Eine eiskalte Lady
Mit müden Bewegungen kam die alte Dame aus ihrem Lehnsessel. Soeben waren die letzten Nachrichten über den Bildschirm geflimmert und Mrs. Dorothy Hamilton freute sich nach einem langen Tag nun doch auf ihr Bett.
Gewiß, mit ihren 72 Jährchen machte sie noch einen recht vitalen Eindruck. Aber besonders in den letzten Wochen machte sich ihr altes Beinleiden wieder äußerst schmerzhaft bemerkbar. Eigentlich hätte sie sich ja schon längst operieren lassen sollen Doch die zusätzlich zu tragenden Kosten gaben ihre kärgliche Rente einfach nicht her. Also schleppte sie sich so gut es ging durch die schmerzenden Tage, die meist vier, fünf Tage anhielten. Danach ebbte der Schmerz allmählich wieder ab und dann gings wieder auf unbestimmte Zeit relativ beschwerdenfrei.
Ein schwaches Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie sich der eben gehörten Nachricht im Fernseher erinnerte, dass sachdienliche Hinweise, die zur Ergreifung des Täters führen, eine Belohnung von 8.000 Euro mit sich bringen würden, hatte es darin geheißen.
Die alte Dame seufzte tief auf, als sie sich ausmalte, wie es wäre, wenn sie sich die Belohnung der 8.000 Euro verdienen würde. Dann schüttelte sie selbst über ihren, wie sie sich eingestand, albernen Gedanken, den Kopf und sprach zu sich selber: „Du wirst senil, altes Mädchen...“ Aus dem schmalen Lächeln wurde ein leises Lächeln, als sie sich selbst antwortete: „Na, kann doch sein. Weiß mans?“
„Ach, sei still, dumme Gans. Geh schlafen!“ Worauf Dorothy wahrhaft müde „antwortete“: „Hast recht, ich lege mich hin. War ein langer Tag:“
Doch zuvor schlurfte sie noch in die kleine Wohnküche zurück, neben ihrem Schlafzimmer der noch einzige völlig intakte Raum ihrer einstigen, gesamten Wohnung.
Überbleibsel aus der Zeit, als sie noch rege ihre eigene Metzgerei geführt hatte, die, inzwischen längst zum Sanierungsobjekt degradiert, aber durch eine Verbindungstür zum Teil noch erreichbar war.
Hin und wieder trieben die Erinnerungen an die gekachelten Räume mit ihrem ureigenen Geruch sie auch förmlich dorthin. Doch bis auf ein kleines Flurstück, in das eine schwere Metalltür, in den einstigen Kühlraum führend, eingelassen worden war, sowie der Verbindungsgang zum einstigen Ladenraum, war heute nichts weiter begehbar, geschweige denn, dass es an einstiges hektisches Treiben in einer Metzgerei erinnerte ...
Dorothy Hamilton wollte gerade den uralten Riegel vorschieben, als das knöcherne Pochen hektisch und unregelmäßig von der Außenseite her, sie zusammenzucken ließ. Gleichzeitig ließ es sich von außen her vernehmen: „Bitte ...“, tönte es schwach zu ihr herein, „helfen Sie mir. Ich ... ich werde verfolgt!“
Mehr neugierig als ängstlich schob sie die Verriegelung wieder zurück, öffnete einen Spalt weit ihre Tür was ihr in der gleichen Sekunde auch schon zum Verhängnis wurde!
Ungestüm warf sich der späte und offensichtlich nur scheinbar Hilfebedürftige gegen das Holz der Türfüllung. Die Wucht, mit der die Tür ins Innere der Wohnung schlug, hätte Dorothy Hamilton gewiß zu Boden geschleudert, wenn sie nicht intuitiv einen Schritt zurückgewichen wäre.
Starr vor Schreck brachte sie im ersten Augenblick keinen Ton über die bebenden Lippen. Und das Zittern ihrer Hände verstärkte sich, als sie nun in das Gesicht des Eindringlings blicken konnte: Der gesuchte Ganove!, stob es durch ihren Kopf. Der Mann, auf dem die 8.000 Euro Belohnung ausgesetzt sind! Ihre Gedanken überschlugen sich fast.
Mit wilden Blicken durchmaß der Gangster ihre kleine Behausung. Dann hefteten sich seine eng beieinander stehenden Augen auf ihr altes Gesicht:
„Hör gut zu, alte Lady“, stieß er grob aus, „wenn du keine Zicken machst, passiert dir auch nichts. Ein, zwei Tage, dann biste du mich wieder los!“
Dorothy Hamilton schwieg. Was hätte sie auch sagen sollen ... Doch inzwischen hatte sie sich auch schon wieder soweit in der Gewalt, dass das Zittern ihrer Hände nachgelassen hatte, und sie sogar mit fester werdender Stimme und eher ausdrucklosem Gesicht seinen bohrenden Blicken standhielt:
„Sie sind der gesuchte Verbrecher“, konstatierte sie, wobei sie sich selbst kopfnickend recht gab, ohne den Mann aus den Augen zu lassen. „Der, der im Nachbarort die Bankfiliale überfallen und den Kassierer niedergeschossen hat, richtig?!“
Mit all ihrem Mut hatte sie dann leise die Worte über ihre Lippen gebracht und wurde nun auch erst den handlichen Leinensack gewahr, den der Mann in seiner linken Hand fest umklammert hielt.
„Bist ja ein ganz kluges Mädchen, alte Lady. Dann weißt du ja auch gleich Bescheid, was dir blüht, wenn du auf dumme Gedanken kommen solltest, klar ...?!“
Er legte eine gewichtige Pause ein, wobei er gleichzeitig Dorothy Hamilton mit dem Kinn aufforderte, sich zu setzen. Widerspruchslos gehorchte die alte Dame.
„Ich werd übrigens tatsächlich verfolgt, Lady“, ließ da der Gangster das Gespräch wieder aufleben. „Von den Bullen, verstehste?“
Natürlich verstand Dorothy.
„Kann sein, dass sie mich gesehen haben ... vielleicht aber auch nicht ...“ Der Mann verstummte verdutzt, als er Dorothy Hamilton geradezu liebevoll lächeln sah.
„Du brauchst also einen sicheren Unterschlupf“, konstatierte sie überlegend und kopfnickend und indem sie einen vertrauten Ton anschlug. „Aber ich fürchte, da bist du bei mir an der völlig falschen Adresse. Sieh dich doch um hier könnte sich nicht einmal eine Maus ungesehen verstecken..!“
Im Stillen mußte er ihr recht geben. Doch die beiden Polizisten, die ihm gefolgt waren, hatten ein langes Verstecksuchen schier unmöglich gemacht. Für einen kurzen Moment hatte er sie abschütteln können, den Eingang zu dieser eher abbruchreifen Wohnung entdeckt und war hineingesprintet. Das es hier tatsächlich noch Mieter zumindest eine Mieterin gab, erschien ihm im Nachhinein schon eher wie ein Geschenk des Himmels.
Dorothy Hamilton blickte ihrem Gegenüber ins Gesicht:
„Es gäbe da wohl ein ziemlich sicheres Versteck ...“
Ein neuerliches Pochen, diesmal energischer, ließ die Türfassung erzittern. Gehetzt blickte sich der Gangster um. Dann riß er die alte Dame brutal zu sich heran:
„Keine Faxen!“ drohte er ihr knurrend ins Ohr.
Dorothy schüttelte nur kurz ihr graues Haupt, versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien.
„Kommen Sie mit!“ wisperte sie entschlossen. „Schnell doch!“
Die Kaltschnäuzigkeit, mit der die unfreiwillige Gastgeberin die Worte herausbrachte, ihr regelrecht energischer Tonfall ließen den Mann tatsächlich spontan hinter sie hereilen.
„Wohin?“ brachte er leise über die Lippen als Dorothy Hamilton ihn in Richtung einstiges Ladenlokal bugsierte.
„Hier herein“, wies sie ihn an. „Und keinen Muckser sonst haben sie dich doch noch beim Wickel. Das hättest du dir dann selbst zuzuschreiben!“
Warum er ihr in diesen Augenblicken so ergeben gehorchte, wußte der Gangster selber nicht zu sagen. Vielleicht hat die Alte selbst Dreck am Stecken, überlegte er amüsiert, als er sich an der Wand entlang durch den fensterlosen Raum tastete, wohin Dorothy ihn geführt hatte. Er preßte sein Ohr gegen die kalte Metalltür, lauschte angestrengt ...
Tatsächlich, die alte Lady schien ihn wahrhaftig nicht verraten zu wollen ...
„... Wo...?“, hörte er schwach ihre Stimme. Schwach, aber dennoch deutlich zu verstehen. „Aber nein, meine Herren. Und glauben Sie mir, trotz meines Alters sind meine Augen noch sehr gut. Das hätte ich bestimmt gesehen, wenn hier irgendwer hereingekommen wäre ... aber bitte, wenn Sie meinen, sehen Sie sich gern um...“
Der Gangster hegte keinen Zweifel daran, dass es sich bei den Neuankömmlingen um die beiden Beamten handelte, die er zum Glück noch hatte rechtzeitig abhängen können. Und die offenbar eine „Hausdurchsuchung“ für überflüssig erachteten.
„Tatsächlich“, frohlockte es in dem Gangster, „die Alte hat die Bullen tatsächlich abgewimmelt, ich fass es nicht. Mensch, hab ich ein Schwein!“ Er lachte sogar hohntriefend auf, als er hörte, wie die alte Frau geräuschvoll die Tür hinter den Beamten wieder zufallen ließ. Ungeduldig wartete er darauf, dass sie ihn wieder aus seinem kühlen Versteck herausholte.
Doch daran dachte Dorothy Hamilton nicht einmal im Traum! Richtiggehend erheitert machte sie es sich in ihrem breiten Lehnsessel bequem, in dem sie schon so oft in den letzten Jahren eingeschlummert war. Doch nur kurz gönnte sie sich die kleine Verschnaufpause, dann schob sie sich bedächtig wieder in die Höhe, wobei es ihr lästerlich über die Lippen kam: „Verdammtes Knie!“
Doch schon lenkten andere Gedanken sie vom Schmerz in ihrem Bein wieder ab: „So, jetzt dann nur noch das Kühlaggregat einschalten ...“ Ein diabolisches Leuchten blitzte in ihren Augen auf, während ein vergnügt schmunzelndes Lächeln ihre alten Gesichtszüge um Jahrzehnte zu verjüngen schien.
Ein Lächeln, das zu einem leisen Lachen anschwoll, als sie an den Geldsack dachte, den der Gangster in seiner Hand gehalten hatte... und in dem sich gewiß weitaus mehr Bares befinden dürfte, als die Belohnung ausmachen würde.
„Ts, 8.000 läppische Euro ... mit euren Almosen könnt ihr andere abspeisen, doch keine Lady wie mich! ... aaah, das ist das Thermostat ja schon ... mal nachdenken ...mhmm ... ich denke, bei minus 85° Celsius, wird er auch nicht allzu lange frieren müssen ... dann hat ers schnell hinter sich ... und nächste Woche schaue ich mal nach und lass ich mich dann mal überraschen, was mir da jemand so unverhofft zum Geburtstag mitgebracht hat ...“
© Gerd Kirvel