Angefangen hat die Geschichte in einem 4-Sterne-Hotel in Dubrovnik 1971. Meine Frau und ich konnten uns zum ersten Mal so eine Nobelherberge leisten, waren aber enttäuscht, weil das Hotel von versnobten Engländern und angeberischen Deutschen dominiert wurde. So zogen wir uns abends auf unser Hotelzimmer zurück, lasen und hörten Radio.
Plötzlich wurden wir aufmerksam, als der vermeintlich jugoslawische Sender sich als Radio Tirana entpuppte, das in deutscher Sprache eine Propagandasendung über den deutschen Kommunisten Ernst Thälmann brachte. Wir hörten schon deshalb zu, weil man damals aus diesem hermetisch abgeschlossenen Staat Albanien nur ganz selten etwas erfuhr.
Eigentlich wäre diese Geschichte mit unserem kurzen Aufhorchen zu Ende gewesen, wenn ich nicht am anderen Morgen an der Rezeption des Hotels ein Angebot über eine mehrtätige Besichtigungsfahrt nach Albanien gefunden hätte. Eine jugoslawische Reiseführerin riet dringend von diesem Unternehmen ab. Man könne sich kaum vorstellen, wie streng und abweisend die Albaner auf Fremde reagierten. „Ein Arzt ist kein Arzt“ dachte ich und holte noch den Rat einer schwedischen Reiseführerin ein. Diese riet nachdrücklich dazu, die Reise auf jeden Fall zu unternehmen. Wir würden sicher einmalige Erfahrungen machen, außerdem gebe es nur zwei Grenzübergänge nach Albanien, einen vom Norden und einen vom Süden her, und wer wisse schon, wie lange diese noch für Touristen geöffnet seien.
Unsere Neugier siegte über die Vorsicht, und so fuhren wir zwei Tage später mit einem Bus in das 1971 sagenumwobene, weil kaum besuchte Land der Skipetaren. Schon die Zusammensetzung der Busgäste ließ die Vermutung einer ungewöhnlichen Reise aufkommen. Elf verschiedenen Nationen befanden sich in dem Vehikel, u. a. Engländer, Franzosen, Italiener, Schweden, Holländer und Deutsche aus der BRD und DDR. Der Reiseführer war ein Albaner, namens Panu, der in der damaligen DDR Zahnmedizin studierte, deswegen gut deutsch sprach und der sich mit seiner Führung in den Semesterferien einen Teil seiner Studienkosten verdiente.
Als wir die mit meterhohem Stacheldraht bewehrte albanische Grenze erreicht hatten und in die finsteren Gesichter der Zöllner blickten, bestätigten sich die Warnungen der jugoslawischen Reiseführerin. Diese wurden auch dadurch gerechtfertigt, dass der Bus bei der Fahrt durch kleine Städte und Dörfer von Zivilisten mit Steinen beworfen wurde. Die stalinistischen Propagandisten hatten ganze Arbeit geleistet. So hatten zum Beispiel Parteiaktivisten in mühseliger „Fronarbeit“ Lobsprüche auf Enver Hodscha und den Kommunismus mit Kieselsteinen meterhoch auf die Berge geschrieben.
Aber es gab eben so deutlich sichtbar mindestens zwei positive Signale. Das eine waren gut gepflegte weithin strahlende Sonnenblumenfelder und das andere die Trockenlegung der Sümpfe, die noch im zweiten Weltkrieg für die Verbreitung von Malaria und Tuberkulose gesorgt hatten.
In der Mittagszeit erreichten wir Tirana, das von brütender Hitze eingehüllt war.
Jetzt ergriff der Reiseführer Panu das Wort und empfahl uns dringend, uns in den Hotelzimmern bis zum Abend auszuruhen. Danach könnten wir gemeinsam Tirana besichtigen. Meine Frau und ich verständigten uns schnell, sogleich eine Besichtigung auf eigene Faust zu unternehmen. Ich gehe jetzt auf berichtenswerte Einzelheiten, etwa die extreme Xenophobie der Albaner damals, nicht ein, damit ich endlich von der verrückten Nacht erzählen kann.
Wir nahmen in unserem Hotel in einem erstaunlich schönen Ambiente ein vorzügliches Abendessen ein. Das Hotel hatten die italienischen Besatzer Tiranas im 2. Weltkrieg erbaut.
Nach dem Abendessen machte Panu der Reisegruppe zwei Vorschläge. Man könne sich jetzt, wie vorgesehen, Tirana ansehen oder sich in der Taverne des Hotels beim Tanz erholen. Er erwartete, dass sich alle dem ersten Vorschlag anschließen würden, hatte seine Rechnung aber ohne uns gemacht, die wir glaubten, fürs Erste genug von der Stadt gesehen zu haben, die jetzt in der Dunkelheit lag. Wir standen also kurz entschlossen auf und gingen in Richtung Taverne. Dieser schnelle Entschluss veranlasste die übrigen Reiseteilnehmer, sich uns anzuschließen, so dass die Besichtigung auf den nächsten Tag verschoben werden musste.
Doch welche Überraschung, als wir den Tanzsaal betraten. Die Kapelle spielte gerade einen deutschen Schlager, und zwar „Was machst du mit dem Knie lieber Hans….“. Ich nehme vorweg, dass dem noch einige andere Schlager folgten, die während des Dritten Reiches modern waren, etwa „ Schön blüh’n die Heckenrosen“ oder „ Tante Hedwig, die Nähmaschine geht nicht“, alle in deutscher Sprache gesungen. Außer den Italienern hatten nämlich auch die Nazis Tirana okkupiert, und so war ihr „Liedgut“ dort als typisch deutsch konserviert worden.
Nun, die erwähnten Gassenhauer waren vom Text her harmlos, und so konnten sich auch Reiseteilnehmer der anderen Nationen über diese unerwartete Verfremdung amüsieren. Sie müssen auch nicht lange raten, wer den Tanz eröffnete. Es war ein Sachse mit tätowierten Armen, Herkuleshosenträgern und dem Leninorden auf stolz geschwellter Brust. Bald floss geschmuggelter Whisky zu sehr günstigen Preisen - keiner wusste, aus welcher Quelle er kam - aber all dies hatte schon zu früher Abendstunde eine sehr heitere Stimmung erzeugt.
Als sich dann die Eingangstüre öffnete, ebbte das Gelächter ab und man hörte ein leises Oooh des Erstaunens. Ein Farbiger, hochelegant gekleidet, sehr gut aussehend, groß und schlank, von undefinierbarer Herkunft war eingetreten und steuerte zielbewusst auf unseren Tisch zu. Ob er sich dazusetzen dürfe, fragte er in Oxford-Englisch. Natürlich durfte er und wurde gleich kumpelhaft eingemeindet. Neben uns saß ne kölsche Jong, zu dessen Lektüre gewiss nicht der Freiherr von Knigge gehörte. Der entdeckte sogleich, dass der Fremde eine wunderschöne Schweizer Uhr mit astronomischen Zeichen trug, damals noch eine Seltenheit. What’s the price of it?“ frage er den stranger ohne Umschweife. Der entgegnete galant, dass die Uhr keinen Preis habe und meinte mit diplomatischem Smiling, er könne sie dem Interessenten ja schenken. Der ließ sich von der vornehmen Antwort nicht abschrecken, er wiederholte die Prozedur seiner Frage dreimal und erhielt immer wieder die gleiche Antwort. „Dann jib se mal her“, meinte der kölsche Jeck, und schwupps hatte er sie an seinem Handgelenk. Die Uhr auf dem anderen Arm war auch nicht zu verachten. „Oh, I’m a very big capitalist“ grinste er den unbekannten gentleman an und ließ die beiden Uhren im Kerzenschimmer blitzen, ohne das geringste Anzeichen, dass er die „Leihgabe“ zurückgeben würde. Seine Unverfrorenheit wurde von dem albanischen Reiseleiter mit hämischem Grinsen begleitet. Schon bald hatte ich eine Erklärung für die Schadenfreude des Reiseleiters. Der geprellte Besitzer der Schweizer Uhr war nämlich der Diplomat Fidel Castros in Tirana und Panu, der einer rigiden kommunistischen Ideologie verpflichtet war, freute sich darüber, dass der liberalere Dandy-Diplomat aus Kuba so vorgeführt wurde.
Nach einer Weile gesellte sich ein neuer Überraschungsgast zu uns. Es war ein zierlicher Mann, in dunklem Anzug mit Fliege, der noble Umgangsformen hatte. So forderte er formvollendet eine stattliche, vollbusige Holländerin zum Tanz auf. Der Kommentar eines Beobachters ließ nicht lange auf sich warten: „O Knäblein klein an der Mutterbrust…“. Die Holländerin hatte wohl selten so etwas Köstliches an ihren Busen gedrückt und warf, wie in einem Traum entrückt, ihre Sandaletten mit großer Geste auf die Tanzfläche, ganz Anita Ekberg in Tirana. Die beiden waren gerade in einem herzzerreißenden Tango versunken, und diese Gelegenheit nutzte die Kölsche Tollität, um die Sandalen unter unserem Tisch verschwinden zu lassen. Am Ende der Tanzfolge bat „Anita“ ihren Kavalier, ihr die Schuhe zurückzubringen. Als der gerafft hatte, wo sie sich befanden, kroch er in seinem Smoking unter unserem Tisch herum, wo die Sandalen mit den Rufen kalt, warm, heiß von Hand zu Hand weitergereicht wurden. Es war kein Geringerer als der italienische Diplomat, der endlich, mit den Schuhen in der Hand, ein wenig derangiert neben dem Tisch wieder auftauchte.
Derartig skurille Ereignisse hoben die Laune und förderten den Alkoholkonsum, so dass die angeheiterte Gesellschaft nachts um vier Uhr aller albanischen Strenge zum Trotz auf ihre Zimmer wankte.
Kurze Zeit vorher hatte die deutsche Fußball-Nationalmannschaft in Tirana mit Mühe und Not 0:0 gespielt. Die Reporter schoben das aus deutscher Sicht miserable Ergebnis auf den angeblich schlechten Fußballplatz in Tirana, der übrigens ganz ausgezeichnet war. Die deutsche Equipe war in demselben Hotel wie wir abgestiegen und hatte wohl in der Taverne mit diplomatischem Segen ein wenig zu lange verweilt. Vielleicht eine bösartige Interpretation, aber kontrollieren konnte die Nachrichten aus Tirana damals niemand.
Es gäbe noch einige Merkwürdigkeiten und auch wirklich Positives aus dem Tirana von 1971 zu berichten, etwa die sehr sinnvoll angeordnete Nationalbibliothek, die sogar Liebeslyrik in deutscher Sprache enthielt, oder die nach unserem Geschmack durchaus nicht hässlichen breiten, geräumigen (Aufmarsch)straßen, auf denen sich vereinzelte Autos und Fahrräder verloren, aber ich möchte die Geduld meiner geneigten LeserInnen, die mir bis hierhin gefolgt sind, nicht länger strapazieren. Nur noch eine Episode:
Am anderen Morgen wurden wir mit spartanischer Strenge in aller Frühe geweckt, um kommunistische Errungenschaften zu besichtigen, zum Beispiel das Nationalmuseum. Dort gab es unter anderem Priestergewänder zu besichtigen, und Panu erläuterte sehr beredt, dass man im Zuge der Säkularisation der Religion ein Ende gesetzt habe. Ganz vorne vor den Vitrinen stand mein Kölner, der etwas gelangweilt auf seine Diplomatenuhr schaute und sich dann solchermaßen bemerkbar machte: „Ja, sage mal Panu, wann habt ihr denn den letzten Priester ufjefressen?“ – Man hörte das Schweigen knistern. – Meine Frau entspannte die Situation, indem sie sich laut lachend an Panu wandte: „ Auch wissen Sie, Panu, das ist unser Lieblingsclown aus Köln, der eignet sich mehr für eine Kappensitzung als für ernsthafte Revolution.“
(C) Ekkehart Mittelberg