Bahnhofstraße gestern und heute
Klaus Lechner war seit über 40 Jahren nicht mehr in seiner Heimatstadt gewesen und schon lange spielte er mit dem Gedanken, seine geliebte Stadt wieder zu besuchen. Seit er Rentner war, hatte er ja genügend Zeit.
Freunde warnten ihn vor dieser Schnapsidee. Sie meinten, er sollte doch seine Heimatstadt so in Erinnerung behalten, wie er sie kannte und liebte.
Es war ihm natürlich klar, dass sich viel verändert hatte und der Besuch unter Umständen eine Enttäuschung sein würde. Aber er wollte die Reise unbedingt riskieren.
Ob es das Hotel Bergner noch gab? Damals war es das beste und teuerste Hotel am Platze gewesen. Früher hätte er sich eine Nacht dort gar nicht leisten können. Jetzt wäre das anders. Er rief die Telefonauskunft an, aber es gab kein Hotel Bergner.
„Dann fahre ich eben ohne Hotelreservierung in meine Heimatstadt“, sagte er sich, „eine Unterkunft werde ich doch wohl problemlos bekommen.“
Er packte seinen kleinen Koffer, ging zum Bahnhof, kaufte sich eine Fahrkarte und stieg in das Nichtraucherabteil des Zuges ein.
Die Fahrt dauerte bereits über sechs Stunden. In wenigen Minuten würde er am Ziel sein.
Der Zug fuhr schon langsamer. Klaus schaute zum Fenster hinaus. Er sah lauter Hochhäuser, keine einzige Wiese.
„Wahnsinn, wie die gebaut haben“, murmelte er vor sich hin.
Der Zug hielt jetzt, und Klaus Lechner stieg aus. Wo war nur das alte Bahnhofshäuschen? Er stand in einem riesigen Glaspalast mit greller Neonwerbung, offenbar der neue Bahnhof. Schranken gab es auch nicht mehr und Schrankenwärter natürlich erst recht nicht.
Die ersten quälenden Gedanken befielen ihn bereits. Er schlenderte auf die Straße und sah seine geliebte Stadt von Zementsäcken erobert.
Er steuerte das nächstbeste Hotel an und quartierte sich dort für eine Woche ein. Es war ein herrliches Zimmer im obersten Stockwerk mit schönem Blick auf die Stadt. Er machte sich kurz frisch, zog seinen hellen Anzug an und verließ das Hotel, um einen ersten Spaziergang zu machen.
„Ist das hier die Bahnhofstraße?“, fragte er einen vorbeieilenden Fußgänger. Dieser nickte. Dann schritt Klaus langsam die Bahnhofstraße entlang. Der Fortschritt hatte die Bierfuhrwerke aus den Straßen vertrieben, die winzigen Efeu-Gärten vor den Gaststätten waren weggefegt. Die großen Wiesen mit den vielen Maulwurfshaufen und den harmlosen Schafherden, die dort weideten, waren ausradiert. Und statt der schattigen Bäume, die der breiteren Straße weichen mussten, hatten sie jetzt entsetzliche Halte- und Parkverbotstafeln und Parkuhren „gepflanzt“.
Doch endlich ein Lichtblick: Das Lokal, das früher die dicke Wirtin geführt und später der singende Peter mit seinem Bruder bewirtschaftet hatte, stand immer noch, es hieß nur anders. Die Fenster waren jetzt größer und die Tür aus Glas. Das Publikum war sehr jung. Er sah keinen über 30. Ob er es wagen sollte, dort ein Gläschen Wein zu trinken?
Er ging hinein und setzte sich an einen freien Tisch. Die Getränkeauswahl war nicht besonders üppig, aber der trockene Weißwein schmeckte ihm ausgezeichnet.
Das Lokal wurde immer voller. Zwei junge Mädchen setzten sich an seinen Tisch. Klaus erzählte ihnen, dass er hier vor über 40 Jahren oft gesessen und mit Studenten bis tief in die Nacht gefeiert und diskutiert habe.
„Wie gefällt Ihnen die Stadt heute?“, wollten die Mädchen wissen.
Klaus nippte an seinem Weinglas, dann sagte er: „Die Werte von früher gelten heute nicht mehr. Die damalige ruhige Vorstadt hat sich zum Möchtegern-Künstler- und Vergnügungsviertel herunterwirtschaften lassen. Selbst die kärglichsten Reste ihres Charmes aus Halbverschlafenen und Halbverträumten wurden verscherbelt und verMcDonaldisiert. Das ist nichts anderes als ein Sehnsuchtsanfall nach Weltniveau.“
Die Mädchen betrachteten Klaus wie eine Antiquität, und er meinte lächelnd: „Wahrscheinlich langweile ich euch mit meiner Nostalgie.“
„Nein, überhaupt nicht, das ist doch sehr aufschlussreich“, meinten die beiden. Klaus trank seinen Wein aus und zahlte. Die Rechnung der Mädchen beglich er auch. Dann stand er auf und sagte: „Wenn es euch interessiert, zeige ich euch, wie das alles früher war.“
Die Mädchen waren begeistert und gingen mit.
„An allen Ecken lauert die Erinnerung“, sagte Klaus. „Manche Läden gibt es noch, aber sie heißen anders. Ob sie auch anders sind, ist eine andere Frage. Dort drüben, wo sich jetzt dicke Luxusjeeps und Landrover auf dem schmalen Bürgersteig vor den Bistros, Cafés und Diskotheken breit machen, waren früher Geschäfte von alteingesessenen Handwerkern wie Schuster, Flickschneider, Bäcker, Metzger und Tandler. Dort drüben an der Pils-Stehbar mit den verklebten Hamburger-, Pizza- und Döner-Resten am Trottoir war ein Schreiner, wo sich die Studenten ihre Bücherregale zuschneiden ließen und Kinder ihre Bauklötze holten.“
Die Passanten drängten und schoben, als würde es irgendwo etwas kostenlos geben. Das war nicht das Flanieren von früher. „Hier, wo jetzt ein Copy-Shop ist, war das billigste und urtümlichste Gasthaus der Stadt, in der die Vorsuppe kostenlos zum Hauptgericht gereicht wurde, und an der Kreuzung hatte Oskar seinen Obstwagen. Ich habe noch heute den Geschmack seiner Pfirsiche im Mund, wenn ich an ihn denke.“
Alle paar Meter drehte sich Klaus wie ein Kreisel, deutete hierhin und dorthin, auf Orte und Menschen, die nur er sah und die längst verschwunden waren. Die Fassaden waren noch die gleichen, und doch war alles anders.
Die Mädchen dachten sich, dass das vielleicht das Geheimnis der Bahnhofstraße sei, der Grund, warum die Häuser hier so seltsam unbelebt und die Menschen davor so künstlich lebhaft wirkten. Alles war nur Kulisse, in der täglich ein neuer Film gedreht wurde mit Tausenden von Statisten, die alle die Aufmerksamkeit des Regisseurs auf sich lenken wollten.
Klaus wurde müde. Es war ein anstrengender Tag für ihn gewesen. Viel hatte er bereits an diesem ersten Tag gesehen. Das meiste fand er früher schöner, aber enttäuscht wurde er deshalb nicht.
Er verabschiedete sich von den beiden Mädchen, ging zum Hotel zurück, setzte sich ins Restaurant und bestellte sich ein Pfeffersteak.
Was er in den nächsten Tagen besichtigen wollte, das wusste er schon, und er freute sich darauf.
© by Hermann Bauer
Diese Geschichte ist aus dem Buch „Ein hungriger Bär tanzt nicht",
erschienen im Geest-Verlag. ISBN 3-937844-78-3
Illustration: Franziska Kuo.