Kurzgeschichte
Momente des Vergessens

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"Momente des Vergessens"
Veröffentlicht am 08. Juli 2009, 12 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Momente des Vergessens

Momente des Vergessens

Es ist Montagmorgen, Peter sitzt in der S-Bahn auf dem Weg zur Arbeit. Um diese Zeit ist es besonders voll, manche Gesichter kennt man längst, nach etlichen gemeinsamen Fahrten werden sie vertrauter. Peter ist ein gut aussehender Mann mittleren Alters mit sportlicher Figur. Er sitzt am Fenster und sein Blick mustert den Bahnhof Adlershof, in den die Bahn gerade einfährt. Sein Herzschlag wird schneller. Eine hübsche Frau betritt die Bahn. Fast jeden morgen sieht er sie, diese Bildschöne mit rehbraunen Augen und unglaublich langen blonden Haaren. Sie hat eine atemberaubende Figur, und die Art, wie sie sich bewegt, lässt den Männern den Atem stocken. Immer wenn sie das Abteil betritt, wird es still und alle Augen schauen neugierig auf sie. Heute trägt die junge Frau ein knappes, schwarzes Kleid mit tiefem Ausschnitt. Sie setzt sich auf eine Bank, Peter schräg gegenüber. Ihr Kopf neigt sich nach unten, sie holt ein Buch aus ihrer Tasche. Beim Hochschauen schenkt sie ihm einen unverwechselbaren Augenaufschlag. ´Was für eine Frau´ denkt er sich gerade, als sein Handy klingelt. Nervös drückt Peter die Rufannahmetaste.

„Hallo?“

„Hi. Ich bin es! Du bist bestimmt schon in der Bahn! Ich hatte ganz vergessen, dich zu fragen, ob du nach der Arbeit noch was einkaufen kannst!“, sagt seine Ehefrau Patricia.

„Ja. Kein Problem! Mach ich“, erwidert er knapp.

„Okay, Schatz. Ich wünsch dir einen angenehmen Tag. Bis heut Abend! Bye.“

Peter entgegnet ein kurzes „Tschüss“ und legt auf.

Die hübsche Frau gegenüber sieht ihn an und lächelt verschmitzt. Wahrscheinlich ist ihr aufgefallen, wie verkrampft ihn der Anruf gemacht hat. Sie steht auf und setzt sich provozierend neben ihn. Überrascht schaut Peter in ihr Gesicht. Ihr Anblick weckt ein unbeschreibliches Gefühl in ihm. Er überlegt, ob er sie ansprechen soll. Am gestrigen Abend offenbarte ihm seine Frau, dass sie sich nach Feierabend mit einem Kunden bei einem Kaffee getroffen hatte. Dieses Treffen hatte Peter missfallen, es machte ihn rasend vor Eifersucht. Ein heftiger Streit entbrannte. Doch jetzt in dieser Situation … gab es ihm ein Alibi. Was seine Frau konnte, das kann er schon lange …

„Guten Morgen. Wir sind uns schon ziemlich oft begegnet“, sagt Peter und reicht der Unbekannten die Hand.

Die junge Frau lächelt, so nah ist er ihr noch nie gewesen. Er stellt fest, dass ihre Haut makellos ist. Zarte Sommersprossen zieren ihr Porzellangesicht. Ihm fällt sofort die dezente Kette mit dem Fragezeichen Anhänger auf. Genauso sieht er die Welt – mit einem Fragezeichen. Das kann doch kein Zufall sein.

Sie schaut ihm tief in die Augen: „Das stimmt. Wir sind uns schon oft über den Weg gelaufen. Eigentlich fast jeden Morgen. Mein Name ist Christina.“

„Ich heiße Peter“, seine Stimme klingt etwas aufgeregt.

Es folgt ein langes Schweigen, die hübsche Frau vertieft sich wieder in ihr Buch.

Ein paar Bahnhöfe weiter steht sie auf: „Ich muss die nächste Station aussteigen.“

Sie packt das Buch in ihre Tasche und setzt sich eine mondäne Sonnenbrille auf.

Noch ehe Peter einen weiteren Gedanken fassen kann, spricht er sie an: „Morgen streikt die S-Bahn. Ich fahre mit dem Auto. Kann ich sie vielleicht ein Stück mitnehmen?“

Christina ist sichtlich erfreut über das Angebot: „Gern. Wenn es ihnen keine Umstände bereitet.“

„Ganz und gar nicht. Dann hole ich sie vom Bahnhof Adlershof ab? Ist für sie um sieben Uhr in Ordnung?“, fragt Peter erwartungsvoll.

„Ja, das passt super. Dann, bis morgen!“, die attraktive Frau steigt aus der Bahn und verschwindet in der Masse.

Als Peter die Arbeitsstelle erreicht, ist er immer noch aufgewühlt.

„Morgen Peter! Na alles klar?“, fragt ein Arbeitskollege.

„Morgen! Alles bestens“, Peter setzt sich an den Tisch und versucht, sich auf die Arbeit zu konzentrieren.

Freude und Aufregung verspürt er bei dem Gedanken, morgen die Bildschöne wiederzusehen. Es fällt ihm schwer, sich abzulenken, der Tag zieht sich unheimlich in die Länge. Als es langsam Abend wird, erreicht er sein Zuhause. Peter zieht sich Joggingsachen an und läuft seine tägliche Stunde durch den Wald. Immer wieder kreisen seine Gedanken. Soll er besser seiner Frau davon erzählen? Oder morgen nicht hingehen? Er fühlt sich zu der Fremden hingezogen, das weiß er sicher. Nach dem Lauf rasiert er sich und cremt sein Gesicht ein. Er begutachtet sich im Spiegel. Sein Aussehen wirkt markant, durchaus attraktiv. Er hat dunkles teilweise schon ergrautes Haar, was ihn geradezu interessant aussehen lässt. Seine blauen Augen haben lange nicht mehr so gestrahlt. Zufrieden geht er ins Wohnzimmer und nimmt sich ein Buch zur Hand. Als es schon spät ist, geht die Wohnungstür auf. Mit schlechter Laune betritt Patricia die Wohnung.

„Hallo Schatz“, grummelt sie.

„Guten Abend, hattest du einen schönen Tag?“, fragt Peter demonstrativ, der die Launenhaftigkeit seiner Frau gewohnt ist.

„Nee. Ein anstrengender Tag war das! Meine Chefin hat mir wieder mal die undankbarsten Aufgaben zugeteilt! Ich geh duschen und ins Bett“, sie gibt ihm einen flüchtigen Kuss und verschwindet ins Badezimmer.

Sie ist eine wahre Meisterin der Melancholie. Gleichgültig setzt sich Peter an den Computer und surft durchs Internet. Er schaut nach dem Wetter für morgen. Es soll sehr heiß werden. ´Wie passend´, denkt er sich, ´bei dem Gedanken an Morgen wird mir schon ganz heiß´, er lächelt vor sich hin. Nachdem er noch die Nachrichten gelesen hat, folgt er Patricia ins Bett.

Regungslos liegt sie da, nur mit einem Laken umhüllt. Sie schläft tief und fest. Es dauert nicht lange, bis auch Peter einschläft.

 

Es beginnt ein neuer Tag, als der Wecker klingelt. Der gut gelaunte Mann geht in Küche und macht sich einen Kaffee. Seine Frau liegt noch im Bett, als er die Wohnung verlässt, sie hat heute wieder Spätschicht. Mit einem schwarzen Muskelshirt und einer stonewashed Jeans bekleidet, steigt er ins Auto und fährt zum Bahnhof Adlershof. Als er um die Ecke biegt, sieht er die Frau stehen, die ihm den Kopf verdreht. Peter hält an, schaltet die Warnlampe ein. Christina steigt in den Wagen, sie trägt wieder figurbetonte Sachen, ein knappes rotes Top mit einer hautengen Jeans und roten Sandaletten. Zurückhaltend gibt sie ihm die Hand.

„Guten Morgen. Danke fürs Mitnehmen. Ich muss zur Kurfürstenstraße, die U-Bahn soll wohl ab Warschauer Straße fahren. Kommen Sie dort vorbei?“

„Kommt nicht in Frage! Ich bringe Sie zur Kurfürstenstraße. Es ist von dort auch nicht weit bis zu meiner Arbeitsstelle.“

„Okay. Danke ...“, sie streift mit den Fingern verführerisch durch ihre Haare.

Ihre Hände sind grazil, sie trägt keinen Ehering.

Peter fährt los und nimmt seinen Mut zusammen: „Sind sie liiert?“

Verlegen schaut Christina zu ihm rüber: „Nicht mehr so richtig. Es kriselt momentan in meiner Ehe. Wir haben uns eine Auszeit genommen, um uns über unsere Gefühle klar zu werden. Und sie?“

„Ich bin verheiratet“, sagt er wortkarg.

Die hübsche Frau zieht die Augenbrauen hoch und guckt aus dem Fenster.

„Mich würde interessieren, warum sie ausgerechnet ein Fragezeichen um den Hals tragen?“, Peter schaut auf ihre Kette.

„Sie sind der Erste, der mich das fragt. Es war eine Sonderanfertigung. Das Fragezeichen hat für mich eine große Bedeutung, denn es spiegelt meine Lebenseinstellung wieder. Genauso sehe ich die Welt. Ich hinterfrage alles!“

Die Antwort verschlägt ihm die Sprache. Er kann es nicht fassen, dass sie die gleichen Gedanken haben.

Christina zeigt aus dem Fenster auf der rechten Seite: „Dort hinten wohne ich. In der Nähe vom Schloss Köpenick. Zurzeit noch mit meinem Ehemann, er bewohnt die obere Etage des Hauses, ich die untere. Es ist wunderschön grün und ruhig hier. Joggen macht richtig viel Spaß in so einer Umgebung.“

„Sie joggen auch? Ich hätte es mir bei ihrer sportlichen Figur denken müssen“, seine Augen fangen an zu leuchten, als er über sein Hobby spricht.

Die beiden unterhalten sich die ganze Fahrt über äußerst angeregt, immer mehr Gemeinsamkeiten kristallisieren sich heraus. Mittlerweile sprechen sie sich mit „Du“ an. Wenn man sie zusammen beobachtet, kann man nicht glauben, dass sie sich erst vor Kurzem kennengelernt haben. Lange hat Peter nicht mehr so viel gelacht.

 

Jetzt ist die Fahrt zu Ende, das Auto parkt in der Kurfürstenstraße. Beide schauen sich tief in die Augen. Die hübsche Frau nähert sich langsam seinem Gesicht, sie gibt ihm einen Kuss auf die Wange.

„Ich werd dann mal gehen. Es war sehr nett mit dir!“, sie öffnet die Beifahrertür und steigt aus dem Wagen.

„Ich fand es auch sehr schön! Soll ich dich morgen wieder mitnehmen?“, fragt er.

„Morgen habe ich frei. Aber vielleicht ein anderes Mal. Warte ...“, sie kramt ein Blatt und einen Stift hervor und schreibt etwas drauf. Sie schreibt und schreibt ...

Als sie ihm den Zettel gibt, zwinkert sie ihm zu. Dann schließt die umwerfende Frau die Tür und geht, ohne sich noch einmal umzudrehen. Durchweg beschwingt von dem Kuss und dem Zwinkern schaut Peter ihr nach. Als sie um die Ecke geht, öffnet er den gefalteten Zettel.

Ich spüre eine tiefe Verbindung zwischen uns! Möchte aber nicht nur eine Affäre sein! Du kannst entweder mich oder deine Frau haben! Christina

Mit einem Seufzer schließt Peter den Zettel. Innerlich völlig hin und hergerissen fährt er zur Arbeit. Hätte diese wunderschöne Frau es zugelassen, vielleicht wäre er fremdgegangen. Er denkt jetzt an seine Frau und ist froh über diese geschriebenen Zeilen. Er liebt doch Patricia, auch wenn sie oft sehr launisch ist. Genauso gut kann sie aber auch witzig sein und sie liebt es, mit ihm zu joggen. Nicht zu vergessen, dass sie umwerfend aussieht. Und all die schönen gemeinsamen Erinnerungen, die sie miteinander haben ... Wie konnte er das alles in ein paar Momenten vergessen?

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romantic

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romantic Re: achja - Ich danke Dir!!!

LG
Vor langer Zeit - Antworten
Luzi achja - du machst deinem anmen ja alle ehre. manchmal muss man erst einen fehler amchen oder kurz davor sein um zu erkennen was man am partner wirklich hat
Vor langer Zeit - Antworten
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