Wohin der Wind uns weht
Vielleicht so viel vorab:
Ich war 13 und mein Verhältnis zu meinen Eltern war ziemlich gestört. Ich war sitzen geblieben und wir hatten genügend Geld, dass meine Mutter und mein Vater ein eigenes Auto hatten, wir in unserem eigenen Haus lebten und meine Eltern hatten darüber hinaus sogar das Ferienhaus gekauft, in dem wir fortan alle Urlaube verbringen sollten. Man kann also sagen es ging uns gut. Und doch schienen meine Eltern dafür einen zu hohen Preis gezahlt zu haben, zumindest durch meine pubertäre Brille betrachtet, nämlich jenen Preis den man zahlt wenn man für Luxus seine Seele verkauft und spießig wird, nur Freunde hat die Small Talk reden und innerlich verarmt und als Folge daraus tief verhärmt, wie es alle Erwachsenen tun. In jedem Fall wusste ich eins, so wie viele Kinder in meiner Generation und vieler Generationen vor uns: Ich würde nie so werden wie mein Vater und meine Mutter. Mein Vater ging eigentlich noch, aber meine Mutter mit ihrem „Hach Kind was soll ich denn meinen Arbeitskollegen sagen, dass mein Sohn sitzen geblieben ist“ ging zu jener Zeit gar nicht. So ist dies auch die Zeit gewesen wo ich versucht habe, so viel wie möglich draußen zu verbringen. Zum Teil lässt sich das darauf zurückführen, dass ich meinen Eltern nicht sonderlich gerne länger begegnet bin, zum anderen Teil jedoch, hat es auch etwas damit zu tun, dass ich meine Abneigung zu brüllend lauten Discotheken entwickelte, wo man sich nicht unterhalten konnte, was offensichtlich eine meiner ausgeprägtesten Stärken war. So genoss ich zunehmend die Ruhe des Waldes und Dinge wie Sonnenuntergänge am See. Ich begann zu begreifen welchen Wert die Elemente der Natur in meinem Leben hatten und bekam allmählich ein Bild von ihr und dem, dass ich mich ihr zu fügen hatte, nicht aus Zwang, vielmehr aus Gründen der Suche nach Vollkommenheit.
Nun, in unserer Straße wohnte eine ältere Dame so um die siebzig Jahre alt, die wir alle Oma Ruth nannten. Sie hieß mit Nachnamen Ruth und ich kann mich heute beim besten Willen nicht mehr an ihren Vornamen erinnern.
Oma Ruth war mein Zufluchtsort, mein Hafen, der in einer kleinen Bucht lag in die ich mich bei Sturm zurückzog. Eine kleine ruhige Bucht in einer Einfamilienhaussiedlung, geziert von einem kleinen einstöckigen Haus mit rostroten Tonziegeln als Mütze und Fensterläden als Sonnenbrille für die Fenster.
Im hinteren Teil des Grundstückes hatte Oma Ruth einen Gemüsegarten, einen jener Gemüsegärten die so dicht bepflanzt sind, dass nur kleine kaum 30 cm breite rechtwinklig angeordnete, mit Pflastersteinen eingegrenzte Pfade hindurchführen, um nicht zu viel von dem Platz zu verschwenden, der sich bewirtschaften ließ.
In der Mitte, wo sich zwei Pfade kreuzten stand ein Kirschbaum, um den herum der Weg auf eine Breite von einem Meter geschlagen war und wiederum daneben stand ein klappriger Gartenstuhl.
Für gewöhnlich bat mich Oma Ruth dort platz zu nehmen, wenn ich sie im Garten besuchte, was eher als rhetorische Frage zu sehen war, denn sie wusste, dass ich ihr lieber zur Hand ging und mit ihr in der Erde wühlte.
An einem äußerst warmen Tag im Hochsommer hatte ich wieder einmal eine Mathearbeit vergeigt und war eben in diesen Garten geflohen.
Oma Ruth war fürs Wochenende verreist und so setzte ich mich auf den Stuhl unter dem Kirschbaum, der voll mit saftigen Kirschen hing. Ich entledigte mich der Schuhe, um die Erde dichter unter den Füßen spüren zu können und genoss den leichten Wind der durch den Kirschbaum wehte, sowie die Schatten, die dessen Blätter so kontrastreich auf die vollgestopften, farbenfrohen Gemüsebeete warfen. Die Luft war gefüllt mit dem üppigen Geruch von Grasschnitt, den satten Kräutern, den heruntergefallenen Kirschen, vor allem aber vom Duft des Sprengerwassers, was es nicht eilig genug zu haben schien zu verdampfen, nicht zu vergessen aber voll vom Summen der Insekten, die dieser erfüllenden Ruhe mit ihrem Summen nichts anhaben konnten, eher im Gegenteil sie vielmehr ergänzten.
Wenn ich mich heute zurückerinnere war dies einer der wenigen Augenblicke in meinem Leben, wo ich es geschafft habe die quälenden Gedanken so weit wegzumeditieren, dass ich nur noch die Fülle empfand, in der ich mich dort regelrecht eingehüllt hatte. Das Bild der sich ändernden Farben der verschiedenen Beete ließ mich erkennen, wie viel Einfluss der Wind doch indirekt auf die optische Schönheit unseres Lebens haben kann. Ein See von sich wandelnden Farben lag vor mir, erzeugt durch den Wind der die Blätter in chaotischer Rhythmik ihre Schatten werfen ließ. Gleichzeitig spürte ich die Erde zwischen den Zehen, den Wind im Baum, Die Hitze der Feurig brennenden Sonne und den Geruch des verdunstenden Wassers. Ich spürte die Kraft aller Elemente, sogar die des Kirschbaumes. Es war merkwürdig, so oft ich auch an dieser Stelle gesessen hatte, nie waren mir diese Farben aufgefallen, nie hatte mich diese Fülle so umsponnen.
Gedankenversunken und dösend bemerkte ich nicht dass sich jemand hinter mir in den Garten geschlichen hatte. Es war Jaschah, unsere Nachbarstochter die ein Jahr jünger war als ich.
Sie stand in der Nähe der Hauswand an die Regentonne gelehnt und schaute eben wie ich in sich verändernden Farben.
„Machsten hier ?“ fragte ich sie.
„Kuck nur.“
„Wie kuck nur?“
„Schön hier!“ antwortete sie knapp.
„Ja, wunderschön“
Jaschah war vor cirka zwei Jahren in das Haus neben dem meiner Eltern gezogen. Ursprünglich war sie in Mexiko geboren und ihre Mutter, selbst Deutsche war vor ihrem Mannes mit Jaschah zurück nach Deutschland geflohen. Jaschahs Vater, ein halb Indianischer Mexikaner, hatte, wenn er trank mit gewisser Regelmäßigkeit einen Streit vom Zaun gebrochen und die Mutter geschlagen. Mit ihrem neuen Freund hier in Deutschland hatte die Mutter ein weiteres Mädchen in die Welt gesetzt, doch auch dieser war schon längst wieder abgetaucht und hatte sie allein zurück gelassen.
Irgendwie entsprach Jaschah nicht meinem sich zu definieren beginnenden Typ Mädchen und doch hatte ich recht früh bemerkt, dass wir beide sehr gut über Emotionen reden konnten. Offensichtlich bestand eine unglaubliche Offenheit zwischen uns, als hätten wir uns schon seit Jahrzehnten gekannt. Und über dies, hatte ich schon oft nachgedacht ob ich Jaschah küssen wollen würde, es aber immer wieder verworfen, denn irgendetwas fehlte.
„Wie kommsten drauf hier her zu gehen ?" fragte ich sie.
„Ich bin einem Gefühl gefolgt!“
„Und ich bin wieder mal weggelaufen...Soll ich Dir nen Stuhl holen ? Dann kannst Dich zu mir setzten“
„Ne, ich sitz lieber auf der Erde“
Und sie kam herübergeschlendert. Mir fiel das erste mal auf wie kraftvoll geladen jede ihrer Bewegungen war. Nun nahm ich auch meinen Stuhl beiseite und setzte mich schweigend neben sie auf den Boden.
Als ich ihr Gesicht genauer betrachtete, sah ich dass sie rote Augen hatte, offensichtlich musste sie kurz zuvor geweint haben.
„S’n los ? Siehst traurig aus.“
„Na nix!“
„Was na nix?“
„Frag nich so blöde, sondern erzähl mir lieber mal was schönes!“
Also begann ich ihr zu erzählen, wie sich meine Schmach der schlechten Mathearbeit in vollendete Fülle hatte auflösen lassen.
Ich erzählte ihr von meiner Erkenntnis, das der Wind verantwortlich sei für dieses Meer an sich wandelnden Farben und man nur dem Fluss der Farben des Gemüsemeeres in der Bucht dort folgen müsse um in Sicherheit des Hafens zu gelangen.
Jaschah nahm plötzlich lächelnd meine Hand, als ob sie sich festhalten wollte um nicht wieder auf die stürmische See hinaus getragen zu werden. Ich spürte, wie ich etwas von meiner Kraft, der Kraft der hundert Farben und der Kraft des Windes abgeben konnte. Ein Bild formte sich vor meinen Augen. Jaschah war das bunte Meer und ich der Wind, der uns beide für einen Augenblick davontragen konnte. So saßen wir Hand in Hand dort auf dem Boden in mitten des Gemüsegartens von Oma Ruth.
„Gernot ?“
„Ja ?“
„Es gibt wenig Menschen, die so real träumen wie Du“
„Keine Ahnung, die anderen sind mir egal.“
„Wirst Du im Traum bei mir bleiben?“
„Willst Du Dich umbringen?“ fragte ich besorgt.
„Nein! Aber versprichst Du mir im Traum bei mir zu bleiben, wenn ich jemanden brauche um zu träumen ?“
„Klar Jaschah! Aber was ist denn?“
„Gernot unsere Liebe ist sehr, sehr alt. Deshalb wird sie nicht in dein Schönheitsideal passen, aber heute hast Du etwas begriffen, was Du mir in Deiner Kraft wieder zurückgegeben hast .“
„Was denn ?“
„Dass es Wind braucht, um das Meer der hundert Farben aufzuwühlen“
„Meinstn das?“
„Schau in Dich rein“
„Jaschah ?“
„Ja!“
„Wirst Du gehen ?“
Eine unbeschreibliche Melancholie beschlich mich, denn aus irgendeinem Grund wusste ich dass es das letzte Mal war, dass wir uns so offen und einfühlsam unterhalten hatten.
„ Ja! Mutter hat durch die Trennung von ihrem Freund nicht genügend Geld, um die große Wohnung zu halten außerdem will sie wieder fort. Wir werden fortziehen, zurück nach Mexiko.
„Jasch, ich versprech Dir alles! Ich werde Dein Wasser aufwühlen wenn Du mich rufst, ich werde Da sein um Dich zu beschützen, wenn Dien Mann versucht Dich zu schlagen , ich werde in jeder Kirsche stecken, die Du isst, wenn Du es möchtest und ich werde Dir ein Poller in der ruhigen Bucht sein, egal wohin der Wind Dich weht.“
„Auch egal, wohin der Wind Dich weht ?“
„Egal wohin er Wind uns weht...Träume mich und ich werde Dich träumen!“
Wenig später war sie fortgezogen und Dinge nahmen den Lauf, den sich meine doch als so spießig gewähnten Eltern so gewünscht hatten. Ich studierte, wurde Ingenieur und ein richtig „Großer“ in einer Firma für Ölplattformen. Ich heiratete und von der Auslöse der Auslandsmontage konnten meine Frau und ich uns ein Haus mit Garten leisten und für meine erstgeborenen Tochter pflanzten wir auf mein Drängen hin einen Kirschbaum. An Tagen, an denen das Licht so ganz besonders intensiv scheint und die Farben zu fließen beginnen träume ich unter dem Kirschbaum, von Meer der 100 Farben. Vor allem aber lehre ich meine beiden Töchter das Tagträumen, ganz zum Ärger meiner Frau, die sie gerade beim Hausaufgabenmachen davon am liebsten abhalten möchte.
Letzte Woche nun hat mich eine der Auslandsmontagereisen in den Golf von Mexiko verschlagen und dich habe es mir nicht nehmen lassen das, Landesinnere ein wenig zu bereisen. Hierzu mussten wir aber erst ein Stück entlang der Küste mit einem Schiff fahren dass den Namen „Yax Ja“ trägt. Als ich den Captain dieses Schiffes fragte, was denn Yax Ja bedeute, korrigierte dieser mich, dass es Jasch Hah ausgesprochen würde. Dies sei der indianische Begriff für das „Wasser der hundert Farben „.
Als ich ihm Gedanken versunken antwortete, dass ich der Wind sei, der das Wasser aufwühle, schien er in ein durch Fernweh bestimmtes Lächeln zu versinken und antwortete mir: „Die Liebe von Wind und Wasser ist sehr alt, und es ist schön dass es noch Menschen gibt die das bis heute wissen!“