Die Macht des Unfassbaren
Ralf Klingler maß den Mann, der ihm gegenüber saß, mit Blicken, die keinen Zweifel darüber aufkommen ließen, was er von dessen Worten hielt.
Schon einmal hatten sie sich bei einer Partie Schach gegenüber gesessen. Vor wenigen Tagen noch. Und schon da hatte Ralf Klingler unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, wie er über derlei Angelegenheiten dachte:
„Firlefanz, das Ganze! Humbug. Außersinnliche ... paranormale Vorgänge ...ts!“, hatte er gelacht und demonstrativ seinen Zeigefinger gegen die Stirn getippt.
„Sie glauben also nicht daran, dass das Unfassbare, das Unerklärliche mitunter in unser Leben eingreift? Gewissermaßen das Schicksal unseres Lebens spielt und somit kennzeichnend für unseren Lebensweg ist..?“
„Nein, mein Lieber“, hatte Ralf Klingler erneut den Kopf lachend geschüttelt. „Mit solchem Blödsinn können Sie vielleicht alten Damen oder kleinen Kindern eine Gänsehaut verursachen, doch nicht einen nüchtern denkenden Menschen.“
Mit diesen Worten war Ralf Klingler aufgestanden und hatte die Wohnung seines Gastgebers damals demonstrativ verlassen und sich geschworen, den Kontakt zu diesem Spinner ein für allemal abzubrechen ...
„Keine Bange, Herr Klingler, ich will Sie nicht bequatschen, dass sie Mitglied in unserem Zirkel werden sollen.“ Mit diesen Worten hatte Harald Eger dann eines Tages völlig unvermutet an seiner Tür gestanden. Und: „ Aber ich muss Ihnen ehrlich eingestehen, dass ihre absolut negative Einstellung für mich nahezu eine Herausforderung bedeutet, zumal ...“ Harald Eger ließ es offen, was er noch sagen wollte.
„Na schön, Herr Eger“, seufzte Ralf Klingler schließlich sich in sein Schicksal ergebend auf, „kommen Sie rein. Aber das eine sage ich Ihnen gleich: Damit Sie meine Zeit nicht unnötig strapazieren, fassen Sie sich bitte kurz in dem, was Sie mir zu sagen haben, klar?!“
Harald Eger nickte nur kurz: „Klar“, sagte er dann leise, wobei es kaum merklich in seinen Augen für einen kurzen Augenblick aufblitzte. Und kaum, dass er im angebotenen Sessel Platz genommen hatte, kam er auch schon auf den Punkt seines überraschenden Besuches:
„Von heute an gerechnet, in genau einer Woche, also am Samstag, dem 22sten, werde ich aus dem Leben scheiden. An diesem Tag werde ich sterben.“
„Wie bedauerlich für Sie!“ frotzelte Ralf Klingler.
Die Augen des so ruhig von seinem Ablegen Erzählenden verengten sich zu schmalen Schlitzen, als Harald Eger auf die bissige Bemerkung des Mannes im schneidenden Ton reagierte:
„Aber auch das sollen Sie erfahren, Sie ungläubiger Thomas: Der, der an meinem Tod mit verantwortlich ist, wird von heute an keine ruhige Minute mehr haben. Aus dem Schlaf wird es ihn hochreißen, schreckliche Alpträume werden ihn quälen. Die Tage bis zu meinem Tod werden für ihn die höllischsten Torturen bereithalten. Danach werden die schrecklichen Bilder kommen, für die er keine Erklärung finden wird. Und sie werden um so grauenvoller werden, wenn er daraufhin die Ungeheuerlichkeit seiner eigenen Erkenntnis richtig zu begreifen beginnt!“
„Dann tun Sie mir einen Gefallen“, stieß Ralf Klingler mit geschwollener Zornesader aus, „und erzählen Sie das doch auch demjenigen. Ich für meinen Teil jedenfalls habe nun endgültig genug von Ihrem Gefasel! Und zwar endgültig. Und ich möchte Sie auch nicht erst lange bitten müssen, meine Wohnung schleunigst wieder zu verlassen, sondern sage schlichtweg: raus jetzt, ehe mir der Kragen platzt!“
Die drohende Gebärde, mit der sich Ralf Klingler aus seinem Sessel erhob, schien seinem Gast nicht im geringsten zu imponieren.
„Natürlich werde ich gehen, Herr Klingler, doch bitte ich Sie nochmals, meine Worte nicht so einfach in den Wind zu schlagen ...“
„Ich schlage gleich noch ganz woanders hin! Raus jetzt!“
Noch in der gleichen Nacht warf sich Ralf Klingler unruhig in seinem Bett von einer Seite auf die andere, ehe er schweißgebadet hochfuhr. Wirre Traumbilder verfolgten ihn noch bis zuletzt, dann verblassten sie wieder.
Ralf Klingler wischte sich mit einem Handrücken über die schweißnasse Stirn.
„Dieser Scheißkerl scheint es doch tatsächlich fast geschafft zu haben, dass mich sein albernes Gerede bis in den Schlaf hinein verfolgt ... kein Wunder, dass da die schönen Träume ausbleiben...“
Es dauerte lange, ehe Ralf Klingler erneut in einen unruhigen Schlaf fiel, aus dem er am folgenden Morgen mit seltenem Unbehagen wieder erwachte ...
Aber erst nach der vierten, unruhig verlebten Nacht begann er über die Worte von Harald Eger nachzudenken. Und schließlich hielt er es selbst nicht mehr aus. Dunkle Ränder um seine Augen verrieten die Spuren seiner allnächtlichen Alpträume. Müde und abgespannt lief Ralf Klingler, bevor er den Weg ins sein Büro antrat, seine gewohnte Jogging-Runde, ohne wie sonst eigentlich üblich davon erst so richtig in Schwung und auf Betriebstemperatur zu kommen.
„Sie sollten mal einige Tage freimachen, Herr Klingler“, hatte sein Chef und väterlicher Freund ihm angeboten. „Mal so richtig faulenzen. Einfach mal im Bett bleiben oder sonstwie die Seele baumeln lassen, wie man doch so schön sagt. Oder, ha ha... Sie werden sehen, dann sind Sie rasch wieder auf dem Damm.“
Ralf Klingler nahm das Angebot gerne an. Zumindest den Freitag wollte er sich freinehmen. So ein verlängertes Wochenende würde bestimmt guttun und zum Faulenzen auch ausreichen...
Doch statt Erholung im Schlaf zu finden, saß Ralf Klingler die ganze Nacht von Freitag auf Samstag in seinem Wohnzimmer, trank wesentlich mehr als gewöhnlich, und nicht einmal der erhöhte Alkoholkonsum verschaffte ihm die so dringend benötigte Bettschwere. Geschweige denn, die damit verbundene Entspannung. Irgendwann in den frühen Morgenstunden mußte er dann doch eingenickt sein.
Mit einem fürchterlichen Brummschädel erwachte Ralf Klingler in seinem Sessel, in dem er übermüdet und übernächtigt dann doch irgendwie eingeschlafen war. Jeder Schritt seines wankenden Ganges dröhnte in seinem pochenden Schädel auf dem Weg ins Bad. Der eisige Strahl aus dem Duschkopf belebte ein wenig sein ramponiertes Denkvermögen. Danach entschloß sich Ralf Klingler zu einem für seine eigenen Begriffe: unmöglichen Schritt...
„...Tja, ähh, morgen ...“, nuschelte er in den Hörer des Telefons, „hier spricht Klingler ... äh, Herr Eger ...?“
Er wartete erst gar nicht die Reaktion seines Gesprächspartners ab, sondern kündigte gleich seinen Besuch in der nächsten Stunde bei ihm an. Hätte er nicht sogleich den Hörer wieder aufgelegt, hätte er dessen Worte noch vernehmen können, die der Teilnehmer hastig ausstieß: „Bemühen Sie sich nicht extra zu mir, ich muß sowieso in die Stadt, ich komme bei Ihnen vorbei ... hallo ...?“
Aber da hatte Ralf Klingler schon längst aufgelegt gehabt und auf dem Weg ins Badezimmer...
Etwa eine Stunde später raste Ralf Klingler entgegen jeder Vernunft die Auffahrt der Tiefgarage hinauf. An die dunkle, schmierig glänzende Öllache, die sich über die gesamte Breite der Garageneinfahrt ausgedehnt hatte, erinnerte er sich zu spät ... der klebrige Ölfilm unter den Rädern seines Porsche vereitelte jedwedes Steuermanöver. Das Heck Wagens schlingerte zur Seite weg, erfaßte mit Dumpfen Dröhnen ein Hindernis einen arglosen Passanten, der gerade am Zufahrtstor vorbei wollte und der nicht mehr schnell genug der Gefahr ausweichen konnte. Der brutale Aufprall schleuderte den Mann zu Boden.
Erst viele Meter weiter brachte Ralf Klingler sein Auto wieder unter Kontrolle und zum Stehen. Kreidebleich stieg er aus und lief zurück. Und als er den reglos Daliegenden mit vollem Bewusstsein erkannte, drohte sein Herz auszusetzen!
„Aber... aber...“, stammelte Ralf Klingler sogar noch, als die Streifenwagen-Besatzung eintraf, um dem schweren Unfall, bei dem es ein Todesopfer gegeben hatte, zu protokollieren.
„Sie kannten das Unfallopfer, Herr Klingler?“ fragte einer der Beamten.
„Wie .. ? Ja, ja...“ Wie geistesabwesend nickte Ralf Klingler zustimmend. Ich kannte den Mann, Eger heißt er, pardon, hieß er, Eger. Harald Eger ... und eigentlich war ich auf dem Weg zu ihm ...“
© Gerd Kirvel