte die fünf Wanderer ein gutes Stück westlich. Es wurde bald Mittag, doch Thêl erlaubte keine Rast, denn ihr Ziel war schon zum Greifen nah.

 

Bald bogen sie in nördlicher Richtung ab. Thêl geleitete sie durch einen kleinen, hellen Wald mit weiten Laubbäumen. Die Sonne stand hell am Himmel, und außer dem Gezwitscher von Vögeln herrschte eine angenehme Ruhe. Ein Gefühl des Friedens machte sich breit.

 

Sie wanderten durch die Bäume hindurch, bis sie am Ende eine große Lichtung erreichten. Auf ihr wuchs kein Gras; stattdessen war ihr Boden steinig, und riesige Felsen säumten sie. Die Lichtung war von Bäumen umrandet, die kreisförmig wuchsen, mit einigem Abstand zum nächsten Baum.

 

 

Bei der Lichtung angekommen, übernahm Eeza die Führung, denn er wusste als Einziger, wie man Bessain betreten konnte. Er blieb stehen und blickte sich um. Er sagte nichts, sondern ließ seinen Blick schweifen. Gleich darauf ging er zu einem Baum und betrachtete ihn genau, von allen Seiten. Er tat dies einige Sekunden lang, und dann schüttelte er enttäuscht den Kopf. Sogleich ging er zum nächsten Baum und das Ganze begann von vorne.

 

Die Anderen sahen verwundert zu, doch sie sagten nichts, denn sie vertrauten darauf, dass Eeza wusste, was er tat. Sie gingen einfach hinter ihm her und warteten gespannt darauf, was das alles bringen sollte.

 

Eeza ging einen Baum nach dem anderen ab, ohne dass er fand, was er zu suchen schien. Doch dann, beim sechsten Baum, kam ein Lächeln auf sein Gesicht. Die Anderen sahen gespannt zu, was er nun tun würde.

 

Eeza ging auf die Rückseite des Baumes, wo eine dichte Hecke wuchs. Dort griff er in seine Manteltasche und zog einen Schlüssel heraus, eisern und mit feinen Gravuren. Er trat auf den Baum zu, und schob ein kleines Stück der Rinde zur Seite, unter der zur Überraschung der Anderen ein Schloss zum Vorschein kam. Eeza steckte den Schlüssel hinein, drehte ihn drei Mal herum und zog dann daran. Der Baum knarzte, und da ließ sich der hintere Teil wie eine Türe öffnen!

 

Es war in der Tat eine geniale Konstruktion. Der Baum, alt und knorrig, hatte viele Falten und Runzeln, durch die die Türe gar nicht auffiel. Die Scharniere waren durch Äste und Blätter verdeckt, sodass man sie wirklich nur bei genauester Betrachtung sehen konnte. Niemand, der darüber nicht informiert war oder die Bäume aufs kleinste Detail studierte, konnte diese Pforte entdecken.

 

 

Eeza öffnete die Türe im Baum, und darin kam ein Hohlraum zum Vorschein, der groß genug war, dass man darin stehen konnte. Der ganze Baum war ausgehöhlt, und auf dessen Boden war eine runde Falltür aus Metall, die in der Sonne glänzte. Eeza ging in den Baum hinein und zog an dem Ring, der an der Falltür befestigt war. Er zog kräftig daran, und mit einem Knarren öffnete sie sich. Sogleich kam aus dem Loch flackerndes Licht zum Vorschein.

 

„Willkommen in Bessain. Nach euch, bitte.“ sagte Eeza und hielt den Anderen die Türe offen.

 

Thêl wagte als Erster, in das Loch zu blicken. Ein erdiger Geruch trat aus dem Loch. Er sah festen Boden, nur unweit unter der Tür, von Fackeln beleuchtet. Gleich darunter war eine metallene Leiter befestigt.

 

Etwas unsicher kletterte der Krieger die Leiter hinab. Ihm folgte Balraun, der zur Überraschung aller problemlos durch das Loch passte. Nach ihm stieg Duncan hinab, und dann Will. Zum Schluss war Eeza an der Reihe, doch zuvor schloss er die Türe im Baum. Er sperrte sie von innen, und dann ging auch er durch die Falltür.

 

Ein kurzer, dumpfer Knall tönte durch die Bäume, als die schwere Falltür zufiel. Danach erfüllte wieder Stille die Gegend. Nur die Vögel, die das Geschehen beobachtet hatten, zirpten aufgeregt und verwirrt. Ansonsten aber war es, als wäre nie etwas geschehen.

Nervös standen die sechs Freunde um das Lagerfeuer und warteten auf das Unvermeidliche. Doch auf einmal geschah etwas Seltsames, und es geschah schnell. Das Gelächter der im Dunkeln verborgenen Feinde verwandelte sich angsterfüllte Schreie. Jeder einzelne Soldat schrie, und gleich darauf wurden ihre Rufe erstickt. Danach war alles still.

Es war so ruhig, dass selbst die gewöhnlichen Geräusche des Waldes nicht mehr zu hören war. Nichts regte sich. Es war eine unheimliche Stille. Sie wurde nur vom unruhigen Atmen der Gefährten durchbrochen, die völlig ahnungslos um das Lager standen.

Plötzlich erstrahlte ein helles Licht. Es war so gleißend, dass die Gefährten geblendet wurden. Als sich ihre Augen an das Licht gewöhnt hatten, konnten sie sehen, dass sie vollkommen davon eingehüllt waren. Sie konnten mehr als zehn Meter weit schauen. Doch erkannten sie in der Ferne nichts außer einer Mauer als Licht, und die Bäume waren wie schwarze Säulen. Sie waren ratlos, was geschah und was sie tun sollten. Aber sie verspürten keinerlei Furcht. In ihren Herzen wussten sie, dass ihnen keine Gefahr drohte.

Das ertönten auf einmal Schritte von der östlichen Seite des Lagers. Sie waren laut und schwer. Die Gefährten lenkten ihre Blicke dorthin und warteten ab, was geschehen würde.

Die Schritte kamen immer näher und näher, und mit einem Mal erschien ein seltsames Wesen im Lichtschein. Es war über drei Meter groß. Sein Körper, obwohl überall mit braunem Fell überzogen, war der eines Mannes. Doch es hatte den schlanken Kopf eines Hirsches, auf dem ein Geweih thronte, mit vielen Enden. Seine Augen waren groß und schwarz, und doch war viel Gefühl in ihnen.

Das Wesen trat auf das Lager zu. Dabei sah es so aus, als würden die Bäume einen Schritt zur Seite tun, so als wollten sie ihm Platz machen.

Als das Wesen sich den Gefährten näherte, da fielen Eeza und Thêl demütig auf die Knie. Die Jungen wusste nicht recht, was sie tun sollten.
„Was ist los?“ flüsterte Will. „Was ist das?“
„Mandera.“ erwiderte Eeza atemlos.

„Bitte, erhebt euch. Ich fordere keine Ergebenheit von euch.“ sagte das Wesen. Er bewegte dabei seinen Mund nicht. Es war vielmehr, als könnten sie seine Gedanken hören.

Eeza und Thêl gehorchten ihm und standen auf.
„Wer… oder was ist das?“ wiederholte Will seine Frage.
„Mandera. Gott des Waldes und der Natur.“ antwortete Eeza.
Will riss die Augen auf. „Ein… Gott!? Ist das Euer Ernst?“
„Das ist es, junger Mann.“ sagte das Wesen. „Dieser Wald ist mein Reich, und ich bin sein Herrscher.“
Will, vor Ehrfurcht erstarrt, wollte sich sogleich verneigen, doch Mandera winkte ab. „Ich sagte doch, es ist nicht notwendig.“


Plötzlich wurden sie von einem Schrei überrascht. Von Norden her rannte ein Soldat heran, mit hochroten Kopf und erhobenem Schwert. Er war ganz allein. Entweder wusste er nicht, dass er auf einen Gott zulief, oder es war ihm völlig egal. In jedem Fall war es eine dumme Idee.

„Verzeiht mir.“ sagte Mandera ruhig. Dann riss er seinem Arm nach vorne, und er wurde immer länger und länger. Er wirkte wie eine Schlange, die auf ihr Opfer zustürmt. Da verwandelte sich seine Hand in Holz und wuchs zu gewaltiger Größe an. Seine Finger wurden zu blattlosen Ästen und seine Hand zu einer Baumkrone. Wie ein gieriges Maul packte er den Soldaten und schlang seine Äste um ihn, bis er vollkommen von ihnen verschluckt wurde. Als er den Mann so gefangen hatte, drehte Mandera seine Hand um die eigene Achse. Wie ein Korkenzieher sah sie dabei aus, und sie wurde enger und enger. Schließlich ertönte ein erstickter Schrei, und das Knacken von Knochen war zu hören. Ein blutroter Brei quoll zwischen den Ästen hervor.
Sogleich öffnete Mandera seine Hand wieder, woraufhin eine schleimige Masse herausfiel, die eine Mischung aus Blut, Fleisch, Knochen und Metall war. Mandera zog seine Hand zurück. Bald hatte sie wieder die gewohnte Form und Länge.

„Es tut mir leid. Diesen haben wir wohl übersehen.“ sagte Mandera.
„Wer ist wir? Sprechen Götter von sich selbst in der Mehrzahl?“ fragte Bane. Seine Worte klangen respektlos, doch niemand ging darauf ein.
„Ich und meine Freunde, meinte ich.“ Als er darauf nur fragende Blicke erntete, fügte er mit einer einladenden Handbewegung hinzu: „Sie sind hier, um uns herum.“ Die Gefährten blickten sich um, doch trotz des hellen Scheins, der alle Ecken und Winkel erleuchtete, sahen sie nur Bäume. „Ja, es stimmt. Ich meine die Bäume. Als Gott des Waldes sind sie meine Freunde, jeder einzelne von ihnen. Und ich kann sie kontrollieren, ganz wie es mir beliebt. Ich habe ihnen befohlen, sich um die Soldaten zu kümmern, die euch anzugreifen wagten.“
„Dann haben wir es Euch zu verdanken. Ohne Euch hätten wir vielleicht nicht überlebt. Wir stehen tief in Eurer Schuld.“ sagte Thêl und verbeugte sich.
Mandera lachte, obwohl er keine Miene verzog. „Es scheint mir, als wäre dies nicht das erste Mal, dass ein Gott euch das Leben rettet.“ Er blickte dabei Will an. „Die Wahrheit ist, wir sind sehr daran interessiert, dass eure Fahrt Erfolg hat. Vieles hängt davon ab.“
„Das ist wahr.“ sagte Eeza. „Wir sind Euch sehr dankbar. Wärt Ihr nicht gewesen…“
„Allein deswegen bin ich nicht hier. Ich muss mit dem Jungen sprechen.“ sagte Mandera, und er deutete dabei auf Will.
„Mit mir?“ fragte Will fassungslos.
„Ja, und sofern es Eure Freunde erlauben, so würde ich gerne alleine mit Euch sprechen.“


Natürlich waren Thêl und Eeza damit einverstanden. Nie hätten sie es gewagt, den Wunsch eines Gottes abzuschlagen. So begab sich Mandera mit Will einige Meter weg vom Lager, damit sie in Ruhe reden konnten. Den Anderen blieb nichts übrig, außer zu warten. Sie setzten sich ans Lagerfeuer und ruhten sich aus. Jedoch sprachen sie nicht miteinander. Die Präsenz eines Gottes erfüllte sie mit soviel Ehrfurcht, dass sie sich als etwas Besonders vorkamen. So als wären sie mehr als nur gewöhnliche Menschen. Selbst Bane, Stone und Duncan kamen nicht umhin, sich außergewöhnlich zu fühlen. Dieser Gedanke schien ganz besonders Bane zu erfreuen.

Thêl ließ immer wieder seinen Blick durch die Bäume schweifen. Sie kamen ihm nur anders vor. Er sah sie nicht mehr als gefühllose und hirnlose Gewächse, seit Mandera gesagt hat, dass sie seine Freunde waren. Jetzt hatte Thêl das Gefühl, sie hätten eine Seele. Es war ein interessanter Gedanke, aber auch ein beunruhigender. Schließlich erzählte man sich, dass Mandera der Beschützer der Natur war und alle grausam bestrafte, die ihr Schaden zufügten. Von nun an würde Thêl nie wieder mehr Feuerholz nehmen als notwendig.


Es dauerte fast zwanzig Minuten, bis Will und Mandera zurückkehrten. Will ging voran, langsam. Sein Gesicht war rot, und Tränen standen in seinen Augen.

„Was ist los? Was ist passiert? Alles in Ordnung?“ fragten die Anderen besorgt.
„Ja. Ich… Es geht mir gut. Keine Sorge.“ sagte Will mit zittriger Stimme. „Ich… ich brauche nur etwas Ruhe. Ich bin müde. Ich gehe schlafen, denke ich.“
Mit diesen Worten ging er zu seinem Schlafsack und legte sich hinein. Er schlief jedoch nicht gleich ein. Mit nachdenklichem Blick starrte er gegen das Blätterdach.

„Es ist alles in Ordnung. Seid unbesorgt.“ erklärte Mandera. „Was ich ihm erzählt habe, hat ihn etwas mitgenommen. Doch es ist zu seinem Besten, auch wenn es derzeit anders aussieht.“
„Nun, dann ist es gut.“ meinte Eeza. „Aber was…“
Mandera machte eine abweisende Handbewegung. „Fragt nicht danach, bitte. Weder mich noch den Jungen. Was ich ihm gesagt habe, ist nur für seine Ohren bestimmt.“
„Ich verstehe. Verzeiht. Wir werden Eure Wünsche respektieren.“ sagte Eeza demütig.

„Das ist gut. Nun, dann werde ich nun von dannen ziehen. Es ist alles getan und alles gesagt. Doch lasst mich euch noch diese Worte auf den Weg geben: Verzagt nicht. Seid immer voller Hoffnung. Ihr seid mutig und stark, und wenn ihr wollt, könnt ihr alle Gefahren überwinden. Denn die Götter werden euch nicht immer zu Hilfe kommen können. An sich ist es uns verboten, in die Affären der Menschen einzugreifen. Diese eure Mission ist aber eine Ausnahme. Trotzdem müsst ihr eure Hindernisse selbst überwinden. Wir können nicht eure Schlachten für euch schlagen. Ihr müsst es alleine schaffen. Nur so werdet ihr am Ende siegen. Wisset aber, dass wir im Geiste immer bei euch sein werden.“

„Na, das ist ja toll. Danke. Etwas mehr Hilfe wie vorhin wäre aber besser.“ grummelte Bane unzufrieden. Die Anderen sahen ihn sofort scharf an, teils zornig, teils überrascht.
„Wie kannst du es wagen?“ zische Eeza. „So spricht man nicht mit einem Gott.“
Mandera aber winkte ab und sah Bane an. „Schon gut. Unser junger Freund hier ist voller Zweifel, voller Kummer und voller Zorn. Dabei ist es nicht notwendig. Ihr seid nicht Euer Vater, und wenn Ihr glaubt, so sein zu müssen, dann irrt Ihr Euch. Niemand verlangt das von  Euch. Ihr seid Ihr. Ihr seid ein einzigartiger Mensch. Nur das ist wichtig.“
Als Bane dies hörte, das wurde er noch wütender. Seine Augen wurden feucht. „Seid still! Gott oder nicht, diese Dinge gehen niemanden etwas an! Lasst mich in Ruhe!“  

Dann stürmte er davon und verschwand hinter einem Baum. Die Anderen wollten ihm hinterher, aber Mandera hielt sie zurück.

„Lasst ihn gewähren.“ sagte er. „Er muss sich beruhigen. Wenn er klug ist, dann verlässt er nicht das Lager und versucht sein Glück allein im Wald. Und wenn doch, dann sorge ich dafür, dass er zurückfindet.“
Thêl seufzte. Es war eine verwirrende Nacht. „Nun, ich danke Euch für alles, was Ihr getan habt. Ich zweifle nicht an Euch, auch wenn ich noch nicht alle Vorzüge eurer Taten erkennen kann. Doch wie sagt man… Gottes Wege sind unergründlich. Vielleicht gilt das ja für alle Götter.“
Mandera lachte. „Das mag schon sein. Trotzdem danke für das Vertrauen. Aber jetzt lasst mich euch verlassen. Ruht euch aus. Schlaft, ihr alle. In dieser Nacht wird euch kein Leid geschehen. Das verspreche ich euch.“

Nachdem er diese Worte gesprochen hatte, da wandte sich Mandera von den Gefährten ab. Er ging langsam zwischen dem Bäumen hindurch, die ihm erneut Platz machten. Je weiter er sich entfernte, umso mehr nahm das Licht ab, das das Lager umgab. Schließlich verschwand Mandera zwischen zwei großen Eichen. In genau demselben Augenblick entschwand auch das Licht, und das Lager lag in völliger Dunkelheit. Die Gefährten mussten sich nah an das Lagerfeuer stellen, um überhaupt noch etwas sehen zu können.

Will lag in seinem Schlafsack und Bane musste seinem Zorn alleine Luft machen. Die Anderen beschlossen, sich schlafen zu sagen. Sie wussten nichts mehr zu sagen, und so entschieden sie, es auf den nächsten Tag zu verschieben. Sie vertrauten Mandera und stellten keine Wache auf, damit alle ihre Ruhe bekamen. Sie waren gespannt, was der neue Tag bringen würde.



Am nächsten Morgen erschallte fröhliches Vogelgezwitscher, und warme Sonnenstrahlen drangen durch die Baumkronen. Als Duncan aufstand, waren alle anderen Gefährten bereits wach. Er sah Will, der sich mit Thêl und Eeza unterhielt, zweifellos über die Ereignisse der letzten Nacht. Bane kramte ungeduldig in seinem Rucksack, und Stone stand teilnahmslos daneben. Große Augenringe deuteten daraufhin, dass Bane die ganze Nacht nicht geschlafen hatte.

Nachdem Duncan aufgestanden war, nahmen sie ein kleines Frühstück zu sich, dass aus Brot, Wasser und ein paar Beeren bestand, die Thêl gesammelt hatte und die, so versicherte er, ungiftig waren. Sie waren klein und hellrosa. Beim Zerbeißen schmeckten sie säuerlich, hatten aber einen süßen Nachgeschmack.

Nach dieser Stärkung packten sie ihre Sachen, und zogen dann weiter.


Ihr Weg führte die Gefährten weiter nach Süden, tiefer in den Mirdare-Wald hinein. Je weiter sie nach Süden gingen, umso dunkler wurde es im Wald. Es wurde nie so dunkel, dass sie nichts sehen konnten. Trotzdem war es ein unheimliches Gefühl. Immer wieder hatten sie das Gefühl, dass Spinnen in ihrer unmittelbaren Nähe lauerten. Hier und da sahen sie auch eine, die zwischen den Bäumen in einem Netz hing oder auf einem Baum saß. Zum Glück bemerkte Thêl sie stets rechtzeitig, und so konnten sie sich vorbeischleichen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen.

Den anderen Gefährten wurde in diesen Stunden klar, dass sie ohne Thêl rettungslos verloren gewesen wären. Nur er kannte sich halbwegs in diesen Wäldern aus. Für die Anderen sah alles gleich aus. Sie konnten gar nicht genau sagen, in welcher Richtung Süden lag. Hinzu kamen Nebenschwaden, die durch den Wald zogen. Diese kamen aus dem Moossteinmoor, und das bedeutete, dass sie es bald erreicht hatten. Der Nebel wurde dichter, je näher sie dem Moor kamen.


Unterwegs versuchte Duncan, mit Will über die Ereignisse der vergangenen Nacht zu reden, und vor allem, was Mandera zu ihm gesagt hat. Doch Will schwieg eisern. Er hatte versprochen, nichts davon zu verraten, und das würde er auch tun. Er bestand darauf, dass es private Dinge waren, die nur ihn etwas angingen. Er gab jedoch preis, dass Mandera ihm Dinge gesagt hatte, die nur Will wissen konnte. Niemand außer Will hatte davon Kenntnis; nicht seine Verwandten, nicht seine wenigen Freunde und nicht einmal seine Eltern. Es waren Gedanken, Wünsche und Ideen, von denen er nie jemandem erzählt hatte.

Will verriet zwar nichts Genaues, doch Duncan konnte sich vorstellen, wie er sich fühlte. Er musste sich nackt und hilflos vorgekommen sein. Wenn man jemandem gegenüberstand, der alles über einen wusste, dann machte es die Dinge komplizierter. Es gab keine Geheimnisse, die man verbergen konnte, man konnte nicht lügen oder etwas vortäuschen. Man konnte nur die Wahrheit sagen, sonst nichts.
Andererseits konnte Will jetzt nicht anders als zu glauben, dass all dies echt war. Entweder war dies ein Traum, oder ein reales Abenteuer, in dem die Götter selbst mit ihm plauderten. Ein Traum konnte es aber nicht sein, denn sie alle hatten am eigenen Leib erfahren, wie echt und wie schmerzhaft diese Welt war.
Zumindest hoffte Duncan dies. Ihm missfiel der Gedanke, nur eine Traumgestalt eines anderen Menschen zu sein und sich in Nichts aufzulösen, wenn dieser aufwachte. Dazu gefiel ihm seine Existenz zu sehr…


Will war froh, dass Duncan ihn nicht weiter ausfragte. Er konnte ihm nicht alles sagen. Wie sollte er es auch verstehen? Schon seit seiner Ankunft fühlte sich Will nicht mehr wie er selbst. Er hatte es niemandem verraten, aber es war so. Er hatte das Gefühl, als wäre in ihm etwas erwacht. Etwas, das ihn zu einer anderen Person machen wollte. Oder war es eine andere Person, die aus ihm herausbrechen wollte. Oder es war ein bisher verborgener Teil seiner Seele, der hier an die Oberfläche getreten war.
Er war sich nicht sicher. Er konnte nicht einmal genau sagen, ob es nicht vielleicht nur Einbildung war. Vielleicht war es dieser Ort und all die Dinge, die geschahen, die seine Wahrnehmung beeinflussten. Es hätte ihn nicht überrascht, wenn er inzwischen verrückt geworden wäre. Es kam ihm zwar nicht so vor, aber… War es nicht so, dass Geisteskranke nicht wussten, dass sie geisteskrank waren?
Allerdings bestätigten Manderas Worte, dass sich etwas in Will verändert hatte und er nicht verrückt war. Eine kleine Erleichterung. Trotzdem war er nicht sicher, ob seine Begegnung mit dem Gott eine gute Sache war oder nicht. Es würde ihm zweifellos mehr Selbstvertrauen geben. Und doch würde es dauern, bis Will seine Worte verarbeitet hatte.

Wie sollte er sich je irgendjemandem anvertrauen? Wer würde ihn verstehen? Niemand konnte sich in seine Situation versetzen. Eine Sache wie diese hat es noch nie gegeben und wird es nie wieder geben, davon war Will überzeugt. Er musste diese Bürde alleine tragen. Doch das war in Ordnung. Es wäre nicht das erste Mal.

Will fühlte Ärger und Frust in ihm. Es kribbelte in seinen Fingern. Er hatte Lust, irgendetwas zu schlagen, treten oder anzuschreien, nur um alles herauszulassen. Warum sollte er das nicht dürfen? Er sah Bane und Stone an, die nun vor ihm gingen. Er wartete, dass sie irgendeine dumme Bemerkung machten. Sollten sie ihm doch einen Grund geben.

Warum eigentlich nicht? Was wenn er tatsächlich auf Bane losgehen würde? Wie würden die Anderen reagieren? Es war eine interessante Überlegung. Was, wenn er jemanden töten würde? Er würde es nie grundlos tun, aber er ließ den Gedanken zu. Was würde passieren? Wie würde das Gesetz in seinem Fall handeln? Würden sie ihn einsperren, oder gar hinrichten? Würden sie ihn überhaupt verhaften? Er war der Auserwählte. Auf ihm ruhte die Hoffnung aller Menschen in diesem Land. Welcher König würde es wagen, ihn einzusperren, wenn er doch dem Land den Frieden bringen sollte? Würden sie ihn behandeln wie einen gewöhnlichen Mörder, oder würden sie es aufgrund seiner Rolle durchgehen lassen? Würden sie sagen, dass ein Leben ein guter Preis wäre für die Rettung von ganz Aramar? Will ließ sich dieses Szenario durch den Kopf gehen. Die Chancen standen gut, dass ihm nichts geschehen würde. Kein Richter würde sich anhören wollen, dass er verantwortlich für die Vernichtung eines ganzen Landes war, nur weil er kein Auge zudrücken konnte und den Auserwählten einsperren ließ.
Wer war schon in der Lage, zu sagen, womit Will durchkommen könnte?

Dann durchfuhr es ihn wie ein Blitz. Wie konnte er nur so etwas denken? Wie konnte er nur daran denken, diese Ehre und Verantwortung, auch wenn sie ihm nicht gefiel, für niedere Zwecke zu missbrauchen? Er war der Auserwählte. Er sollte ein Held sein und nicht dem Bösen anheim fallen, das er auszumerzen suchte. Am Ende würde er noch genauso schlimm werden wie Beléssan. Aber das durfte er nicht geschehen lassen.
Aber nicht, weil er unbedingt ein ‚braver Bub’ sein wollte. Davon hatte er eigentlich genug. Noch nicht einmal, weil dieses Land etwas Besseres verdient hatte. Vermutlich hatte es das, aber er kannte es zu wenig, um das zu sagen. Nein, er durfte all dies aus einem Grund nicht ausnutzen: Er war ein Vorbild. Die Menschen sahen zu ihm auf. Sie verehrten ihn für das, was er tat, und vermutlich noch mehr, wenn alles vorbei war. Vielleicht würde man über ihn Lieder schreiben und ihn in den Geschichtsbüchern erwähnen. Viele würden so sein wollen wie er. Was würde passieren, wenn er Gesetze brechen würde, weil er es konnte, und sich ein König in vielen Jahren seine Taten zum Vorbild nimmt? Wie konnte er verantworten, dass nur seinetwegen ein neuer Beléssan das Land regiert? Wahrscheinlich wäre er dann schon längst wieder daheim, und vielleicht wäre es ihm dann egal. Aber das durfte es nicht sein. Dies war nicht das Erbe, das er diesem Land hinterlassen wollte.

Jetzt war Will froh, dass er sich niemandem anvertraut hatte. Was würden sie sagen, wenn sie erfuhren, dass ihr großer Held solche Gedanken hegte? Er wollte nicht das Vertrauen enttäuschen, dass sie ihm schenkten.



Die Vegetation des Waldes änderte sich radikal, als sich die Gefährten dem Moossteinmoor näherten. Den Trampelpfad, den sie entlanggingen, säumten Reihen von Birken, mit einer Rinde so weiß wie Kreide. Kniehohes Gras wuchs in dichten Wiesen zwischen den Bäumen; ebenso wie sattgrüner Farn. Daneben sprossen goldgelbe Sumpfdotterblumen empor und zeugten von der Nähe zum Moor.

Nach einer guten halben Stunde Marsch durch den Birkenhain erreichten die Wanderer eine Uferbank mit weicher Erde, und dahinter erstreckte sich das Moossteinmoor. Wie der Name schon sagte, gab es dort Massen von großen Felsen, die mit Moos überwuchert waren. Noch auffallender aber waren die Wälder aus Schilf, deren hellgrüne Halme über zwei Meter in die Höhe wucherten. Sie waren so dicht, dass man unmöglich hindurchgehen konnte. Man musste nach freien Stellen zwischen dem Schilf suchen, um voranzukommen.
Der Boden war hier größtenteils mit feuchter, weicher Erde bedeckt, in der nur wenige Pflanzen gediehen. Ein modriger Geruch überzog das ganze Moor. An vielen Stellen gab es große Wasserlachen, und obwohl sie kaum mehr als knöcheltief waren, bestand die Gefahr, dass man im Boden versinken konnte. Darum musste man höllisch aufpassen.
Zum Glück gab es aber Holzstege, die durch das Moor führten. Sie waren ohne Pfähle gebaut und lagen direkt auf dem Boden auf. Sie waren schmal und hatten keinerlei Geländer, doch dafür zeigten sie einem den Weg durch das Schilfdickicht. Allerdings waren sie schon alt. Manche Teile davon lagen unter Wasser, und an diversen Stellen waren sie komplett versunken.
Tiere schien es auf dem ersten Blick nur wenige zu geben. Frösche waren deutlich zu hören, und einmal entdeckten die Gefährten einen Reiher, der im seichten Wasser seine Runden zog und nach Beute Ausschau hielt.

Während die Gefährten ihre Blicke über das Moor schweifen ließen und den besten Weg hindurch überlegten, brummte plötzlich etwas dicht an Duncans Ohr vorbei. Es war ein Moskito, die denen recht ähnlich war, die Duncan aus seiner Welt kannte. Jedoch war sie um einiges gewaltiger: Sie hatte die Größe eines Sperlings, und deutlich war der Stachel an ihrem Kopf zu erkennen. Duncan versuchte, sie mit der Hand zu verscheuchen, doch die Mücke machte keine Anstalten, zu verschwinden. Sie schien sich nicht von seinen Fuchteleien beeindrucken zu lassen. Schließlich machte Stone eine schnelle Handbewegung und zerquetschte sie zwischen seinen Handflächen. Von seinen großen Händen war die Mücke so beeindruckt, dass sie zerdrückt war.
Stone betrachtete seine Hände. Das Blut, der Schleim und die Insektenteile, die auf seinen Händen klebten, ekelten ihn, und er wusch sie sich in den Wassern des Moors, bis sie wieder sauber waren.

„Was war das denn?“ fragte Duncan angewidert.
„Ein Wingat.“ erwiderte Thêl. „Sie sind hier in den Sümpfen heimisch.“
„Sind sie gefährlich?“ fragte Will.
„Wenn sie dich stechen, meinst du? Nun, sie übertragen Krankheiten. Nichts Tödliches, wenn du gesund bist. Aber du könntest für den Rest deines Lebens ans Bett gefesselt sein. Außer du trägst ein Gegenmittel mit dir herum.“
„Kann man denn nichts tun, um sich zu schützen?“ fragte Duncan.
Thêl überlegte. „Jetzt, wo du es sagst… Doch, da könnte es etwas geben. Wartet einen Moment.“

Thêl sah sich kurz um, dann ging er zwischen den Bäumen hindurch etwas tiefer in den Wald. Er kehrte zwei Minuten später zurück. In seinen Händen hielt er sechs dünne Zweige. Daran klebte ein merkwürdiger Schleim, der in seiner Konsistenz Honig ähnelte und eine Farbe hatte, die eine Mischung aus Rosa und Violett war.
Thêl reichte jedem der Gefährten einen Zweig und behielt sich selbst auch einen.

„Was ist das?“ fragte Will. Er betastete vorsichtig den Schleim und roch daran, konnte aber nichts Außergewöhnliches feststellen.
„Das ist das Harz des Purpurbaums.“ erklärte Thêl. „Für Menschen ist es unscheinbar, aber Wingats hassen den Geruch. Solange ihr den Zweig bei euch tragt, sollten sie euch fernbleiben.“

Will kam sich mit dem Zweig etwas komisch vor. Wie ein Ritter, der sein Schwert verloren hatte und gezwungen war, einen Zweig zu verwenden, weil er nicht anderes fand. Hoffentlich musste er damit keinen Drachen erschlagen. Er hätte ihn damit noch nicht einmal an der Nase kitzeln können.


Die Gefährten begannen ihren Marsch durch das Moor. Sie kamen gut voran, jedoch langsamer, als sie gedacht hatten. Das Problem war, dass die Stege nicht einen einzelnen Weg von einem Ende des Moors bis zum anderen zeigten, sondern stattdessen überall dort verliefen, wo man gefahrlos gehen konnte. Manche von ihnen endeten in einer Sackgasse, andere führten völlig in die falsche Richtung. Zwar hielten sich die sechs Wanderer immer nach Süden, doch manche Wege bogen nach einer Weile in eine andere Richtung ab, und darum mussten sie sich erst einen anderen Pfad suchen.

So dauerte es eine Weile, bis sie das Moor durchquert hatten. Das war aber nicht das Schlechteste, denn es war ein sehr friedlicher Ort. Nur einmal dachten sie, dass sie von einem wilden Tier angegriffen wurden, als es im Schilf arg raschelte. Doch es stellte sich als Kröte heraus, die so groß wie eine Katze war. Sie hüpfte aus dem Schilf, über den Steg, blickte die Gefährten einmal kurz an und hüpfte dann weiter.

Selbst von den Wingat-Mücken blieben sie verschont. Das Purpurharz schien tatsächlich zu wirken und hielt die Insekten fern. Kam ihnen doch einmal eine zu nahe, wedelten sie so lange mit dem Zweig herum, bis die Mücke aufgab und verschwand.

Es schien überhaupt wenig Tiere im Moor zu geben. Abgesehen von Kröten, Fröschen und Reihern sahen sie auch einige Libellen, die über den Wassertümpeln jagten. Zwischen manchen Schilfhalmen waren kleine Spinnen in ihren Netzen zu sehen. Zikaden machten sich mir ihrem Gezirpe bemerkbar, zeigten sich jedoch nicht. Es gab Vögel in den verschiedensten Formen, groß und klein, bunt und unscheinbar. Thêl erklärte, dass es im Moor auch Schlangen gäbe, die sogar gefährlich werden konnten, doch sie sahen keine einzige auf ihrem Weg.

Außer dem gewaltigen Schilf waren die meisten Pflanzen klein und unscheinbar. Es gab fleischfressende Pflanzen, wie den Sonnentau, und Will glaubte einmal, ein paar Venusfliegenfallen gesehen zu haben. Es gab Sträucher, Blumen und Kräuter, die alle niedrig wuchsen und sich zwischen den Schilfhalmen versteckten. Kein einziger Baum gedieh hier. Hier war der Blick auf den Himmel durch nichts getrübt.


Fast zwei Stunden dauerte es, bis die Gefährten das Moossteinmoor durchstreift hatten. Sie waren froh, als sie wieder auf festerem Boden standen. Sie waren unsicher, wie verlässlich die Stege wirklich waren. Sie knarrten bei jedem ihrer Schritte. Da sie direkt auf dem weichen Boden auflagen, konnten sie bei zu starker Belastung gänzlich im Boden versinken, und die Person, die auf ihnen ging, gleich mit. Vielleicht waren so ja manche der Stege verschwunden. Keiner wusste, wie viele Leichen in der schlammigen Erde verborgen waren.

Doch dies hatten sie hinter sich. Unter ihnen war fester, trockener Erdboden. Birken und Farne taten sich vor ihnen auf, und so setzten sie ihren Weg frohen Mutes fort. Es dauerte nicht lange, da verschwanden die Birken wieder und sie schritten durch die majestätische Vielfalt der Mirdare-Wälder. Zwar waren sie etwas nervös, da sie nun wieder den Waldspinnen und anderem Getier begegnen konnten. Aber das Gefühl von festem, sicherem Boden unter ihren Füßen erfüllte sie mit Zuversicht.



Als sie durch den Wald marschierten, sah Will einen seltsamen Käfer, der auf einem Ast in Kopfhöhe saß. Er musste stehen bleiben und ihn betrachten. Nicht nur, weil er sich für Insekten interessierte, sondern auch weil es ein so ungewöhnlicher Käfer war. Er war ähnlich denen aus seiner Welt, und doch anders. Er hatte Fühler, die doppelt so lang waren wie sein Körper. Sein Rücken war tiefblau und zeigte gelbe Muster: Kurven und Schnörkel, die zwar wirr und ziellos wirkten und doch auf beiden Deckflügeln symmetrisch waren. Er war klein und leicht zu übersehen, aber wunderschön.

Eine kurze Weile beobachtete Will den Käfer. Plötzlich glaubte er zu sehen, wie das Tier ihn anstarrte. Für einige Momente blickten sich die beiden ungleichen Wesen an. Dann breitete der Käfer seine Flügel aus und schwirrte davon.

Will wunderte sich darüber, was er gerade gesehen hatte. Doch bevor er noch darüber nachdenken konnte, sah er schon Bane und Stone hinter ihm stehen. Beide grinsten hämisch.

„Och, ist dir dein Krabbelviech weggeflogen? Hast es wohl mit deinem Gesicht erschreckt.“ sagte Bane höhnisch. „Warum hast du es nicht im Moor benutzt? Dann hättest du den rotzverschmierten Stock nicht gebraucht.“
„Witzig.“ erwiderte Will, ohne eine Miene zu verziehen. „Aber… Ich bin enttäuscht. Warum ist dir das denn erst jetzt eingefallen?“
„Tut mir leid, ich war etwas abgelenkt.“
„Abgelenkt? Womit denn? Damit, dir selber auf die Schulter zu klopfen? Pass lieber auf, davon kann einem die Hand abfallen.“
„Mach dir um mich keine Sorgen. Ich komme klar.“
Da wurde Will todernst. „Ich mache mir keine Sorgen um dich.“ sagte er. „Mir bereitet etwas Anderes Sorgen. Mal ganz ehrlich, ohne Witze, ohne Hänseleien. Was ist dein Problem? Warum bist du so ein Mistkerl?“

Die Anderen sagten nichts. Sie sahen Will und Bane, damit die beiden alleine ihre Probleme aussprechen konnten. Es war notwendig, fanden sie.

Bane zuckte mit den Schultern. „Ich kann dich eben nicht leiden.“
„Das ist ja wohl untertrieben!“ rief Will aufgebracht. „Du hasst mich. Anders kann man das doch nicht sagen. Aber das erklärt nicht, wieso du zu allen Dingen so bist, als hätten sie dir in den Essen gespuckt. Mir, dieser Gemeinschaft, der Natur rund um dich…“
„Tja, ich mag die Natur eben nicht. Jedenfalls nicht so sehr wie du. Aber das wäre auch schwer möglich.“
„Was ist falsch daran, Respekt vor den Lebewesen zu haben, mit denen wir uns die Welt teilen?“
Bane lachte. „Gegenfrage: Warum sollte ich Respekt vor etwas haben, das keinen Respekt vor mir hat?“ Während er dies sagte, schnippte eine Fliege weg, die auf seiner Schulter saß.
„Tiere haben keinen Respekt.“ sagte Will. „Nur Instinkt. Es sind eben nur Tiere. Sie können nicht denken, so wie du und ich. Na ja, zumindest so wie ich. Dinge wie Liebe und Hass sind ihnen fremd. Sie sind weder gut und böse.“
„Bin gespannt, ob du immer noch so denkst, wenn dich ein Raubtier umbringt und frisst. Hmm? Das sind schöne Ansichten. Aber im Ernstfall nützen sie dir gar nichts.“
„Na schön… Gut… Hör auf. Das führt doch zu nichts.“
„Du hast damit angefangen.“ sagte Bane. Seine Stimme machte deutlich, wie desinteressiert er an diesem Gespräch war.

„Ja, weil ich dich verstehen will. Ich…“ Will hielt kurz inne und überlegte. „Ich habe etwas im Lager gehört, von deinem Vater…“
Plötzlich wurde Banes Kopf rot. „Das geht dich überhaupt nichts an!“ knurrte er.
„Nein, da hast du Recht. Trotzdem frage ich dich, hier und jetzt. Ich will dir keine dummen Ratschläge geben oder so etwas. Ich will dich nur verstehen.“

Bane wurde wütend. Er fuchtelte wild mit den Armen herum, und er ging auf und ab. „Gott, das darf doch nicht wahr sein!“ Er blickte Stone an, aber der zuckte nur ratlos mit den Schultern. „Na gut, aber dann hältst du die Klappe und lässt mich zufrieden, klar!?
Mein Vater war Polizist. Ein guter Mann, und ein guter Vater. Ich habe ihn geliebt. Tue ich immer noch. Wir waren ein gutes Team. Er hat mich einiges gelehrt. Mutig zu sein, wenn es der Augenblick erfordert, zum Beispiel.
Einmal hat er mich während der Arbeit abgeholt und wollte mich nach Hause bringen. Doch dann musste er zu seinem Einsatz, und ihm blieb nichts anderes übrig, als mich mitzunehmen. Er musste einen berüchtigten Verbrecher festnehmen, der gerade jemanden ermordet hatte.
Lange Rede, kurzer Sinn: Ich habe ihm dabei geholfen. Nichts Gefährliches. Er hat seine Waffe verloren, und ich habe ihm seine zweite zugeworfen, als er sie dringend brauchte. Ohne mich… wer weiß. Er hat den Verbrecher festgenommen. Tja, und dann? Er wurde als Held gefeiert. Ist gut so. Freute mich für ihn. Aber was hat er getan? Er hat er die Geschichte so erzählt, als ob ich nichts getan hätte. Als ob er alles alleine getan hätte. Nicht nur den Medien gegenüber. Nein, auch gegenüber meiner Mutter. Meinen Verwandten. Allen! Er war der große Held, und ich war nur ein Kind, das ängstlich zugesehen hat. Ich weiß nicht, warum er das getan hat. Ich habe es nie verstanden, und ich habe es ihm bis heute nicht verziehen. Darüber geredet hat er mit mir nie.
Doch ich habe mir etwas geschworen. Ich wollte auch ein Held sein. Etwas Besonderes, und  nicht nur der Sohn eines Polizeihelden. Man sollte meinen Namen wegen meiner Taten kennen, nicht wegen meines Vaters. Aber bisher ist mir das nicht gelungen. Darum blieb mir bis jetzt nichts anderes übrig, als im Schatten meines Vaters zu leben.“

„Aber ich verstehe nicht, warum es nötig ist, ein Held zu sein. Wem willst du etwas beweisen?“ sagte Will schließlich.
„Du warst nie in dieser Situation und wirst es nie sein. Wie solltest du es auch verstehen?“
Da lief Will ein Schauer über den Rücken. Dieses Gefühl kannte er nur zu gut. „Trotzdem ist mir nicht klar, warum du jetzt so frustriert bist.“ sagte er.
In diesem Moment wurde Bane stocksauer. „Ach, nein? Es ist dir nicht klar? Nein?“ schrie Bane. „Zu dumm. Es sollte dir klar sein, denn nur du bist schuld daran?“
„Ich!?“
„Ja, du. Weißt du, als ich gegen meinen Willen hierher kam… womit ich noch leben kann… und die ganze Geschichte von der Prophezeiung und dem Auserwählten hörte, da glaubte ich, ich könnte mir endlich meinen Traum erfüllen und allen beweisen, was wirklich in mir steckt. Aber nein! Leider Pech gehabt! Denn dann bist ja du dahergekommen. Ich war so kurz davor! Verstehst du? So kurz davor! Aber du musstest ja alles ruinieren. Inzwischen will ich eigentlich nur noch nach Hause, sonst nichts. Ich halte es hier nicht mehr aus!“

„Mann… Das ist heftig.“ meinte Will. Er fühlte sich ein klein wenig verantwortlich. „Aber… ich kann doch auch nichts dafür. Ich bin nicht der Auserwählte, weil ich es unbedingt will. Das Schicksal hat mich erwählt. Daran können wir nichts ändern. Na ja, aber… Wärst du denn nicht auch damit zufrieden, mir zu helfen? Als Kamerad des Auserwählten würde dir auch ein Teil des Ruhmes zufallen? Ist das denn nichts?“ Er hielt Bane eine Hand hin. Sein Blick war voller Hoffnung.

Bane starrte allerdings bloß die Hand an, danach Wills Gesicht. Dann ging er aber einfach an ihm vorbei. „Nein. Entweder allen Ruhm oder gar keinen. Ich helfe euch, weil es meinem und Stones Zweck dient. Nur deswegen. Aber dir persönlich helfen… Dir!? Das ist unter meiner Würde.“

Will sah Bane nach, wie dieser weiterging; Thêl und Eeza hinterher, die nun ebenfalls ihren Weg fortsetzten. Enttäuschte trappelte Will ihnen hinterher. Für einen Moment hatte er tatsächlich gedacht, dass er Bane dazu bewegen könnte, sich mit ihm anzufreunden. Doch das war die Hoffnung eines Narren. Nun aber erkannte Will, wie stark sein Hass wirklich war. Er konnte es versuchen, so oft er wollte, doch Bane verabscheute ihn, und daran würde nichts etwas ändern. Sein einziger Trost war, dass es in Banes Interesse lag, dass er überlebte. Ansonsten hätte er befürchten müssen, dass er ihn im Schlaf ermorden würde.



Je weiter die Gefährten nach Süden kamen, umso dichter und undurchdringlicher wurde der Wald. Es zeigte sich in der Vegetation. Die Pflanzen wuchsen wild und ungebunden. Bisher hatte man das Gefühl, dass es eine unsichtbare Macht gab, die die Bäume, Blumen und Farne in kunstvollen Arrangements anordnete. Teile des Waldes hatten bisher fast wie ein Gemälde ausgesehen.

Doch nun war das anders. Bäume wuchsen in alle Richtungen. Efeu wucherte überall und hüllte sogar ganze Bäume ein. Farne und Sträucher erreichten Größen von mehr als eineinhalb Meter. An vielen Stellen gab es verwachsenes Dickicht, durch das man nicht schauen konnte. Teile des Waldes hatten ein so dichtes Blätterdach, dass überhaupt keine Sonne durchdrang.


Diese Strecken des Waldes machten Will nervös. Es gab viele dunkle Flecken, in denen sich gut irgendwelche Untiere verstecken konnten. Er dachte noch immer an die riesigen Spinnen und hoffte, dass sie keinen von ihnen begegneten.

Aber es war nicht der Wald, der ihm Unbehagen bereitete. Vielmehr war es er selbst. Seit dem Moossteinmoor hatte er sich unwohl gefühlt, doch nun wurde es schlimmer. Sein Herz raste, als wäre er die ganze Zeit gelaufen anstatt gemächlich spaziert. Ihm war schwindlig, und er fühlte sich schwach und empfindlich. Sein Kopf tat weh, und er schien zu glühen.
Die Symptome waren Will nicht unbekannt. Ganz im Gegenteil. Offensichtlich hatte er Fieber.

Einmal musste er niesen, und als er sich mit der Hand über die Nase wischte, fand er Blut darauf. Da bekam er Angst. Nasenbluten war kein Anzeichen von Fieber, soviel wusste er genau.

Will überlegte, ob er dies den Anderen sagen sollte. Er hielt es für das Beste. Doch er kam nicht dazu, denn plötzlich würde ihm übel. Sein Magen schien sich umzudrehen, und Will konnte spüren, wie etwas seine Speiseröhre hinaufkroch. Er musste sich gegen eine Baum lehnen.
Schließlich erbrach er sich. Erst einmal, dann noch einmal, und dann noch ein drittes Mal. Danach musste Will tief durchatmen. Seine Rippen schmerzten. Aber er fühlte sich nicht besser danach.


Als die Anderen sahen, was mit Will los war, da eilten sie zu ihm. Sie fragten ihn nach seiner Befindlichkeit, und er zählte seine Symptome auf. Er dachte nicht, dass sie weiterhelfen würden; dazu hielt er sie für zu verbreitet. Doch zu seiner Überraschung wurden Thêl und Eeza bleich.

„Verflucht. So etwas hatte ich befürchtet.“ sagte Eeza.
„Wieso? Was ist denn?“ fragte Will beunruhigt.
„Agapaue.“ antwortete Thêl. „Das Blutfieber. Du hast es dir wohl im Moossteinmoor zugezogen.“
„Die… die Mücken?“ fragte Will schwach.
Thêl nickte. „Die Wingats, ja. Ich hatte eigentlich gehofft, dass uns dank dem Purpurharz keine zu nahe kommt. Da lag ich wohl leider falsch.“
„Nein, das ist nicht wahr. Es hat gut funktioniert. Sonst wären wir jetzt alle krank. Das war einfach Pech.“
Will hustete einmal, und dann fragte er nervös: „Wie gefährlich ist es? Ist es tödlich?“ Eine leichte Angst überkam ihn. Er hatte schon oft Fieber gehabt. Es war nichts Schlimmes. Die ärgsten Folgen waren ein paar Tage Bettruhe und schulfrei. Aber daheim gab es auch Ärzte und Medikamente. Nun befand er sich mitten im Wald, weit weg von jeglicher Zivilisation. Will wurde unruhig, denn den Tod fürchtete er.
„Nein, ist es nicht.“ sagte Thêl. „Aber wenn wir nicht rechtzeitig ein Heilmittel finden, dann kann einer von zwei Fällen eintreten: Entweder das Fieber führt zu einer Lähmung, und du kannst für den Rest deines Lebens nicht mehr als deinen Kopf bewegen. Oder es schwächt dich so sehr, dass du nicht einmal mehr eine Gabel halten kannst. In beiden Fällen gibt es keinerlei Aussicht auf Heilung. Leider gibt es hier keine Heilkundigen weit und breit. Wir müssen nach Lassarna, so schnell wie möglich. Dort gibt es ganz sicher Ärzte. Das Problem ist… Ich weiß nicht, ob wir es rechtzeitig dorthin schaffen. Wir brauchen sicher noch einen ganzen Tag und eine ganze Nacht, bis wir dort ankommen. Wahrscheinlich noch mehr. Und vielleicht hat sich in der Zeit das Fieber schon in deinem Körper ausgebreitet. Vielleicht. “
„Was stehen wir dann noch hier herum? Gehen wir, los.“ rief Will panisch. Jetzt hatte er wirklich Angst. Er wollte schon weitergehen, aber seine Knie zitterten, und er brach beinahe zusammen. Thêl stützte ihn, damit er nicht hinfiel.
„Ich denke nicht, dass du dich in deinem Zustand überanstrengen solltest.“ sagte Thêl. Dann blickte er Eeza an uns meinte: „Ich kann den Jungen tragen. Wenn wir nach Lassarna eilen, ohne anzuhalten, nicht einmal in der Nacht, dann könnten wir es schaffen. Was meint Ihr?“
„Ich kenne keinen Zauber, der uns helfen könnte, und ich kenne auch nicht das Rezept für eine Heiltrank.“ erwiderte Eeza. „Ich stimme Euch zu. Wir haben wohl nur eine Chance.“


Rasch reichte Thêl sein Gepäck Stone, dass er es für ihn trage. Duncan vertraute er seinen Bogen an, da er ihn sowieso nicht benutzen konnte, solange er Will schleppte, und bei Duncan wusste er ihn zumindest in guten Händen. Dann nahm er Will auf den Buckel, wie einen Rucksack. Der Junge hielt sich fest, so gut er konnte. Thêl marschierte los; nicht zu schnell, damit Will nichts passierte, aber auch nicht zu langsam. Die Anderen folgten ihm ohne Widerspruch.

So liefen sie über enge Waldwege, durch dorniges Gestrüpp und wild wuchernde Schlingpflanzen. Die Vegetation war hier so dicht, dass Thêl hier und da langsamer werden musste, um einen Pfad zu finden. Er wollte nicht anhalten, aber es war von enormer Bedeutung, dass sie sich nicht verirrten. Jede Minute, die sie länger brauchten, war eine Minute mehr, die sie dem Fieber schenkten.

Dabei schien es so einfach zu sein. Er musste immer nur nach Süden gehen, und er wusste auch genau, wo sich Lassarna befand. Doch die Natur machte es ihnen schwer. Immer wieder gab es dichte und große Gestrüppe, die sie umgehen mussten. Ab und zu trafen sie auf Schluchten, die zwar nicht tief genug waren, um tödlich zu sein, aber sie konnten sie auch nicht durchqueren und mussten einen Weg herum finden. All dies hielt sie auf und konnte dazu führen, dass sie die Orientierung verloren, wenn sie nicht vorsichtig waren. Im Moment wusste Thêl noch, wo Süden lag. Er hoffe, dass es so blieb, denn in diesem Wald die Richtung zu bestimmen war schier unmöglich. Alles sah gleich aus.

Will auf seinem Rücken zu tragen, bereite Thêl keine Sorgen. Er war stark genug, dass er ihn lange genug schleppen konnte. Seine einzige Sorge war, rechtzeitig Lassarna zu erreichen. Dies oblag nun allein seiner Verantwortung. Jetzt mehr denn je hatte er das Gefühl, dass es allein an ihm war, dass sie ihr Ziel erreichten. Er hatte den Jungen gegen Monster und Ritter verteidigt, da würde er ihn wegen eines Insekts verlieren.

Thêl erinnerte sich daran, dass er einen Bauern kannte, der von einer Wingat gestochen wurde und nicht rechtzeitig geheilt werden konnte. Er hatte ihn in seiner Hütte besucht. Er war entweder im Bett gelegen oder in seinem Schaukelstuhl gesessen. Er hatte kaum seinen Teller halten können, und schon gar nicht arbeiten können. Seine Frau hatte die Feldarbeit für ihn übernehmen müssen, doch sie konnte nicht so effizient arbeiten wie ihr Mann, der jahrzehntelange Übung darin hatte. Damals hatten sie am Rand der Existenz gelebt. Doch kein König wollte ihnen helfen, schließlich handelte es sich nur um einen einzelnen Bauern, und das war ein verschmerzbarer Verlust. Thêl hätte ihnen selbst gerne geholfen, aber dazu hatte ihm einfach die Zeit gefehlt. Es hatte ihn schwer mitgenommen.

Thêl schwor sich, dass er dem Jungen dieses Schicksal ersparen würde. Es war irrelevant, was es ihn kostete. Selbst wenn er vor er Erschöpfung tot auf der Schwelle von Lassarna zusammenbrechen sollte. Solange der Junge gerettet wurde, war es ihm das wert.

Zwischendurch trafen sie hier und da auf die großen Waldspinnen. Das Glück war jedoch auf ihrer Seite, und sie begegneten nie mehr als zweien gleichzeitig. Eeza und Duncan arbeiteten zusammen, um die Untiere zu töten. Eeza betäubte sie mit einem Zauber, und Duncan machte ihnen mit ein oder zwei Pfeilen den Garaus. Selbst Stone half ihnen. Auf Banes Geheiß schlug er eine Spinne nieder und trat ihr mit seinem kräftigen Fuß den Schädel ein. Danach musste er den Fuß aber eine halbe Stunde durchs hohe Gras ziehen, damit er den Schleim und den Gestank wieder loswurde. Er schwor sich, dies nie wieder zu tun.
So kamen die Gefährten gut voran. Es gab nichts, was sie länger als ein paar Minuten aufhielt. Sie waren zuversichtlich, dass sie nach Lassarna gelangen würden, bevor es zu spät war.


Die ungestüme Jagd durch den Wald tat Will nicht gut. Immer wieder musste er sich zurückhalten, damit er sich nicht über Thêls Schulter übergab. Sein Kopf, der gleichzeitig schmerzte und glühte, machte ihm zu schaffen. Er konnte nichts anderes tun, als sich mit seinen Händen halbwegs festzuhalten und das Geschaukel zu ertragen, so gut er konnte. Er versuchte sich etwas zu entspannen, doch das war so gut wie unmöglich. Die Angst davor, was passieren würde, wenn sie Lassarna nicht rechtzeitig erreichten, sorgte für große Unruhe. Will wusste, dass das Fieber sich vermutlich schneller im Körper verbreiten würde, wenn er aufgeregt war und sein Puls raste. Doch es gelang ihm einfach nicht, sein Herz zu beruhigen, so sehr er sich auch bemühte. Er konnte nur auf Thêl vertrauen und hoffen, dass er nicht vor Erschöpfung zusammenbrach.

Schließlich wurde Will doch müde. Sein geschwächter Geist blendete seine Umgebung aus, und am Ende schlief er ein.

Geheimnisse unter der Erde

Mit scheppernden Schritten stieg Eeza die Leiter hinab. Die Sprossen gaben etwas nach, als er darauf trat. Die ersten Anzeichen von Rost waren sichtbar. Auch die Bolzen, mit denen sie in der Wand befestigt war, zeigten Alterserscheinungen: Sie waren locker, und wann immer sie mit Gewicht belastet wurden, zitterten sie und rutschten in ihrem Loch hin und her.

 

Eeza erreichte den Boden, wo Thêl, Balraun, Will und Duncan bereits auf ihn warteten. Die Vier wussten nicht, wie es weiterging und hofften, dass Eeza sich hier auskannte. Sie befanden sich etwas zehn Meter unter der Erde, in einem kreisrunden Raum, kaum fünf Schritte von einer Seite zur anderen. Die Wände waren mit Ziegelsteinen verkleidet. Links und rechts der Leiter brannte eine Fackel und warf ominöse, flackernde Schatten an die Wand.

 

Gegenüber der Leiter schien ein Gang zu verlaufen, doch er war versperrt. Eine Tür aus Stein machte jegliches Weiterkommen unmöglich. Sie war aus hartem Granitstein gemacht und mit allerlei Mustern und Schriftzeichen verziert. Doch sie hatte keinerlei Griff oder Klinke, sodass es unmöglich war, sie zu bewegen. Thêl stemmte sich sogar dagegen, in der Hoffnung, sie aufzudrücken, doch sie bewegte sich keinen Millimeter.

 

„Und was nun?“ sagte er schließlich, entmutigt. „Wie geht es nun weiter? Eeza, ich hoffe, Ihr wisst Rat.“

„Natürlich, mein Freund.“ erwiderte Eeza. „Das ist eine Joma-Tür. Eine magische Pforte, die sich auf normalem Wege nicht öffnen lässt, und durch Aufbrechen schon gar nicht. Man  braucht ein Lösungswort. Wenn es einem nicht bekannt ist, dann ist es unmöglich, sie  aufzubekommen.“

„Dann hoffe ich sehr, dass Ihr es kennt.“

 

Eeza sagte nichts, sondern lächelte nur. Er trat auf die Türe zu, mit entschlossenem Blick, und dann sprach er laut: „Caratuï a Arkan!“

 

Zuerst passierte nichts. Kein Geräusch regte sich. Einzig Will musste husten, weil ihn ein Staubkorn im Hals kitzelte.

Dann, mit einem Mal, bebte der Raum. Die fünf Gefährten erschraken. Gleich darauf war es wieder vorbei, und ein Spalt erschien in der Mitte der Pforte. Die Tür teilte sich, und mit lautem Getöse verschwanden die beiden Hälften langsam in der Wand. Etwas Staub wirbelte auf. Schließlich ertönte ein Donnern, und die beiden Teile der Tür hielten inne, versteckt in Spalten in der Wand, und sie gaben den Weg frei.

 

Einer nach dem anderen schritten die Fünf durch die Pforte. Dabei blickten sie verwundert und etwas nervös auf die verschwundenen Türhälften, ob sie nicht plötzlich wieder herauskommen würden.

 

Eeza ging als letzter. Er drehte sich noch einmal zu der Türe um. „Atala!“ sagte er. Daraufhin ging ein Grollen durch die Wände, und langsam schlossen sich die Hälften der Pforte wieder. Mit einem lauten Krachen fuhren sie zusammen, und dann war alles still.

 

 

Vor ihnen tat sich ein langer, gerade laufender Gang auf. Die Wände und die Decke, die sich bogenförmig wölbte, bestanden aus roten Ziegelsteinen. Mindestens drei Meter war der Gang hoch. Er war nur spärlich beleuchtet von Fackeln, die an beiden Seiten alle paar Meter an der Wand befestigt waren. Ein Geruch von Erde, Holz und altem Papier wehte durch die Luft.

 

Die Fünf marschierten den Gang entlang. Ihre Schritte hallten an den Wänden wider. In der Ferne glaubten sie, Stimmen und Gelächter zu hören.

 

Sie erreichten bald das Ende des Korridors. Dahinter erstreckte sich ein breiter Gang quer dazu. Er war etwas größer, und er verlief rund, sodass er wohl einen gewaltigen Kreis bildete. Auch dieser Gang war aus Ziegelsteinen gebaut und mit Fackeln beleuchtet. Es war offensichtlich, dass alles hier in diesem Stil angefertigt war.

 

Eeza blickte sich um, zuerst nach links, dann nach rechts. Er schien sich unsicher zu sein, wohin sie gehen sollten. Verwirrt kratzte er sich am Kopf.

 

„Also, wohin nun?“ fragte Thêl genervt. „Gebt zu, Ihr habt das nicht ganz durchdacht.“

 

 

Bevor Eeza noch etwas antworten konnte, erklangen feste Schritte durch den Gang. Gleich darauf erschien von der rechten Seite ein Mann.

Er hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Thêl, zumindest auf den ersten Blick. Er war ebenfalls groß und von kräftigem Wuchs. Er war wie Thêl mit einem langen Mantel ohne Ärmel bekleidet, doch war seiner rotbraun. Darunter trug er ein ockergelbes Hemd. Sein Haar war glatt und ging bis zum Nacken, und es war ebenso wie sein Vollbart schwarz. Auf seinem Rücken trug er ein langes Schwert.

Trotzdem, so ähnlich er wirkte, sein Gesicht war anders. Es war jünger, und seinen Gesichtszügen fehlte es an Strenge, an Ernst, und an Erfahrung. Es machte deutlich, dass er noch nicht dieselben harten, furchteinflößenden und ganz und gar formenden Dinge gesehen hatte wie Thêl.

 

„Ho! Wer da? Neuankömmlinge?“ rief er überrascht aus.

 

Er trat ein paar Schritte auf die Gefährten zu, und blieb direkt vor ihnen stehen.

 

„Willkommen.“ sagte er und ließ seinen Blick durch die Gruppe schweifen. „Oh, Ihr seid doch der berühmte Thêl, nicht wahr?“ stieß er aus, als er den Krieger erblickte. „Euer Name ist wohlbekannt. Welch Ehre, Euch hier zu haben.“ Dann sagte er nach kurzer Pause zum Rest der Gruppe: „Nun, was ist euer Zweck hier? Seid ihr einer Zuflucht bedürftig?“

„Nein. Zumindest nicht für lange.“ erwiderte Eeza. „Wenn Ihr ein großes Zimmer für uns hättet, in dem wir zu fünft Platz hätten, würde uns das genügen.“

„Freilich, freilich. Das sollte sich einrichten lassen. Folgt mir gleich.“

 

Sodann ging der Mann flink den Gang nach links entlang, und die fünf Freunde folgten ihm ohne Zögern. Er führte sie entlang endloser, mit Ziegelsteinen besetzten Mauern, die sich stets krümmten und in einer Kreisform nach rechts wandten.

Unterwegs fanden sich immer wieder Durchgänge in den Mauern. Auf der rechten Seite führten sie in einen gewaltigen Raum. Die Fünf konnten nur vereinzelte Blicke erhaschen. Es war ein riesiger Saal, kreisrund und mit unzähligen Sitzbänken.

Auf der linken Seite waren die Abzweigungen seltener. Sie führten in noch mehr von Fackelschein beleuchtete Korridore, deren Ende nicht sichtbar war.

 

„Also… Ihr hattet Glück, dass ihr mich getroffen habt. Ich habe genug Autorität hier, um euch ein Zimmer zu geben. Das darf nicht jeder. Ja, ihr seid wirklich ein Glückspilz sagte der Mann, während sie voran schritten. Eeza sagte nichts, sondern lächelte nur. „Wenn ich mir diese Frage erlauben darf: Was führt euch nach Bessain?“ fragte der Mann.

„Wir müssen uns dringend mit einem alten Freund beraten, mit Maias Gari.“ entgegnete Eeza.

„Ist das wahr?“ Der Mann machte ein Gesicht, als wäre sein Geburtstag vorverschoben worden. „Maias Gari? Tatsächlich? Ihr seid mit ihm bekannt?“ Eeza nickte. „Ah, er ist ein so weiser Mann, und gutherzig. Man sagt, er weiß alles. Wirklich alles. Nun, ich denke, das ist wahr. In ganz Aramar kennt man seinen Namen, aber nur wenige besitzen das Privileg, ihn einen Freund nennen zu dürfen.“

„Nun ja, das stimmt. Er ist allwissend. Ja, er ist ein besonderer Mann, das ist wahr.“

„Ganz zweifellos. Ihr könnt Euch glücklich schätzen. Aber nun kommt, wir sind gleich da.“

 

 

Die Gruppe erreichte einen Durchgang, der gegenüber dem Gang lag, in dem die Leiter aus der Oberfläche stand. Er führte in einen großen, aber schmalen Raum, der nur am hinteren Ende breit war. Er bestand aus einem engen Flur, mit Türen auf beiden Seiten; fünf auf jeder. Es waren dies Wohnräume. Sie waren etwas geräumiger als die anderen Zimmer in Bessain, um großen Familien Platz zu bieten.

 

Die Fünf hatten freie Auswahl, was Zimmer betraf, da die Hälfte davon unbesetzt war. Sie entschieden sich für das mittlere Zimmer auf der rechten Seite, ohne besonderen Grund.

 

Der Wohnraum lag im Dunkeln, als sie ihn betraten. Der Mann, der sie begleitet hatte, holte sogleich eine Fackel, die draußen hing, und zündete damit vier Fackeln an, die in den Ecken des Zimmers befestigt waren. Sie tauchten den Raum in ein warmes, flackerndes Licht.

 

Das Zimmer war überraschend groß. Will schätzte es auf 20 Meter lang, und 5 Meter breit. Die Einrichtung war eher spärlich. Die Betten standen an verschiedenen Enden des Raumes. Am hinteren Ende befand sich ein Tisch mit drei Stühlen. An der Wand stand eine hölzerne Kommode, und in der Mitte lag ein schmutziger, braun-grüner Teppich mit Blumenmuster.

 

„Ich hoffe, es genügt euren Ansprüchen.“ sagte der Mann schließlich. „Es ist nicht viel, aber…“

„Schon gut, es ist… akzeptabel. Macht Euch keine Gedanken.“ erwiderte Thêl mit einem Lächeln.

„Nun, dann ist es gut.“ sagte der Mann zufrieden. „Auf ein paar Dinge muss ich euch noch aufmerksam machen. Ein paar Regeln, die es hie in Bessain einzuhalten gilt.

Zum Einen habt ihr sicher bemerkt, dass das Zimmer keine Möglichkeit hat, Essen zuzubereiten. Wir nehmen die Mahlzeiten hier gemeinsam ein, zweimal am Tag: am Vormittag und abends. Wir haben einen Koch, der sich um das Essen kümmert und die Vorräte verwaltet. Solltet ihr zwischendurch Hunger haben, so müsst ihr mit ihm sprechen. Farragan ist ein netter Kerl; solange genug Reserven da sind, wird er euch ganz sicher etwas geben.

Ich denke, ihr habt auf dem Weg hierher den großen Raum bemerkt. Das ist unser Ratssaal. Dort finden Versammlungen statt. Als Bewohner Bessains, wenn auch nur vorübergehend, ist es eure Pflicht, an jeder Versammlung teilzunehmen, da sie stets alle betreffen. Ausnahmen gibt es keine.

Was noch…? Bessain hat drei Aus- und Eingänge, alle mit einer Joma-Tür und mit einem Schloss versperrt. Manche Bewohner hier bekommen Sehnsucht nach frischer Luft und Sonnenlicht. Ich kann es nachvollziehen. Ihr könnt Luft schnappen, wann immer ihr wollt. Es steht euch auch frei, jederzeit Bessain zu verlassen. Ihr müsst nicht einmal jemandem Bescheid sagen. Obwohl es wünschenswert wäre, wenn ihr es tut, doch Zwang gibt es keinen.

Wenn ihr Bessain wieder verlasst, ist es von größter Wichtigkeit, dass ihr niemandem verratet, wo sich die Stadt befindet, das geheime Losungswort sagt oder den Schlüssel gebt, dem ihr nicht vertraut. Das ist unglaublich bedeutsam. Euch wird hier ein großes Vertrauen entgegengebracht, und wir erwarten, dass ihr es nicht enttäuscht.

Eines noch zum Schluss. Ihr könnt hier tun, was immer ihr wollt. Es gibt keine Vorschriften, was die Gestaltung eurer Freizeit betrifft. Wir haben hier einen Trainingsraum, wo ihr euch im Kampf üben könnt, eine Bibliothek, einen Gebetsraum, und natürlich jede Menge nette nette Menschen. Es sollte euch nicht langweilig werden. Doch bedenkt: Verbrechen werden auch in Bessain nicht geduldet. Unerlaubtes Betreten fremder Wohnräume, Diebstahl, Körperverletzung und Mord werden gnadenlos bestraft. Wir verfügen auch über einen Kerker. Habt ihr das verstanden?“

 

Während diesen letzten Sätzen versuchte er, seine Stimme streng und mahnend klingen zu lassen. Es gelang ihm nur mäßig, wohl weil er es nicht oft tat. Trotzdem nickten die fünf Gefährten artig und versicherten, dass sie sich daran halten würden.

 

„Ausgezeichnet.“ sagte der Mann zufrieden. „Nun, äh… Für euer Zimmer gibt es einen Schlüssel, doch den besitze ich nicht. Ihr müsst euch dafür an Maias Gari wenden. Er verwaltet diese Dinge. Da ihr sowieso mit ihm sprechen wollt, überlasse ich dies euch. Wenn ihr also sonst nichts mehr benötigt, wende ich mich wieder meinen Angelegenheiten zu.“

 

„Wartet noch!“ sagte Eeza plötzlich und trat auf den Mann zu. „Ich gehe davon aus, dass Ihr wisst, wo Maias Gari sich aufhält?“ Der Mann bejahte. „Dann bitte ich Euch, führt mich zu ihm. Ich will gleich mit ihm sprechen.“

„Nun gut, wie Ihr wünscht. Ich bringe Euch zu ihm. Kommt.“

 

„Einen Moment noch. Wo geht Ihr hin, Eeza? Wollt Ihr jetzt alleine losziehen, einfach so?“ warf Thêl plötzlich ein.

„Ja und nein.“ antwortete der Alte. „Nur vorübergehend. Ich muss persönlich mit Maias Gari sprechen. Sofort.“

„Ich dachte, das wollten wir gemeinsam tun.“

„Und so wird es auch geschehen. Zusammen werden wir über die wichtigen Dinge reden. Doch zuvor will ich alleine mit ihm sprechen, und auch gleich ein gemeinsames Treffen arrangieren. Wir sind schließlich alte Freunde. Nur keine Sorge. Ich weiß, was ich tue.“

 

„Genau das macht mir ja Sorgen…“ murmelte Thêl, doch Eeza hörte es nicht mehr, den er war bereits gegangen.

 

 

Thêl konnte nur den Kopf schütteln. Er hatte schon lange mit Eeza gearbeitet, darum glaubte er, daran gewöhnt zu sein. Doch der Alte überraschte ihn jedes Mal aufs Neue.

 

Für einen Moment überlegte Thêl, ob er Eeza nachlaufen und ihn zur Rede stellen sollte. Er hasste es, wenn der Alte Entscheidungen traf und Dinge tat, ohne ihn um seine Meinung zu fragen. Auch wenn es ihn selbst nicht betraf. Er hasste es, und empfand es als unhöflich. Er hielt es einfach für falsch, auf eigene Faust loszuziehen. Sie waren eine Gemeinschaft, die gemeinsam für ein Ziel kämpfte. Da konnte man nicht einfach tun, was man wollte. Fehler konnten sie sich nicht erlauben.

 

Andererseits dachte sich Thêl, dass er vielleicht etwas überreagierte. Eeza wollte nur mit einem alten Freund sprechen, und nicht eigenmächtig in eine Schlacht ziehen. Und sagte er nicht, dass er wusste, was er tat? Warum konnte er ihm nicht vertrauen?

 

Thêl wusste warum. Er hörte diese Worte nicht zum ersten Mal. „Ich weiß, was ich tue.“ Wie oft hatte Eeza diese Worte gesagt? Er konnte es nicht zählen. Was war dieser Satz? Eine Rechtfertigung für all die Fehler, die er begangen hatte? Für all die Leben, die er riskiert hatte? Natürlich hatte Eeza in den meisten Fällen Recht behalten. Und natürlich stand außer Frage, dass er sein Land liebte und für die rechte Sache kämpfte. Doch das war keine Entschuldigung dafür, anderer Leute Leben aufs Spiel zu setzen. Ganz egal welcher Zweck, er war kein Menschenleben wert. Niemals. Nicht das anderer Leute, und nicht das seiner Freunde und Gefährten. Ganz besonders nicht das des Jungen.

 

Ja, der Junge. Auf ihn musste Thêl aufpassen. Er war der Therûn, der Auserwählte. Er war die wichtigste Person von allen. Eeza durfte sein Wohlbefinden nie wieder riskieren. Dafür würde er persönlich sorgen. Er würde auf ihn Acht geben. Eine wichtige Aufgabe wie diese konnte er unmöglich jemandem anderen anvertrauen. Er war der Einzige, der dazu in der Lage war, dessen war sich Thêl sicher. Er würde den Jungen beschützen, und wenn es einen Tod bedeutete. Damit konnte er für die Sünden seiner Vergangenheit endlich Buße tun.

 

 

Thêl war so in Gedanken versunken, dass er gar nicht bemerkte, wie Balraun an ihm vorbeiging und das Zimmer verließ. Er konnte ihm gerade noch nachschreien.

 

„Was soll das? Wohin geht Ihr, einfach so, ohne ein Wort zu sagen!?“

„Ich bin nicht Euer Freund. Ich bin freiwillig hier, und ich kann tun, was immer ich will.“ sagte Balraun barsch. „Ich gehe, wohin es mir gefällt.“

„Und wohin gefällt es Euch zu gehen?“

„Ich brauche etwas zu Trinken. Ist mir ausgegangen, und mein Rausch ist auch schon wieder weg. Außerdem erstickte ich in diesem kleinen Zimmer.“

„Ihr werdet Bessain aber nicht verlassen, oder?“

„Bah, ich hab eh schon das Wort vergessen, mit dem hier rauskommt. Also macht Euch nicht ins Hemd.“

„Na schön. Aber… Wenn wir wichtige Entscheidungen treffen, wollt Ihr da nicht dabei sein?“

„Nein, nicht wirklich. Entscheidet, was ihr wollt. Ich bin damit einverstanden, was immer es auch ist. Mir ist alles Recht.“

 

Dann ging Balraun. Thêl blickte ihm nach. Er seufzte. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass ihm alles durch die Finger rann.

 

 

Will beobachtete die Szene mit einem Lächeln. Es amüsierte ihn, wie sehr sich Thêl bemühte, alles zu kontrollieren; selbst die Dinge, die man nicht kontrollieren konnte. Sein Pflichtbewusstsein ehrte ihn, aber Will meinte, dass er alles etwas zu ernst nahm. Es war ja nicht so, dass der Erfolg ihrer Mission einzig von ihm abhängig war. Im Gegenteil, reiste er doch mit mehreren Leuten mit eigenen Talenten, und er konnte jedem einzelnen vertrauen. Nun ja, vielleicht abgesehen von Balraun.

 

Balraun war eine Nummer für sich. Will war aufgefallen, dass er sich in den letzten Tagen seltsam benommen hatte. Oder zumindest noch seltsamer als sonst. In den letzten ein oder zwei Tagen vor ihrer Ankunft in Bessain hatte er noch weniger geredet als bisher. Er war fast ständig mit seinen Gedanken allein gewesen, höchstens begleitet von einem Krug Alkohol. Außerdem glaubt er gehört zu haben, wie er im Schlaf den Namen seiner Frau murmelte, die er in Cestilla zurückgelassen hatte.

 

War es das? Vermisste Balraun seine Frau? War er deshalb so still? Doch warum blieb er dann noch hier? Nichts hinderte ihn daran, einfach nach Cestilla zurückzukehren. Auch wenn es eine weiter Reise war; wenn ihm seine Frau so am Herzen lag, sollte das für jemanden wie ihn kein Hindernis sein.

 

Vielleicht steckte tatsächlich so etwas wie Pflichtgefühl in ihm. Er hatte versprochen, mitzugehen und zu helfen, also tat er es, auch wenn es ihn quälte. Möglicherweise war Balraun tief in seinem Inneren doch ein guter Kerl. Obwohl es Will schwer fiel, dies zu glauben.

 

 

 

Etwas über eine halbe Stunde verging, bevor Eeza zurückkehrte.

 

„Maias Gari wird uns im Ratsaal treffen, in einer Stunde.“ verkündete er.

 

Mehr sagte er nicht dazu; nicht, worüber gesprochen hatten oder was für Pläne sie geschmiedet hatten. Eeza gab nichts davon preis.

Er war überrascht, als man ihm von Balrauns Tun erzählte. Doch am Ende meinte er, man könne sowieso nichts dagegen tun. Außerdem war Balraun von den Fünf am verzichtbarsten, und es sei in Ordnung, wenn er nicht bei dem Gespräch dabei ist.

 

 

Kurz vor der vereinbarten Zeit marschierte die Gruppe Richtung Ratssaal. Eeza führte sie. Er hatte nämlich, neben seinen magischen Fähigkeiten, auch ein gutes Gedächtnis, was Orte und Wege betraf. Hatte er ein Gebiet einmal ausreichend erkundet, fand er sich dort stets zurecht. Er fand immer alles, was er suchte und konnte sich nicht verirren. Nun war ihm dies erneut von Nutzen.

 

Als die Vier in den Ratssaal eintraten, staunten sie nicht schlecht. Es war ein gewaltiger Raum;  kreisrund, und mindestens 50 Meter im Durchmesser. Hoch war er auch: Seine Decke war fast zehn Meter in der Höhe und lag sicher kurz unter der Erdoberfläche. Wie alles hier in Bessain waren seine Wände mit Ziegeln verkleidet. In gleichmäßigen Abständen hatten die Wände Ausbuchtungen, aber es war nicht ersichtlich, ob dies außer der Dekoration noch anderen Zwecken diente.

 

Für Beleuchtung sorgten neben kleinen Fackeln an den Wänden auch riesige Feuer, von denen eines in der Mitte des Saals stand, und einige weitere an den Wänden. Die Flamme, die in einem mit Eisen umzäunten Behälter war, loderte über einen Meter hoch und machte den Raum hell und warm.

 

Im ganzen Saal standen Sitzbänke aus Holz, die für die Leute im Falle einer Versammlung gedacht waren. In der Mitte, rund um die Fackel, standen einige Tische und Sesseln, ungleichmäßig verteilt. An einem dieser Tische saß nun Maias Gari.

 

Er hockte hinter dem Tisch, den Kopf auf eine Hand gestützt, mit konzentriertem Blick und nachdenklichen Augen.

 

Seine Augen… Will war überrascht, wie intensiv sie waren. Sie waren voll von Aufmerksamkeit und Interesse. Sie strahlten Wissen, Erfahrung und Weisheit aus. Will hatte den Eindruck, dass man vor Maias Gari nichts verbergen konnte. Dass ihm alles über einen bekannt war. Nicht aus Bosheit, sondern weil er einfach alles wusste.

 

Seine Augen waren wahrlich einzigartig. Der Rest von ihm war dafür schlicht: ein geringer Rest grau-weißer Haare, ein weißer, struppiger Bart, und ein Gesicht voll von Falten, die von einem langen Leben zeugten.


Doch trotz dessen war seine Präsenz nichts weniger als außergewöhnlich.

 

 

Die Vier setzten sich an den Tisch, an dem Maias Gari saß.

 

„Ihr seid also Maias Gari.“ sagte Will sogleich und plötzlich.

Maias Gari lächelte. „Möchtest du auf etwas Bestimmtes hinaus, Junge, oder rekapitulierst du nur das Offensichtliche?“

„Verzeiht. Ich…“ Will war unsicher. Er wusste gar nicht mehr, warum er dies gesagt hatte. Es war ihm einfach so herausgerutscht. „Ich… bin nur beeindruckt. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass jemand allwissend ist, aber bei Euch kann ich mir das vorstellen. Es sind Eure Augen, denke ich.“

„Du schmeichelst mir.“ meinte Maias Gari verlegen. „Doch wer sagt, ich sei allwissend? Eeza? Er übertreibt gerne.“

„Aber ich dachte, es gefällt Euch, wenn man das über Euch sagt.“ warf Eeza ein.

„Das kommt darauf an, wer es sagt. Wenn es eine junge, hübsche Frau ist, dann habe ich nichts dagegen.“

„Nun, ich könnte mich in eine junge Frau verwandeln, wenn euch das beliebt.“

„Eeza, mein Freund, solch ein Gedanke ist es nicht wert, weiter verfolgt zu werden. Vergesst es einfach. Denkt Ihr wirklich, ich würde so etwas nicht bemerken? Haltet Ihr mich für so dumm?“

„Ihr und dumm? Nie und nimmer!“ sagte Eeza empört. „Wollt Ihr meine Intelligenz beleidigen.“

„Also, ich würde das schon gerne, wenn ich darf.“ sagte Thêl dazwischen.

„Warum beleidigt Ihr nicht Eure eigene Intelligenz?“ erwiderte Eeza leicht genervt. „Aber dazu müsstet Ihr erst einmal eine haben, nicht wahr?“

 

Bevor das Ganze zu einem Streit eskalierte, das lachte Maias Gari laut, und das beruhigte Thêl und Eeza wieder.

„Ihr seid wirklich amüsant. Ja, wirklich, sehr amüsant. Thêl, ich kenne Euren Ruf als großer Krieger, aber dass Ihr auch so lustig seid… Na ja, vielleicht nur zusammen mit Eeza. Ihr könntet ja als Unterhalter auftreten, falls das mit der Rettung der Welt nicht gelingt.“ Auf dies hinauf starrten ihn alle an, als hätte er gerade die schlimmste Beleidigung aller Zeiten ausgesprochen. „Verzeiht. Das… das war nicht lustig. Es ist mir nur so rausgerutscht. Ein Lapsus. Genug davon. Wenden wir uns ernsthafteren Dingen zu. Wir… Oh, ich Dummkopf. Ihr habt ja noch gar nicht meine Assistenten kennen gelernt.

 

Die vier Freunde waren über diese Aussage verwundert, denn außer sich selbst und Maias Gari sahen sie niemanden. Doch wie auf Befehl traten in diesem Augenblick zwei Männer aus dem Schatten ins Licht der Fackeln. Zu ihrer Überraschung war einer von ihnen der Mann, der sie zu ihrem Zimmer geführt hat.

Der Andere sah ihm sehr ähnlich. Er war um einen Kopf kürzer, und seine Haare waren rotbraun anstatt schwarz wie die des anderen Mannes. Auch hatte er keine Vollbart, sondern nur einen Kinnbart und einen Schnurrbart. Er trug einen schwarzen, ärmellosen Mantel und ein blaues Hemd.

 

„Es freut mich, euch wiederzusehen. Ich hoffe, ihr fühlt euch hier wohl.“ sagte der Rothaarige mit einem Lächeln, doch sogleich wandelte es sich in Bestürzung. „Meine Güte, gerade dämmert es mir. Ich habe mich vorhin gar nicht vorgestellt.“

„Schrecklich Frevel, Bruder! Das solltest du sofort nachholen.“ entgegnete der Schwarzhaarige.

„Wieso stellen wir uns nicht gemeinsam vor? Dann kannst auch du dich gleich bekannt machen. Beginne du gleich, Bruder.“

„Einverstanden.“ Dann wandten sich beide den vier Gefährten zu, und der Schwarzhaarige begann: „Wir sind Berond...“

„...und Bergold.“ ergänzte der Rothaarige. „Wie sind die Söhne von Bernold, dem Bartlosen.“

„Mütterlicherseits.“ fügte Berond noch hinzu.

„Was? Was redest du für einen Unsinn, Berond?“

„Das tue ich nicht. Gegenteiligerweise.“

Bergold schüttelte den Kopf. „Gegenteiligerweise? Was… was ist das? Wer verwendet denn so ein Wort?“

„Na, ich.“

„Mein Gott, du bist auch wirklich zu dämlich.“

„Mitnichten. Man kann nicht zu dumm für etwas sein. Das ist so.“

 

„Verzeiht, wenn ich unterbreche.“ warf Thêl plötzlich ein. „So interessant das auch sein mag, aber könnten wir uns wichtigeren Dingen zuwenden?

„Ja. Natürlich. Verzeiht.“ erwiderte Bergold demütig. „Es ist nur... Mein Bruder ist etwas... nun ja, eigen. Er ist als Kind auf den Kopf gefallen.

„Oder ist der Kopf auf mich gefallen? Weiß man es?“ fügte Berond hinzu.

Bergold ignorierte dies und erklärte mit einem Seufzen weiter: „Seit er angefangen hat, sich für Philosophie zu interessieren, hält er sich für besonders klug. Nun ist er noch schwerer zu ertragen. Nun ja. Ihr wisst ja: Man kann einem Narren das Gewand eines Weisen anziehen, und er bleibt trotzdem ein Narr.“

„Aber was, wenn es ein magisches Gewand ist, dass seinem Träger unendliche Weisheit verleiht?“ meinte Berond. „Dann hättest du Unrecht.“

„Berond, glaube mir, keine Magie in den bekannten oder noch unbekannten Welten wäre mächtig genug, dir Weisheit zu schenken.“

 

Daraufhin starrten sich die Brüder an, zornig aber wortlos.

 

 

Maias Gari klatschte in die Hände und lachte laut. „Das ist einer der Gründe, warum ich sie für mich arbeiten lasse. Sie sind so lustig. Aber, das muss ich sagen, sie sind auch äußerst zuverlässig. Bergold besonders, aber auch Berond. Wenn sie nicht gerade streiten.“ Er lachte noch einmal, kurz und heiser, und er wischte sich eine Träne aus den Augen. Dann aber wurde sein Gesicht ernst. „Aber genug davon. Genug der Streitigkeiten, genug des Lachens. Es gibt wichtige Dinge zu besprechen. Ich weiß, warum ihr hier seid. Eeza hat mir von den grundlegenden Dingen bereits berichtet. Ich weiß Bescheid. Doch wie sollen wir beginnen? Vielleicht… Ja, am besten, erzählt mir erst einmal von eurer Reise hierher.“

 

Die Vier taten, wie ihnen geheißen. Sie erzählten von dem Drachen, den Will getötet hatte, von dem düsteren Wald, vom alten Mann und vom Reiter, und auch von dem Vorfall auf der Brücke. Will selbst berichtete noch von der Begegnung mit Beléssan, und von seinem Alptraum, von dem die Anderen nichts wussten. Maias Gari hörte währenddessen aufmerksam zu. Mal schloss er die Augen, mal starrte er den Erzählenden interessiert an. Doch er war stets hochkonzentriert.

 

Als sie ihre Erlebnisse fertig geschildert hatten, strich sich Maias Gari nachdenklich durch seinen langen Bart. Er sagte zuerst nichts, sondern brummte nur gedankenvoll vor sich hin.

 

„Eine interessante Geschichte.“ meinte er schließlich. „Recht faszinierend. Phantastisch und unglaublich, möchte man sagen.“

„Glaubt Ihr? Es war ein… Abenteuer, ja. Aber unglaublich? Phantastisch? Übertreibt Ihr da nicht etwas?“ sagte Eeza skeptisch.

„Mitnichten. Es ist außergewöhnlich; viel mehr, als ihr glaubt. Vor allem im Zusammenhang mit den kontemporären Ereignissen.“

„Wie meint Ihr das?“

„Ich spreche von Beléssan. Es ist doch ein Fakt, dass er die letzten Jahre untätig war… Apathisch, könnte man sagen. Doch nun? Er zerstört Dörfer, schickt Drachen und Reiter, erscheint sogar persönlich… Irgendetwas hat sich geändert.“

„Aber warum jetzt? Warum hat er so lange gewartet?“ fragte Will, den dieses Thema äußerst interessierte.

„Nun, ich kenne Beléssans Pläne nicht. Doch dass er so lange gewartet hat, dafür gibt es, denke ich, zweierlei Gründe. Zum einen hat er sich selbst als Großkönig etabliert. Etwas, das ihm kaum einer streitig machen kann. Zweitens, selbst wenn er ganz Aramar erobern oder zerstören will, so ist er dafür nicht mächtig genug.“

„Nicht mächtig genug? Ihr scherzt doch.“ erwiderte Will. „Jeder sagt mir, wie stark er ist. Dass er ganze Armeen vernichten kann.“

„Ja, aber Armeen bestehen auch selten aus mehr als gewöhnlichen Soldaten. Doch in Aramar gibt es mehr als das. Zauberer, Drachen, … Beléssan kann nicht einfach in ein Land spazieren und es als sein Eigen beanspruchen. Er würde überall auf Widerstand stoßen. Ja, mit Soldaten würde er mühelos fertig werden, aber wenn sich ihm andere widersetzen, Mächtigere, dann könnte ihm das Probleme bereiten. Oder zumindest würde ihn ein Sieg einiges kosten. Das versucht er zu vermeiden. Er benötigt eine Armee, größer als alle anderen. Dann wäre ihm ein Sieg gewiss. Darum hat er ja auch damit begonnen, Krieger unter sich zu sammeln.“

 

„Also gut. Schön. Aber warum jetzt?“ fragte Will weiter.

„Ist das nicht offensichtlich? Deinetwegen!“

Will traute seinen Ohren nicht. „Meinetwegen? Wieso… wieso meinetwegen?“

„Weil Beléssan dich fürchtet. Es mag unglaubwürdig klingen, doch er ist noch nicht so mächtig, dass er über Furcht erhaben ist. Er kennt die Prophezeiung, und wie jeder in Aramar glaubt auch er daran. Er fürchtet, dass sie wahr werden und er durch deine Hand sterben könnte. Darum hat er seinen Plan, was immer er auch sein mag, früher begonnen als zuvor. Darum hat er die Dörfer attackiert und die Bewohner zu Sklaven in seiner Armee gemacht.“

 

„Einen Moment. Sagtet Ihr Dörfer?“ unterbrach Thêl. „Sind bereits mehrere Dörfer gefallen? Wir dachten, es sei nur Pelin.“

Maias Gari schüttelt den Kopf. „Nein, Pelin war nur das Erste. Danach wurde Ehlete zerstört, im Norden, und einen Tag später Drell. Ich fürchte, dies war nur der Anfang.“

„Eine schreckliche Sache.“ meinte Eeza betrübt. „So viel unnötige Grausamkeit.“

„In der Tat, alter Freund.“ erwiderte Maias Gari. „Wir beide leben schon so lange auf dieser Welt. Viel zu lange. Dass solch dunkle Tage die unseren sein müssen… Es ist nicht recht.“

 

 

Für einige Augenblicke war es still im Saal. Missmut und Trauer schwebten in der Luft. Dann aber erhob Will seine Stimme.

 

„Verzeiht, aber können wir noch einmal zu dem Punkt kommen, dass Beléssan mich fürchtet? Ich meine… Mich? Ich verstehe das nicht. Das ergibt keinen Sinn. Wieso sollte einer mit solcher Macht mich fürchten? Warum sollte so jemand überhaupt vor etwas Angst haben?“

„Auch die ganz Mächtigen verspüren Furcht.“ sagte Maias Gari. „Sie fürchten, dass man ihnen ihre Macht wegnehmen könnte. Und während es bei Anderen immer nur die Möglichkeit gibt und niemals sicher ist, wurde bei dir vorhergesagt. Für dich ist das vielleicht nur eine Prophezeiung, aber für die Menschen in Aramar ist es eine Gewissheit. Vermutlich auch für Beléssan.“

„Aber das ergibt doch keinen Sinn!“ entgegnete Will aufgebracht. „Warum hat er mich dann nicht getötet? Er hatte doch eine perfekte Gelegenheit, damals, in Cestilla.“

„Ja, aber vielleicht hat er es ja versucht. Ich denke schon. Als er dir die… wie du es nennst… üblen Kopfschmerzen bereitet hat und du in Ohnmacht gefallen bist… Ich denke, das war sein Versuch, dich zu töten. Bei einem gewöhnlichen Menschen hätte das auch funktioniert. Aber du, du warst stärker. Dein Geist und dein Körper sind widerstandsfähig. Du warst stark genug, um Beléssans Zauber zu trotzen und wieder ins Leben zurückzukehren.“

„Denkt Ihr das wirklich?“ fragte Will, voll Erstaunen, aber auch Stolz.

„Aber natürlich. Jede andere Option entbehrt doch jeglicher Logik. Warum sollte er mit dir spielen, wo du doch die größte Bedrohung für ihn bist? Warum? Er würde es nicht. Nein, er wollte dich töten, doch du hattest genug Kraft und Willen, ihm zu trotzen. Nun… und dann hat er es noch einmal versucht, indem er auf eurer Reise den Reiter ausgeschickt hat, um dich zu töten… und die, die dich begleiten.“

 

„Der Reiter… Wer war er?“ fragte Thêl.

„Das weiß ich nicht, ganz ehrlich. Nach eurer Beschreibung kenne ich ihn nicht. Vielleicht ist er neu, oder einer von Beléssans unbedeutenderen Untertanen. Ihr sagtet ja, dass er kein guter Kämpfer war. Dass er über keine Magie verfügte. Scheinbar… war er nur gut darin, euch zu finden und aufzuspüren. Ein guter Jäger, aber ein schlechter Krieger.“

„Beléssan hätte ihn nicht alleine schicken sollen.“ meinte Thêl. „Er war zu überheblich. Ein Fehler, den er nun sicher bereut.“

 

„Jetzt mal ganz langsam.“ unterbrach Will, der sichtlich etwas durcheinander war. „Es fällt mir noch etwas schwer, zu begreifen, dass in mir solche Stärke ist. Dass ich fast getötet wurde, ohne mein Wissen, und ich nur durch meine Willenstärke überlebt habe. Ich meine… Ich!? Gerade ich… Ich kann es fast nicht glauben. Aber… ich muss es glauben. Es ist wohl so. Da ist kein Zweifel möglich. Versteht mich nicht falsch, es freut mich. Es ist… großartig. Ich bin nur überrascht, positiv. Vielleicht… bin ich ja tatsächlich etwas Besonderes.“

„Zweifelst du denn immer noch?“ fragte Maias Gari. „Da gibt es keine Zweifel. Du bist stark. Du bist auserwählt. Du und deine Mission sind von den Göttern auserwählt.“

„Wie bitte?“ entgegnete Will und hob ungläubig eine Augenbraue. „Die Götter? Was bitte meint Ihr damit?“

„Erinnerst du dich noch, wie du an der Brücke gerettet wurdest?“

„Natürlich! Wie könnte man so etwas vergessen? Das… Ja, das war seltsam.“ Wills Augen blickten ins Leere, während er die Ereignisse vor seinem geistigen Auge noch einmal ablaufen ließ. „Ich… bin gefallen. Ich hatte Angst, und… Solche Angst. Ich war mir so sicher, dass ich sterben würde. Ich konnte vor Angst kaum denken. Und… und dann fiel ich plötzlich nicht mehr. Ich weiß nicht, ich… Mir blieb fast das Herz stehen. Mir war schwindlig. Aber bevor ich noch denken konnte, wurde ich wieder nach oben gedrängt. Mein Rücken war nass. Dann war ich ganz oben, und bekam einen Schubs, der mich auf festen Boden befördert hat. Alles tat mir weh, alles drehte sich… Es war alles verwirrend. Ich wusste nicht, was passiert war. Ich sah nur diese… Säule aus Wasser. Sie kam aus dem Fluss, so… gleichmäßig. Kontrolliert. Als wäre sie ein lebendes Wesen. Sie verschwand schließlich wieder und…“ Will hielt inne. Er sammelte seine Gedanken, versuchte die richtigen Worte zu finden, doch es gelang ihm nicht. Schließlich blickte er Maias Gari an und fragte: „Was war das?“

Der Alte atmete tief ein und aus und lächelte. „Du hast es schon richtig beobachtet. Es war Wasser, und, wie du gesagt hast, kontrolliert.“

„Aber… was soll das heißen? Lebendiges Wasser? Hat der Fluss mich gerettet?“

„In gewisser Weise, ja. Doch ein Fluss ist nur strömendes Wasser. So einfach ist es nicht. Aber jeder Fluss hat auch einen Schutzgott; eine mächtige Gottheit, die unter anderem die Fähigkeit besitzt, das Wasser seines Flusses beliebig zu kontrollieren.“

„Ach, dieser große Schatten, den ich sah… War er das?“ sagte Thêl.

Maias Gari nickte. „Ja, ein Flussgott erscheint häufig in Gestalt eines großen Fisches, oder einer Schlange, oder sehr oft auch als Drache. Der Schutzgott des Nenuïn und des Noruïn ist der mächtigste, sagt man. Sein Name ist Melmendir.“

„Melmendir.“ wiederholte Eeza den Namen. „Ja, ich habe schon von ihm gehört, doch hätte ich ihn nie hiermit in Verbindung gebracht.“

„Zweifellos war er es.“ erwiderte Maias Gari. „Man hört hier und da, dass er einem Ertrinkenden das Leben rettet, indem er ihn an Land bringt oder das Wasser entfernt, sodass er sicher an Land gelangt. Selten, aber er tut es. Manche lässt er ertrinken. Vielleicht böse Menschen… Mörder und Diebe, über die er sich zu richten erlaubt. Doch ist er zweifellos ein gerechtes Wesen. Er rettet die, die in seinen Augen das Leben verdient haben, und die noch eine Aufgabe haben. Viele, die am Fluss wohnen, beten zu ihm. Zu Recht, wie es scheint.“

 

Bei diesen Worten blickte er Will an. Dieser starrte nur wortlos vor sich hin. Dann wischte er sich mit der Hand über die Augen, bevor er sich die Schläfen mit den Fingerspitzen massierte. „Na schön. Ein Gott rettet mich. Ich bin viel stärker, als ich mir je erträumt hatte.“ sagte er verwirrt. „Was wollt Ihr mir noch alles erzählen? Dass ich ein Königssohn bin? Oder… Ich meine, ich… Das ist alles so… so… unbegreiflich.“

„Zweifelst du etwa auch daran?“

Für einige Augenblicke überlegte Will, unruhig, so als würde er mit sich selbst um eine Antwort ringen. Dann sagte er, überraschend selbstsicher: „Nein. Nein, tue ich nicht. Ich weiß auch nicht, warum… es… es ist eigentlich vollkommen unsinnig. Hätte mir jemand vor zwei Wochen so etwas erzählt, ich hätte ihn für verrückt gehalten. Aber jetzt… Ich weiß nicht… Es erscheint mir einfach… glaubwürdig. Unglaublich, aber glaubhaft. Mein Gott, wie komisch das klingt…“

„Nun ja, manchmal muss man an das Unglaubliche glauben. Manchmal ist das Unglaubliche wahr, so seltsam es auch ist. Daran solltest du dich gewöhnen. Hier ist oft das Außergewöhnliche Gewohnheit.“

 

„Hat er das nicht schön gesagt?“ flüsterte Berond seinem Bruder zu. „So schön simpel und

logisch.“ Bergold aber schüttelte nur den Kopf.

 

„Schon gut, ich habe verstanden. Entschuldigt nur, wenn mir solches Denken nicht so leicht fällt wie euch. Ich bin eine Welt der Vernunft und Logik gewohnt.“

„Das ist doch hier nicht anders.“ meinte Eeza. „Die Gesetze der Natur sind hier anders, ja, aber deswegen sind sie nicht unlogisch.“

„Für mich schon.“ murmelte Will, doch er merkte, dass die Anderen es gehört hatten, also räusperte er sich und fuhr hastig fort: „Jedenfalls… Ich werde mich daran erst gewöhnen müssen. Das ist nicht so einfach.“

„Wenn du Hilfe brauchst, sind wir gerne für dich da.“ versicherte ihm Thêl.

 

Will nickte zufrieden. Er freute sich, es zu hören, auch wenn es nicht das erste Mal war. Aber es war immer wieder eine Erleichterung.

Mit diesen Worten endete die Versammlung. Alle waren zufrieden, dass eine Antwort auf ihre Fragen gefunden wurde. Dass sie nun genau wussten, was sie als nächstes zu tun hatten. Auch wenn keiner davon sprach, so war dies eine ihrer größten Ängste: an einen Punkt zu gelangen, an dem sie nicht mehr weiter wussten. So weit in ihrem Vorhaben zu gehen, dass sie nicht mehr zurück konnten, und doch keine Ahnung hatten, wie sie vorwärts kommen sollten.

Sie zweifelten zwar, dass es jemals so weit kommen würde, doch die Möglichkeit war immer in ihren Gedanken. So waren sie froh, dass diese Gefahr für den Moment gebannt war.

 

Sie bedankten sich bei Berond und Bergold für ihre Gastfreundschaft, und vor allem bei Maias Gari für sein Wissen und seinen Rat. Dieser bot ihnen an, auch weiterhin mit Antworten zur Verfügung zu stehen, wenn sie sie brauchen sollten.

 

Doch so zufrieden sie auch waren, es wurmte sie ein wenig, dass sie nicht gleich aufbrechen konnten. Nicht weil sie so darauf versessen waren, sich in Gefahren zu stürzen, sondern weil ihnen Bessain entsetzlich fremd war. Im Vergleich zu Cestilla war die Stadt düster, kalt und abweisend. Es war klar, dass Leute, die Zuflucht suchten, weniger Wert auf Spaß als auf Sicherheit legten. Doch es schien so gut wie nichts zu geben, womit man sich hier die Zeit vertreiben konnte. Es gab eine Bibliothek, in der man sich bei einem guten Buch entspannen konnte. Aber keiner der Vier konnte sich vorstellen, dass das auf Dauer genügen würde.

 

 

Als sie durch die engen Korridore Bessains spazierten und die Stadt erkundeten, fiel ihnen auf, wie sehr die Bewohner miteinander plauderten und lachten. Niemand schien sich alleine die Zeit zu vertreiben. Vielleicht war dies das Geheimnis, mit dem die Bessainer die Langeweile vertrieben: menschliche Kontakte. Es war ein simples Konzept, doch es machte Sinn. In eine Gruppe gab es immer etwas zu bereden, man machte Witze, brachte Ideen ein… Die Notwendigkeit menschlicher Gesellschaft wurde hier deutlicher als an jedem anderen Ort.

 

Trotzdem konnte sich keiner der Vier vorstellen, für längere Zeit hier zu leben. Der Mangel an frischer Luft und Sonnenlicht sowie die engen Korridore waren verstörend und hinterließen bei ihnen ein seltsames Gefühl. Sie hatten den Eindruck, sie würden vielleicht wahnsinnig werden, wenn sie sich zu lange hier aufhalten würden. Der Gedanke, bald wieder an die Oberfläche zu gehen, half ihnen sehr, die Düsternis der Stadt zu tolieren.

 

 

Doch es kam ihnen auch eine recht betrübliche Überlegung in den Sinn: Wenn sie schon nach so kurzer Zeit das Gefühl hatten, verrückt werden zu können, was war dann mit den Leuten, die schon Jahre hier lebten? Die Menschen machten einen normalen Eindruck, doch sie hatten auch mit niemandem gesprochen. Nur mit Maias Gari sowie mit Berond und Bergold, doch die waren geistig stärker. Man konnte nie wissen, was solch bedrückende Lebensverhältnisse bei gewöhnlichen Individuen anrichten können.

Vielleicht war vielmehr dies der beste Weg, sich zu beschäftigen. Welch bessere Möglichkeit, der Langeweile zu entfliehen, als im Wahnsinn? Auf eine perverse Art und Weise war dieser Gedanke logisch.

Andererseits, vielleicht taten sie den Leuten Unrecht. So musste es nicht jedem gehen. Vielleicht konnte man sich an solche eine Lebensweise gewöhnen. Sie beschlossen, erst dann über die Bewohner zu urteilen, wenn sie sie besser kennen gelernt hatten.

 

 

 

 

Thêl entschloss sich dazu, die Tage zu nutzen und Will ein wenig den Schwertkampf näherzubringen. Nun, da sie ein wenig Zeit hatten, und Bessain über einen Übungsraum verfügte, war die perfekte Gelegenheit dafür. Will erklärte sich damit einverstanden.

 

Der Übungsraum war überraschend groß. Er war fast quadratisch, mindestens fünfzehn Meter breit und etwa halb so hoch. Es gab viel Platz, um sich zu bewegen. Am Boden waren überall weiche Matten aus Stroh ausgelegt. Es gab ein paar Stühle und Tische, und darauf waren Kannen mit Wasser bereit gestellt. An den Wänden standen große und kleine Gestelle mit Schwertern, Schilden und Bogen. Die Waffen waren einfach gehandhabt; manche aus Eisen und manche aus Holz. Es war offensichtlich, dass sie nie für den Krieg, sondern stets nur als Übungswaffen gedacht waren.

In der Mitte des Raumes stand eine Attrappe in grob menschlicher Gestalt. Sie bestand aus Säcken, die mit Stroh gefüllt waren. An den Füßen und den Armen war sie am Boden und an der Decke befestigt. An den Wänden waren hölzerne Zielscheiben, die viele Löcher, Kratzer und andere Spuren des Gebrauchs aufwiesen. Eine der Wände war mit einem großen Banner behängt: ein weißes Schwert auf blauem Hintergrund. Es war ein imposantes Symbol, das dem Raum eine gewisse Bedeutsamkeit verlieh.

 

„Ein ganz schön üppig eingerichteter Raum für so eine arme Stadt.“ meinte Will, als er voll Erstaunen die Übungshalle betrachtete.

„Das liegt daran, dass es für Männer gesetzlich verpflichtend ist, dass sie ab einem bestimmten Alter den Schwertkampf lernen, und Frauen die Heilkunst.“ erklärte Thêl. „Aber natürlich dürfen auch Frauen die Kriegskunst erlernen, wenn sie das möchten. Das bleibt jedem selbst überlassen. Aber eines von beiden, Schwert- oder Heilkunst, muss jeder lernen.“

„Tatsächlich?“

„Ja, und wenn du mich fragst, ist das eine sehr gute Sache. Krieg… tja, Krieg kann es immer geben, jederzeit. An jedem neuen Tag kann sich irgendein König entschließen, dem anderen den Krieg zu erklären. Und wenn das passiert, sollte man vorbereitet sein, und seinen Teil dazu beitragen, egal in welcher Form.“

„Das hast du sicher Recht.“ sagte Will. „Bei uns ist das nicht so von Belang. Bei uns ist nur die Medizin enorm wichtig. Ohne sie… na ja, Ärzte retten jeden Tag viele Menschen. Sie sind lebensnotwendig, im wahrsten Sinne des Wortes. Aber niemand verlangt von uns, dass wir das Kämpfen und Töten lernen.“

„In dem Fall, mein Junge, kannst du dich nur glücklich schätzen.“ entgegnete Thêl mit einem Seufzer.

 

Zu Beginn hatte Will einige Probleme, sich an das Schwerttraining zu gewöhnen. Er war den Umgang mit einer Waffe nicht gewöhnt. Die Klinge wog schwer in seiner Hand, und es kostete ihn viel Mühe, damit Bewegungen auszuführen. Es verwunderte ihn, denn im Kampf gegen den Drachen war es ihm ganz anders gegangen. Doch dort hatte er auch mit einem anderen Schwert gekämpft; noch dazu mit einem, das magisch war. Damals hatte das Schwert die Kontrolle, und nicht umgekehrt. Erst jetzt merkte er, wie schwierig der Umgang mit so einer Waffe eigentlich war. Seine Begeisterung, dies zu lernen, ließ dadurch nach. Er war sich nicht sicher, ob es ihm jemals wirklich gelingen würde.

 

Doch diese Einstellung änderte sich recht bald. Thêl war ein guter Lehrmeister. Er ließ Will sich erst einmal an das Schwert gewöhnen, bevor er ihm die Grundlagen des Kampfes lehrte. Will übte oft stundenlang an einem Tag an der Attrappe. Es war anstrengend und zehrte an seinen Kräften, doch entgegen all seiner Vorstellungen machte es ihm sogar Spaß. Er hatte seine Freude daran, vor allem, als er merklich besser wurde. Er lernte schnell. Thêl brachte ihm bei, wie man richtig zuschlug, wie man das Schwert zur Deckung benutzte, welche Körperteile sich für effektive Treffer eigneten und wie man sich richtig bewegte.

 

„Du darfst niemals zögern. Sieg oder Niederlage können von einem einzigen kleinen Augenblick bestimmt werden. Also denke stets an dein Schwert, und an das deines Gegners, und an sonst nichts.“

 

Als er fand, dass Will die Grundlagen beherrschte, da entschied sich Thêl dazu, selbst mit Will zu kämpfen. Er meinte, dass es ihm mehr nützen würde, wenn er gegen einen richtigen Gegner antrat. Schließlich wehrte sich eine Attrappe nicht.

Natürlich hielt sich Thêl zurück, und sie kämpften auch nur mit Holzschwertern, damit er Will keine ernste Verletzung zufügte. Trotzdem gewann Thêl jedesmal mit Leichtigkeit. Will ärgerte es nicht, denn er lernte viel aus einer Niederlage. Er beobachtete sich selbst und was er falsch machte, und er bemühte sich, es beim nächsten Mal besser zu machen. Mit der Zeit dauerte es immer länger, bis Thêl ihn besiegte.

 

Schließlich wollte auch Duncan von Thêl lernen, damit auch er nicht hilflos war.

 

„Traust du dir das wirklich zu?“ meinte der Krieger und lachte.

„Warum denn nicht?“ erwiderte Duncan. „Ich bin vielleicht nicht so gut wie du, doch ich habe dir genug zugesehen. Ich könnte einen Troll niederschlagen.“

„Wie du meinst. Doch du solltest folgendes beachten: Zum Kampf gehört nicht, die Kraft eines Hiebes zu vergeuden, indem man darüber spricht. Harte Worte bieten wenig Schutz gegen Stahl.“

 

Nun hatte Thêl also zwei Schüler. Er unterwies beide und kämpfte auch gegen beide, oder er ließ sie gegeneinander antreten. So lernten Will und Duncan am meisten, von sich selbst, aber auch vom anderen.

 

Doch Thêl lehrte die Jungen nicht nur über den Angriff.

 

„Angreifen und zuschlagen ist nicht alles.“ sagte er. „Viele Krieger konzentrieren sich zu sehr auf den Schlag und nicht genug darauf, Schläge abzuwehren. Der geeignete Weg in der Schlacht ist dich zu verteidigen, und deinen Gegner nur dann zu schlagen, wenn der geeignete Moment kommt.“

 

Dies verstanden Will und Duncan nicht sofort. Sie begriffen den Sinn dahinter, aber nicht, wie sie es in der Praxis anwenden sollte. Darum versuchte Thêl, es ihnen verständlicher zu machen:

„Denkt beim Kampf an einen Spiegel. Achtet auf eures Gegners linken Arm, wenn ihr mit eurem rechten zuschlagt. Wenn er sich vorbereitet, euren Schlag zu blocken, schlagt nicht zu. Warum unnötig Energie verschwenden? Aber wenn ihr seht, wie sein rechter Arm sich anspannt, dann hebt euren Schild mit deinem linken. Wisst ihr, es kostet zweimal so viel Energie, einen Schlag auszuführen, als einen Schlag abzuwehren. Wenn euer Auge erkennen kann, ob euer Gegner von oben zuschlägt, oder aus einem Winkel, oder in einem Haken von unten, dann lernt ihr euch zu drehen und das Schild zu eurem Schutz in die richtige Position zu bringen. Man kann stundenlang blocken wenn nötig, aber es braucht nur ein paar Minuten oder sogar Sekunden für euren Gegner, einen Raum für euren eigenen Schlag offenzulassen.“

 

Damit konnten die beiden Jungen etwas anfangen. Es machte Sinn, nicht unnötig Energie zu verschwenden. Es kostete viel Kraft, mit dem Schwert umzugehen. Das war ein Nachteil, doch es konnte auch zum eigenen Vorteil genutzt werden.

 

„Er trifft euer Schild tausende Male, und ihr trefft sein Herz nur ein Mal. Das ist genug.“ fügte Thêl hinzu.

 

Mit diesem Wissen ausgestattet, ließ er Duncan und Will auch mit Holzschilden kämpfen. Je länger die Ausbildung dauerte, umso seltener kämpfte Thêl selbst. Lieber ließ er die beiden Jungen gegeneinander antreten. Sie hatten beide dasselbe Maß an Wissen, und sie lernten viel mehr von sich selbst, als wenn sie gegen einen erfahreneren Gegner antraten. So konnten sie auch sich eigene Techniken ausdenken, statt einfach die Tricks eines Anderen nachzuahmen.

 

Mit jeder Stunde, die verging, wurden sie besser. Beide, sowohl Will als auch Duncan, zeigten Talent. Natürlich wurden sie den wenigen Tagen, die ihnen zur Verfügung standen, keine richtigen Krieger, und nie würde Thêl es wagen, sie so in die Schlacht zu schicken. Doch sie lernten dazu, und es deutete alles darauf hin, dass sie mit der Zeit richtig gut werden würden. Es lag vor allem daran, dass sie einfach Spaß hatten.

 

 

 

So verging die Zeit recht schnell, aber ereignislos. Die vier Gefährten vertrieben sich die Zeit mit Lesen und dem Schwerttraining, und obwohl es wenig Abwechslung gab, war es doch eine ruhige und friedliche Zeit, und dessen waren sie nicht abgeneigt. Es tat gut, die Sorgen ein wenig zu vergessen.

 

Doch es war nicht alles Eitel Sonnenschein.

Auf einem ihrer Spaziergänge durch Bessain trafen Duncan und Will auf zwei andere Jungen, die etwa im selben Alter zu sein schienen. Will, der sich gerne auch einmal mit Gleichaltrigen unterhalten wollte, begann ein Gespräch mit ihnen. Doch dies sollte er schnell bereuen.

 

Die zwei Jungen wirkten auf den ersten Blick recht nett. Einer von ihnen war Will äußerlich recht ähnlich. Sie hatten beide dieselbe Größe, dieselbe Statur, und dieselben Augen. Der fremde Junge hatte auch, genau wie Will, einen Kinnbart. Jedoch war sein Haar rotbraun.

   Der Andere hatte eine imposante Erscheinung. Er war um fast zwei Köpfe größer als die anderen Jungen. Er war von breiter Statur, hatte breite Schulter und für sein Alter enorm kräftige Muskeln. Er hatte einen strengen Blick, und machte Duncan und Will fast ein wenig Angst.

 

Der kleinere Bursche stellte sich als Bane vor, und der große als Stone. Dies waren jedoch nur Decknamen, die sie gewählt hatten, um in Aramar nicht aufzufallen. Denn es stellte sich heraus, dass sie aus derselben Welt wie Will und Duncan stammten. Ihre richtigen Namen waren Jakob Brandt und Konrad Stein. Sie kamen ursprünglich aus Deutschland, doch wurden sie vor über einem halben Jahr nach Aramar geholt, in der Hoffnung, dass sie die Auserwählten seien. Doch dem war nicht so, und genau wie bei Will wagte man es nicht, sie nach Hause zurückzuschicken.

Es verwunderte nicht, dass die beiden sehr verärgert darüber waren.

 

Will wollte sich mit den Beiden über dieses und jenes unterhalten, doch dieses Unterfangen stieß bei ihnen nur auf Ablehnung.

 

„Versuch nicht, nett zu uns zu sein. Wir wissen genau, wer du bist.“ sagte Bane mit hasserfüllter Stimme. „Oh ja, wir wissen, dass du der Auserwählte bist.“

Will war schockiert, als er dies hörte. So gut hatten er und seine Kameraden versucht, dies geheimzuhalten. „Woher wisst ihr das?“ fragte er entsetzt.

„Man könnte sagen, das Wort macht die Runde. Doch… Nein, das wäre übertrieben. Die Wahrheit ist, wir haben euch einfach belauscht.“

„Wie? Was? Belauscht? Ihr meint… Ihr seid uns nachgeschlichen? Habt unsere geheimen Gespräche mit angehört? Gespräche, die wirklich niemanden etwas angehen außer uns? Was soll das? Wie könnt ihr so etwas tun?“

 

Anstatt eine Antwort darauf zu bekommen, schnellte Stone nach vorne und packte Will am Hals. Mit nur einer Hand hob er ihn empor, bis seine Füße nicht mehr den Boden berührten. So konnte Will nur mit den Beinen zappeln und sich an dem Arm, der mehr wie ein Baumstamm war, festhalten.

„Was glaubst du eigentlich, wer du bist?“ knurrte Stone zornig. „Was glaubst du? Dass du uns etwas zu sagen hast? Du glaubst, dass… Was? Dass du etwas Besonderes bist? Besser als alle anderen? Und doch halte ich dich hier mit nur einer Hand, ohne irgendwelche Zauberkräfte oder ähnlichen Mumpitz, und du kannst nichts tun. Wie erbärmlich.“

 

Auf die Bitte von Bane hin ließ er Will allerdings gleich wieder los. Unsanft landete er auf Boden und rang nach Atem. Stone grunzte nur wütend.

„Mach das doch noch einmal, wenn ich es kommen sehe.“ brummte Will, während er sich wieder aufrappelte. Er klopfte sich den Staub ab und tat einen tiefen Atemzug. „Jetzt mal ernsthaft: Was zur Hölle soll das? Ich kenne euch nicht einmal. Was ist euer Problem?“

„Tja… Wie soll ich das sagen? Wir kennen dich auch nicht gut. Aber wir haben dich lange genug beobachtet, um zu wissen, dass du ein Feigling bist.“ sagte Bane.

„Ein Feigling? Wieso?“

„Na, weil du so an dir zweifelst. Weil du herum überlegst, zögerst, und lieber herumjammerst, anstatt einfach zu tun, was man von dir erwartet.“

„Anstatt… Wie bitte? Jetzt erzähl mir nicht, dass du es tun würdest, einfach so, wenn du in meiner Situation wärst.“

„Ja. Ja, das würde ich.“ sagte Bane schroff. „Ich würde tun, was getan werden muss. Egal, was nötig ist.“

„Findest du das nicht etwas… übertrieben?“

„Überhaupt nicht. In einer Lage wie dieser, in der so viel auf dem Spiel steht… Es geht hier schließlich um die Rettung eines ganzen Landes. Es sind ungewöhnliche Zeiten, die erfordern ungewöhnliche Maßnahmen. Und wenn es dem Zweck dient… na ja, dann muss man es eben tun. Darum kann ich dich nicht leiden, alles klar? Nur darum. Würde es nach mir gehen… Wäre das möglich… Ich würde dir deine Rolle als Auserwählter aberkennen.“

 

In diesem Moment wurde Will alles klar. „Ich verstehe. Darum geht es also. Du versauerst hier seit Monaten, kommst nicht nach Hause zurück… und ich wurde sofort erwählt. Du wärst gerne ein Held gewesen, nicht wahr? Stattdessen wurdest du völlig grundlos aus deinem Leben gerissen und kannst jetzt hier dein Dasein fristen. Und plötzlich komme ich und werde von allen als Held gefeiert. Natürlich macht dich das ziemlich wütend. Fast hätte ich Mitleid mit dir. Aber du bist ein zu großer Mistkerl, als dass du es verdienst hättest.“

„He, he, pass auf, was du sagst, klar?“ knurrte Bane drohend.

„Schon gut. Ich habe es verstanden. Du bist ein echter harter Kerl. Ihr beide. Aber weißt du was? Ich habe mir dies nicht ausgesucht, verstehst du? Ich wollte nie ein Held sein. Aber es ist so gekommen, und ich lebe damit. Also wenn du auf jemanden wütend bist, dann auf das Schicksal… oder Gott… oder wer auch immer dafür verantwortlich ist. Ich bin es nicht. Ich wollte das nie.“

„Na, jetzt fange ich aber gleich an zu heulen.“ sagte Bane verächtlich und kicherte.

„Ja. Nein… He, nein. Weißt du, ich habe dich durchschaut. Typen wie dich kenne ich gut. Du, du… wenn du mit einem Problem konfrontiert bist, dann wählst du die beste und einfachste Lösung, die dir in den Sinn kommt. Ganz egal, wie brutal sie ist, oder wie viele Leute dabei leiden müssen. Dir fehlt es an Einfühlungsvermögen, an Taktgefühl, an Bedachtheit… So  darf jemand nicht sein, dem ein ganzes Land zur Verantwortung fällt. Man muss eine Lösung finden, bei der niemand verliert. Du… du kannst doch keinen Wald retten, indem du jedes Menschen tötest, der einen Baum fällen möchte. So etwas geht einfach nicht. Na ja, mag sein, dass du das Herz am rechten Fleck hast. Aber es gehört mehr dazu. Etwas Hirn könnte auch nicht schaden.“

 

Und mit diesen Worten drehte sich Will um und ging einfach. Er wollte nicht mehr weiterreden. Er wollte kein Wort mehr von Bane oder Stone hören. Er wollte sie nicht mehr ansehen müssen. Er hatte einfach genug von ihnen.

Stone bekam ein hochrotes Gesicht und wollte Will attackieren, doch Bane hielt ihn zurück. Ein verschmitztes Lächeln kam über seine Lippen. Aber das bekam Will nicht mit, und es kümmerte ihn auch nicht.

 

Wütend stapfte er den Korridor entlang. Duncan lief neben ihm, und er lachte.

„Weißt du, ich habe keine Ahnung, wer dich auserwählt hat.“ sagte er. „Doch in Momenten wie diesen, da denke ich, dass es die richtige Entscheidung war.“

 

 

Dieser Vorfall trübte Wills Stimmung. Er versuchte, Bane und Stone so gut wie möglich aus dem Weg zu gehen, und es gelang ihm auch größtenteils. Doch jetzt mehr denn je missfiel es ihm, sich in Bessain aufhalten zu müssen. Es erinnerte ihn zu sehr an daheim, an die Schule, wo es einige gab, die ihn genauso behandelten. Er hatte so sehr gehofft, dass er diesem Übel entgangen war. Dass er in Aramar davor seine Ruhe hatte. Doch es schien, als würde ihn dies überall hin verfolgen. Es war zum Verzweifeln. Wie sollte er ein mutiger Held sein, wenn ihn bereits solche Kleinigkeiten aus der Verfassung brachten?

 

Jetzt hoffte er, dass sie möglichst bald aufbrachen. Wenn er mit seinen Gedanken allein war, dann fühlte er sich oft eingesperrt und hilflos. Er vermisste die Sonne und grüne Wiesen. Jeden Tag, den sie länger in Bessain blieben, wurde er schwermütiger.

 

Er versuchte, sich daran hochzuziehen, dass sie Bessain bald verlassen würden. Auch wenn er nicht sagen konnte, wohin sie ihre Schritte lenken würden, so führten sie doch unweigerlich aus der Stadt hinaus. Dies war ein schöner Gedanke, und er machte ihm Mut.

 

Jedoch verging Wills Trübsal nicht. Zumindest nicht dann, wenn er alleine war. Wenn er den Schwertkampf übte, oder sich mit anderen unterhielt, dann hob sich seine Stimmung und er war fröhlich. Dies musste ihm genügen. Die Aussicht, bald wieder frische Luft atmen zu können, war Hoffnung genug.

 

 

 

Doch es gab eine Sache, die allen vier der Gefährten Sorgen bereitete. Es war Balraun. Seit sie in Bessain angekommen waren und er sich etwas die Beine vertreten wollte, hatten sie ihn nicht mehr gesehen. Das Seltsame war, dass sie sein Bett jedesmal zerwühlt vorfanden, als sie in der Frühe aufstanden. Zweifellos schlief er darin, doch niemand bemerkte es. Den ganzen Tag über sahen sie ihn kein einziges Mal, ganz egal, zu welcher Zeit oder an welchem Ort. Er tauchte zu den Mahlzeiten im Speisesaal nicht auf, und egal, wo sie nach ihm suchten, er war nicht zu finden. Selbst als sie manche der Bewohner nach ihm fragten und ihn beschrieben, erhielten sie keine Antwort. Niemand hatte ihn gesehen.

 

Die Frage war: Konnte ihnen keiner helfen, oder wollte es niemand? Es war vielleicht ein abwegiger Gedanke, aber vielleicht wussten manche der Leute etwas, doch sie verbargen Balrauns Aufenthaltsort, aus welchen Gründen auch immer. Vielleicht trieb Balraun finstere Dinge, von dem niemand wissen sollte.

 

Andererseits, welche Gründe hatten sie, ihm so etwas zuzutrauen? Er hatte bisher nichts getan, was solche Anschuldigungen rechtfertigte. Sie konnten nicht sicher sein, dass er böse Absichten hegte. Er war ein seltsamer Mann, schroff und grob, aber das allein bedeutete gar nichts. Wahrscheinlich wollte er einfach nur seine Ruhe haben, weiter nichts.

 

Sie überlegten, ob sie weiter nach ihm suchen sollten, oder dass einer von ihnen nachts wach blieb, um mit ihm zu sprechen, wenn er ins Zimmer zurückkehrte. Am Ende entschieden sie sich aber dagegen. Sie waren der Ansicht, dass sie ihm als ihr Gefährte etwas Vertrauen entgegen bringen mussten. Außerdem würde Balraun sich sicher aufregen, dass sie ihm nachspionierten, und das wollten sie vermeiden.

 

 

 

Seit ihrer Ankunft in Bessain waren nun vier Tage vergangen. Es war eine ruhige, aber auch langweilige Zeit. Mittlerweile wünschte sich jeder, dass sie endlich weiterziehen konnten. Sie wussten nicht genau, wie lange sie bleiben sollten. Sie dachten sich, dass Maias Gari vielleicht sagen würde, wann er eine Abreise für angebracht hielt. Doch darauf wollten sie nicht warten. Sie waren gewillt, eine Woche zu bleiben, dann würden sie aufbrechen.

 

Es war der späte Morgen des fünften Tages. Will und Duncan schliefen noch tief, während Thêl und Eeza bereits munter waren. Da sie keine Verpflichtungen hatten, standen sie erst dann auf, wenn sie munter wurden. Dies war einer der wenigen Vorteile, hier zu sein: Sie konnten ausschlafen. Aber spätestens zu den Mittagsstunden stand jeder von ihnen auf, freiwillig oder unfreiwillig. Thêl wollten die Zeit in Bessain für das Schwerttraining nutzen, und niemand war daran interessiert, Zeit zu verschwenden. Darum weckte Thêl, der selten lange schlief, die Jungen auf, sie aßen etwas, und übten dann weiter mit der Klinge. Es war eine recht gemütliche Zeit.

 

Doch an diesem Tag sollte alles anders werden.

 

 

Während die Knaben noch schliefen, klopfte es plötzlich an der Türe ihres Zimmers. Es war ein schnelles und heftiges Hämmern; so laut, dass Will und Duncan unweigerlich davon wach wurden. Sie grummelten und stöhnten und schälten sich langsam aus ihren Betten.

Eeza öffnete währenddessen die Türe. Zur allgemeinen Überraschung standen Berond und Bergold draußen. Ihre Gesichter waren unruhig, und sie atmeten schwer. Aufgeregt stürmten sie ins Zimmer und schlossen die Tür sofort hinter sich. 

 

Bevor einer der Vier fragen konnte, was los sei, sagte Bergold atemlos: „Ihr müsst hier weg! So schnell wie möglich!“

„Oder schneller als möglich, das wäre sogar noch besser.“ fügte Berond absurderweise hinzu.

„Ganz langsam. Was ist denn los?“ fragte Eeza.

„Es geht um euren Freund. Er… Ihr müsst hier weg.“ sagte Berond.

„Jetzt sagt uns doch einfach, was los ist.“ meinte Thêl.

„Euer Freund… Dieser große, wuchtige Kerl mit den roten Haaren und dem Bart…“

„Ach, Ihr meint Balraun? Was ist mit ihm? Ist ihm etwas zugestoßen?“

„Ganz im Gegenteil, fürchte ich.“ keuchte Berond. „Er… er hat jemanden ermordet!“

 

„Bitte was? Was sagt Ihr?“ rief Thêl erschrocken aus. „Balraun… Nein, das… Ich hoffe, Ihr habt Beweise für solche Anschuldigungen.“

„Also, ich… Wir waren nicht dabei, als es tat.“ erwiderte Bergold. „Doch die Indizien sprechen leider gegen ihn. Man fand die Leiche einer Einwohnerin, einer jungen Dame, in ihrem Zimmer, mit Dolchstichen in ihrem Rücken und nur einem roten Schuh am Fuß. In einem anderen, leeren Zimmer fand man euren Freund. Er lag schlafend auf dem Boden. Rund um ihn waren lauter leere Flaschen, und er… nun, in seiner rechten Hand hielt er ein blutiges Messer, und in der linken einen roten Schuh.“

„Ein… das… nein, das kann nicht sein.“ sagte Eeza fassungslos. „Ich kann es nicht glauben. Vielleicht… vielleicht soll es so aussehen, als hätte er es getan. Vielleicht will ihm das jemand anhängen. Jemand, der gegen ihn oder gegen uns einen Groll hegt.“

„So könnte es sein, doch allein die Logik sagt etwas anderes.“ meinte Berond.

„Schaut, was Berond damit sagen will, ist, dass es so gewesen sein könnte oder so.“ fügte Bergold hinzu. „Ich für meinen Teil kenne ihn zu wenig, um mir ein Urteil zu bilden. Es sieht so aus, als wäre er der Täter. Wenn ihr jedoch sagt, dass er so etwas nicht tun würde, will ich das glauben. Aber es geht nicht darum, mich zu überzeugen, sondern die anderen Leute. Man fand euren Freund vor einer knappen Stunde, und noch kümmern sie sich um ihn. Es wird aber nicht mehr lange dauern, dann kommen sie zu euch. Sie wissen, dass er mit euch hier angekommen ist. Man wird euch genauso verdächtigen. Man wird vielleicht sagen, dass der Mord eure Idee war, und er ihn nur ausgeführt hat. Ich weiß, dass dem nicht so ist. Ich weiß das. Aber die Leute… Es wird schwer, sie zu überzeugen.“

„Langsam verstehe ich…“ sagte Eeza, doch Bergold fuhr gleich fort.

„Ja. Darum sind wir hier. Maias Gari hat uns geschickt. Er meint, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass ihr als die Komplizen eures Freundes verurteilt werdet. Ihr seid Fremde. Ihr werdet es kaum schaffen, die Leute zu überzeugen, dass ihr unschuldig seid. Welche Beweise habt ihr auch, dass ihr nichts damit zu tun hattet? Was wollt ihr sagen? Dass ihr zusammen mit dem Auserwählten unterwegs seid, um die Welt zu retten? Wer würde euch das glauben? Auch unser Wort oder sogar das von Maias Gari würde in diesem Fall nichts nützen. Man wird euch dafür verurteilen, dass ihr den Frieden der Stadt gestört habt. Aber… Das geht nicht. Das geht einfach nicht! Ihr könnt nicht im Kerker versauern. Ihr habt eine Aufgabe, und die ist wichtiger als alles andere. Darum sind wir hier. Um euch das zu sagen. Ihr müsst hier weg!“

 

Eeza seufzte. Er ließ sich das Szenario durch den Kopf gehen. Es war eine miese Sache, egal von welcher Seite man es auch betrachtete. „Ich weiß nicht… Das…“ murmelte er. „Wir… Vielleicht sollten wir zu den Leuten gehen und alles erklären.“ Er sah Thêl, Duncan und Will an, so als würde er sie nach ihrer Meinung fragen. Sein Blick blieb auf Will hängen, und dann sagte er mit entschlossener Stimme: „Nein. Nein, das geht nicht. Ihr habt Recht, Bergold, diese Sache ist zu wichtig. Was habe ich mir nur gedacht? Es missfällt mir zwar, einfach davonzulaufen, aber es geht nicht anders. Wir müssen weg, so schnell wie möglich. Was meint ihr dazu?“

 

Diese Frage war an Thêl, Will und Duncan gerichtet. Die stimmten Eeza zu. Sie waren alle der Meinung, dass dies die einzige Lösung war. Duncan und Will waren sogar ein wenig erfreut, denn nun konnten sie die Stadt endlich verlassen und hatten keinen Grund mehr, länger hierzubleiben.

 

Auch wenn es eine schlimme Sache war. Am allerwenigsten gefiel es ihnen, Balraun einfach hier zurückzulassen. Er war schließlich ein Gefährte und ein Verbündeter. Er war kein Freund, aber es schmerzte sie trotzdem. Doch was war, wenn es stimmte? Wenn er tatsächlich ein Mörder war? Es erschien ihnen unwahrscheinlich, aber das hieß nicht, dass es unmöglich war. Vielleicht war er betrunken gewesen und tat es nicht mit Absicht. Das schmälerte aber nicht die Tat und machte den Mord nicht ungeschehen.

 

 

Die vier Freunde packten ihre Sache, so schnell sie konnten. Währenddessen hielten Berond und Bergold Wache und passten auf, dass sie keiner der Bewohner erwischte. Doch das Glück war ihnen hold, und sie wurden nicht gestört.

 

Danach führten sie Berond und Bergold zum nächsten Ausgang. Anstatt den großen kreisförmigen Gang zu nehmen, der in der Mitte von Bessain um den Ratsaal führte, eilten sie durch einen Korridor hinter den Zimmern, der durch den Trainingsraum ging und dann noch weiter.

Nach dem Übungsraum teilte sich der Weg; geradeaus verlief er in die Vorratskammer, und links davon verlief ein schmaler Gang zum Ausgang. Diesen schritten Berond und Bergold entlang, und die vier Freunde hinterher. Zuerst ging es ein kleines Stück gerade, dann bog der Korridor nach rechts ab, und nach einer Weile noch einmal nach rechts. Danach, nach einem letzten geraden Weg, lag die Joma-Tür, hinter der sich die Leiter an die Oberfläche befand.

 

Als sie die steinerne Türe erreichten, da erschraken sie. Vor ihr standen zwei Gestalten. Zuerst glaubten sie, ertappt worden zu sein. Doch es stellte sich heraus, dass es Bane und Stone waren, die auf sie warteten. Sie lehnten lässig an der Wand.

 

„Wird auch Zeit, dass ihr kommt. Was hat euch so lange aufgehalten?“ sagte Bane salopp.

„Was soll das? Was wollt ihr zwei?“ sagte Thêl mit strenger Stimme. „Lasst uns vorbei.“

„Euch vorbeilassen? Das könnten wir tun. Oder wir machen uns bei den Leuten beliebt und verraten euch. Tja… Was meinst du?“ fragte Bane Stone, doch dieser lachte nur.

„Lasst uns doch einfach passieren. Was wollt ihr?“ fragte Thêl noch einmal.

„Das ist eine gute Frage.“ kicherte Bane. „Was wir wollen, ist mit euch mitzukommen.“

„Bitte? Ihr wollt uns begleiten? Warum das denn?“ fragte Eeza erstaunt.

„Ganz einfach: Wir halten es hier unten nicht mehr aus. Es ist einfach unerträglich.“ brummte Bane. „Wir wollen an die frische Luft. Wir wollen einfach nur raus hier. Aber allein ist das unmöglich. Wir kennen das Passwort nicht, um diese Türen zu öffnen. Ihr seid unsere einzige Chance.“

„Na schön, das sehe ich ein. Aber wenn ihr mit uns hinausgeht, warum zieht ihr dann nicht eurer eigenen Wege? Ihr müsst ja nicht mit uns kommen.“

„Eigene Wege? Ihr seid witzig. Wohin sollen wir den gehen?“ erwiderte Bane verbittert. „Wir sind hier fremd. Wir kennen hier niemanden. Wir könnten einfach in irgendeine Richtung marschieren, und hoffen, dass wir in ein Dorf oder eine Stadt kommen, bevor uns das nächste Monster umbringt. Nein, nein danke. Wir wollen das nicht. Wir wollen nur nach Hause. In unsere Welt. Aber wir wissen, dass das nicht möglich ist, wegen diesem Beléssan. Aber ihr… Ihr seid doch unterwegs, um ihn zu töten, nicht wahr? Also kommen wir mit und helfen euch. Denn dann könnten wir auch wieder nach Hause. Erzählt mir nicht, ihr braucht nicht jede Hilfe, die ihr kriegen könnt.“

„Nein, das stimmt schon. Aber wie können wir euch vertrauen?“ fragte Eeza.

„Indem ihr bedenkt, dass euer Ziel auch in unserem Interesse ist. Wenn wir euch helfen, ist auch uns geholfen. Genügt euch das denn nicht?“

Eeza überlegt einen Moment. „Ich gebe zu, das ist wahr. Ich meine, es könnte ein Fehler sein, aber… Na gut, ihr dürft mit uns kommen. Aber ich sage euch gleich, wenn ihr unser Vertrauen brecht, dann werden wir euch wegschicken. Das ist kein Spaß, denn unsere Sache ist sehr wichtig, und wir können kein unnötiges Risiko eingehen. Ihr bekommt eine Chance. Aber wirklich nur eine.“

 

Damit erklärten sich Bane und Stone einverstanden. Somit schlossen sie sich der Gruppe an. Sie hatten bereits Rucksäcke mit Schlafsäcken und allerlei nützlichen Dingen dabei, so als hatten sie schon vorher gewusst, dass ihre Bitte erfüllt werden würde. Vielleicht aber auch nur, weil sie dies so sehr wollten und daher sicher waren, dass sie Eeza überzeugen würden.

 

Will überlegte, ob er etwas sagen sollte. Ob er zum Ausdrucken bringen sollte, wie sehr er dagegen war, dass die beiden sie begleiteten. Er hatte sie schließlich schon einmal kennen gelernt, und er wusste, dass sie keine netten Kumpels waren. Aber andererseits, er war der Auserwählte, und er musste über solchen Dingen stehen. Ihre Mission war zu wichtig, und außerdem konnten sie tatsächlich jede Hilfe brauchen, die sie bekamen. Wer weiß, vielleicht konnte er sich doch irgendwie mit den beiden anfreunden. Der Weg war noch lang, und alles war möglich.

 

 

Nachdem die Formalitäten erledigt waren, gaben Bane und Stone den Weg frei. Eeza öffnete die Joma-Tür, mit denselben Worten, mit denen er die Türe bei ihrer Ankunft geöffnet hatte. Die Hälften der Türe fuhren auseinander, und dahinter wartete schon die Leiter, die an die Oberfläche führte. Sie befand sich in einem kleinen, runden Raum und war von zwei Fackeln beleuchtet. Es war eine ziemlich genaue Kopie des Raumes, in dem sie angekommen waren.

 

Sie verabschiedeten sich sehr herzlich von Berond und Bergold und dankten ihnen für all ihre Hilfe. Thêl fragte die beiden, ob sie nicht auch mitkommen wollten. Doch sie lehnten ab, da Maias Gari ihrer Hilfe sehr bedürftig war und sie ihn nicht im Stich lassen wollten. Aber sie sagten auch, dass sie sich vielleicht vor dem Ende noch einmal wiedersehen würden.

 

 

Thêl war der Erste, der die Leiter hinaufstieg. Er hatte sich von Eeza den Schlüssel geborgt, mit dem er ein Schloss aufsperrt, das an einer schweren, eisernen Falltür angebracht war. Danach ließ sie sich leicht nach unten aufziehen. Gleich hinter dem Loch, das dadurch entstand, war etwas, das wie ein großer Stein aussah, und das den Ausgang blockierte. Thêl drückte dagegen, und mit etwas Mühe ließ es sich wegdrücken. Wie eine Tür klappte es zur Seite. Endlich war der Weg nach draußen frei.

 

Thêl steckte seinen Kopf durch die Öffnung. Ein kühler Wind strich ihm um den Kopf. Sogleich sah er sich um, ob er irgendjemanden entdecken konnte. Zu seiner Erleichterung war niemand in der Nähe. Sodann fiel sein Blick auf das Objekt, das das Loch versperrt hatte. Er war überrascht zu sehen, dass es tatsächlich ein Stein war. An dessen Seite waren Scharniere angebracht, und so konnte er wie eine Türe auf- und zugeklappt werden. Die Scharniere waren mit Flechten bewachsen, sodass sie einem beim ersten Blick gar nicht auffielen. Thêl lächelte über die Genialität dieser Konstruktion.

 

 

Thêl kletterte schließlich aus dem Loch, und dann hieß er den Anderen, dass es sicher war und sie herauskommen konnten.

 

Einer nach dem anderen kletterten sie die Leiter hinauf und an die frische Luft. Eeza war der letzte. Er winkte noch einmal Berond und Bergold, die aufpassten, dass sie nicht in den letzten Momenten noch jemand erwischte. Danach zog Eeza die Luke zu und versperrte sie, und Thêl drückte den Tür-Stein wieder zu. Mit einem lauten Rummsen fiel er auf den Boden, und verbarg jegliches Anzeichen einer Stadt.

 

 

Tief und genussvoll atmeten sie die frische Luft ein. Ein kalter und starker Wind wehte, doch das störte sie überhaupt nicht. Die Luft, der Anblick des Himmels und das grüne Gras unter ihren Füßen waren ein himmlisches Gefühl. Sie genossen den Moment. Es war Tage her, dass sie sich so wohl gefühlt hatten.

 

Schließlich machten sie sich auf den Weg nach Süden, zum Mirdare-Wald. Sie mussten gar nicht überlegen, wo Süden lag, denn der Wald lag fast direkt vor ihnen. Nur einige weite Felder und Wiesen lagen dazwischen. Der Wald war so groß und mächtig, dass es unmöglich war, ihn nicht zu finden, selbst wenn sich in Aramar absolut nicht auskannte.

 

Während sie gen Süden marschierten, warf Will noch einen letzten Blick auf den Steinhaufen, unter denen der Eingang nach Bessain lag. Nichts deutete darauf hin, dass sich dort unter der Erde eine Stadt befand. Es war wirklich genial. Jemand, der nicht wusste, wo sie lag, würde sie niemals finden. Klar, das war auch der Sinn der Sache. Aber wenn man es nicht selbst sah, könnte man fast nicht glauben.

 

Schließlich seufzte Will und ging dann weiter, seinen Gefährten nach.

„Nun ja, das war also Bessain.“ sagte er. „Ganz nett. Gutes Essen. Aber das Zimmer war mies, und über die Freizeitgestaltung will ich gar nicht reden. Ich hoffe nur, das nächste Hotel ist ein bisschen besser.“

Die Gruppe entschloss sich, für ein paar Minuten eine Pause zu machen. Manch einer bekam langsam Kopfschmerzen, und sie mussten ihre Gedanken sammeln und sich konzentrieren, bevor ihre Hirne zu zerplatzen drohten.

Berond und Bergold brachten etwas zur Erfrischung. Sie servierten süßes Gebäck und ein Getränk, dass sich Mellen nannte. Es war eine Mischung aus Wasser und Honig, das zwar sehr süß, aber auch äußerst erfrischend war.

 

Nach dieser kurzen Rast wurde das Gespräch fortgeführt. Diesmal war es Will, der den Anfang machte.

 

„Ich denke, wir sollten endlich über das sprechen, was uns… na ja, zumindest mir seit Tagen keine Ruhe lässt.“ Er hielt kurz inne und überlegte, wie er sein Anliegen am besten formulieren sollte. „Ihr wollt, dass ich Beléssan töte. Nun gut, über diese Tatsache brauchen wir nicht weiter zu diskutieren. Aber… Die Frage ist doch: wie? Ich meine… Von Anfang an habt ihr mir gesagt, wie stark und schrecklich Beléssan ist. Doch von mir erwartet ihr, dass ich ihn töte. Nun gut, dann lasst mich euch fragen: Wie soll ich das anstellen? Wie soll solch ein… unmögliches Unterfangen gelingen?“

„Fürwahr, eine sehr gute Frage, und von größter Wichtigkeit obendrein.“ erwiderte Eeza schelmisch. Es freute ihn wohl, dass Will sich tatsächlich mit solchen Themen auseinandersetzte. „Glaube nicht, dass wir uns das nicht schon überlegt hätten. Es wäre närrisch, dies nicht zu tun.“ Er räusperte sich kurz. „Es ist, wie wir dir gesagt haben. Beléssan verfügt über eine mächtige und alte Magie.“

„Und mit einer Magie wie der seinen verhält es sich folgendermaßen: Sie kann nur von anderer Magie vernichtet werden, die älter ist als sie selbst. Verstehst du? Nur ein Zauber, der älter ist als der von Beléssan hat gegen ihn eine Chance.“ erklärte Maias Gari.

„Na schön. Aber was bedeutet das?“ fragte Will.

„Es bedeutet, wir brauchen eine Magie, die älter und somit mächtiger ist als die Beléssans.Das Problem ist, dass wir nicht genau wissen, wie alt seine Magie ist. Also müssen wir uns eines Zaubers bemächtigen, der älter ist als der Krieg gegen die Drachen. Denn da war Beléssan ja noch ein gewöhnlicher Mensch.“

„Am Besten wäre wohl ein magisches Schwert, denke ich. Waffe und Zauber in einem.“ fügte Eeza hinzu.

„Ein magisches Schwert? Aber haben wir so eines nicht?“ meinte Will.

„Du meinst deinen Drachentöter, Calagar? Nun ja, ein paar Dinge sprechen gegen es.“ erwiderte Eeza missmutig. „Zum Einen ist es ein Drachentöter, und Beléssan ist kein Drache. Weil… Drachentöter sind nur gegen Drachen besonders stark, aber gegen alles andere nicht außergewöhnlicher als andere Schwerter. Zum Anderen… nun, es ist am Besten, du merkst es selbst.“

 

Mit diesen Worten winkte Eeza Bergold zu. Dieser ging zu einer kleinen Kammer, die sich am Rand des Saals befand. Das Licht der Fackeln beleuchtete sie nur schlecht, und so konnten die Anderen nur einen Kasten erkennen, und sonst nichts. Bergold nahm etwas, was darauf lag, und kam dann sofort wieder zurück zum Tisch.

 

In seinen Händen trug er das Schwert, mir dem Will in Cestilla den Drachen erschlagen hatte. Der Junge erkannte es sofort. Mehr noch, als er es erblickte, da fühlte er in ihm eine starke Begierde. Er wollte es unbedingt fühlen; den kalten Stahl in den Händen spüren, und die Macht, die in ihm war.

Wie erfreulich war es da, als Bergold ihm den Griff des Schwertes hinhielt und ihm gebot, aufstehen und es zu nehmen.

 

 

Will zögerte keine Sekunde. Er stand von seinem Stuhl auf und packte den Griff mit fester Hand, und dann zog er das Schwert mit einer einzigen schnellen Bewegung aus der Scheide. Sofort strömte Energie durch seinen Körper. Es war unbeschreiblich. In diesem Moment fühlte er sich munter und stark, und voller Kraft. Er hätte Bäume ausreißen, Monster erschlagen und viele ähnliche Dinge tun können, so mächtig fühlte er sich.

 

Trotzdem war es seltsam. Es fiel ihm schwer es zu beschreiben, aber er fühlte sich immer noch wie er selbst. Er konnte sich erinnern, dass es damals in Cestilla anders war. Dort war es, als würde das Schwert von ihm Besitz ergreifen und die Führung übernehmen. Nun fühlte er sich stark, aber ansonsten völlig normal.

 

Darauf angesprochen, erklärte Eeza: „Das ist nicht verwunderlich. Cestilla wurde von dem Drachen angegriffen. Allein deswegen hat dich das Schwert zu sich gerufen. Hier aber, in diesem Moment, gibt es keine Gefahr. Darum wird das Schwert auch nicht… nun ja, aktiv. Es macht dich stark und kampfbereit, doch ohne Kampf ist es nicht nötig, dass es seine volle Stärke entfaltet.“

 

„Ich verstehe.“ meinte Will. „Tja, aber… Was ist denn nun das Problem, von dem ihr spracht? Warum kann ich es nicht gegen Beléssan einsetzen?“

„Ja, das… Es ist schwer, das zu erklären, bevor du es selbst merkst. Am Besten, du machst einfach ein paar Bewegungen mit dem Schwert. Nichts besonderes, nicht viel. Einfach, was dir gerade in den Sinn kommt.

 

 

Will überlegte kurz, und schlug dann mit dem Schwert zu, in die Luft, mit etwas Abstand zu den Anderen, damit er niemanden unabsichtlich verletzte. Er führte einen zuerst einen vertikalen Schlag aus, von oben nach unten. Dem folgte ein waagerechter Schlag, von links nach rechts. Man konnte hören, wie die scharfe Klinge die Luft durchschnitt. Zum Schluss stieß er mit dem Schwert noch kräftig nach vorne, so als würde er auf einen Gegner einstechen.

 

Er musste zugeben, dass er selbst erstaunt war, mit welcher Leichtigkeit er die Klinge führte. Seine Hiebe waren schnell und kräftig, aber gleichzeitig auch bedacht und zielsicher. Es war bemerkenswert, welch Fähigkeiten ihm das Schwert verlieh. Würde er es nicht selbst erleben, so würde er es wohl nicht glauben können.

 

Aus diesem Grund verstand er auch nicht, was Eeza gegen das Schwert hatte. Es war dafür gemacht, Drachen zu töten, ja, aber zweifellos war es mächtig. Er sah keinen Nachteil daran.

 

Aber dann, als Will auf eine Erklärung wartete, fiel ihm etwas auf. Etwas war nicht in Ordnung. Nicht mit dem Schwert, sondern mit ihm selbst. Er fühlte sich erschöpft. Schlapp. Es war, als wäre er gerade 100 Meter in vollem Sprint gelaufen. Sein Herz klopfte wild, und sein ganzer Körper brannte. Schweiß rann seine Stirn herab. Zuerst verstand Will nicht, wieso. Er war kein Athlet, aber auch nicht in so einem schlechten körperlichen Zustand, dass drei Schwerthiebe ihn so auszehrten.

Schließlich wurde es ihm klar. Es war das Schwert. Kein Zweifel. Wie sonst sollte man dies begründen? Irgendwie schien ihm das Schwert die Energie zu rauben. Jetzt erst recht verlangte er eine Erklärung von Eeza.

 

 „Nun hast du es am eigenen Leib erfahren, nicht wahr? Wortwörtlich.“ sagte der Alte, nachdem sich Will mit etwas Mellen gestärkt hatte. „Es… ist nicht ganz so einfach zu erklären. Aber es ist eine Eigenschaft, die alle Drachentöter besitzen. Im Kampf rauben sie ihrem Benutzer langsam die Kraft und Energie; solange, bis man in Ohnmacht fällt. Während des Kampfes merkt man nichts davon. Einerseits, weil einen der Wille und die Konzentration wach hält, und andererseits, weil das Schwert selbst nicht will, dass man bewusstlos wird und dann schutzlos dem Gegner ausgeliefert ist. Na ja, aber trotzdem ist diese Sache ein zweischneidiges Schwert…“ Er musste kurz über dieses Wortspiel lachen. „Jedenfalls… Je länger man die Klinge benutzt, umso mehr Energie saugt es ab. Du kannst dich doch noch erinnern, wie du nach dem Kampf gegen den Drachen zwei Tage bewusstlos warst.“ Will nickte. „Wie lange hast du gekämpft? Fünfzehn, oder zwanzig Minuten? Jetzt stell dir vor, was passiert, wenn du länger kämpfst. Eine Stunde oder mehr. Es kann sogar sein, dass man stirbt. Das ist vor Jahren schon einmal passiert.“

Will bekam große Augen. „Ist das wahr? Das hättet Ihr mir aber früher sagen können.“

„Nun, ich wollte dir keine Angst machen. Aber jetzt sage ich dir die volle Wahrheit. Du kannst das Schwert gegen Beléssan einsetzen. Vielleicht würdest du ihn damit sogar besiegen. Aber ein solch heftiger Kampf würde mit ziemlicher Sicherheit dazu führen, dass dich das Schwert tötet. Vielleicht könntest du damit siegen, doch du würdest dein Leben verlieren. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du das möchtest.“

 

Will seufzte tief und blickte ins Leere. „Solche Geschichten gibt es viele. Der Held besiegt das Böse, nur um dabei selbst zu Grunde zu gehen. Nun ja. Als Held sterben… Das ist bewundernswert. Doch es ist nichts, was ich für mich selbst möchte. Nicht solange es andere Möglichkeiten gibt.“ Er sah Eeza an. „Die gibt es doch, nicht wahr?“

Eeza nickte. „Ja, keine Angst. Darüber haben wir natürlich nachgedacht.“

„Wir haben vielerlei Nachforschungen angestellt.“ erklärte Maias Gari. „Wir sind uns sicher, dass es zwei Waffen gibt, die für dieses Vorhaben in Frage kommen würden. Die alt und mächtig genug sind, um gegen Beléssan etwas ausrichten zu können.“

„Das klingt vielversprechend.“ meinte Will. „Erzählt mir davon.“

 

„Nun ja, wie gesagt, es sind zwei Waffen.“ begann Maias Gari. „Eine davon ist ein magischer Dolch, bekannt als der Athame von Gelgelar. In Aramar ist dieser Name recht bekannt. Dir sagt er freilich nichts, das ist klar. Das macht aber nichts. Also, Gelgelar war ein mächtiger Zauberer, obwohl manche behaupten, er wäre ein Nekromant gewesen. Er war es, der diejenigen Menschen testete, die nach Aramar kamen. Dazu muss man wissen, dass Aramar früher oft und gerne von Menschen aus anderen Welten besucht wurde. Damals pflegte man den Umgang mit anderen Welten und Kulturen, in der Hoffnung, daraus etwas zu lernen. Doch niemand achtete wirklich darauf, wer aller nach Aramar kam. So brachten die Leute bald Unzucht, Faulheit, Trunkenheit und andere Laster in unser Land. Um dem Einhalt zu gebieten, wurde nach einer Lösung gesucht. Gelgelar war es, der diese Lösung brachte, in Form seines Athame. Es hatte die Fähigkeit, zwischen gut und böse zu unterscheiden.“

„Tatsächlich? Das klingt interessant. Wie das?” fragte Will neugierig.

„Indem man es einer Person ins Herz stach.“ erwiderte Maias Gari.

„Was!? Man hat sie getötet!?” rief Will entsetzt aus.

„Aber nein. Nein, nein, überhaupt nicht. So einfach ist das nicht. Hör zu.“ sagte Maias Gari   beschwichtigend. „Ich sagte doch, der Athame war ein magischer Dolch. Damit konnte man nicht einfach auf jemanden einstechen und ihn umbringen. Große Macht wohnte dieser Klinge inne. Sie konnte… fühlen, ob eine Person gut oder böse war. Stach man eine gutherzige Person, so passierte gar nichts. Kein Leid geschah ihr. Doch wurde eine Person gestochen, die böse Absichten im Herzen trug, so tötete der Athame sie sofort. Manche würden es radikal nennen, doch es war eine narrensichere Methode, um die Spreu vom Weizen zu trennen. Verstehst du?“

„Ja, natürlich, das verstehe ich. Doch wie würde uns das gegen Beléssan helfen?“

„Liegt das denn nicht auf der Hand?“ sagte Thêl. „Beléssans Herz ist voll von Bosheit und Arglist.“

„Ja, und wenn jemand ihn mit dem Athame stechen würde, so würde ihn das Messer sofort töten.“ fügte Eeza hinzu. „All unsere Probleme wären gelöst, durch einen einfachen Stich.“

„Das klingt doch gut.“ meinte Will freudig. „Also, wo liegt das Problem.“

„Das Problem, junger Freund, ist den Athame in unseren Besitz zu bringen.“ erwiderte Maias Gari Gari. „Das, fürchte ich, ist der schwierige Teil.“

„Wieso, wo ist es?“

Maias Gari seufzte. „Beléssan selbst hat es.“    

„Was!?”    

„Ja, leider. Er ist kein Narr. Nachdem er an die Macht kam, da brachte er den Athame in seinen Besitz. Er stahl in aus dem Grab von Gelgelar, wo er lag, seit er nicht mehr benutzt wurde. Dann versteckte er ihn, tief in seiner Festung, damit keines lebendes Mannes Hand ihn je nehmen kann.“

„Das… das ist großartig.“ meinte Will sarkastisch. „Aber… Wieso hat er den Dolch nicht zerstört?“

„Ganz einfach: Er konnte es nicht. Die Magie, mit der der Athame geschaffen wurde, ist weit älter als er selbst. Wie wir bereits gesagt haben, ist sie daher mächtiger. Er kann den Athame nicht einfach entzwei brechen.“

„Na gut, aber er hätte ihn doch irgendwo anders verstecken können. In einer Höhle, oder einer alten Ruine, nicht wahr?“

„Das hätte er wohl, ja. Aber dann bliebe die Möglichkeit, dass ihn jemand findet und gegen ihn benutzt, so gering sie auch sein mag. Und das ist ein Risiko, dass er nicht einzugehen wagt. Doch wenn der Dolch in seiner Nähe ist, in seiner Festung, an einem bewachten und schwer erreichbaren Ort, ist es so gut wie sicher, dass er nicht gegen ihn verwendet wird. Und natürlich bedeutet das, dass er ihn jederzeit selbst benutzen kann. Eine Tatsache, die ihn noch gefährlicher macht, als er schon ist. Denn nur ein Mann mit reinem Herzen könnte seiner Macht widerstehen. Doch wo würden wir einen solchen Mann finden, in solch dunklen Zeiten?

 

 

„Schon gut, ich sehe es ein. Der Dolch ist keine Option.“ sagte Will. In seiner Stimme war Enttäuschung hörbar. „Aber was ist mit der anderen Waffe, von der Ihr spracht?“

„Ah ja, das Schwert Nera. Vielleicht hast du davon gehört. In neueren Schriften wird es Ney-Ya genannt, warum auch immer. Vielleicht denkt man, es klingt besser.” erklärte Maias Gari etwas abfällig.

„Ney-Ya… Der Name kommt mir bekannt vor. Ich glaube, ich habe in einem Buch über magische Waffen darüber gelesen. Was stand dort…?“ Will versuchte sich zu erinnern, doch es fielen ihm nur Brocken ein. „Angeblich kann man damit im Kampf nicht verlieren, oder so ähnlich.“

„Ja, das ist etwas plump formuliert, aber im Grunde trifft das zu. Nera… oder Ney-Ya… ist wahrscheinlich das mächtigste Schwert, das es gibt. Es wurde aus dem Bruchstücken von Larech geschmiedet, dem magischen Stab des Sonnendrachen. Du kennst die Geschichte von  Aramar?“ fragte Maias Gari Will, und dieser bejahte. „Gut. Dann weißt du vielleicht noch, wie der Stab Larech beim Kampf zwischen dem Sonnendrachen und Dagat zerbarst. Diese Bruchstücke wurden viele Jahre später von einem Schmied namens Draughon gefunden. Er brachte die Stücke ihn seinen Turm, und zusammen mit dem Magier Lathaïr schmolz er sie ein und schmiedete ein Schwert. Der Zauberer verlieh ihm die Macht, seinen Träger unbesiegbar zu machen. Es konnte die Bewegungen seiner Gegner vorausahnen, und in der Schlacht konnte es seinem Träger stets die beste Taktik flüstern. Sie nannten es Nera. Draughon und Lathaïr schenkten dieses Schwert dem damals herrschenden Großkönig, der Aramar zu vielen Siegen führte. Alles schien wunderbar. Doch erst zu spät bemerkten seine Erbauer, was sie da geschaffen hatten. Jeder wollte dieses Schwert haben. Die Leute gierten geradezu danach. Manche hätten dafür sogar getötet. Dreimal entging der Großkönig einem Mordanschlag. Nun, und die, die es nicht für sich selbst haben wollten, befürchteten, der König könne zu mächtig werden. Schließlich konnte Draughon den König überreden, das Schwert abzutreten, damit der Schmied es verstecken konnte. Er verbarg es an einem Ort, von dem niemand wusste. Er brachte es ihn eine Höhle, und dort ließ er es vom Drachen Amon bewachen. Dies fand man freilich erst später heraus, als man zufällig auf die Höhle stieß. Man fand eine Truhe, deren Deckel Draughon Siegel zierte. Doch da war es bereits zu spät. Der Drache Amon war tot, erschlagen, und das Schwert Nera verschwunden.“

 

Will seufzte laut, doch in darin schwang auch ein Lachen mit. „Das hatte ich befürchtet. Es war zu erwarten, dass das Schwert nicht so einfach zu beschaffen ist. Denn… na ja, ich nehme an, es wurde seitdem nicht gefunden.“

Maias Gari schüttelte enttäuscht den Kopf. „Nein, leider nicht. Es tauchte nicht wieder auf, und niemand weiß, wo es sich befindet.“

„Zu dumm. Und man hat keinen Verdacht, wer es besitzen könnte. Beléssan vielleicht?“

„Nein, sicherlich nicht. All dies geschah vor seiner Zeit. Und selbst wenn er es doch hat, warum hat er es bisher nicht benutzt? Er ist niemand, der solch ein mächtiges Werkzeug besitzt und vorgibt, es nicht zu haben. Er ist sehr… direkt und geradeheraus, was seine Fähigkeiten betrifft.“

 

 

Daraufhin schwieg Will erstmal. Es gefiel ihm nicht, was er da hörte. Er hatte sich irgendwie erhofft, dass seine Aufgabe leicht werden würde. Es war eine törichte Hoffnung, und freilich war es zu erwarten gewesen, dass dem nicht so ist. Aber jetzt, wo er all dies hörte, schien es ihm übermäßig kompliziert. Erneut war er erfreut darüber, dass er all dies nicht alleine tun musste. Er hätte sich allein ja noch nicht einmal alles merken können.

 

„Also, dieses Schwert… Ney-Ya. Oder… Nera, genau. Egal. Wie schwierig ist es zu finden, denkt ihr? Ist es denn überhaupt möglich?“ fragte er schließlich.

„Schwierig? Ja. Unmöglich? Nein.“ antwortete Maias Gari. „Ihr müsst… na ja, jedem Hinweis nachgehen, in dem die Rede davon ist, dass ein magisches Schwert gefunden wurde, oder zumindest ein Außergewöhnliches. Denn am Aussehen werdet ihr es nicht erkennen. Draughon war schlau genug, Nera wie ein ganz gewöhnliches Schwert aussehen zu lassen.“

„Und wie sollen wir es dann erkennen?“ fragte Duncan.

„Ihr könnt das gar nicht.“ sagte Maias Gari. „Für gewöhnliche Menschen wirkt es wie ein normales Schwert. Haltet ihr es in Händen, wird es sich seltsam anfühlen. Bemerkenswert, Außergewöhnlich… Zumindest würdet ihr es so beschreiben, doch ihr hättet keine Ahnung warum. Doch Menschen, die mit Magie etwas vertrauter sind, werden sofort feststellen, dass es sich um ein verzaubertes Schwert handelt. Menschen wie Eeza oder ich, wir besitzen diese Fähigkeit.“

„So ist es.“ fügte Eeza hinzu. „Wenn wir also ein besonderes Schwert finden, so werde ich uns sagen können, ob es sich um Nera handelt. Das sollte kein Problem sein.“

„Dann habt Ihr ja doch einen Nutzen.“ grummelte Thêl, leise, aber die Anderen schienen es trotzdem mitbekommen zu haben. Sie waren aber höflich genug, nicht darauf einzugehen.

 

„Das ist ja alles schön und gut.“ fuhr Will schließlich fort. „Aber was nützt uns das, wenn wir nicht einmal wissen, wo wir zu suchen anfangen sollen?“

Daraufhin lachte Maias Gari. „Nun ja, zum Glück für euch seid ihr mit diesem Problem zu mir gekommen. Ich kann euch zwar nicht sagen, wo Nera versteckt ist, doch ich kann euch Hinweise geben. Euch womöglich… in die richtige Richtung lenken. Wisst ihr, Bergold hat vor einigen Tagen… Nein, eine Woche ist es her. Vor einer Woche hat Bergold mit einem Reisenden gesprochen, der aus dem Mirdare-Wald gekommen ist. Dieser hat ihm erzählt, dass die Waldmenschen in Lassarna zwei Schwerter erhalten haben. Woher, wusste er nicht. Er hat berichtet, dass er sie nur kurz begutachtet hatte, doch sie kamen ihm ganz außerordentlich vor, obwohl sie wie gewöhnliche Schwerter ausgesehen hatten. Er konnte nicht erklären, warum.“

„Meint Ihr, dass eines davon Nera ist?“ sagte Will. Ein Hoffnungsschimmer leuchtete in ihm auf.

„Ich meine gar nichts. Doch die Chancen sind groß. Die Kunst, magische Schwerter als gewöhnliche zu tarnen, wurde zwar öfter angewandt, doch nicht so oft, dass es nicht nur eine gewisse Anzahl einschließt. Ich denke, wenn ihr nach Nera suchen wollt, dann solltet ihr dort beginnen.“

 

 

„Dann ist ja wohl klar, wohin uns unserer Reise führt.“ sagte Eeza. „In den Mirdare-Wald,

nach Lassarna. Seid ihr auch dieser Meinung?“

 

Die Anderen stimmten dem zu. Maias Gari hatte ihnen wieder etwas Hoffnung gemacht. Sie hatten ein klares Ziel und ein klares Vorhaben, und damit hatte ihre Reise auch wieder einen Zweck.

 

Nur Will war sich nicht ganz sicher.

„In den Wald? Ist das nicht… Bin ich nicht dort gelandet? Damals? Wo mich dieses Monster angegriffen hat?“

„Der Setarkoid, meinst du? Ja, das ist richtig.“ sagte Thêl. „Ich weiß, damals haben Duncan und ich dich gerettet. Das war sicherlich kein schöner Empfang. Machst du dir deswegen Sorgen?“

„Ein wenig, ja.“

„Verständlich. Aber keine Sorge, Setarkoiden wagen sich nur äußerst selten an den Waldrand. Meist hausen sie tief im Zentrum des Waldes. Und selbst wenn wir einem begegnen, dann werden wir doch schon beschützen. Keine Sorge.“

„Aber vielleicht ist dies gar nicht notwendig.“ warf Eeza ein. „Ich habe mir gedacht, vielleicht könntet Ihr, Thêl, dem Jungen den Schwertkampf beibringen. Zumindest wenn wir ein wenig Zeit haben. Das wäre sicher klug. Überlegt doch: Es geht nicht, dass er sich nur auf den Drachentöter verlässt. Nicht nur, weil er ihm bei zu langem Gebrauch schaden kann. Aber bedenkt, was passiert, wenn er das Schwert verliert, oder es ihm weggenommen wird. Dann wäre er hilflos. Das darf nicht sein. Er darf sich nicht nur auf dieses eine Schwert verlassen. Was meint Ihr dazu?“

„Ich hasse es, das zuzugeben, aber ihr habt wohl Recht.“ erwiderte Thêl. „Ja, gut, ich werde ihn ausbilden. Bist du einverstanden?“ fragte er Will.

„Ja.“ meinte dieser. „Wenn Ihr es für richtig haltet…“

 

 

Dann herrschte erstmal wieder Schweigen. Jeder überlegte, was es noch zu bereden gäbe. Welche wichtigen Informationen für die bevorstehende Reise noch ausgetauscht werden müssten. Doch offenbar hatte Maias Gari nur eines, was ihn beschäftigte.

 

„Und, Junge? Bist du auch wirklich bereit für dieses Unterfangen?“ fragte er Will.

„Wie? Was? Ich?“ Will war im ersten Moment überrascht über diese Frage. „Ich…? Äh… Wie… Wie meint Ihr das…?“

„Ich meine nur, du scheinst noch immer Zweifel zu haben. Zumindest habe ich so den Eindruck.“

„Ja, das mag schon sein. Ja. Ich weiß, ich… tut mir leid.“

„Aber dafür brauchst du dich doch nicht zu entschuldigen. Du wirst immer Zweifel haben. Das ist so. Bis zum Ende deiner Mission. Du wirst immer an dir zweifeln. Das ist völlig normal, und auch in Ordnung. Wichtig ist nur… aber das weißt du wahrscheinlich selbst… dass du diese Zweifel überwindest.“

„Das weiß ich. Ich bemühe mich. Ich weiß auch, dass ich all dies nicht alleine machen muss, und das machst es besser. Ich verspreche, ich werde mein Bestes geben, egal was passiert.“ Will sagte dies etwas steif und gezwungen, so als wäre er in der Schule bei einem Test. Trotzdem war alles, was aus seinem Mund kam, ehrlich und ohne Ausflüchte.

„Gut. Dann gibt es dazu nichts mehr zu sagen.“ Ein zufriedenes Lächeln kam über Maias Gari Garis Lippen.

 

„Doch eine Sache noch.“ fuhr Maias Gari plötzlich fort und wandte sich dabei an Eeza und Thêl. „Wie werdet ihr von hier nach Lassarna reisen? Nach Süden, nehme ich an.“

 

Dabei stand er auf und ging zu dem kleinen Raum, aus dem Eeza vorhin das Schwert geholt hatte. Er kehrte mit einer Papierrolle zurück, die er auf dem Tisch aufbreitete. Es war eine Karte von Aramar. Das Papier war alt und zum Teil schon vergilbt, doch alle Linien und Worte, die darauf eingezeichnet waren, waren deutlich zu erkennen.

   Die Gruppe beugte sich über die Karte und studierte sie. Auch Berond und Bergold betrachteten sie. Berond nahm sofort eine philosophische Haltung ein und ließ seinen strengen Blick über die Karte schweifen, obwohl er eigentlich keine Ahnung hatte, worum es überhaupt ging.

   Will konnte hierbei zum ersten Mal einen Blick auf Aramar als Ganzes werfen. Es war offensichtlich ein Teil eines größeren Kontinents. An der Ostgrenze war es mit einem anderen Land verbunden, doch ging eine dicke Linien von der Nord- bis zur Südküste und trennte so die beiden Reiche. Dies schien die Mauer zu sein, vor der Eeza gesprochen hatte, welche das Land vor Feinden schützen sollte.

   In der Mitte der Karte sah er den Mirdare-Wald, in dem er hier angekommen war und in den sie nun zu gelangen suchten. Er war tatsächlich riesig im Vergleich zum Rest des Landes. Er hatte eine fast ovale Form, doch mit äußerst unregelmäßigen Rändern. Zudem war seine rechte Seite um einiges Größer als die linke.

   Nicht allzu weit östlich des Waldes fand Will ein paar Häuser eingezeichnet, betitelt mit Cestilla. Nach einigem Suchen entdeckte er überhalb der rechten Seite des Waldes auch Bessain. Nun konnte er sich vorstellen, wohin und wie weit sie gegangen waren. Auf der Karte schien es nur ein Katzensprung zu sein, obwohl es ihm um einiges länger vorgekommen war. Er überlegte, was dies für die weitere Reise bedeutete.

 

„Nachdem Lassarna südlich von hier liegt… Ja, das wäre vernünftig.“ antwortete Thêl auf die Frage von Maias Gari. Eeza tadelte ihn dafür, weil er es für eine respektlose Antwort hielt.

„Ja, nun, das stimmt schon.“ erwiderte Maias Gari. „Doch nicht immer ist der direkte Weg der  beste, nicht wahr?“

„In diesem Fall sehe ich kein Problem damit. Ihr etwa?“

„Gewiss nicht. Dieser Weg ist nicht mehr oder weniger gefährlich als andere.“

 

Maias Gari fuhr mit dem Finger den geplanten Reiseweg ab. Will sah ihm zu. Er verlief direkt südlich von Bessain, gerade hinab, bis zu einem Punkt, der mit einem turmähnlichen Symbol gekennzeichnet und mit ‚Lassarna’ betitelt war.

„Ja, richtig. Nach Süden…“ murmelte Maias Gari, als er den Weg nachfuhr. „In den Wald hinein… Durch das Moossteinmoor… Weiter durch den Wald… Und nach Lassarna. Genau.“

 

„Ist das Moossteinmoor ein Problem? Weil Ihr es erwähnt habt.“ fragte Eeza.

„Nein, nicht wirklich. Es… na ja, es ist eben ein Moor. Man kann darin versinken, wenn man nicht aufpasst. Aber das sollte für euch ja kein Problem darstellen.“ Eeza und Thêl verneinten dies. „Ich mache mir mehr Sorgen, dass ihr Anangil zu nahe kommen könntet.“

„Das macht Euch Sorgen? Wir reisen doch viel zu weit östlich, als dass wir ihr jemals begegnen könnten.“ sagte Eeza.

 

„Was ist denn Anangil?“ fragte Will Thêl.

„Eine Spinne, so groß wie ein Haus. Was sie ist… Entweder eine Ausgeburt der Hölle, oder ein schlechter Scherz der Götter. Sie ist eine der gefährlichsten Kreaturen von Aramar.“

„Oh. Und… das… das soll uns keine Sorgen machen?“ fragte Will voller Entsetzen.

„Kaum. Anangil haust etwa hier…“ Thêl zeigte auf den nordwestlichen Teil des Mirdare- Waldes. Ein Spinnennetz war dort eingezeichnet. „Doch wir reisen ja im Osten des Waldes. Wir kommen nicht einmal in die Nähe ihres Unterschlupfes.“

„Na gut. Wenn du das sagst…“

„Ja, keine Sorge.“

„Und… Wenn wir schon dabei sind: Welche Gefahren könnten uns sonst erwarten?“

„Nun ja, womöglich begegnen wir einem Setarkoiden, doch diese Chance ist sehr gering. Dann gibt es da auch noch die sogenannten Átaril, die Großen Waldspinnen. Sie sind die Kinder von Anangil und bauen ihre Netze überall im Wald. Sie können gefährlich werden, doch sie sind um einiges kleiner als ihre Mutter, und leicht zu töten, wenn man weiß wie. Außerdem leben im Wald auch die Todesbäume. Es sind fleischfressende Bäume, die auch Menschen fangen und töten. Sie sind schwer von normalen Bäumen zu unterscheiden, außer man kennt sich damit aus. Sie sind aber nur dann gefährlich, wenn man sie berührt. Ansonsten geht von ihnen keine Bedrohung aus.“

„Also das klingt schon recht unheimlich. Aber du sagst, du kennst dich damit aus. Dann müssen wir keine Angst haben, nicht wahr?“

„Nein, musst du nicht. Ich meine, es wird kein Spaziergang. Doch so wie ich mir das vorstelle, sollte es nichts geben, was eine ernsthafte, unüberwindbare Gefahr darstellt und uns an unserem Vorhaben hindert.“ versicherte Thêl vertrauensvoll, und es beruhigte Will. Erst als dieser ihm keine Aufmerksamkeit schenkte, fügte er noch leise hinzu: „Aber… ich habe mich auch schon mal geirrt…“

 

„Habt ihr alles besprochen?“ fragte Eeza schließlich Thêl.

„Ja, ja, haben wir.“ entgegnete dieser. „Ihr auch? Also, wann brechen wir auf?“

„Nicht sofort. Maias Gari hat mich überzeugt, dass wir noch etwas warten sollten.“

„Ja, das wäre klug. Es besteht nämlich die Gefahr, dass ihr verfolgt wurdet.“ erklärte Maias Gari. „Nicht nur von dem Reiter, sondern auch von anderen Dienern Beléssans. Von solchen, die ihr nicht sehen konntet. Ich befürchte, dass sie wissen könnten, wohin ihr gegangen seid. Sie haben sicher keine Ahnung, dass ihr euch hier in Bessain aufhaltet. Doch wenn sie euch verfolgt haben, und ihr gleich wieder nach oben geht, könnten sie wieder auf euch stoßen. Dann würden sie euch wieder verfolgen, oder gar angreifen. Es ist besser, ihr bleibt noch ein wenig hier, bis die Gefahr vorüber ist.“

„Meint Ihr wirklich? Ist das Risiko wirklich so groß?“ fragte Thêl etwas verstimmt. „Nein, die bessere Frage ist: Wie viel Zeit haben wir?“

„Ach, ihr sollt ja nicht so lange warten. Nur ein wenig. Ein paar Tage.“

Thêl seufzte. „Ich weiß nicht… Aber bitte. Ich denke, Ihr würdet uns keinen schlechten Rat geben. Zumindest hoffe ich das.“

 

„Wenn das also auch geklärt ist…“

„Wartet, eine Frage fällt mir gerade noch ein.“ unterbrach Eeza plötzlich. „Sagt, Maias Gari, besteht die Gefahr, dass im Mirdare-Wald ein paar vom Beléssans Dieners umherstreifen? Ich meine nur, in diesen Zeiten muss man mit so was rechnen, und es wäre gut, wenn wir vorbereitet sind, denke ich. Und nachdem Ihr so etwas wissen könntet…“

„Hmm, nein, dergleichen ist mir nichts bekannt. Davon hätte ich sicher gehört. Nein, sollte sich das in der letzten Woche nicht geändert haben, dann ist dem nicht so.“ Eeza nickte zufrieden, als er dies hörte. „Doch ich habe etwas anderes Interessantes gehört. An den Grenzen von Maaram und Etharo Aduun sollen sich Truppen gesammelt haben. Es sind dort verstärkt Bündlinge und Hauptmänner gesichtet worden. Angeblich hat sich Beléssan dort Außenposten geschaffen. Irgendetwas plant er.“

„Bei den Haria und den Makai? Seltsam, wieso sollte er das tun?“ fragte Eeza verwundert.

„Ich denke, Beléssan ist nervös.“ meinte Thêl. „Die Soldaten der Haria und der Makai sind die besten des ganzen Landes. Sollten sie es wagen, sich gegen ihn zu erheben, wäre das sogar für ihn ein Problem. Ich denke, er will für solch einen Fall vorbereitet sein.“

„Möglich. Ja, da könntet Ihr Recht haben, Thêl.“ erwiderte Eeza. „Aber was sollte Beléssan nervös machen?“

„Liegt das nicht auf der Hand? Haben wir darüber nicht schon gesprochen?“ sagte Thêl und zeigte dabei auf Will. „Wenn sich herumspricht, dass es endlich eine Chance gibt, Beléssan zu vernichten… Nun, da ist ein Aufstand wahrscheinlicher denn je.“

„Und wahrscheinlich auch vergebens. Noch. Aber ihr habt Recht. Irgendwie gefällt mir dieser Gedanke.“

„Also mir nicht.“ sagte Will. „Es gefällt mir nicht, dass all dies nur meinetwegen geschieht. Das ist… einfach merkwürdig.“

„Merkwürdig, ja.“ stimmte Eeza zu. „Ungewöhnlich, und etwas wirklich Großes. Aber es ist gleichzeitig auch etwas, das uns allen Hoffnung macht. Ein Silberstreif an einem Horizont, der bisher mit düsteren Wolken bedeckt war.“

Im Reich der Insekten

Die Sonne brannte vom Himmel. Es war Mittag, und nun war sie am stärksten. Wie ein glühender Feuerball schwebte sie am Himmel, auf dem keine Wolke zu sehen war, und bedeckte das Land mit heißen Strahlen.

Davon bekamen die Gefährten nichts mit. Unter den Ästen und dichten Blättern des Mirdare-Waldes berührte kein Sonnenstrahl den Boden. Sie warf vereinzelte Lichter hindurch, doch es war so geringfügig, dass man davon kaum etwas mitbekam. Es war, als würde der Wald die Sonne aussperren. Als würde er deren Wärme und Licht verabscheuen; so sehr, dass er alles tat, damit die Sonne nicht durch die Bäume drang. Es gelang ihm nicht völlig, denn es war nicht völlig finster, doch er bemühte sich sehr.

Trotzdem gedieh der Wald prächtig. Überall grünte und blühte es, auch ohne den wohltuenden Sonnenschein. Der Wald hat ein Eigenleben, hieß es in alten Geschichten. Er hat eine Seele, und wie ein Mensch kann er wohlwollend oder abweisend sein, und manchmal sogar tödlich. Er hat einen eigenen Willen. Er entscheidet, wer ihn betreten darf und wer nicht. Wer nicht erwünscht ist, der würde den Wald nicht mehr verlassen.

Zumindest wurde es so erzählt. Einige glaubten es, besonders jene Leute, die mit der Natur verbunden lebten. Dazu gehörten die Bauern in den umliegenden Dörfern und die Waldmenschen. Die Bewohner der größeren Städte hielten das allerdings für Märchengeschichten. Es gab wilde Tiere im Wald, die einen töten konnten, sagten sie, doch daran war nichts Mystisches.


Doch niemand konnte abstreiten, dass der Wald voller Leben war.

Der Großteil der Bäume in Mirdare-Wald waren Laubbäume; allen voran Elmaranbäume, die wegen ihrer stabilen Rinde geschätzt waren, und Hornbäume, deren Blätter besonders grün und saftig waren. Dazwischen wuchsen aber auch Nadelbäume; riesige Gewächse mit breiten Stämmen. Tannen und Kiefern gab es, und Eiben, und auch Zwergfichten, die nicht einmal einen Meter hoch wurden.

Viele Bäume hatten gewaltige, weit ausladende Äste, manche von Blättern bedeckt und manche nicht. Sie streckten sich in alle Richtungen. Oftmals war ein Baum schief und gebeugt, und die Äste hingen schlaff herab, als wäre er schon alt und hätte nicht mehr die Kraft, sich aufrecht zu halten. Vereinzelte Äste lagen überall umher, und oft fand man auch Teile von Baumstämmen, zerbrochen und von Moosen und Pilzen überdeckt

Der Waldboden schien es darauf anzulegen, an keinem Ort auszusehen wie an einem anderen. Mal war er bedeckt von kleinen Steinen, nicht größer als eine Faust, und keine Pflanze wuchs dazwischen. Ein anderes Mal lagen große Felsen zwischen den Bäumen umher, wild verstreut, und grün-graue Moose und Flechten überzogen sie. Meistens aber war die Vegetation saftig, grün und üppig. Farne sprossen wie grüne Flügel gen Himmel, und Moos bedeckte den Boden, Steine und Baumstämme. Überall waren Pilze zu finden. Sie wuchsen am Boden in allen Farben, wie der goldgelbe Honigpilz, aber auch an Bäumen, wo sie in großer Höhe an den Stämmen hafteten, als wollten sie hämisch auf ihre Artgenossen herabblicken

Zwischen all den Farnen und Gräsern gab es Unmengen an Blumen. Buschwindröschen bedeckten in gewaltiger Menge den Boden, wie ein Meer aus weißen Blüten. Eine Vielzahl von Lilien wuchsen zwischen Veilchen und Leberblümchen und verströmten einen wunderbaren Duft. Maiglöckchen sprossen dazwischen hervor. Sie alle wurden überragt von Königskerzen, die wie goldene Speere den Wald säumten.

Es gab auch eine Fülle an Kräutern und Brennnesseln, an Hornklee und Sendocksdisteln, die mit silbergrauen Blüten geschmückt waren. Es gab Einbeeren, die wie grüne Zepter waren, umringt von einem Kranz aus Blättern. An den Büschen blühten dunkelblaue Nachtmondkelche, und giftige Tollkirschen, und schwarze, aber genießbare Holmbeeren. Am Boden und an den Bäumen kroch Efeu.


Der Wald war erfüllt mit den Geräuschen wilder Tiere. Vögel zwitscherten in den Baumkronen und sangen fröhliche Lieder. Einmal rief ein Kuckuck, und oft hörten sie das Klopfen von Spechten. Grillen zirpten in der Ferne. Überall knackte es im Unterholz, und manchmal glaubten sie, Schritte zu hören.

Doch sie sahen so gut wie nie etwas. Manchmal flog ein Vogel durch die Baumkronen und verschwand gleich wieder im Dickicht der Blätter. Einmal glaubte Will etwas gesehen zu haben, das einem Eichhörnchen ähnelte, doch es entging seinen Blicken, bevor er es genauer betrachten konnten.
Am häufigsten aber gab es Insekten. Käfer krabbelten an den Bäumen umher, und Bienen und Hummeln brummten von einer Blüte zur nächsten. Hier und da tauchte ein Schmetterling auf und flatterte um die Köpfe der Wanderer, bevor er zur nächsten Blume weiterflog. Spinnen saßen in ihren Netzen, die zwischen Ästen und Halmen gespannt waren.



Die Gefährten spazierten durch den Wald, und Will genoss es. Es wehte nur ein leichter Wind, und die Luft war angenehm kühl. Es war weder gleißend hell noch erdrückend dunkel, da es die Sonne schaffte, ihre Strahlen durch die Bäume zu werfen. Es war eine angenehme und friedliche Atmosphäre. Will liebte die Natur, und er konnte nicht anders, als sich an diesen Augenblicken zu erfreuen. Sie hatten noch eine lange Reise vor sich, und wer konnte schon mit Gewissheit sagen, wie lange diese Ruhe anhalten würde, und ob sie sich nicht bald wieder in Gefahr begaben. Also versuchte Will, die schönen Momente zu genießen, so lange er konnte.

Trotzdem wunderte er sich etwas, denn so wie Thêl den Mirdare-Wald beschrieben hatte, hätte er Düsternis und Nebel und knorrige alte Bäume erwartet, und dass schnell ein gefährliches Untier um die Ecke lugte. Dabei schien das Gegenteil der Fall zu sein. Er konnte sich aber nicht vorstellen, dass Thêl ihn belügen würde, und er hielt es für unvorstellbar, dass er ihm Angst machen wollte. So jemand war er nicht. Wenn Thêl sagte, dass der Wald gefährlich war, dann stimmte das auch.
Aber sie waren auch noch nicht tief in den Wald gelangt. Vielleicht lauerten die Monster und bösen Kreaturen erst im Inneren des Waldes. Vielleicht war es so. Aber es machte Will keine Angst, denn im Moment waren sie nicht in Gefahr, und das genügte ihm.



Leider war nicht alles so angenehm, wie Will das gerne gehabt hätte. Die Umgebung war schön, aber die Gesellschaft war verzichtbar. Es waren Bane und Stone, die Will Sorgen bereiteten. Während sie durch den Wald schritten, ging Duncan hinter ihm, und hinter Duncan dann Bane und Stone. Doch Will war es nicht weit genug weg. Er konnte sie reden hören, und er war sich ganz sicher, dass sie über ihn sprachen. Nicht die ganze Zeit, aber oft. Beweisen konnte er es nicht, aber er war fest davon überzeugt. Er glaubte, seinen Namen zu hören, und das Wort ‚Auserwählter’, und dann Gekicher. So etwas kannte er von seiner Schule; besser, als es ihm lieb war. Wie gern hätte er darauf verzichtet.


Will hasste es, dass Bane und Stone sie begleiteten. Er hasste es. Anders konnte man es nicht ausdrücken. Er hasste es von ganzen Herzen. Dabei hasste er die beiden als Person gar nicht so sehr. Es war vielmehr die Tatsache, dass sie mit ihnen unterwegs waren. Die Frage war: Warum? Wusste er das?

Es war wohl die Tatsache, dass er Bane ein wenig beneidete. Er gab es ungern zu, doch Bane hatte Charakterzüge, die er selbst gerne gehabt hätte. Freilich, er war radikal, gewissenlos, und er kümmerte sich wenig darum, ob Andere durch sein Handeln leiden mussten. Doch er hatte auch den Mut und den Willen, eine Sache durchzuziehen. Will musste sich dazu erst zusammenreißen, und er brauchte das Versprechen Anderer, ihm zu helfen. Bane, da war Will sich gewiss, konnte alleine tun, was man von ihm erwartete, ohne Kompromisse. Deswegen hasste er es, dass er dabei war. Jedesmal, wenn Will ihn sah, wurde ihm vor Augen geführt, wer er hätte sein können, wenn die Dinge anders gelaufen wären.

Das wirklich Schlimme an der Sache war, dass es Bane wahrscheinlich genauso ging. Er wäre gerne der Auserwählte gewesen, doch das Schicksal entschied anders. Für ihn war Will derjenige, der er gerne sein würde, doch niemals sein konnte. Will konnte sich nicht vorstellen, was das für ein Gefühl war, doch er sah ein, warum Bane ihn hasste.

Er wäre fast dazu bereit, Mitleid mit Bane zu haben. Doch dazu hätte dieser ihn anders behandeln müssen. Dafür dürfte er sich Will gegenüber nicht wie ein Mistkerl aufführen. Er dürfte seinen Frust nicht zu Hass werden lassen. Würde er akzeptieren, wie das Schicksal entschieden hatte, so würde er sich nicht nur besser fühlen, er und Will würden sich sicherlich gut verstehen. Aber so war dies unmöglich.

Eigentlich war es tragisch. Will war sich sicher, dass Bane und er unter anderen Umständen Freunde hätten sein können.

Will überlegte, ob er nicht zu vorschnell urteilte, und ob Bane wirklich die Schuld geben sollte. Aber wem sonst? Dem Schicksal? Dem Zufall? Gott? Nichts davon war greifbar. Keinem dieser Dinge konnte er ins Gesicht sehen und es anklagen, und schon gar keine Entschuldigung verlangen.
Eine Entschuldigung… Will lachte innerlich über den Gedanken, Gott zu bitten, sich zu entschuldigen. Aber so absurd das war, die Wahrscheinlichkeit, dass Gott ihn um Vergebung bat, war wesentlich größer, als dass Bane es jemals tun würde.
Bane war ein bequemer Sündenbock. Daran gab es keinen Zweifel. Dabei war er nur jemand, der großes Pech hatte, genauso wie Will. Und anstatt seinen Frust in sich hineinzufressen, ließ er ihn an anderen aus. In diesem Fall eben an Will, und das war zumindest verständlich. Auch wenn es nicht richtig war.


Stone war mindestens genauso interessant wie Bane. Abgesehen davon, dass er aussah, als würde er nichts in seinem Leben tun außer atmen und seine Muskeln trainieren. Aber warum rannte er Bane hinterher wie ein junger Hund? Dumm war er nicht, das war sicher. Er war sehr wohl in der Lage, selbstständig zu denken. Nur warum tat er es dann nie? Vielmehr hörte er auf das, was Bane ihm sagte, und wenn dieser ihm etwas anschaffte, so gehorchte er. Es war denkbar, dass er Will gar nicht hasste, sondern nur, weil Bane es ebenfalls tat.
Vielleicht war Bane gut darin, andere zu manipulieren. Vielleicht war Stone einfach leicht zu manipulieren. Vielleicht aber auch beides.

So oder so, für Will war dies ein beunruhigender Gedanke. Stone hatte jede Menge Kraft; so viel, dass er einen Bären hätte überwältigen können. Doch ihm fehlte der Antrieb, sie in eine Richtung zu lenken. Er konnte viel damit tun, zum Guten oder zum Bösen. Aber es fehlte ihm an Fantasie, an Ideen, um seine Möglichkeiten auszuschöpfen.
Da kam Bane ins Spiel. Er zeigte ihm die Richtung; zumindest die, die seiner Meinung nach richtig war. Diese Tatsache machte Will Angst. Stone vertraute Bane so sehr, dass er wahrscheinlich alles tun würde, was dieser ihm sagte, ohne es zu hinterfragen. Das machte ihn nicht nur zu einer Art Diener. Es machte ihn gefährlich.


Trotz all dieser Dinge hasste sie Will nicht, weil sie sie waren. Sie waren seltsame Personen… Manche würden sagen, unangenehme Zeitgenossen. Aber das allein war nicht das Problem. Damit hätte er leben können.
Nein, er hatte einfach ein schlechtes Gefühl mit ihnen. Irgendetwas war seltsam. Er traute ihnen nicht. Sie hassten ihn, und doch wollten sie unbedingt mit ihnen mitgehen? Eine nette Begründung, aber Will glaubte ihnen nicht. Er war sich sicher, dass da noch mehr dahintersteckte.

Ihm wäre es am liebsten gewesen, dass Eeza die Beiden fortschickte. Er wollte, dass sie verschwinden. Aber was sollte er sagen? „Bitte schickt sie weg. Weg von uns. Wohin? Egal, Hauptsache weg. Einfach irgendwo in die Wildnis. Sollen sie doch alleine zurechtkommen. Warum? Ach, ich vertraue ihnen nicht, und ich mag sie nicht. Kein Grund, einfach nur ein Gefühl.“ Das würde wohl kaum funktionieren.
Warum weder Thêl noch Eeza etwas Seltsames an Bane und Stone fanden, verstand er nicht. Er konnte ihnen aber nur vertrauen. Er konnte nur hoffen, dass sie selbst darauf kamen, oder dass er sich einfach irrte.



Thêl führte die Gefährten über einen Pfad, der quer durch den Wald führte. Es war ein Fußweg, der vom Gewicht vieler Füße flachgetrampelt war. Hier und da waren sogar einige flache Steine zu sehen, die zweifellos von Menschen gemacht waren. Sie waren zum Teil von Moos und Wurzeln überdeckt, was auf ein hohes Alter hindeutete. Aber das musste nicht heißen, dass es Jahre her war, seit jemand hier entlang gegangen war. Das bedeutete einfach nur, dass dies ein Weg war, der sicher und relativ gefahrlos nach Lassarna führte. Dies war ein beruhigender Gedanke.
Eine ganze Weile marschierten die Gefährten durch den Wald, und es gab keine Hindernisse. Nichts bereitete Anlass zur Sorge und Angst, außer dem gelegentlichen Rascheln und Geknurre im Unterholz.

Mit einem Mal aber hielt Thêl an. „Bewegt euch nicht! Kein Wort!“ zischte er. Die Anderen taten, wie ihnen geheißen, doch sie blickten ihn fragend und verwundert an. Als Antwort zeigte er etwas tiefer in den Wald hinein, auf einen Baum. Dort war das Sonnenlicht schwächer, und sie konnten zuerst nur eine Bewegung im Wipfel des Baumes erkennen. Erst, als sie genauer hinsahen, erkannten sie, was es wirklich war. Es war eine Spinne.

Das Erstaunliche an dieser Spinne war ihre Größe: Allein ihr Körper war so groß wie ein Schaf, und durch ihre Beine waren noch einmal doppelt so lang. Der Körper war grau-schwarz, und mit dichten schwarzen Haaren bedeckt. Acht große Augen zeichneten sich auf ihrem Kopf ab, doch sie waren genauso dunkel wie der Rest des Untieres.

Die Spinne saß genau in der Baumkrone, die Beine auf die Äste gestützt. Sie war ein grauenerregender Anblick. Noch schlimmer aber war ihre Beute, an der sie sich gerade labte. Es war ein Mensch. In ihren Vorderbeinen hielt die Spinne den leblosen Körper eines Mannes, der in weiße Fäden gewickelt war. Sie hatte ihre Kiefer in seinen Leib gebohrt, und eine dunkle Flüssigkeit quoll hervor.

Den Gefährten drehte sich bei diesem Anblick der Magen um. Will und Duncan wurde übel. Sie glaubten, sich gleich übergeben zu müssen. Thêl aber gebot ihnen mit einer Geste, still zu sein. Eine seiner Hände ruhte auf dem Griff seinen Schwertes, nur für den Fall.


Die Sechs überlegten gerade, wie sie sich leise davonschleichen konnten, als plötzlich eine zweite Spinne auftauchte. Sie ließ sich geräuschlos an einem Faden durch das Blätterdickicht herab und landete auf dem Baum neben der ersten Spinne.

Als die erste Spinne sie sah, da sträubten sich ihre Haare und sie stieß schrille Zischlaute aus. Sie wirkte fast wie eine Katze, die in Bedrängnis geraten war und mit Drohgebärden reagiert.
Die zweite Spinne, mit solch Aggressivität konfrontiert, tat dasselbe. Auch sie zischte und fauchte, und ihre Kiefer zuckten wild hin und her.

Für einige Minuten standen sich die beiden Kreaturen so gegenüber, zischend und drohend, und auf eine Reaktion der Anderen wartend. Dann plötzlich tat die zweite Spinne eine Sprung nach vorne, auf die Erste zu. Es war ein schneller und plötzlicher Angriff, doch die erste Spinne war genauso schnell. Sie hüpfte schnell zur Seite, und die zweite Spinne prallte gegen einen Ast und plumpste rücklings zu Boden.

Daraufhin sprang die erste Spinne vom Baum, genau auf die Zweite hinauf, und die beiden begannen miteinander zu kämpfen. Es war ein wildes Gerangel, bei dem sich die Beiden hin und her wälzten und versuchten, die andere mit den spitzen Beinen zu kratzen oder mit den Kiefern zu beißen. Grasfetzen und Blätter wirbelten durch die Luft. Für die Gefährten, die dies beobachteten, war es unmöglich, die beiden Spinnen auseinanderzuhalten. Sie sahen sich so ähnlich und der Kampf war so schnell, dass eine Unterscheidung unmöglich war.

Über eine Minute rangen die beiden riesigen Wesen miteinander. Schließlich aber gelang es einer Spinne, die andere zu überwältigen. Sie drückte sie auf den Boden, und mit einer schnellen Bewegung rammte sie ihr ihre Kieferklauen in den Leib. Eine bläulich-braune Flüssigkeit trat zwischen den Klauen hervor. Die besiegte Spinne röchelte, und ihre Beine zappelten hilflos in der Luft. Doch nach nur wenigen Momenten, da erschlaffte ihr Körper, und sie starb.

Duncan stieß einen leisen Schrei aus, als er dies sah. Ihm war sofort klar, was er getan hatte, und er hielt sich die Hand vor den Mund. Doch es war zu spät. Die Spinne hörte seinen Aufschrei. Verdutzt blickte sie die sechs Wanderer an.

Diese duckten sich sogleich. Sie hatten Glück, dass der Weg hier in einer Mulde verlief und es neben dem Weg Erhöhungen gab. Zwar waren sie kaum mehr als einen Meter hoch, doch sie gaben ihnen Deckung. Sie hofften, dass die Spinne sie vielleicht doch nicht gesehen hatte, und friedlich ihrer Wege zog, ohne ihnen weiter Beachtung zu schenken.

Zunächst blieb alles ruhig. Nur die gewohnten Geräusche des Waldes waren zu hören. Das Herz der sechs Gefährten klopfte wie wild. Keiner wagte es, sich zu bewegen, obwohl sie am liebsten weggelaufen wären.


Schließlich entschied sich Thêl, nachzusehen. Langsam und unsicher steckte er seinen Kopf aus der Mulde heraus.
Wie erschrak er da, als er plötzlich der Spinne direkt in die Augen sah! Völlig geräuschlos hatte sie sich angeschlichen und starrte Thêl nun mit ihren grünlichen Augen an. Sie fauchte voll Zorn, und ihre Kiefer zitterten wutentbrannt.

Thêl wusste, dass er schnell reagieren musste, wenn er schlimmeres verhindern wollte. Blitzartig zog er sein Schwert aus der Scheide und rammte es der Spinne in den Leib. Es war ein so heftiger Hieb, dass die Klinge an ihrem Rücken wieder herauskam. Das Biest kreischte laut vor Schmerz. Aber Thêl zeigte keine Gnade. Er zog seine Waffe schnell wieder heraus und stach dann noch einmal auf die Spinne ein. Er trieb ihr die Klinge zwischen die Augen, mit all seiner Kraft. Das Untier schrie, wahnsinnig vor Schmerz und Panik, doch sie konnte nichts tun. Thêl presste das Schwert weiter fest in ihren Leib, ohne Unterlass. Erst als die Spinne zusammensackte und sich nicht mehr rührte, da ließ er wieder locker. Als er es herauszog, da war es voll Blut und Schleim, und es stank furchtbar. Dickflüssiger Saft trat aus dem Körper der Spinne heraus und versickerte sogleich im Waldboden.

Die Gefährten machten alle einen großen Schritt weg von der Leiche der Spinne. Zu Anfang waren sie unsicher, ob sie denn tatsächlich tot war. Sie ließen sie nicht aus den Augen. Schweiß stand auf ihrer Stirn, und sie kamen nicht zur Ruhe.
Am Ende ließ ihre Angst wieder nach. Doch da fürchteten sie, dass noch mehr Spinnen in der Nähe sein konnten. Sie ließen ihre Blicke durch die Bäume schweifen. Zu Anfang erschraken sie, wenn sie ein Rascheln im Unterholz hörten. Aber als sich keines der Untiere mehr zeigte, da entspannten sie sich. Sie beschlossen, ihren Weg fortzusetzen. Mit noch zittrigen Beinen gingen sie voran, und ließen die zwei grauenerregenden Leichen hinter sich.


„Was hat es eigentlich mit diesen Spinnen auf sich?“ fragte Will, nachdem er seine Nerven beruhigt hatte und seine Interesse geweckt war. „Sind das wirklich natürliche Wesen? Das wäre ein unschöner Gedanke.“
„Hmm, das käme darauf an, wen du fragst. Du bekämst verschiedene Antworten.“ erwiderte Eeza. „Manche würden dir sagen, dass Gott sie geschaffen hat, um die Menschen zu betrafen für ihren Unfrieden und ihre Kriegstreiberei. Andere werden sagen, dass sie einfach eine Laune der Natur sind. Aber die Wahrheit ist, wir wissen es nicht. Wir können nur spekulieren. Alles, was wir mit Sicherheit sagen können, ist dass sie alle die Kinder ein und derselben Spinne sind: Anangil, die Spinnenmutter. Sie erschien in sehr frühen Jahren auf dieser Welt. Wie, das ist die große Frage. Wie gesagt, keine Ahnung.
Jedenfalls war Anangil zu Anfang ein friedliches Wesen. Sie spielte keine Rolle in Aramars Geschichte. Sie ließ die Menschen zufrieden, und die Menschen ließen sie zufrieden. Doch dann kam es zum Krieg zwischen Drachen und Menschen. Anangil war entsetzt ob dieser Grausamkeit, und sie floh. Sie versteckte sich im Mirdare-Wald, wo sie sich ein Nest baute.
Dort hatte sie für viele Jahre ihren Frieden. Doch dann kamen die Menschen und zogen in die Wälder. Sie trafen auf das Spinnenwesen, das sich in seiner Ruhe und Sicherheit gestört fühlte, und sie attackierten es. Sie konnten Anangil nicht töten, und die Spinne wollte den Menschen nichts tun. Daher zog sie sich in den nordöstlichen Teil des Waldes zurück, und dort haust sie bis heute.
Anangil war verletzt und schwer gekränkt, und ihr Hass auf die Menschen erwachte. Sie wollte den Wald wieder für sich erobern. Dafür zeugte sie Nachwuchs, dass sie aus irgendeinem Grund ohne Partner tun konnte, dafür aber nur in begrenzter Anzahl. Sie gebar zwei Spinnenkinder: Antalangrist, die einzige Waldspinne, die einen Namen trägt, und ein Namenloses. Diese beiden wiederum vermehrten sich ebenfalls, und im Laufe der Zeit waren hunderte Spinnen geboren. Ihnen befahl Anangil nun, den Wald zu übernehmen. Die Spinnenschar fiel über die Wälder von Mirdare her, und trotz eifriger Bemühungen konnten die Waldmenschen nicht verhindern, dass sie sich im ganzen Forst verbreiteten und über sie herfielen. Man nannte sie bald die Átaril oder Große Waldspinnen. Zu ihrem Glück entdeckten die Menschen, dass die Spinnen durch Feuer verwundbar waren, und es gelang ihnen zu überleben, und Anangil muss bis heute in ihrem Versteck ausharren. Doch sie ist geduldig. Irgendwann wird sie genug haben und einen Vorstoß wagen, und ich weiß nicht, was dann passieren wird.“
„Grauenhaft.“ bemerkte Will. „Das heißt, diese Riesenspinne lebt irgendwo hier in diesem Wald?“
„Ja, doch nicht hier. Wie gesagt, im Nordosten. Unter der Erde, sagt man. Nein, ihre Kinder machen mir ehrlich gesagt mehr Sorgen. Du hast gesehen, was das für wilde Kreaturen sind.“
„Ich habe aber auch gesehen, dass ein Schwert sehr effektiv gegen sie wirkt.“
„Das war auch nur eine einzige Spinne.“ sagte Thêl. „Sollte uns eine Gruppe von ihnen angreifen, würden wir nicht so einfach davonkommen. Ich sage nicht, dass es unser sicherer Tod wäre, aber du solltest sie nicht unterschätzen, nur weil sie kleiner sind.“
„Ja, schon gut. Ich meinte ja nur…“ sagte Will betreten.
„Ich weiß, was du meintest. Jedenfalls werde ich die Augen nach ihnen offen halten. Ich werde nicht zulassen, dass sie uns überraschen. Kommt, gehen wir einfach weiter.“

Das war ihnen Recht, denn länger als notwenig wollten sie nicht verweilen, wenn es Bestien wie diese Spinnen hier gab.


Die Gefährten setzten ihre Reise fort. Sie erreichten bald die Blaue Brücke, die den nördlichsten Übergang über den Nenuïn darstellte. Es war eine alte Steinbrücke, fest und mit breitem, hölzernem Geländer. Moos und Efeu wucherten an ihr empor. Sie hatte ihren Namen nicht wegen ihrer Farbe erhalten, sondern weil sie die erste Brücke war, die über die blauen Wasser des Nenuïn gebaut wurde.
Trotz ihres Alters war sie stabil und sicher, und die Wanderer konnten alle gleichzeitig darübergehen, ohne dass sie um ihre Sicherheit fürchten mussten.

Will konnte sich einen Blick auf den Fluss nicht verkneifen. Die Erinnerung an seinen beinahen Tod in genau denselben Wassern war noch zu frisch in seinem Gedächtnis. Doch hier überkam ihn keine Angst. Der Nenuïn floss hier relativ ruhig, und auch nicht mehr als zwei Meter unterhalb der Brücke. Über den Fluss wuchsen keine Bäume, und so konnte das Sonnenlicht ungehindert und mit aller Kraft herabscheinen. Es tauchte die Wassermassen in ein grelles Licht und brachte ihre Oberfläche zum Funkeln. Es war ein schöner Anblick, der es unmöglich machte, Angst zu haben.



Nachdem sie die Blaue Brücke überquert hatten, wanderte die Gruppe weiter durch den Wald. Sie setzten ihren Weg nach Süden fort, ohne unnötig Rast zu machen. Erst als die Sonnenstrahlen merklich schwächer wurden, entschlossen sie sich, anzuhalten und für die Nacht zu rasten. Sie entschieden sich für eine Lichtung, die sie etwas abseits des Weges fanden. Sie wollten nicht unter Bäumen schlafen, da sie fürchteten, dass sie dort leichte Beute für die Waldspinnen waren.

Uneinigkeit herrschte darüber, ob sie ein Lagerfeuer machen sollten oder nicht. Man hatte Angst, dass es die Spinnen anlocken konnte. Thêl aber argumentierte, dass sie ohne Feuer nicht sehen konnten, und sie brauchten Licht, wenn sie einen Angreifer sehen wollten, geschweige denn sich verteidigen. Dem stimmte man schließlich zu, und ein Feuer wurde entzündet.

Die Schlafsäcke wurden in Kreisform um die Flammen gelegt, damit so viel wie möglich von dessen Wärme genutzt werden konnte. Die Gefährten setzten sich ans Feuer und plauderten, um den Abend ruhig ausklingen zu lassen. Doch sie konnten ihre Furcht nicht vollständig vertreiben. Immer wieder blickten sie sich um und schauten, ob sie nicht irgendein gefährliches Tier entdecken konnte. Sie beschlossen sogar, zwei Leute als Nachtwache aufzustellen, aus reiner Vorsicht. Trotzdem war keiner der Sechs sicher, ob sie in dieser Nacht wirklich Schlaf finden würden.

Während die Sonne vollständig unterging, wurde die Luft kühler. Die Vögel beendeten ihren Gesang und legten sich zur Ruhe. Stattdessen erfüllten andere Geräusche den nächtlichen Wald. Zikaden und Grillen zirpten um die Wette, und ganz deutlich war das Quaken von Fröschen zu hören, das alles andere übertönte. Die Gefährten waren sich nicht sicher, doch das Gequake schien in ihrer unmittelbaren Nähe zu sein.

„Wie man hört, sind wir dem Moossteinmoor schon recht nahe.“ erklärte Thêl. „Das sind die ersten Vorboten. Morgen werden wir es wohl durchqueren.“


Als die letzten Sonnenstrahlen verschwanden, befürchteten die sechs Freunde, dass es stockfinster um sie herum sein würde, und sie gar nichts mehr würden erkennen können. Zu ihrer Überraschung war dem nicht so. Seltsame kleine Lichtpunkte tauchten zwischen den Bäumen auf. Völlig geräuschlos schwirrten diese grünlich-gelben Lichter durch den Wald. Will dachte, dass es wahrscheinlich Glühwürmchen wären, doch hier er konnte er sich nicht sicher sein.

Das wirklich Erstaunliche waren Pflanzen, die nun plötzlich zu leuchten begannen. Manche Pilze, die an Baumstümpfen wuchsen, gaben ein schummriges blaues Glühen von sich. Eigenartige Blüten, die so groß wie eine Hand waren, strahlten in einem weißen, gedämpften Licht.
Es war kein helles Leuchten, das den Wald durchdrang. Fast wirkte es unheimlich. Doch war es nicht unangenehm, und die Gefährten waren froh, dass sie nicht völlig von Dunkelheit umgeben waren.


Während sie um das Feuer saßen, eine Kleinigkeit zu sich nahmen, und sich wärmten, wurde Thêl sichtlich nervös. Er stand auf und begann, um das Lager zu pirschen. Er war sich nicht völlig sicher, doch er glaubte, Geräusche gehört zu haben. Sehen konnte er nichts, dazu war es zu finster, doch gehört hatte er etwas. Er lauschte noch einmal, und tatsächlich, er vernahm das Knacken von einem Ast, und dann dumpfe Schritte. Allein nach der Schwere der Schritte schloss er darauf, dass es ein Mensch sein musste, oder etwas größeres.

Thêl lauschte weiter. Die Schritte kamen näher. Nun war er sich sicher, dass es Menschen waren. Er hörte mindestens drei. Thêl konnte nicht gewiss sein, dass sie gute Absichten haben. Zur Vorsicht wanderte seine Hand zum Schwertgriff.

Doch noch bevor er danach greifen konnte, pfiff etwas zwischen den Bäumen hervor. Es war ein Pfeil. Er traf Thêl an der linken Schulter und durchbohrte sie, sodass die Spitze an der Rückseite herauslugte.
Thêl schrie auf. Blut schoss aus der Wunde. Beinahe wäre er auf die Knie gefallen, doch er zwang sich dazu, aufrecht stehen zu bleiben. Nun bemerkten auch die Anderen, was vorgefallen war. Thêl stolperte zu ihnen. „Wir werden angegriffen!“ rief er. Daraufhin sprangen die Anderen auf und blickten sich nervös aber aufmerksam um. Zwischen den Bäumen war niemand zu sehen.

Plötzlich tönte ein Zischen durch den Wald. Es kam aus derselben Richtung wie der Pfeil, der Thêl getroffen hatte. In der Tat waren es drei weitere Pfeile, die auf die Gruppe zugeschossen kamen.
Eeza reagierte sofort. Er stellte sich vor seine Kameraden und hob die Hände vor seinem Körper. Da erschien ein Schild vor ihm, leuchtend und durchsichtig. Als die Pfeile es trafen, prallten sie wirkungslos daran ab. Die Gefährten seufzten erleichtert.

Thêl lief zu seinem Gepäck und holte seinen Bogen auf, den er vorhin dort abgelegt hatte. Mit seiner Waffe und seinem Köcher kam er zurück. Gerade rechtzeitig, denn erneut flogen drei Pfeile durch die Luft. Eeza beschwörte erneut sein Schild, und wieder wehrte er die Geschosse erfolgreich ab.
In der Zwischenzeit nahm Thêl einen eigenen Pfeil und spannte ihn ein. Seine Schulter schmerzte ihn, doch er biss die Zähne zusammen und schluckte die Schmerzen runter. Er spannte die Sehne mit seiner Rechten, und als Eeza sein Schild wieder entfernte, da konzentrierte er sich kurz und schoss den Pfeil dorthin, wo er seinen Gegner vermutete.
Thêls Pfeil schwirrte durch die Luft, zwischen den Bäumen hindurch. Er verschwand in der Finsternis. Kurz darauf war ein schmerzerfüllter Schrei zu hören, und dann ein Geräusch, als würde ein großer Kartoffelsack umfallen. Thêl grinste schwach.

Sofort ertönten zwei Stimmen. Sie riefen sich etwas zu, das Gefährten nicht verstehen konnten. Zuerst klangen sie überrascht, dann verärgert. Schließlich verstummten die Stimmen. Gleich darauf kam aus dem Dunkel ein Laut, als würden zwei Stöcke auf den Boden fallen, und dann das Geräusch zweier Schwerter, die aus ihrer Scheide gezogen wurden.

Kaum Sekunden später traten zwei Männer ins Licht des Lagerfeuers. Beide waren kräftig, und einer war untersetzt. Einer hatte einen langen, dichten Schnurrbart und der Dickere eine Glatze. Beide Männer trugen schwarze Rüstungen mit silbernen Verzierungen und einem blutroten Gürtel. Ihnen stand der Zorn ins Gesicht geschrieben. Ihre Schwerter schimmerten bedrohlich im Feuerschein.

Offensichtlich waren beide Soldaten. Es war ziemlich offensichtlich, wem sie dienten.

„Sagte Maias Gari nicht, Beléssan hätte keine Truppen in den Wäldern?“ knurrte Thêl.
„Scheinbar hat er sich geirrt.“ erwiderte Eeza.
„Sieht so aus. Wenn ich ihn wiedersehe, werde ich mich beschweren.“
„Falls ihr ihn wiederseht.“
„Das liebe ich so an Euch, Eeza: Ihr bleibt in jeder Situation optimistisch.“

Thêl legte seinen Bogen ab und zog sogleich sein Schwert. Ein Schmerz durchzuckte seinen Oberkörper, aber er unterdrückte ihn. Seine Aufmerksamkeit galt den beiden Angreifern. Sein Blick lag auf den Männern und ihren Schwertern.

Da stieß Duncan plötzlich einen Schrei aus. Es war ein ängstlicher Schrei, denn auf der anderen Seite des Lagers waren zwei weitere Soldaten aufgetaucht. Sie grinsten hämisch und schwangen Streitkolben.

Eeza und Thêl wollten den Jungen helfen, doch im selben Moment wurden sie von den beiden Männern mit ihren Schwertern angegriffen, und Thêl war schwer beschäftigt. Eeza zögerte. Er wollte den Knaben zu Hilfe eilen, doch er wollte auch Thêl nicht im Stich lassen.

Da begannen auch die anderen beiden Männer ihren Angriff. Einer von ihnen machte einige schnelle Schritte auf Will zu und hob seinen Streitkolben, um dem Jungen damit Schädel einzuschlagen. Will hielt sich die Hände vors Gesicht. Er bekam Panik, und seine Beine wollten sich nicht bewegen.
Der Soldat ließ seinen Streitkolben auf Will niedersausen. Doch bevor er ihn treffen konnte, kam ihn Stone dazwischen. Er verpasste dem Mann einen Faustschlag in den Magen. Trotz dessen Rüstung strauchelte der Mann, und seine Waffe fiel ihm aus der Hand. Alle Luft wurde ihm aus seinen Lungen getrieben, und er beugte sich vor Schmerzen vornüber. In diesem Augenblick schlug Stone ein zweites Mal zu, genau in sein Gesicht. Der Hieb war so stark, dass dem Soldaten ein paar Zähne aus dem Mund fielen, und er spuckte Blut. Benommen stürzte er zu Boden.

Sogleich sprang Bane auf ihn. Er zog einen Dolch, den er am Gürtel trug, und bevor sich der Mann wehren konnte, stieß ihm Bane die Klinge in den Hals. Der Mann stieß Bane sofort von ihm, aber es war zu spät. Blut schoss aus der Wunde, und er röchelte. Er hielt sich den Hals und wand sich vor Schmerzen. Doch schon nach kurzer Zeit erstarrte er mitten in seiner Bewegung. Er rang noch ein letztes Mal nach Luft, und dann starb er.
Bane warf Will einen kurzen, verachtenden Blick zu, der soviel bedeutete wie „So macht man das, du Weichei.“

Der andere Angreifer war so verblüfft davon, wie wehrhaft die Jungen waren, dass er für einige Sekunden völlig perplex dastand und sich nicht rührte. Doch als er seinen Kameraden sterben sah, da erwachte aus seiner Trance. Mit erhobener Waffe stürmte er auf Bane zu. „Nur Kinder!“ schrie er vor Zorn.
Allerdings war seine Attacke weder durchdacht noch gezielt, so wütend war er. Bane hatte keine Schwierigkeiten, ihm im letzten Augenblick auszuweichen. Der Schlag ging ins Leere.
Als der Soldat neben ihm vorbeistolperte, da trat Will gegen seinen Bauch. Doch seine Rüstung schützte ihn gut, und Will verletzte sich selbst mehr als seinen Gegner. Bane verdrehte die Augen.

Der Tritt erzürnte den Soldaten noch mehr als vorher. Er geiferte schon fast, als er mit erhobenem Streitkolben auf Will losging. Der Junge tat einige Schritte zurück, unsicher, was er tun sollte. Doch bevor der Mann noch zum Schlag ausholen konnten, sauste ein Pfeil heran, bohrte sich durch seinen Schädel und blieb dort stecken. Der Mann fasste sich an den Kopf und betastete den Pfeil. Er wischte über das Blut, das aus der Wunde kam und starrte mit großen Augen auf seine blutverschmierten Finger. Es schien, als versuchte er etwas zu sagen, doch schon im gleichen Moment verlor er das Bewusstsein und brach zusammen. Bane kauerte sich sofort über ihn, und mit einer schnellen Bewegung rammte er ihm seinen Dolch durch den Hals, um sicherzugehen, dass er wirklich tot war.
Als er es wieder herauszog, ging Will zornig auf ihn zu. „Musste das denn sein?“ fragte er empört.
„Klar. Er wollte uns töten.“ erwiderte Bane kalt.
„Aber… War das notwendig?“
Bane fuchtelte mit dem Messer vor Wills Gesicht herum. „Ich denke, unsere Ansichten von Notwendigkeit unterscheiden sich etwas.“

Anstatt darauf zu antworten, ging Will wortlos an Bane vorbei. Doch er erstarrte mitten in der Bewegung, als er sah, wer der Schütze war, der den Soldaten getötet hat. Es war Duncan! Er hielt Thêls Bogen in der Hand. Schweißperlen waren auf seiner Stirn.
„Duncan?!“ sagte Will überrascht. „Seit wann kannst du so etwas?“
„Ich sagte dir doch, dass ich schon etwas länger hier bin als du.“ erwiderte Duncan. „In der Zeit habe ich ein paar Dinge gelernt. Ich bin nicht besonders gut darin, aber…“
„Warum hast du mir nichts davon erzählt?“
„Willst du dich etwa beschweren?“
Will warf einen Blick auf den Mann, den Duncan erschossen hatte. „Nein, eigentlich nicht.“


Indessen war es Thêl gelungen, einen seiner beiden Angreifer zu töten. Der Untersetzte war seinem Schwert unterlegen, doch der Andere erwies sich als zäher Bursche. Thêl hatte ihn einige Male erwischt. Der Mann blutete aus einer Wunde auf seiner Stirn. Doch er weigerte sich standhaft, zu sterben.

Die Jungen eilten Thêl zu Hilfe. Doch genau wie Eeza wusste sie nicht, wie sie ihm eigentlich helfen konnten. Eeza war zwar ein Zauberer, doch hier konnte er nichts tun. Thêl und der Soldat waren in einen heftigen Kampf verwickelt, und wahrscheinlich hätte er sich nur beschwert, wenn Eeza ihm dazwischengefunkt hätte.

Duncan jedoch zögerte nicht. Er beschloss, Thêl zu unterstützen. Er schoss einen Pfeil auf den Soldaten, und durch Glück traf er ihn genau ins rechte Auge. Der Mann schrie auf und hielt sich sein Auge, aus dem Blut trat und seine Wange hinunterlief.

Aufgeben wollte er deswegen aber nicht. Er kämpfte verbissen weiter. Seine Wille, am Leben zu bleiben, war stark. Doch sein Auge war eine Bürde. Schmerz durchzuckte seinen Körper. Er störte seine Konzentration und schwächte ihn. Seine Sehkraft war stark getrübt.

Schließlich gelang es Thêl, den Mann zu entwaffnen. Er schlug ihm das Schwert aus der Hand, sodass es davonflog und im Erdboden stecken blieb, und in einer schnellen Bewegung stieß er ihm das Seinige in den Bauch. Der Soldat keuchte. Thêl zog seine Klinge aus dem Körper seines Gegners; so schnell, dass das Blut auf den Waldboden spritzte. Der Mann wurde bleich, und dann brach er zusammen und rührte sich nicht mehr.
Bane ging sogleich auf den Mann zu, mit gezücktem Dolch, und wollte es zu Ende bringen. Doch Thêl hielt ihn zurück. „Es ist genug.“ sagte er streng. Bane gehorchte ihm.


Im Wald war es wieder ruhig. Die Gefährten versammelten sich um das Lager, um ihre Verletzungen zu versorgen. Doch Thêl war der Einzige, der sich ein paar Wunden zugezogen hatte. Die Meisten waren nur Kratzer. Einzig der Pfeil, der in seiner Schulter steckte, bereitete ihm Schmerzen. Mit einem kräftigen Ruck zog er ihn heraus, was ihm einen gequälten Schrei abnötigte. Eeza konnte die Wunde mit einem Zauber schließen, doch es würde etwas dauern, bis sie vollständig verheilte.

„Das hast du gut gemacht, Duncan.“ sagte Thêl, als er sich etwas besser fühlte. „Mir scheint, mein Bogen ist in guten Händen.“
„Ach, du wusstest davon?“ fragte Will.
„Wer, glaubst du, hat ihm das Bogenschießen beigebracht?“ antwortete Thêl. Will nickte verständnisvoll.
„Der Kleine ist jetzt schon mehr Mann, als du je sein wirst.“ warf Bane spöttisch ein.
„Als ob du von so was eine Ahnung hättest…“ entgegnete Will brummig.

Da packte ihm Bane plötzlich am Hemdkragen und zerrte ihn zu sich. Er hielt ihm seinen Dolch an die Wange. Will konnte den kalten Stahl auf der Haut fühlen. „Denkst du, das hier ist ein Spiel?“ knurrte Bane. „Solche Scherze kannst du mit deinen Freunden treiben. Doch ich bin keiner von ihnen. Du hast Glück, dass dein Leben so wertvoll ist. Sonst würde ich mich nicht zurückhalten.“
„Das reicht, Bane. Weg mit dem Messer.“ rief Thêl. „Ich werde keinen Zwist in unserer Gemeinschaft dulden. Wenn du den Therûn noch einmal bedrohst, dann…“

Er wurde in seinem Satz unterbrochen. Plötzlich zischte ein Pfeil zwischen Banes und Wills Köpfen hindurch. Es war ein so knapper Schuss, dass die beiden Jungen die Luft auf ihrem Gesicht spüren konnten.


Schritte erklangen in der Dunkelheit um das Lager. Dazu mischte sich höhnisches Gelächter. Offensichtlich befanden sich noch mehr feindliche Soldaten in der Umgebung. Thêl dachte sich, dass sie allen Grund zum Lachen hatten, denn er hörte mindestens zehn Leute heraus. Der Feind war in der Überzahl.

Die Gefährten machten sich zum Kampf bereit. Angst machte sich jedoch in ihnen breit. Sie hatten keine Ahnung, ob sie gegen so viele Soldaten bestehen könnten.

Als Will erwachte, erschrak er. Er befand sich nicht mehr auf Thêls Rücken. Eine braune Zimmerdecke starrte ihm entgegen. Zuerst dachte Will, er hätte alles nur geträumt. Doch dies dachte er jedesmal, wenn er ihn Aramar aus dem Schlaf erwachte. Auch diesmal waren es nur leere Hoffnungen.

Er blickte auf seinen Körper hinab. Er trug nur seine Hose, ansonsten waren alle anderen seiner Kleider verschwunden. Stattdessen war von einer Decke eingehüllt, die aus einem Stoff bestand, den er nicht zuordnen konnte. Er bemerkte, dass er offensichtlich auf einer Art Bett lag, das vollständig aus zusammengepresster Erde zu bestehen schien. Als er mit den Fingern darüberstrich, lockerten sich ein paar Brösel und blieben auf seinen Fingern haften.

Als Will sich umsah, erkannte er, dass er sich in einem kleinen Haus befand. Es schien komplett aus Erde zu bestehen. Alles war braun und eben. Scheinbar bestand die Hütte nur aus einem großen Raum, und es gab darin nichts außer dem Bett, auf dem er lag, und eine Wand, aber sie verdeckte einen Teil der Hütte, sodass er nicht alles sehen konnte. Die Decke hatte ein großes Loch, durch das er blauen Himmel und den Ast eines Baumes sehen konnte.

Die größte Überraschung aber erlebte Will, als er die Decke beiseite legte und aufzustehen gedachte. Er konnte es kaum glauben: Er fühlte sich bestens! Er betastete seine Stirn, doch sie war normal temperiert. Er spürte auch keine Schwäche in seinen Gliedmaßen. Sein Kopf fühlte sich leicht an. Offenbar war sein Fieber verschwunden. Er hatte keine Ahnung, wie das möglich war, aber er hoffte, dass es ihm jemand erklären konnte.

Will stand auf und streckte sich, und dann atmete er tief ein. Es tat ihm gut.

Da fiel sein Blick auf eine Tür, die aus der Hütte hinaus führte, und auf einen grünen Vorhang, der anstatt einer hölzernen Pforte in der Tür hing. Die Sonne strahlte durch den dünnen Stoff hindurch.

Will wollte die Hütte verlassen und schickte sich an, den Vorhang beiseite zu schieben. Doch als er danach greifen wollte, hielt er überrascht inne. Was er für grünen Stoff gehalten hatte, war etwas gänzlich anderes.
Es waren Blätter. Zwei Blätter, oval und mit einer breiten Spitze, hingen von beiden Seiten des Türrahmens herab. Was Will so verdutzte, war ihre Größe: Die Tür war so hoch wie ein ausgewachsener Mann, und die Blätter hingen ganz bis zum Boden hinab. Es waren zweifellos echte Blätter, mit einem satten Grünton, feinen Adern, und mit einem gezackten Rand. Doch noch nie hatte Will so große erblickt. Wie gern würde er den Baum sehen, von dem sie gekommen waren.

„Recht beeindruckend, nicht wahr?“ hörte er plötzlich eine Stimme neben sich sagen.
Will drehte sich um, und da sah er Duncan, der auf einem identischen Bett saß.

„Duncan?“ sagte Will überrascht. „Was ist passiert? Wo sind wir hier?“
„Gute Frage.“ Duncan sprang mit einem Satz von dem Bett herunter. „Tja… Das ist etwas schwierig zu erklären.“ sagte er. „Ehrlich gesagt, verstehe ich es selbst nicht ganz.“
„Aber… Das hier ist echt, oder?“ Will zwickte sich in den Arm, um sicherzugehen. Er fühlte den Schmerz.
„Ja, es ist echt.“ erwiderte Duncan und lachte. „Trotzdem, schwierige Sache. Am besten, ich gehe zu Thêl und Eeza und sage ihnen, dass du wach bist. Bleib du hier, ich hole sie. Dann können sie dir alles erklären.“

Daraufhin ging Duncan durch das riesige Blatt hindurch, aus der Hütte und verschwand. Will blieb zurück, verwundert und verwirrt. Er hatte überhaupt keine Ahnung, was hier vor sich ging. Es war ein gutes Gefühl, kein Fieber mehr zu haben, aber er hätte trotzdem gerne gewusste, was passiert. Er hoffte, dass Eeza oder Thêl Licht in diese Angelegenheit bringen konnten.


Will blickte sich in der Hütte um. Plötzlich sah er Stone, der lässig in einer dunklen Ecke lehnte und streng vor sich hin blickte. Bane war nirgendwo zu sehen. Will entschloss sich, diese Gelegenheit zu nutzen.

„Wo ist dein Kumpel?“ fragte er Stone.
„Schläft noch.“ grummelte Stone, ohne jedoch Will anzusehen.
„Mm-hmm.“ Will zögerte einen Moment, dann sagte er: „Kann ich dich etwas fragen?“
Stone schnaubte. „Wenn es sein muss.“
„Na gut. Also… Warum lässt du Bane für dich denken?“
Nun blickte Stone Will verdutzt an. „Versteh ich nicht. Was meinst du?“
„Du bist doch offensichtlich intelligent genug, selber zu denken. Warum tust du das dann nicht? Warum tust du immer nur das, was Bane sagt, anstatt dir eine eigene Meinung zu bilden und nach eigenem Gewissen zu handeln?“
„Ich kenne ihn schon länger als du. Er ist wirklich schlau. Wir haben bisher immer nach seinen Ideen gehandelt, und es hat uns nicht geschadet.“
„Aber er weiß doch nicht alles besser. Das heißt ja nicht, dass du nicht für dich selber denken kannst. Das solltest du tun.“
Stone zuckte mit den Schultern. „Na ja, darin war ich noch nie gut. Ich tue lieber das, was andere mir sagen. Ist… einfacher.“
„Das kann ich nicht glauben. Du hast letzte Nacht einen Soldaten mit bloßen Händen niedergeschlagen. Du…“
„Ja, schon gut. Aber so bin ich eben.“ sagte Stone und hob abweisend die Hände. „Aber dir geht’s doch nicht um mich, stimmt's? Ich verstehe schon, dass du Bane nicht leiden kannst. Aber er ist kein schlechter Mensch. Nur etwas eigen.“
„Also da irrst du dich. Er ist böse.“
„Ach, komm. Ihr müsstet euch vielleicht zusammensetzen und…“
„Du hast Recht, Stone, ich kenne Bane nicht so gut wie du. Aber ich kenne Typen wie ihn. Viel besser, als mir lieb ist. Und ich sage dir, Bane ist böse. Ja, klar, jetzt ist er noch jung. Er ist… Wie alt? Achtzehn, oder? Er ist Achtzehn, und einer von denen, die Andere gerne schikanieren, weil es ihnen Spaß macht. Nichts Schlimmes. Hier ein paar Hänseleien, dort vielleicht ein paar Fußtritte. Er tut und sagt, was er will, weil er denkt, er kann es. Aber leider wird er älter werden. Er wird ein Lügner werden, ein gieriger Egoist. Daran bist du leider auch schuld. Weil du ihm… und sonst auch keiner… sagt, dass es falsch ist. Mehr noch, weil du ihn für sein Verhalten belohnst. Weil er nur gelernt hat, dass es in Ordnung ist, andere so zu behandeln. Von solchen Leuten gibt es Millionen. Selbst hier. Denk an Beléssan. Er tut was er will, er nimmt sich, was er will… nur weil er es kann. Und Bane wird genau so, wenn sich nichts ändert. Tut mir leid, aber so ist es.“

Stone erwiderte nichts darauf. Will konnte sehen, wie er überlegte. Das überraschte ihn, denn er hätte damit gerechnet, dass er ihn anschnauzen würde und ihm befehlen würde, nicht so über seinen Kumpel zu reden. Aber das tat er nicht. Stone dachte ernsthaft über seine Worte nach. Das war offensichtlich. Entweder war er tatsächlich leicht zu beeinflussen, oder er hatte sich schon ähnliche Gedanken gemacht.

„Und was denkst du über mich?“ fragte er schließlich.
„Über dich? Das habe ich dir doch schon gesagt. Du denkst zu wenig selbst. Du solltest dich nicht so von Bane beeinflussen lassen. Ich meine… Sei ehrlich, du hasst mich doch nicht wirklich, oder? Du bist frustriert, weil du hier in dieser Welt festhängst. Das verstehe ich gut. Aber dir ist doch auch klar, dass ich nichts dafür kann. Stimmt doch, oder?“
„Ich… Na ja… Ja, es stimmt. Ich hasse dich nicht.“ sagte Stone zögern, als fiele es ihm schwer, dies zuzugeben.
„Na eben. Es ist nicht notwendig, alles zu tun oder zu denken, was Bane tut oder denkt. Bilde dir deine eigene Meinung. Und… Versteh doch, ich will euch nicht gegeneinander aufhetzen. Du magst ihn. Ihr seid Freunde. Das ist in Ordnung. Daran gibt es nichts auszusetzen. Aber… Ich weiß nicht, wie er darüber denkt. Vielleicht mag er dich ja auch. Oder er hängt nur mit dir rum, weil er sich dann überlegen fühlt. Dabei bist du viel mehr wert als er, denke ich.“
Stone seufzte. „Ich… ich weiß nicht. Kann sein. Vielleicht hast du Recht. Aber… Ich muss darüber nachdenken. Ich… ich schau mal, ob Bane schon wach ist…“

Stone verließ die Hütte, in Gedanken versunken. Will blickte ihm nach. Er fühlte sich gut. Das Gespräch war besser verlaufen, als er gedacht hatte. Vielleicht gab es Hoffnung, dass er Stone auf seine Seite bringen konnte. Er hatte ihn nicht angelogen, als er sagte, er wolle ihn und Bane nicht zu Feinden machen. Wenn sie wirklich Freunde waren, hatte er damit kein Problem. Aber möglicherweise konnte er Stone dazu bringen, nicht mehr andauernd auf Bane zu hören. Dann müsste er auch keine Angst haben, wenn Bane einmal auf ihn losgehen sollte, oder umgekehrt. Denn mit Stone wollte er sich ganz sicher nicht anlegen.


Es dauerte keine fünf Minuten, als Will ein paar bekannte Stimmen vor der Hütte hörte. Gleich darauf wurden die beiden Riesenblätter zur Seite geschoben, und dann trat Thêl in die Hütte, nach ihm Eeza, dann Duncan, und dann…
Was da hinter Duncan eintrat, hätte aus Wills Alpträumen entspringen können. Er wusste zuerst gar nicht, wo er es einordnen sollte. Das Wesen sah aus wie ein Insekt, das auf zwei Beinen stand. Es hatte menschliche Gestalt: zwei Beine, einen Leib, einen entfernt menschenähnlichen Kopf, dafür aber vier Arme und Hände mit nur drei Finger. Sein allgemeines Aussehen war aber eher das eines Insekts: Sein Körper war von einem dicken Panzer bedeckt, der eine sehr dunkle blaue oder schwarze Farbe hatte. Er hatte spitze Stachel an seinen Unterarmen und zwei Antennen auf seinem Kopf, die hin und her zuckten. Über seinem Mund saß eine Zange, die bei vielen Insekten typisch war. Am bemerkenswertesten aber waren seine Augen. Sie waren rund und gelb, und in ihnen saß eine schwarze Pupille. Sie waren menschlichen Augen sehr ähnlich, und es war viel Gefühl in ihnen.

Thêl, Eeza, Duncan und das Wesen traten auf Will zu, und dieser machte einige Schritte rückwärts, bis er wieder auf dem Bett saß.

„Bist du in Ordnung?“ fragte Thêl. „Wie geht es dir?“
„Ich… ich…“ stammelte Will. Er wusste nicht recht, was er sagen sollte. Er sah Thêl kurz an, konnte seinen Blick nicht von dem Wesen lassen.
„Besser, ja?“ fragte Thêl weiter, bekam aber keine vernünftige Antwort.
„Du fragst dich vielleicht, wer unser Gastgeber ist.“ sagte Eeza. „Keine Angst, er ist ein Freund. Ihm ist es zu verdanken, dass du dich besser fühlst.“
„Besser…? Ah, das Fieber.“ erwiderte Will. „Bin… bin ich geheilt?“
Wie zur Antwort trat das Wesen vor und fuhr mit seinen Fühlern über Wills Körper. Will zuckte etwas zusammen, doch es kitzelte nur. „Nicht geheilt, nein.“ sagte das Wesen. Es sprach abgehakt und bildete keine ganzen Sätze, so als beherrsche es die menschliche Sprache nicht richtig. „Fieber gestoppt. Nicht gesund aber. Heilen nicht können.“
„Leider ist es hier nicht möglich, das Fieber völlig zu heilen. Wir müssen dafür trotzdem nach Lassarna.“ erklärte Eeza. „Aber zumindest konnte das Fieber soweit aufgehalten werden, dass es sich momentan nicht weiter in deinem Körper ausbreitet. Wir haben ein paar Tage gewonnen, aber wenn wir nichts tun, wird es dich irgendwann trotzdem befallen.“

„Was… was ist überhaupt passiert?“ fragte Will.
„Du bist eingeschlafen, während wir weiter durch den Wald gehetzt sind.“ sagte Thêl. „Da wurden wir plötzlich alle ohnmächtig. Irgendwann sind wir dann hier aufgewacht. Zuerst dachten wir, wir wurden entführt. Doch wie sich herausstellte, geschah dies zu unserem Besten. Zu deinem, um genau zu sein.“
„Zu meinem…? Oh. Ich verstehe. Dann muss ich mich wohl bei Euch bedanken.“ sagte Will zu dem Insektenwesen.
„Dank unnötig.“ winkte dieses ab.
„Sein Name ist übrigens Bo-Ghd, wenn ich es richtig verstanden habe.“ sagte Thêl.“
„Ja. Bo-Ghd.“ stimmte das Wesen zu. „Oder Bo.“
„Und was ist er?“ fragte Will weiter.
„Das Volk, dem er angehört, hat keinen Namen.“ sagte Eeza. „Insekten wäre sicher nicht unpassend, auch wenn sie mehr sind als das.“
„Gibt es viele von ihnen?“
„Tausende.“ entgegnete Eeza. „Wir sind hier in einer ihrer Städte, von denen es Unmengen verborgen im Mirdare-Wald gibt.“
„Verstehe. Aber… Warum sind sie riesig?“
Diese Frage schien Bo-Ghd zu amüsieren. „Nicht riesig.“ sagte er, und ein Lachen schwang in seiner Stimme.
„Er ist es nicht, der riesig ist.“ sagte Thêl.
Will bekam große Augen. „Heißt das, wir sind klein?“
„Ja, sie mussten uns schrumpfen, damit sie uns helfen konnten. Anders wäre es nicht möglich gewesen.“
„Geschrumpft. Gibt es doch gar nicht.“ seufzte Will, jedoch zu sich selbst. Es fiel ihm schwer, das zu verarbeiten. Er sollte eigentlich an seltsame Vorfälle langsam gewöhnt sein, doch dies hier war zweifellos merkwürdiger als alles andere bisher.

„Und was nun?“ fragte Will schließlich.
„Wie gesagt, wir müssen immer noch nach Lassarna. Noch bist du nicht gesund.“ erklärte Thêl. „Doch davor müssen wir mit dem hiesigen König sprechen. Es gefällt mir nicht, aber er verlangt es.“
„Monarchfalter bestehen darauf. Eine Stunde.“ sagte Bo-Ghd.
Thêl nickte. „Ich weiß. In einer Stunde müssen wir zu ihm.“

Ein Gedanke formte sich in Wills Kopf. „Das heißt, wir haben noch etwas Zeit, ja?“ Seine Angst, die er vor Bo-Ghd hatte, war verflogen. Nun hatte sie Neugier Platz gemacht. Es drängt ihn, das Dorf der Insekten anzusehen. Während manche diese Krabbeltiere ekelig fanden, war er total fasziniert davon. Er dachte, dass er einen Ort voller Insekten in Menschengestalt unbedingt sehen musste. Wann würde er je wieder so eine Gelegenheit bekommen?

Keiner widersprach ihm. Gemeinsam verließen sie die Hütte. Bo-Ghd führte sie, so gut er konnte.
Sie traten hinaus in die strahlende Sonne, und Will konnte seinen Augen nicht trauen. Er hatte schon viele unfassbare Dinge gesehen, doch von allen war das Dorf der Insekten das Erstaunlichste.

Das Dorf bildete beinahe einen Kreis. An den rechten und linken Rändern befanden sich Unmengen von Hütten, die alle gleich aussahen: Sie waren rundlich und ähnelten einem Laib Brot, und sie alle hatten ein Loch im Dach. Alle bestanden aus gepresster Erde.

Überhaupt fiel Will als Allererstes auf, dass die Architektur der Insekten sehr einfach war. So gut wie alle Häuser waren identisch; nur hier und da war eines, das etwas höher war. Auch hatte keines der Gebäude irgendwelche Verzierungen. Alle Mauern waren völlig glatt und schmucklos, und es gab keine Statuen, keine Reliefs, keine Gemälde, gar nichts.

Bo-Ghd erklärte, dass der Grund dafür war, dass die Insekten ein vollkommen praktisch denkendes Volk waren. Alles was sie taten, hatte einen bestimmten Zweck. Sie arbeiteten tagein, tagaus, und kannten so etwas wie Freizeit nicht. Einzig in ihrem Heim konnten sie tun, was sie wollten. Doch da taten sie selten mehr als sich unterhalten, essen und schlafen.
Den Hauptteil ihres Lebens brachten sie mit Arbeit zu. Stets sorgten sie für Nahrung, kümmerten sich um das Dorf, aber auch um den Wald. Es war eine wichtige Aufgabe, die für Nebensächlichkeiten keine Zeit ließ.
Dies galt auch für die Architektur. Die Häuser mussten dazu dienen, dass die Insekten in ihnen wohnen konnten. Alles andere war bedeutungslos.

Sie bekamen auch kein Geld; so etwas kannten die Insekten nicht. Dafür bekam jeder Einwohner, der brav arbeitete, Unterkunft und Verpflegung umsonst.  

Doch diese Lebensart waren ihnen Recht. Zum Einen, weil sie nichts anderes kannten, und zum Anderen, weil ihr Leben so einen Zweck hatte und sie nie behaupten mussten, sie hätten es verschwendet.


Das Dorf der Insekten, das Laut Bo-Ghd den Namen „Zkpn“ trug, lag am Ostufer des Noruïn. Sie hatten es absichtlich dorthin gebaut, damit sie stets genug Wasser hatten. Die Gefährten und Bo-Ghd gingen ans Ufer, um sich zu erfrischen. Die Wassermassen des Flusses strömten nur so dahin, und es war beinahe riskant, sich die Hände zu befeuchten. Sie ließen ihren Blick über den Fluss streifen, und in ihrer geringen Größe wirkte er wie ein Meer. Sie konnten das andere Ufer in der Ferne nicht sehen, so weit schien es entfernt. Unter der Oberfläche sahen sie Rückenschwimmer ihre Kreise ziehen, und dazwischen tummelten sich Silberfischchen.

Ihr Streifgang offenbarte den Gefährten die ganze Vielfalt der Insekten, die hier lebten. Obwohl ihre Architektur so ganz ohne Abwechslung war, unterschieden sich die Einwohner des Dorfes enorm von einander; nicht nur durch ihr Äußeres, sondern vor allem durch die verschiedenen Aufgaben, die sie erfüllten. Jeder schien hier seine eigenen Pflichten zu haben. Es waren fast verschiedene Berufsgruppen, die es unter den Insekten gab.

Zum Beispiel waren da jene, die für das Essen sorgten, das sie entweder auf Feldern anbauten, die im Süden des Dorfes lagen, oder sich aus dem Wald holten. Es gab Kartoffelkäfer, Erbsenkäfer, Kohlschnaken und Kornkäfer, die Gemüse und Getreide anbauten. Kirschläuse, Himbeerkäfer und Zitronenfalter waren für das Obst zuständig, während Speckkäfer aus unbekannten Quellen Fleisch besorgten.

Die Insekten achteten auch sehr darauf, das Dorf und die Umgebung zu pflegen und ansehnlich zu gestalten. Es gab Mistkäfer und Putzkäfer, die dafür Sorge trugen, dass das Dorf stets sauber gehalten wurde. Rosenkäfer, Blumenwanzen und der Kleine Waldgärtner kümmerten sich um die Schönheit von Gärten und Rasenflächen. Leider hatten sie es oft nicht leicht, denn Maulwurfsgrillen drohten immer wieder, ihre Arbeit zu zerstören, indem sie die Wiesen umgruben, und Kräuterdiebe raubten ihnen das Gemüse.

Auch wenn die Insekten wenig Wert auf das Aussehen ihrer Bauwerke legten, so gab es doch eine eigene Abteilung, die für die Architektur zuständig waren. Mauerwespen, Erdhummeln und Hausspinnen arbeiteten zusammen, um die Hütten zu errichten. Holzböcke erschufen unauffällige, aber zweckdienliche Einrichtungen.

Bedarf an Kleidung gab es nur in geringem Maße. Einige der Käfer bevorzugten es, Hosen oder Hemden zu tragen. Diese wurden von den Seidenspinnen, Weberameisen und Kleidermotten hergestellt, die diese Kunst mit Geschick und Schnelligkeit beherrschten.

Das Erstaunlichste an dem Insektendorf aber war, dass es sogar eine Kirche hatte. Keiner der Gefährten hätte sich träumen lassen, dass Käfer gläubig waren. Bo-Ghd versuchte ihnen, diese Religion zu erklären. Doch sie verstanden nicht viel davon, nur etwas von einem großen Netzweber, der die Erde und alle Lebewesen aus Fäden gesponnen haben soll.
Sie warfen einen Blick in die Kirche, die sie einzig durch ihre Höhe von den anderen Gebäuden unterschied. Innen gab es einige behelfsmäßige Sitzbänke und einen grob gezimmerten Altar. Dahinter stand gerade eine Gottesanbeterin und sprach unverständliche Worte zu einigen Insekten, die aufmerksam lauschten. Über dem Alter hing eine Kreuzspinne in ihrem Netz, doch es war nicht ersichtlich, ob sie echt oder nur eine Skulptur war. Am Rand der Kirche standen einige Nonnen, die ihre braunen Flügel wie einen Umhang um ihren Körper geworfen hatten, und lauschten der Predigt.
Bo-Ghd erklärte, dass hier auch Begräbnisse stattfanden. Es gab einen eigenen Geistlichen dafür, den Trauermantel, der für den Verstorbenen betete. Danach wurde der Leichnam von Totengräbern vergraben.


Die Stunde verging recht schnell. Bo-Ghd machte die Gefährten darauf aufmerksam, und dann führte er sie zum Königspalast. Dieser war allerdings nur schwer zu übersehen. Er war mehr als doppelt so groß wie jedes andere Gebäude und ähnelte in seiner Form einem Vulkan. Bane und Stone gesellten sich in der Zwischenzeit wieder zu ihnen.

Auf dem Weg sahen sie einige Ohrwürmer, die am Straßenrand standen und Lieder sangen. Hier und da begegneten sie einem Harlekinbock, der merkwürdige Kunststücke aufführte und mit seinen langen Antennen und seinem bunten Gewand recht spaßig aussah.
Bo-Ghd meinte, dass Insekten wie diese sich dafür entschieden hatten, keiner Arbeit nachzugehen und stattdessen ihre Mitkäfer mit Liedern oder Possen unterhielten. Sie wurden trotzdem mit Heim und Essen beloht, jedoch schenkte man ihnen lange nicht so viel Respekt wie hart arbeitenden Insekten.


Unter Bo-Ghds Führung betraten die Gefährten den Königspalast. Der Palast war größer und weitläufiger als die anderen Gebäude, jedoch genauso schlicht und ungeschmückt.
Sie wurden in den Thronsaal geführt, der eigentlich nur ein großer leerer Raum mit einem einzelnen hölzernen Stuhl war. Vor diesem stand nun der Herrscher der Insekten, der Monarchfalter.
Der König war ein Schmetterling, der einen schlanken, schwarzen Körper besaß. Er hatte kurze Antennen und seine großen Augen strahlten in einem hellen Grün. Statt eines Mundes hatte er einen eingerollten Rüssel, der typisch für Schmetterlinge war. Ein feiner Pelz bedeckte seinen Leib.
Am beeindruckendsten waren seine Flügel, die er mal stolz aufklappte und mal wie einen Umhang sich um den Körper warf. Sie waren schwarz mit weißen Punkten, und mit großen Flecken, die rot wie die untergehende Sonne gefärbt waren. Sie waren in der Tat prächtig, und eines Königs würdig.

Der Monarchfalter hieß die Gefährten willkommen, mit einer Freundlichkeit, die sie etwas überraschte. Er vermochte die Menschensprache sehr gut zu sprechen; nicht perfekt, aber besser als Bo-Ghd. Es war wohl seine Position als König, die solch eine Fähigkeit verlangte.

„Ich erfreut, euch zu treffen. Selten mit Menschen haben zu tun.“ sagte er. Will fragte sich, wie er sprach, denn er schien keinen Mund zu haben.
„Die Freude ist ganz auf unserer Seite.“ erwiderte Eeza. „Wie fühlen uns geehrt, auch wenn wir nicht wissen, wie wir diese Ehre verdienen.“
„Ich wollte Menschen sehen, die wir gerettet und die so besonders sind, mit besonderem Auftrag.“
„Ihr wisst davon?“ fragte Thêl erstaunt. Sie hatten niemandem hier davon erzählt.
„Wir alles wissen, was in Wald passieren. Wir euch im Auge haben, seit ihr Wald betreten. Ja, wir ganz genau wissen, was ihr tun, und dass ihr habt gute Absicht.“
„Dann habt Ihr Kenntnis davon, wie wichtig unsere Mission ist. Bei allem Respekt, aber Ihr werdet uns doch nicht davon abhalten, oder?“ sagte Eeza.
„Euch nicht abhalten. Wir euch friedlich ziehen lassen, keine Sorge. Höchst wichtigen Auftrag ihr habt. Euch Weiterziehen verweigern wäre Verbrechen gegen das ganze Land.“
„Dann gestattet mir die Frage, warum ihr uns hierher beordert habt.“ sagte Thêl. „Versteht mich nicht falsch, wir sind Euch außerordentlich dankbar, dass ihr dem Jungen geholfen habt. Wir stehen in Eurer Schuld. Aber ich verstehe den Zweck nicht.“
„Zweck, ja. Alles Zweck hat in dieser Welt. Unserer es ist, Gleichgewicht im Wald zu wahren. Wir uns kümmern um kleine Dinge. Krankheiten, die bedrohen die Pflanzen. Andere Insekten, die nur Zerstörung haben im Sinn. Ihr seien Razzka… Fremdlinge. Ihr nicht sehen könnt, dass es geben mehr als nur eure Affären. Krieg, Furcht und Tod auch in dieser kleinen Welt. Ihr euch nehmen zu wichtig oft. Kein Vorwurf, denn ihr nicht wissen konntet, und euch nur kümmern eure eigene Angelegenheit. Aber mein Volk kümmern auch eure Sorgen. Darum wir helfen, wenn wir können. Wir immer da. Ihr nur nicht wissen, denn ihr halten uns für Tiere wo Gehirn nicht vorhanden. Nur Viecher, die man muss zerquetschen. “
„Ich verstehe. Ihr habt wohl Recht. Doch wie sollten wir es auch besser wissen?“ meinte Thêl.
„Ich euch auch keine Vorwürfe machen. Es gut ist, wie es ist.“
„Aber ihr könnt doch unmöglich mit allen Problemen im Wald fertig werden, oder?“ fragte Thêl. „Ich meine… Verzeiht, aber ihr seid doch klein. Wie könnt ihr da gegen die Riesenspinnen oder Beléssans Soldaten ankommen.“
„Ihr wahr sprechen. Doch wir nicht allein. Wir haben Hilfe von Mandera, Gott des Waldes. Ihr ihn kennen, ja? Wir wissen. Wir seine Augen und Ohren. Darum er euch auch geholfen hat, weil wir ihm gesagt haben.“
Thêl fiel sofort auf die Knie. „Dann müssen wir Euch dafür danken. Wir stehen noch mehr in Euer Schuld.“

„Danke Euch. Doch Unterwürfigkeit nicht notwendig. Dafür wir sind da.“ Der Monarchfalter trat auf die Gefährten zu und klatschte in alle vier Hände gleichzeitig. „Nun, dann wir dafür sorgen, dass ihr zur Menschenfestung kommen. Ihr müssen mir dafür aber Gefallen tun.“

Ein Diener trat heran, ein untersetzter Käfer, dessen Rücken rot war und schwarze Punkte trug. Er brachte dem König eine Schriftrolle. Sie war zusammengerollt und mit einem Band befestigt. Sie sah jedoch nicht aus wie Papier, sondern war grün, so als war sie auf einem Blatt geschrieben.

Der Monarchfalter nahm die Schriftrolle und reichte sie Eeza weiter.
„Nehmt dies. Ihr gehen nach Lassarna. Das ist gut. Ihr das bringen der Herrscherin der Menschenfestung und ihr geben. Sie Bescheid wissen.“
Eeza nickte demütig. „Wie Ihr wünscht. Das sollte kein Problem sein.“
„Eines aber: Ihr dürfen nicht den Brief lesen. Sie nur für die Herrscherin bestimmt. Das wichtig ist. Ich mich auf euch verlassen müssen.“
„Natürlich. Wir werden Eure Wünsche respektieren.“
„Das ist gut.“ sagte der Monarchfalter zufrieden.

„Und was nun?“ fragte Thêl.
„Nun wir euch helfen, zur Menschenfestung zu kommen. Ich euch nicht begleiten. Ich mich kümmern muss um Krieg. Nicht leicht zu sein König.“ seufzte der Monarchfalter.


Sodann verabschiedeten sich die Gefährten und der König voneinander, mit viel Freundlichkeit und Dankbarkeit füreinander.

Bo-Ghd führte sie hinaus. Unterwegs fragten sie ihn, was es mit dem Krieg auf sich hat, von dem der König gesprochen hat. Er erklärte ihnen, dass dieses Dorf im Zwist mit zwei anderen Nestern lag; mit dem der Bienenkönigin im Westen und mit dem des Kaisermantels im Nordosten. Alle drei Regenten hatten immer wieder Mordfliegen nach den anderen Herrschern ausgeschickt, und Raubwanzen und Raubspinnen, um kostbare oder essentielle Dinge zu stehlen. Sie hatten sich bisher damit begnügt, aber vor kurzem erst hat der Kaisermantel dem Monarchfalter den Krieg erklärt, und so würde es wohl in Bälde zu einer Schlacht zwischen den beiden kommen.

Dies musste die Gefährten jedoch nicht kümmern. Ihr Schicksal, ihre Zukunft, lag in einer anderen Richtung. Es bedeutete nicht, dass es ihnen egal war. Nach dem, wie sie alles gelernt hatten, würden sie die Dinge anders betrachten. Nun, da sie gesehen hatten, dass in dieser Welt mehr vor sich ging, als sie dachten, ja, sogar mehr, als sie sich jemals erträumt hätten, da wurden sie bescheidener. Ihn wurde vor Augen geführt, wie wenig wichtig die Menschen im großen Zusammenspiel der Natur eigentlich waren. Dass die Ängste, Sorgen und Nöte eines Einzelnen im Grunde bedeutungslos waren. Als sie den Königspalast verließen, kamen sie sich irgendwie belanglos vor.

Dennoch würden sie an ihrer Mission festhalten. Sie würden nicht aufhören, für ihr Ziel zu kämpfen. Ihre Aufgabe war von enormer Bedeutung, das war ihnen gewiss. Es ging schließlich um alle Menschen in ganz Aramar, vielleicht sogar der ganzen Welt. Auch wenn sie sich weiterdrehen würde, wenn sie es nicht taten. Für die Welt der Insekten oder der Pflanzen war es unbedeutend, ob Beléssan lebte oder nicht. Doch sie waren Menschen, und für ihre eigene Welt war es wichtig. Darum durften sie nicht aufhören. Sie durften das Gesamtbild nicht betrachten, damit der Sinn ihrer Aufgabe nicht verloren ging.

Bo-Ghd brachte die Gefährten zu einer Stelle etwas außerhalb des Dorfes. Dort, auf einer ebenen Fläche frei von Gras oder Blumen, warteten Libellen. Es waren fünf an der Zahl, mit schwarzem Körper und großen, schillernden Augen. Im Gegensatz zu den anderen Insekten waren dies gewöhnliche Libellen, ohne Zeichen von etwas Menschlichem. Dafür waren sie riesig, zumindest verglichen mit den Gefährten in ihrer geringen Größe. Sie waren so lang wie eine Kutsche (inklusive Pferd), und ihre Flügel hatten eine Spannweite wie ein kleines Haus. Als die Gefährten näher kamen, sahen sie, dass jede Libelle Zaumzeug und Zügel umgelegt hatte. Außerdem waren jedem Tier zwei Sattel über den Rücken gespannt.

„Nach Lassarna fliegen.“ sagte Bo-Ghd. „Keine Angst. Gute Reiter.“ Dabei machte er eine ausladende Handbewegung und zeigte auf vier andere Käfer, die bei den Libellen standen, ihnen über den Kopf streichelten und sie mit einem undefinierbaren Fleisch aus einem Korb fütterten.

Obwohl es eigentlich logisch war, dass sie Libellen, die wie Pferde geschmückt waren, als Reittiere benutzen würden, war den Gefährten doch ein wenig mulmig dabei. Besonders Will, der sich mit Insekten auskannte und wusste, wie schnell und wild eine Libelle fliegen konnte, missfiel der Gedanke daran. Andererseits war die Schnelligkeit wahrscheinlich auch ein Grund dafür, dass sie sie benutzten. So würden sie weitaus schneller ans Ziel kommen, als wenn sie auf irgendwelchen Käfern ritten. Außerdem konnten sie auf festem Boden leichter von Feinden erwischt werden als in der Luft. Noch dazu waren Libellen die besten Flieger aller Insekten. Es machte also Sinn, sie zu verwenden. Und vielleicht wären ihre Gastgeber, die ihnen doch sehr geholfen hatten, beleidigt, wenn sie sich weigern würden.

Mit flauem Gefühl im Magen, aber doch auch mit Zuversicht, stiegen sie schließlich auf die Libellen. Die Käfer, die die Fluginsekten lenken würden, setzen sich an der Hals, während immer zwei Gefährten auf einer Libelle Platz nahmen: Will und Thêl auf der ersten, Duncan und Eeza auf der zweiten und Bane und Stone auf der dritten. Die anderen beiden Libellen waren bloß Begleiter, auf denen nur ein Reiter saß.


Als alle aufgesessen hatten und fest im Sattel hockten, gab ein Reiter nach dem anderen seiner Libelle einen Befehl und schnalzte einmal mit den Zügeln. Die Libellen begann wild mit den Flügeln zu schlagen; so schnell, dass ein kräftiger Wind entstand und sie ein durchdringendes Brummen von sich gaben. Dann gaben die Reiter einen weiteren Befehl, und die majestätischen Tiere erhoben sich mit einem kräftigen Ruck in die Luft. Will sah, wie sich der Erdboden weiter und weiter entfernte. Er spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Die Libellen stiegen fast senkrecht empor, und als die Reiter fanden, dass sie die richtige Höhe erreicht hatten, gaben sie einen dritten Befehl. Ihre Reittiere hielten nur für einen Sekundenbruchteil inne, bevor sie mit einem schnellen Start vorwärts flogen.

Der Ritt auf den Libellen fühlte sich an, als würden sie gegen einen Sturm laufen. Der Fahrtwind pfiff ihnen um die Ohren, und sie spürten bald ein schmerzhaftes Stechen in ihnen, dass sie jedoch, so gut es ging, ignorierten. Der Wind war so stark, dass sie die Augen verengen mussten, um überhaupt etwas sehen zu können. Noch dazu war es am Anfang schwierig, beim Sitzen das Gleichgewicht zu halten, besonders wenn die Libelle Kurven flog. Die Chance, abzurutschen und herunterzufallen, war jedoch um ein Vieles geringer als vielmehr die Angst davor. An den Satteln waren nämlich Stoffbänder befestigt, die man als behelfsmäßigen Gürtel benutzen konnte. Außerdem hatten die Sitze auch einen Knauf zum Festhalten. Selbst bei hoher Geschwindigkeit war ein Abrutschen so gut wie unmöglich.
Abgesehen von diesen Kleinigkeiten war der Ritt auf den Libellen ausgesprochen gut. Sie flogen schnell, aber dafür ruhig und bedacht, und nicht im Zickzack oder in wilden Kurven, wenn es nicht notwendig war, sondern schön geradeaus. Wenn sie steigen oder sinken mussten, geschah das sanft und mit Rücksichtnahme auf die Menschen, die auf ihnen saßen. Selbst Kurven waren relativ unbedenklich, denn es geschah zwar schnell, aber nie hektisch, ungestüm oder plötzlich, und man konnte es kommen sehen.


Während des Fluges konnten die Gefährten sich umsehen, und zu ihrer Verwunderung entdeckten sie eine Menge Insekten, die sich nicht allzu weit entfernt in Richtung Osten bewegten. Die Reiter lenkten ihre Libellen etwas näher heran, sodass sie sie besser erkennen konnten. Nun sahen sie, dass sich all die Insekten in einer militärischen Formation bewegten. Es war eine Armee.
Dort waren mit Messern bewaffnete Dolchwespen, Köcherfliegen, die Bögen trugen und mit Schwertern ausgerüstete Sichelwanzen und Säbeldornschrecken. Schildläuse marschierten unter ihnen, mit großen und schweren Eisenschilden versehen. In der Luft schwirrten Stechmücken, die Speere hatten, und mit Wurfgeschossen ausgestattete Schmeißfliegen. Massive Bombardierkäfer, die explosive Waffen einsetzen, trampelten auf sechs Beinen zwischen den Soldaten umher. Zwischen ihnen waren auch Feuerwanzen und Feuerameisen; Insekten, welche die Magie beherrschten und Flammen schleudern konnten. Als Nachhut
ritten Heeresameisen auf aufwendig geschmückten Heupferden. Über ihnen flogen Waffenfliegen, die Munition und Ersatzwaffen trugen. Der Anführer dieses Heers war ein prächtiger Schmetterling mit roten und braunen Flügeln, der Admiral.

Dies war ein Teil der Armee des Monarchfalters, erklärte Bo-Ghd. Er hat sie gegen den Kaisermantel ausgeschickt, um dessen Stärke zu testen. Dieser Angriff sollte aber auch dazu dienen, feststellen, wie sein anderer politischer Feind, die Bienenkönigin, reagieren würde und welcher Seite sie helfen würde. Er schickte auch Chamäleonfliegen aus, die sich unsichtbar machen konnten und das ganze Geschehen beobachten sollten, um den König nachher Bericht zu erstatten.
Mit diesem Schachzug waren die wenigsten Insekten zufrieden, sahen sie ihn doch als eine Verschwendung von militärischen Ressourcen. Sie fürchteten auch, dass sich der Kaisermantel aufgrund dieser Aktion entscheiden könnte, einen Gegenangriff zu starten, und wenn seine Armee größer war als befürchtet, konnte dies schlimme Folgen haben. Doch weder sah jemand einen anderen Weg noch wagten sie es, ihren König anzuzweifeln.
Die Gefährten bekümmerte dies. Die Tatsache, dass selbst solch kleine Wesen blutige Kriege führten, war ein bittere Erkenntnis und zeigte gleichzeitig die traurige Unvermeidlichkeit des Krieges.


Der Flug auf den Libellen war schnell aber doch harmlos, obwohl die Reiter oft rasante Manöver flogen: hindurch zwischen engen Ästen, durch ein großes Loches in einem Baum, oder sogar quer durch dichte Hecken. Immer wieder klatschten den Gefährten ein Blatt ins Gesicht, und es hätte sie hier und da beinahe abgeworfen. Die Käfer benutzen Schwerter, um Zweige und Blätter abzutrennen, die ihnen im Weg hingen.
Einmal flogen die Libellen sogar durch die Öffnungen des Netzes einer Waldspinne hindurch. Den Gefährten blieb beinahe das Herz stehen, aus Angst, dass sie daran kleben blieben und von der Spinne gefressen wurden. Doch die Zwischenräume waren groß, und die Libellen hervorragende Flieger. Die Spinne in ihrem Netz würdigte sie nur eines kurzen Blickes. Sie waren viel zu klein, um als Beute in Frage zu kommen.
Während eines ruhigeren Momentes, als Will nur der Fahrtwind ums Gesicht blies, da musste er zugeben, dass er trotz seiner Angst sehr beeindruckt von den Libellen war. Er war noch nie auf einem fliegenden Tier geritten, und selbst Vögel hatte er nur beobachtet. Aber er konnte sagen, dass er noch nie so einen guten Flieger gesehen hatte. Jede Bewegung der Libellen hatte eine gewisse Anmut und Würde an sich. Selbst die heftigsten Schwenke und die schärfsten Kurven wirkten durchdacht, und niemals riskant oder unnötig. Die Libellen flogen, als wären sie eins mit dem Wind. Will erlebte oft, wie seine Furcht wich und Ehrfurcht an dessen Stelle trat. Er kannte diese Art von Mut von sich nicht, aber er gefiel ihm.



Auf halben Weg nach Lassarna wurde die Gruppe plötzlich von zwei Hornissen angriffen, die ihnen entgegenkamen. Es waren riesige Tiere, fast so groß wie die Libellen, mit langen Stacheln und scharfen Kiefern. Sie machten die Libellen nervös, und die Reiter konnten sie nur mit größter Mühe dazu bringen, nicht durchzudrehen. Sie zogen Schwerter und Speere, um sich zur Wehr zu setzen.

Bo-Ghd gelang es als erster, eine der Hornissen zu beseitigen. Er flog dicht an sie heran, und mit einem kräftigen Schlag seines Schwertes trennte er ihr die Flügel ab. Die Hornisse wurde augenblicklich von der Schwerkraft zu Boden gerissen und stürzte ins Unterholz. Es war unklar, ob sie überlebt hatte. Doch selbst wenn, konnte sie nicht mehr fliegen und stellte damit keine Gefahr mehr dar.

Die zweite Hornisse griff die Libelle an, auf der Bane und Stone saßen. Sie klammerte sich von unten an sie und stach ihr ihren Stachel durch den Leib. Der Reiter versuchte, sie mit seinem Schwert zu vertreiben, doch die Hornisse packte ihn einfach mit ihren Kiefern und riss ihn mit sich. Sie biss ihn entzwei und seine beiden Hälften fielen leblos zu Boden.

Währenddessen stürzten Bane und Stone, noch immer auf der sterbenden Libelle sitzend, dem Erdboden entgegen. Panik überkam sie. Bei Bane war es aber auch Zorn; Zorn auf die Hornisse, die sie grundlos angegriffen hatte. Er schrie ihr Flüche entgegen.
Eine der Libellen, die nur von einem Reiter besetzt war, flog derweil dicht unter der, auf der die beiden Jungen saßen. Geistesgegenwärtig lösten sie die Bänder, und auf ein Zeichen des Käfers unter ihnen sprangen sie ab. Der Reiter lenkte seine Libelle zielgenau unter den Beiden. Etwas unsanft, aber sicher, landeten sie auf deren Rücken. Bane verstauchte sich seinen linken Arm, und Stone prellte sich ein paar Rippen, doch es war nichts, was ihnen Kummer bereitete. Der Reiter flog etwas langsamer, so dass er beinahe in der Luft stehen blieb, und die beiden Jungen konnten mit etwas Mühe in die leeren Sitze klettern. Sie waren in Sicherheit.

Inzwischen tobte der Kampf mit der zweiten Hornisse. Die Libellen waren zu dritt, und sie waren die weitaus besseren Flieger. Nun gesellte sich die Vierte dazu. Der Hornisse steckten bereits zwei Speere im Körper, und sie wankte ein wenig, doch sie war nicht gewillt, aufzugeben. Als die vierte Libelle näher herankam, bereitete der Reiter seinen Speer vor. Doch Bane, immer noch wütend, schnappte ihm die Waffe aus der Hand. Bevor der Käfer noch etwas sagen konnte, schleuderte ihn der Junge bereits nach der Hornisse. Zorn schien den Speer zu lenken, und vielleicht war es auch Glück. Der Spieß traf das aggressive Insekt genau in den Hals. Die Hornisse verlor ihre Konzentration und kam ins Straucheln. Da flog einer anderen Reiter näher. Er holte mit seinem Schwert aus und traf die Hornisse an ihrem Schädel. Sie stieß einen Schrei aus und wand sich schmerzerfüllt hin und her. Ein weiterer Speer, den ihr einer der Reiter durch den Flügel warf, brachte sie ins Trudeln. Sie wehrte sich noch ein wenig, doch schließlich verlor sie endgültig die Kontrolle und stürzte zu Boden. Unsanft und mit einem hässlichen Geräusch prallte die Hornisse auf einem umgefallenen Baumstamm auf. Ihr Beine zuckten noch ein wenig, doch sie rührte sich nicht mehr.

Die Käfer seufzten erleichtert auf. Keiner von ihnen schien ernsthaft verletzt. Sie betrauerten für eine kurze Weile ihren verstorbenen Kameraden und sein treues Reittier. Dann setzten sie ihren Weg nach Lassarna fort.

Thêl fragte Bo-Ghd unterwegs, was es mit den Hornissen auf sich habe, da sie ja auch Insekten waren, aber keinerlei Anzeichen von Intelligenz aufwiesen, zumindest nicht im selben Maße. Er erklärte mit trauriger Miene, dass es in Aramar jede Menge Insekten gab, die keinen Verstand besaßen und nicht mehr als wilde Tiere waren. Es ärgerte ihn, dass die wilden Insekten sie angriffen und sie gezwungen waren, sie zu töten. Er betrachtete sie nämlich als Brüder. Sie waren außerdem auch der Grund, warum Menschen Insekten als eklige Biester betrachteten. Es bekümmerte ihn, dass so viele Leute sie grundlos verabscheuten; noch mehr sogar, dass die Menschen sie zerquetschten und viele Insekten sie deshalb fürchteten. Thêl versicherte Bo-Ghd, dass es nun ein paar Menschen weniger gäbe, vor denen sie Angst haben mussten. Es rang ihm fast so etwas wie ein Lächeln ab.



Es war früher Abend, als zwischen den Bäumen die Mauern von Lassarna auftauchten. Aus weißem Stein erbaut, war diese Stadt berühmt für ihre Architektur, besonders in solch primitiver Umgebung. Die vier Wachtürme der Grünen Festung, wie Lassarna auch genannt wurde, ragten über die Baumwipfel empor. So klein, wie die Gefährten waren, wirkten sie auf sie wie Säulen, die den Himmel stützten.

Die Reiter ließen ihre Libellen unweit eines Weges nieder, der von kantigen Steinen bedeckt war. Es gab eine Wiese mit flachem Gras neben der Stadtmauer, und dort landeten sie. Einer nach dem anderen schnallten sich die Gefährten ab und sprangen zu Boden. Wie froh waren sie doch, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Ihr Füße zitterten und ihr Kopf brummte, aber darüber sahen sie hinweg.

Schließlich wurde es Zeit, dass sie wieder ihre normale Größe erlangten. Bo-Ghd erklärte ihnen, dass es dabei nur einen Haken gab: Sie mussten dazu schlafen, denn bei vollem Bewusstsein konnte eine so plötzliche Änderung der Größe den Geist verwirren und Wahnvorstellungen hervorrufen. Zwar gefiel keinem der Sechs dieser Gedanke, doch sie erklärten sich einverstanden. Bo-Ghd versicherte ihnen, dass er und die anderen Käfer nicht von ihrer Seite weichen würden, bis sie groß waren, damit ihnen kein Leid geschehen würde.

Die Gefährten bedankten sich sehr herzlich bei Bo-Ghd für alles, was er für sie getan hatte. Sie dankten auch den vier Reitern, für den Flug, aber auch für das Opfer, dass sie gebracht hatten, in Form ihres getöteten Kameraden. Sie beschlossen, eine Schweigeminute für ihn einzulegen.

Dann wies Bo-Ghd sie an, sich auf den Boden zu setzen und gebührend Abstand voneinander zu halten, damit sie beim Wachsen nicht übereinander gerieten oder gar ineinander. Sie taten, wie ihnen geheißen, setzten sich hin und warteten ab. Sie waren etwas nervös, was passieren würde, vertrauten den Käfern aber.
Bo-Ghd hob seine beiden rechten Hände und sagte ein paar Worte in der Insektensprache. Ein weißes Licht trat aus seinen erhobenen Händen aus. Im selben Augenblick wurden den Gefährten die Augen schwer. Sie wurden immer müder und müder, und dann schliefen sie ein.


„He, ihr da! Aufwachen!“ war eine Stimme zu hören, und Thêl spürte, wie etwas in seine Seite gestoßen wurden. Er schlug die Augen auf. Er fand sich auf dem Rücken liegend und an derselben Stelle wieder, an der er eingeschlafen war. Er blickte sich um. Zufrieden stellte er fest, dass die Umgebung die gewohnte Größe hatte. Er sah auf seine Kameraden, und auch sie waren normal groß. Bis auf Bane und Will waren sie alle aufgewacht, alle von der Stimme geweckt.

Thêl setzte sich auf. Er sah zwei Männer, die zu seiner linken standen, und ihn und die Anderen argwöhnisch anstarrten. Beide trugen grüne Hemden und waren mit Schwertern und Bögen bewaffnet.

„Was tut ihr da?“ fragte einer der beiden Männer, einer mit langen, glatten, kastanienbraunen Haaren. „Warum liegt ihr hier auf dem Boden herum?“ Er sah Thêl an, und plötzlich weiteten sich seine Augen. „Thêl? Seid Ihr das?“
Thêl blinzelte und sah dem Mann ins Gesicht. Dann machte auch er große Augen. „Cathalion? Meine Güte, tatsächlich. Wie lange ist das her?“ Er stand auf und schüttelte dem Mann freudig die Hand.
„Zu lange.“ erwiderte der Mann. „Aber was tut Ihr hier? Warum liegt Ihr hier herum, wo wir doch so gute Unterkünfte in der Stadt haben? Ihr kennt den guten Wein des Gasthauses ‚Zum Silberturm’. Aber es hat mehr zu bieten als das.“
„Davon weiß ich nichts.“ sagte Thêl lächelnd.
„Aber im Ernst, was tut Ihr hier?“
„Das ist… eine lange Geschichte.“ Im selben Moment wurde Thêl hellwach. „Wir müssen zu Eurer Herrin, so schnell es geht.“
„Zur Prinzessin? Warum?“
„Ihr erfahrt es, wenn wir dort sind. Könnt Ihr uns hinführen?“
Der Mann zuckte mit den Schultern. „Solange ihr später Zeit für einen Trunk und ein wenig Plauderei habt, bringe ich Euch, wohin Ihr wollt.“
„Ich hoffe es. Wir werden sehen.“

Mit etwas Mühe erhoben sich die Gefährten, einer nach dem anderen. Dann weckten sie Bane auf. Er war besonders froh, nicht mehr klein zu sein.

Bei Will taten sie sich etwas schwerer. Er schien recht müde und erschöpft zu sein. Sein Kopf hatte wieder zu schmerzen angefangen. Erst nach mehrmaligem Ansprechen und Rütteln öffnete er langsam die Augen.

„Wasn?“ murmelte er, hob den Kopf und gähnte herzhaft.
„Wir sind da. In Lassarna.“ sagte Thêl. Komm, steh auf. Sonst muss ich dich tragen, und das ist dir sicher nicht Recht.“

Will starrte Thêl mit kleinen Augen an. Dann ließ er seinen Kopf langsam wieder auf den Boden sinken. „Mmmhmmnnoch fümf Minutn…“ brummelte er, und schlief dann wieder ein.

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Eistee Re: -
Zitat: (Original von Zarabeth am 08.05.2010 - 13:24 Uhr) Wie erfrischend mal nicht nur ein paar Seiten vorgesetzt zu bekommen, sondern eine fertige Geschichte! Ich habe sie noch nicht gelesen, werde sie aber zu meinen Favoriten hinzufügen und sie auf jeden Fall später, wenn etwas mehr Zeit ist, lesen.
MfG Zara


Danke. Würde mich sehr freuen, wenn du sie liest.

Leider muss ich dich enttäuschen. Sie ist noch nicht fertig. Tut mir leid. Ich weiß, warum lade ich sie dann überhaupt hoch? Naja, auch Meinungen und Kritiken zwischendurch sind hilfreich, um gewisse Dinge zu ändern oder zu überlegen, wie man weiterschreibt.

Ich hoffe, du wirst die Geschichte trotzdem lesen. Ich kann verstehen, wenn nicht, aber es wäre sehr schade.

LG
Eistee
Vor langer Zeit - Antworten
Zarabeth Wie erfrischend mal nicht nur ein paar Seiten vorgesetzt zu bekommen, sondern eine fertige Geschichte! Ich habe sie noch nicht gelesen, werde sie aber zu meinen Favoriten hinzufügen und sie auf jeden Fall später, wenn etwas mehr Zeit ist, lesen.
MfG Zara
Vor langer Zeit - Antworten
Eistee Re: -
Zitat: (Original von Wolkenmaedchen am 05.12.2009 - 18:16 Uhr) Ich hab nur den Anfang gelesen. Von der Idee her nicht schlecht, du hast auch schön beschrieben, aber es fehlt die Spannung.
Aber das wird schon noch.
Lg


Danke erstmal für die Bewertung.

Ich weiß nicht, wie weit du es gelesen hast. Aber es stimmt schon, am Anfang is es noch nicht so spannend, das kommt erst im Laufe der Geschichte. Hoffe du liest es noch weiter.

LG
Eistee
Vor langer Zeit - Antworten
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