Wehe, wenn ein Mensch schwache Nerven hat und einsehr labiles Wesen ist, dann hat er oft bei bösen oder schlimmen Ereignissen lange daran zu knabbern.
Wehe, wenn ein Mensch schwache Nerven hat und sehr labiles Wesen ist, dann hat er oft bei bösen oder schlimmen Ereignissen lange daran zu knabbern. Das muss ich von vornherein sagen. So kann man vielleicht meine Erzählung verstehen, die sich vor fast zwei Jahren ereignet hat. Wie üblich verbrachte ich, wie eigentlich viele Nachmittage meine Zeit im Park. Dort konnte ich immer nachdenken und nach Lust und Laune bei den Stockschützen zuschauen. Das lenkte mich immer von den Alltagssorgen in der Schule ab. Diesmal aber saß ich oben auf dem Parkberg. Von dort konnte man über die Häuser der Stadt sehen. Ich war an dem Tag ganz alleine da oben, was ziemlich ungewöhnlich war. Normalerweise kamen jede Menge Menschen hinauf, gerade beim schönen Wetter, das auch an diesem Tag war. Auf einmal kam dann doch jemand hinauf. Es war ein Mädchen und sie war etwas außer Atem, denn der Berg ist doch nicht so harmlos, wie es von unten aussah, denn der Weg hinauf zum Berg ist doch recht steil. Sie sah ängstlich um sich herum und schließlich zu mir. Generell hatte sie einen merkwürdigen Blick, war unruhig, zitterte etwas und sie hatte auch einen leicht wackeligen Gang.
„Hey, Bea“ rief ich zu ihr, denn ich kannte sie schon seit der ersten Klasse. Wir waren damals ziemlich gut befreundet. Allerdings hatten wir uns durch einen Schulwechsel und einen darauf folgenden Wohnungswechsel ihrerseits kaum noch gesehen. Sie hatte kurzes blondes Haar und eine blaue Brille, die sie, seit ich sie kenne, immer trug. Wahrscheinlich hat sie mehrere von diesen Brillen.
„Was ist los“ fragte ich sie.
„Hallo, Xaver“ begrüßte sie mich schüchtern und mit sehr leisen Stimme und setzte sich zu mir.
„Was ist mit dir los“ fragte ich sie wiederholt. Ich war ziemlich besorgt, da die winzigen Zuckungen in ihrem Gesicht eine merkwürdige Unruhe ausstrahlte.
„Weißt du, ich hatte vor zwei Wochen ein schlimmes Erlebnis. Da ich dich gut kenne, und wir eigentlich schon immer gut befreundet sind, werde ich dir das erzählen. Hoffentlich glaubst du mir, denn das Ganze wird doch ziemlich unglaublich klingen.“
Ich nickte und dabei hatte ich etwas Furcht, vor dem ich was ich wohl zu hören bekommen würde. Sie schnaufte noch mal tief durch und fing an leise und langsam zu erzählen.
„Du weißt ja, dass ich schon immer ein kleines Nervenbündel war. Also, es war ein regnerischer Tag im Mai. Schon in der Schule war ein wahnsinniger Stress. An diesem Tag kam ich wegen dem Bus zu spät. Die Ex in Deutsch war ein Fiasko und in Mathe bekam ich eine Fünf. Ich war froh, dass die Schule endlich aus war. Daheim wollte ich nur meine Ruhe haben, aber da ging der Stress weiter. Diesmal hatte ich einen Streit mit meiner Mutter. Eigentlich ging es nur um eine Bagatelle, aber dieser Streit ging so weit, dass ich die Tür zuknallte und aus dem Haus lief. Draußen fing es wieder an zu regnen, aber das war mir in diesem Augenblick völlig egal. Ich wollte vorerst auf gar keinen Fall nach Hause, also fuhr ich mit der S-Bahn ein paar Stationen nach außerhalb und stieg kurz vor der Endstation aus und wanderte neben der Straße von dort aus in den nahegelegten Wald. Wenn ich alleine sein will, unternehme ich häufig solche Ausflüge. Auch bei solchen schlechten und kalten Wit-terungsbedingungen wie damals. Ich ging etwas gedankenverloren auf dem Feldweg in Richtung Wald, da hupte von hinten auf einmal ein Auto. Das Hupen war so laut, dass ich furchtbar erschrak und ziellos in den Wald hineinlief. Mein Herz pochte rasend schnell. Als ich dann aufhörte zu laufen, um eine Pause zu machen, atmete ich erst mal tief durch und guckte um mich herum. Lauter Bäume rundherum und kein Waldweg zu sehen. Ich wusste nicht mehr, von wo ich gekommen bin und wo ich eigentlich war.
Egal, wo ich auch hinschaute, überall standen die gleichen Bäume mit den gleichen Ästen. Viel war auch nicht zu erkennen, da der bedeckte Himmel dem Wald eine unheimliche Finsternis gab. Ich hatte Angst, nicht mehr herauszukommen und geriet leicht in Panik. Aber ich fing mich wieder und setzte mich, obwohl dieser ganz nass war, auf einem Baumstumpf und versuchte mich zu sammeln. Ich habe mal aus dem Fernsehen erfahren, dass die Moosseite im Westen sei, aber ausgerechnet da, wo ich nun stand, war kein Moos. Sonne schien ohnehin nicht, somit konnte man sich nicht einmal am Schatten orientieren und es war nichts zu hören, also schien auch keine Straße in der Nähe zu sein. Da raschelte etwas durch das Laub. Wiederum erschrak ich sehr. Ich schaute um mich herum und sah noch einen Hasen an mir vorbeihuschen. Wiederum schlug mein Herz schneller. Kurz darauf stand ich auf und begab ich mich langsam auf den Weg und in der Hoffnung, in die richtige Richtung zu gehen, hatte aber seltsamerweise gleich das Gefühl, dass das der verkehrte Weg ist. Dann konnte ich mich erinnern, dass du mir mal gesagt hast, dass das schlechte Wetter von Westen kommt.“
Ich nickte.
„Also schaute ich den Himmel an, und beobachtete, wohin sich die Wolken verziehen und dann ist mir eingefallen, dass die S-Bahn nach Süden fuhr und ich danach eigentlich nur geradeaus ging und lief. Also musste ich, um zurückzukehren, nach Norden gehen. Nun wusste ich, nach diesen Kenntnissen, wo Norden ist. Unglücklicherweise kamen die Wolken, wie ich erst später erfuhr, aus dem Südosten, so dass ich in die falsche Richtung ging. Ich ging entgegen meiner Berechnung dann nach Südwesten, obwohl ich immer der Meinung war, nach Norden zu gehen. Ich hoffe, du kannst mir folgen?“ fragte sie mich.
Ich stellte mir das vor und machte mit den Händen die Himmelsrichtungen nach und stimmte ihr zu.
„Also ging ich ohne dieses Wissen nach Südwesten. Der Wald schien kein Ende zu nehmen. Langsam wurde es auch dunkler und es war immer schwieriger zwischen den Bäume zu laufen. Ab und zu streifte mich ein mit nassen Tannennadeln bestückter Ast im Gesicht oder ich stolperte über die Wurzeln am Boden. Einmal stolperte ich richtig und gerade als ich am Boden lag, hörte ich ein Knall eines Gewehrs. Schlagartig erschrak ich mich und fing stark zu zittern an. Mein Herz raste und mein Puls gleich mit. Ich konnte kaum atmen, und das Schlucken fiel mir auch sehr schwer. Dann ertönte noch ein zweiter Schuss. Dieser schien näher zu kommen. Mein Gott, ein Räuber will mich überfallen, war mein erster Gedanke. Ich stand auf und rannte wir ein Slalomläufer durch den Wald.“
Hier hielt sie wieder inne und war ne Zeitlang ruhig. Ich fragte mich, ob sie in der Lage war weiterzuerzählen oder nicht. Selbst ich war in der Zwickmühle. Einerseits wollte ich sie nicht wieder mit der Erinnerung beschäftigen, andererseits war ich natürlich neugierig wie es weiterging. „Alles in Ordnung?“ fragte ich sie. „Ja, es geht schon“ antwortete sie. „Also wenn du nicht weiter erzählen willst, habe ich volles Verständnis“ sagte ich zu ihr. „nein, ich mache weiter. Ich merke, wie du neugierig bist“. Damit hat sie mich erwischt. Sie holte noch mal Luft und erzählte weiter. „Also, ich rannte weiter und weiter und wusste nicht wie lange das andauerte. Auf alle Fälle kam es mir sehr lang vor. Nach einer Weile sah ich aber eine Lichtung, und da empfand ich zum ersten Mal seit langem eine Erleichterung und auch Freude. Ich schaute mich noch mal vorsichtig um, zum Glück konnte ich niemanden entdecken. Ich ging dennoch schnell weiter vorwärts, aber außer den Feldern konnte ich nichts erkennen. So lief ich ziellos weiter, weg von dem Wald. Es wurde immer dunkler und auch kälter, der Regen hörte nicht auf. Ich war schon ganz durchnässt und ärgerte mich, weil ich mich nicht dick genug angezogen habe und somit die Feuchtigkeit und Kälte langsam bis unter die Haut ging.
Kurze Zeit später bin ich wohl auf eine kleine Anhöhe angekommen und sah von oben Lichter eines Dorfes. Mann, war ich froh, das zu sehen.“
Hier machte erneut sie eine Pause und ich hoffte, dass sie mit ihrer Erzählung fertig sei und dass das ganze doch nicht so tragisch endet. Allerdings verflog mein kurzzeitiger Optimismus recht schnell, als ich ihr Gesicht sah. Sie senkte den Kopf etwas und sah noch trauriger aus als zuvor. Also würde es weitergehen und der schlimmere Teil würde nun kommen.
Sie blieb noch mal ne Weile ruhig. Mich fröstelte auch etwas, obwohl es sehr warm war, was eher wohl von der Erzählung kam. Und erst jetzt bemerkte ich, dass wir immer noch alleine auf dem Berg waren, als ob jemand wollte, dass die Geschichte nur unter uns bleiben sollte. Sie atme-te noch einmal tief durch und fuhr sogleich fort.
„Ich hoffte, als ich zu dem Dorf herunterging, dass ich dann von dort aus mit dem Bus oder der S-Bahn nach Hause fahren konnte. Also ging ich voller Hoffnung ins Dorf hinein. Aber als ich am Ortschild den Namen Hartpenning las, wurde mir schlecht. Ich wusste gar nichts von diesem Dorf, hatte den Ortsnamen noch nie gehört, geschweige, wo es ungefähr liegt. Wahrscheinlich war er sehr weit weg von der S-Bahn. Enttäuscht und missmutig lief ich wieder herum. Ich suchte im-mer noch nach einer Bushaltestelle. Aber ich fand nirgendwo was. Und mit dem Taxi konnte ich nehmen, weil ich nur wenig Geld dabei hatte. Dann hörte ich, dass ein Auto mit quietschenden Reifen und hoher Geschwindigkeit von hinten kam und sah mich um, es fuhr sehr nahe an dem schmalen Gehweg. Ich sah am Straßenrand auch, dass da große Pfützen waren. So sprang ich zur Seite und stieß mit einem Mann zusammen, wohl beim Einkaufen war. Beim Zusammenprall ließ er die Tasche fallen und Äpfel und ein paar Dosen kullerten heraus.
„Kannst du nicht aufpassen, du dumme Kuh“ schrie er.
„Entschuldigen Sie, aber können Sie mir sagen, wo hier eine Bushaltestelle ist?“ fragte ich.
„Weiß ich nicht, hau ab“ rief er äußerst unfreundlich und stand umständlich auf. Ich wollte ihm beim Auflesen der Sachen helfen, aber durch seine unwilligen Gesten machte er deutlich, dass er keine Hilfe in Anspruch nehmen würde.
Also machte ich mich weiter auf den Weg. Schaute links, schaute rechts, schaute in jede Nebenstraße, es waren sonst keine Menschen unterwegs, so dass ich niemanden fragen konnte, wo ich eigentlich bin oder wie ich zumindest weiterkam. Ich schlich immer an den Hauswänden entlang, um nicht von den Autos nassgespritzt zu werden. Dann lief doch jemand mit schnellen Schritten an mir vorbei, aber als ich versuchte, ihn zu fragen, war er schon wieder vorbei und weitere Leute waren nicht zu entdecken. Die Menschen haben recht, bei dem Wetter nicht im Freien zu sein, dachte ich mir sarkastisch. Auf einmal schrie jemand von hinten ein lautes Hallo.
Ich erschrak heftig, drehte mich um und sah einen großen Mann, den ich noch nie gesehen habe, stand plötzlich hinter mir.
„Hallo, Heinz“ kam es laut von der anderen Seite. Blitzartig drehte ich mich um und sah einen weiteren Mann, der offenbar meinen Hintermann begrüßte. Voller Panik lief ich schnell weg. Ob einer der beiden Herren sich bei mir entschuldigen wollte, konnte ich nicht verstehen, nur dass sie hinter mir irgendwas gerufen haben. Aber das war mir in diesem Augenblick auch ganz egal. Ich wollte nur weg, nur nach Hause, mit dem Bus, mit der S-Bahn, irgend nach Hause zu meiner gewöhnten Ungebung, was essen, was trinken, einfach ins Warme, in mein Bett und einfach in Ruhe gelassen zu werden. Inzwischen erschrak ich bei jedem Geräusch, wurde dabei immer ängstlicher. Wieder schlich ich an den Hauswänden entlang und versuchte irgendwie zurecht zu kommen. Ich bog immer wieder ab, in der Hoffnung, eine Haltestelle zu finden. Wieder wusste ich nicht, wo ich war. Mich wunderte es mich auch, dass da kaum Geschäfte waren ider ich habe sie nicht bemerkt. Dann blieb ich stehen, atmete noch etwas aus und schaute mich um. Vor mir war ein etwas freierer Platz und sah vor mir eine Kirche. Dort wollte ich kurz reinschauen, damit ich zur Ruhe komme, und vielleicht konnte mir dort der hiesige Pfarrer irgendwie weiterhelfen. Ich konnte nicht ahnen, dass ausgerechnet dort die Ursache meiner Krise war.“
Wieder machte sie eine Pause und ich hatte das Gefühl, dass es ihr immer schwerer fiel zu reden. Sollte ich sie nun bitten, aufzuhören oder nicht. Und mittlerweile bekam ich auch Angst das Ende zu erfahren. Was musste das Mädchen schon alles ertragen? Aber vielleicht tat ihr das auch gut, das jemanden zu erzählen. Bevor ich etwas sagen konnte, fuhr sie fort.
Langsam schlich ich zu der Kirche. Es war sehr groß, hatte einen hohen spitzen Turm, sah richtig imposant aus, ziemlich unerwartet gegenüber dem was sonst in Dorf sah.
Ich ging zu der Eingangspforte, aber das Tor ließ sich nicht öffnen. Ich probierte es fester und ging wieder nicht auf. ‚Meine Pechsträne geht einfach weiter’ dachte ich mir voller Resignation. Dann ging ich einmal um die Kirche, um zu sehen, ob es nicht irgendwo einen Seiteneingang gab. Und tatsächlich fand ich eine Tür. Ohne Hoffnung versuchte ich es, aber tatsächlich, sie ging auf. Langsam schlich ich ein. Es war drinnen auch kühl und ziemlich dunkel. Die vielen brennenden Kerzen verschafften nur wenig Licht. Aber es war genug, um zu sehen, warum der Haupteingang versperrt war. In der Kirche wurden Renovierarbeiten durchgeführt. Man konnte ein Baugerüst, zwar nur schemenhaft, aber doch deutlich erkennbar, sehen. Aber das machte mir nichts aus. Ich machte mein Kreuzzeichen und setzte mich auf eine Bank und fing an zu beten. Vor allem, dass mir Gott helfen möge, nach Hause zu kommen. Dann schaute ich mich noch einmal um. Mir fiel die riesige Orgel auf, deren Pfeifen glänzten, scheinbar ist die ganz neu. Nach dem Gebet stand ich auf, um den Pfarrer aufzusuchen. Dann begann meine Krise! Ich rutsche auf dem glatten Kirchenboden aus und fiel etwas. Ich wusste nicht genau, auf was, aber plötzlich dröhnte ein ohrenbetäubender Lärm. Es war wohl so was wie eine Sirene für die Bauarbeiter. Ich rannte, fast ohnmächtig, auf die andere Seite der Kirche, presste mich gegen die Wand und versuchte mich irgendwie wieder zu sammeln. Ich blickte um mich noch mal herum und wollte dann doch wieder nur raus. Ich erkannte neben mir einen Lautsprecher. Dennoch begann ich mich dann eigenermaßen von diesem Schreck zu erholen, da kam plötzlich sehr laute Musik von einer Orgel. Ich bekam einen Schreikrampf und sackte auf die Knie.
Gleich darauf kam der Pfarrer, der die Orgel spielte zu mir, hob mich auf, führte mich in seinem Zimmer und legte mich auf seinem Bett. Dann kochte er mir noch eine heiße Suppe und einen Tee. Beim Essen fragte er mich, von wo ich kam, wie und warum ich hierher gekommen bin und was überhaupt passiert sei. Ich erzählte ihm alles, was mir widerfahren ist und er antwortete mir, dass die Schüsse wohl vom hiesigen Jäger kamen, der in dieser Zeit häufig schießen muss, um sein Wild zu verteidigen. Dann fuhr mich auch noch nach Hause. Meine Mutter war schon voller Sorgen. Ich blieb dann noch eine Woche im Bett. Ich war auch beim Arzt. Zwar geht es mir wieder etwas besser, aber es wird wohl noch einige Zeit dauern, bis ich das Ganze verarbeitet habe und ich wieder völlig gesund bin.“
So endete ihre Erzählung. Ich war total paralysiert und musste die ganze Geschichte auch verdauen. Dann schickte sie sich an und wollte gehen. Ich bot ihr an, sie zu begleiten, aber sie winkte dankend ab. Deshalb verabschiedete mich von ihr, wenn auch ungern, von ihr und ich sah ihr lange hinterher, wie sie etwas schwankend wieder den Berg hinunter ging. Hoffentlich geht es ihr bald besser, denn ich finde sie sehr nett.“