Am heutigen Tage macht sich Maria auf den Weg, zu jenem Ort, der die Erinnerungen birgt, die ihr seit langer Zeit seelische Schmerzen bereiten. Jetzt steht sie auf dem Flughafen Berlin-Tegel und wartet auf die Abfertigung. Das einst so hübsche Gesicht sieht blass aus, nach den vielen Tränen, wie ausgewaschen. Die tiefgrünen Augen haben ihren Glanz verloren, Trübheit nimmt Platz an dessen Stelle. Ihre früher so seidig blonde Mähne wirkt nach dem Kummer der letzten Jahre matt und stumpf. Marias Blick schweift durch die Halle, überall nimmt sie fröhliche Menschen wahr, keiner, der auch nur annähernd so melancholisch wirkt, wie sie selbst. Eine raue Männerstimme ruft die Reisenden des Fluges nach Phuket zur Abfertigung. Die Menschen strömen hastig an ihr vorbei. Langsam folgt sie der Masse zum Check-in. Kurz darauf betritt sie das Flugzeug und schlängelt sich durch den schmalen Gang. Auf der Suche nach ihrem Platz rempelt sie einen Passagier an.
„Entschuldigung, das war keine Absicht“, flüstert sie leise.
Der Mann dreht sich um und lächelt.
„Das macht doch nichts. Welchen Platz haben sie?“
Leicht verlegen sieht sie auf ihr Ticket und zeigt auf den Sitz in der Mitte.
„Der hier.“
Der gut aussehende Mann nimmt ihr die Tasche ab und packt sie in das Gepäckfach.
„Wenn sie möchten, können sie meinen Fensterplatz haben.“
Überwältigt von seiner charmanten Art, setzt Maria sich direkt ans Fenster und überlegt einen Moment, ob er versucht hatte, mit ihr zu flirten. Er ist groß, gut gebaut, mit schwarzen Haaren, und seine tiefblauen Augen würden wohl jede Frau zum Träumen bringen. Sein Aussehen wirkt sehr markant und männlich, sie verspürt ein leichtes Kribbeln in der Magengrube. Mit einem kurzen Blick bemerkt sie, dass er keinen Ehering trägt. Dann besinnt sie sich wieder auf ihr Ziel, die Erlebnisse ihrer Vergangenheit zu bewältigen. Es soll schließlich keine Vergnügungsreise werden. Das Flugzeug fängt an zu rollen und erhebt sich langsam in die Luft. Unruhe beherrscht jetzt ihre Gedanken. Freunde hatten sie gewarnt, diesen Ort nochmals zu besuchen. „Es wird dir danach vielleicht noch schlechter gehen!“, hatte ihre beste Freundin gesagt. Doch Maria fühlt, dass sie nur dort mit ihrer Vergangenheit abschließen kann. Mit feuchten Händen sitzt sie nun da, zusammengekauert starrt sie aus dem Fenster.
„Geht es ihnen gut?“, fragt der Mann, der ihr vorhin den Sitzplatz anbot.
Die nervöse Frau schaut zu ihm rüber: „Danke. Es geht schon wieder ... Wird wohl der Gedanke an den langen Flug sein.“
„Die Vorstellung, fast achtzehn Stunden im Flugzeug zu sitzen, kann schon ganz schön erdrückend sein“, antwortet er.
Sein Lächeln löst bei ihr angenehme Gefühle aus, sie richtet sich auf und holt tief Luft. Maria kramt ein Buch hervor und fängt an, darin zu blättern.
„Ich werd mich ablenken", entgegnet sie ihm trocken und taucht ab in eine andere Welt.
Nach einem kurzen Zwischenstopp in München geht die Reise in einem anderen Flieger weiter. Ein älteres Ehepaar setzt sich neben Maria, hatte sie doch insgeheim ein wenig gehofft, wieder einen Platz in der Nähe des charismatischen Mannes zu haben. Seit langer Zeit gefiel ihr wieder jemand. Sie schaut sich um, doch kann ihn nirgendwo sehen. Als sie nach vielen Stunden endlich in Phuket landet, ist der Gedanke an ihre Begegnung längst wieder verflogen. Die junge Frau macht sich auf den Weg ins Hotel am Strand von Khao Lak. Bis dahin sind es noch ungefähr siebzig Kilometer. Es ist kurz vor drei Uhr nachmittags, die Luft ist unangenehm heiß und trocken. Der Taxifahrer hört ohrenbetäubende Musik, nervig hohe Töne stechen wie Nadeln in ihren Kopf. Mit Zeichensprache bittet sie den etwas befremdlich wirkenden jungen Mann am Steuer, die Musik auszuschalten. Nach einer langen, anstrengenden Fahrt ist Maria froh, endlich das Hotel an der nächsten Ecke zu sehen. Völlig erledigt steigt sie aus, gibt dem Taxifahrer den vereinbarten Fahrpreis und betritt die Hotelhalle. Freundlich wird sie von einem Angestellten in Empfang genommen. Der Hausdiener nimmt ihr die Taschen ab, sie folgt ihm in den Fahrstuhl. Immer wieder grinst er sie an, sein Gesichtsausdruck wirkt künstlich, sie kann sich das Schmunzeln nicht verkneifen. Der Hotelangestellte scheint daraufhin leicht verwirrt, er stolpert beim Verlassen des Fahrstuhls. Mit dem Blick nach unten gerichtet, zwingt sich Maria, ernst zu sein. Vor dem Hotelzimmer gibt sie dem von ihrem Anblick sichtlich irritierten Mann ein Trinkgeld und verabschiedet sich. `Was für ein seltsamer Tolpatsch´ denkt sie sich und begutachtet das Zimmer. Die Aussicht macht etwas her, man sieht eine gepflegte Grünanlage, in der Mitte ein wunderschöner Swimmingpool. Bei dieser drückenden Hitze empfindet man ihn als besonders einladend. Das Zimmer wirkt beruhigend, dunkelbraune Möbel ergänzen die lachsfarbenen Wände. Erschöpft geht Maria ins Bad. Nach dem Zähneputzen und Duschen zieht sie sich ein seidig rotes Nachthemd an und legt sich kraftlos ins Bett. Sie braucht jetzt unbedingt etwas Schlaf. Es dauert nicht lange, bis sie eindämmert. Dunkle Träume schleichen sich ein. Die junge Frau fängt an zu schwitzen, wälzt sich unruhig hin und her. Wieder sieht sie die Bilder ihrer schrecklichen Erlebnisse, sie springt hoch. Keuchend, nach Luft ringend, rennt sie ins Bad. Schnell dreht sie den Hahn auf und spritzt Wasser in ihr glühend heißes Gesicht. Langsam beruhigt sich ihr Puls, die Körpertemperatur reguliert sich. Nach dem Adrenalinschub findet sie nicht mehr in den Schlaf, sie schaltet den Fernseher ein. Quälende Fragen kommen ihr in den Kopf. Wird sie jemals mit der Vergangenheit abschließen können? Kann sie irgendwann wieder ein glückliches Leben führen?
Es ist bereits früher Abend, als Maria beschließt, den Ort des Geschehens aufzusuchen. Der Fußmarsch dauert nicht lange, doch in der brütenden Hitze raubt er ihr die letzte Kraft.
Als sie am Strand ankommt, schließt sie die Augen. Ihr wird schwindelig, die Beine fangen an zu zittern, sie kann nur noch mit Müh und Not stehen. Sie kniet sich nieder, der Sand brennt wie Feuer auf ihrer Haut. Eine riesige Welle rast mit unglaublicher Geschwindigkeit auf den Strand zu. Der Boden wird Maria unter den Füßen weggerissen. Verzweifelt paddelt sie mit ihren Armen umher. Ein heftiger Schlag trifft sie im Nacken, sie krallt sich ängstlich an einen Baum. Das Wasser schwappt über ihr Gesicht. Es schnürt ihr den Atem ab, sie hechelt nach Luft. Mit großen Schmerzen im Nacken und letzter Kraft klettert sie ein Stück den Baum hoch. Maria schreit um Hilfe, auch wenn sie weiß, dass niemand diese Naturgewalt aufhalten kann. Sie fällt in eine tiefe Ohnmacht.
Weit entfernt hört sie eine Stimme: „Hallo? Können Sie mich hören? Wachen Sie auf!“
Als sie wieder zu sich kommt, sieht sie den Umriss eines Mannes über sich. Die Bilder werden klarer. Es ist der Mann aus dem Flugzeug, völlig verschwitzt, mit Joggingsachen.
„Geht es ihnen gut? Ein Arzt kommt gleich!“, sagt er besorgt und streicht ihr behutsam die Haare aus dem Gesicht.
Mit neugierigen Blicken stehen Menschen um sie herum und interessieren sich für das Geschehen.
Völlig fassungslos fragt Maria: „Wie kommen sie denn hier her? Joggen sie etwa bei dieser Hitze?“
Über diese Frage muss er lächeln. Im gleichen Moment trifft der Doktor ein.
„How are you? We fly you in a hospital!“, nach einer kurzen Untersuchung packen der Arzt und sein Helfer die ausgelaugte Frau auf eine Trage und laufen los.
Maria schaut in Richtung Strand, der Mann steht immer noch da. Sie würde ihn wieder verpassen, denkt sie sich gerade. Doch plötzlich joggt er los und holt sie kurz darauf hin ein.
„In which hospital the woman goes ?“, Schweißperlen bedecken seine Stirn.
„Bangkok-Phuket Hospital – we fly with helicopter“, antwortet der Arzt und läuft unbeirrt weiter.
Der attraktive Mann bleibt stehen und schaut Maria nach.
Im Krankenhaus bekommt die entkräftete Frau einen Tropf angelegt, der sie wieder in Form bringt. Die Ärzte sagen ihr, dass sie über Nacht noch unter Beobachtung bleiben soll, danach könne sie ihren Urlaub fortsetzten. Es ist mittlerweile später Abend, als es an ihrem Zimmer klopft. Die Tür öffnet sich und der Mann vom Strand steht vor ihr.
„Hallo! Ich wollte nur sehen, ob sie sich besser fühlen“, er geht mit langsamen Schritten auf ihr Bett zu.
Maria freut sich über den Besuch und zeigt es mit einem Lächeln: „Es geht mir schon viel besser. Danke!“
Der Mann setzt sich auf einen Stuhl.
„Wir sind uns doch schon im Flugzeug begegnet, da ging es ihnen auch nicht so gut.“
Maria nickt: „Mir geht es seit Jahren nicht mehr gut. Ich möchte sie aber wirklich nicht damit belasten.“
Gedankenversunken schaut sie aus dem Fenster und guckt in Richtung Meer.
„Erzählen sie mir, was sie bedrückt! Vielleicht muss es raus und es geht ihnen danach besser. Es kann doch kein Zufall sein, dass wir uns zwei Mal in so kurzer Zeit begegnen!“
Die junge Frau blickt in seine Augen, die grenzenloses Vertrauen ausstrahlen.
„Okay ... Vor vielen Jahren ... Ich erinnere mich noch genau an den Tag! Es war der 26.12.2004 ...“
Es folgt ein Schweigen. Der junge Mann zieht die Augenbrauen hoch.
„War an diesem Tag nicht das Tsunami-Unglück?“, fragt er.
Maria kann ihre Tränen nicht zurückhalten.
„Der Tsunami kam so überraschend … Wir wurden einfach weggerissen, die Flutwelle überschwemmte in einem Augenblick die gesamte Küste und zerstörte alles, was dem Druck nicht standhalten konnte. Mein Ehemann knallte mit voller Wucht gegen ein Haus, ich musste mit ansehen, wie er bewusstlos weggespült wurde. Zwei Tage suchte ich trotz meiner Verletzungen alles ab, lebte in Ungewissheit und dann fand ich ihn schließlich - tot “, sie nimmt ruckartig die Hand vors Gesicht und ihr Kopf neigt sich nach unten. „Immer wieder denke ich: Warum waren wir ausgerechnet in dieser Zeit am Strand? Hätten wir doch nur den Ausflug nach Phuket gemacht, wie wir es erst vorhatten! Warum wird einem das genommen, was man am meisten liebt? Diese quälenden Fragen fressen mich noch heute auf!“, schluchzt sie.
„Das tut mir wirklich sehr leid! Und sind sie deshalb hierher zurückgekommen - um damit abzuschließen?“, fragt er traurig.
Maria wischt sich die Tränen aus dem Gesicht: “Ich dachte, dass ich nur hier neu anfangen kann. In den letzten Jahren habe ich mich selbst total verloren. Ich liebte meinen Ehemann über alles und ich kann einfach nicht glauben, dass ich nie wieder in seine Augen blicken kann ...“
Schwermütig schaut er sie an: „Das ist wirklich sehr traurig, aber sie müssen trotzdem nach vorne schauen. Das Unglück ist schon so viele Jahre her. Das Leben geht weiter. Ich weiß, wie schlimm es ist, einen geliebten Menschen zu verlieren ... Sie sollten sich nicht ständig den Gedanken hingeben. Unternehmen sie etwas! Was ihnen Spaß macht und sie ablenkt!“
Sie schweigt einen kurzen Moment, dann bemerkt sie: „Morgen entlassen mich die Ärzte, ich werde versuchen, die Reise als Urlaub zu sehen, als Abschied von meinem Mann und den damit verbundenen schrecklichen Erinnerungen. Ich versuche es ...“
Seine blauen Augen fangen an zu leuchten: „Das freut mich! Und wenn sie Lust haben, können wir auch gerne etwas zusammen unternehmen. Mein Name ist übrigens Maik.“
Sie gibt ihm die Hand: „Ich heiße Maria.“
Die junge Frau steht am Wendepunkt ihres Lebens und wird von nun an neu beginnen ...