Schattenspiele
Im großen Garten der Märchenwelt standen viele Bäume, Sträucher und Stauden, auf denen Obst oder Gemüse wuchs. Manche Sorten konnten sich mit Worten verständigen, aber viele sprachen Dialekte, die nicht jeder verstand. Da hatte die Salatgurke eine Idee. Sie sagte zu allen Bewohnern: „Ich kenne ein Spiel, bei dem wir uns ohne Sprachkenntnisse kurze, einfache Geschichten erzählen können.“
„Wie soll denn das gehen?“, brummte ein Radieschen und schüttelte ungläubig ihren Kopf.
„Ganz einfach“, meinte die Salatgurke, „wir alle haben Hände oder andere Greifwerkzeuge. Damit können wir ein lustiges Schattenspiel einstudieren.“
Da protestierte ein Chicorée-Salatblatt aufs heftigste: „Ich werde immer von meinem Schatten verfolgt. Er ist mir auf den Fersen bei all meinen Tätigkeiten.“ Das Chicorée-Blatt war durch den Schatten sehr verängstigt.
„Ich habe viel Spaß mit dem Schatten“, sagte eine Olive. „Man braucht keine Angst davor haben. Du kannst vor dem Schatten nicht weglaufen. Ihn weghaben zu wollen, bedeutet, dich selbst verschwinden zu lassen.“ Und ein Apfel wusste: „Ein Schatten kann dein Schlupfwinkel werden, wo du dich erholen kannst. Wenn die Sonne scheint, ist ein Schatten eine Wohltat. Darum befreunde dich mit dem Schatten. Er meint es gut mit dir.“
Alle diskutierten nun. Zum Schluss war man sich einig, mit dem Schatten spielen zu wollen.
Die Sonne war bereits untergegangen. Als Leinwand diente die weiße Wand des Hühnerstalls. Die Show begann. Im Wind flackerte ein riesengroßes Kerzenlicht. Eine Paprikaschote stellte sich mit dem Rücken zum Licht zwischen Wand und Lichtquelle. Ihr Schatten war groß und verzerrt durch den Winkel des Lichteinfalles. Eine Möhre versuchte einige Bewegungen mit ihrem Körper. Diese wirkten auf der Wand spielerisch und lustig. Dann stellte sich ein Spargel seitlich und ließ seine Finger an der weißen Wand lustige Schattenspiele ausführen. Jetzt stiegen auch andere Obst- und Gemüsesorten in das Schattenspiel ein und selbst das vorher sehr skeptische Chicoréeblatt hatte Freude an dem neuen Spiel. Im gemeinsamen Erlebnis war es sehr schön, sich mit den verschiedenen Figuren und Charakteren zu identifizieren, mit ihnen Aggressionen zu zeigen oder die Typen, die dort vorkamen, stellvertretend für einen selber leiden zu lassen. Für alle steckte im Schatten eine noch nicht entdeckte, faszinierende Wunderwelt.
Die Gemüse- und Obstgruppe war gut aufeinander eingestimmt. Es entstanden faszinierende Effekte. Da wimmelte es nur so von Feen, Hexen, Rittern, Gespenstern und mächtigen Unterwasserwelten! Die Lust am Experimentieren hörte nicht auf. Alle waren begeistert und staunten, was man alles mit Händen, Ästen, Blättern und Wurzeln machen kann.
Nach mehreren Stunden des Spielens sagte der Apfel: „Das reicht. Morgen spielen wir weiter.“ Er blies das Kerzenlicht aus und die Schatten waren nicht mehr da.
© by Hermann Bauer
Diese Geschichte ist aus dem Buch „Ein hungriger Bär tanzt nicht",
erschienen im Geest-Verlag. ISBN 3-937844-78-3
Illustration: Franziska Kuo.