Kurzgeschichte
Agape

Agape ist meistens unsichtbar, ihre Größe kann in keiner bekannten Maßeinheit gemessen werden und trotzdem ist sie uns so vertraut.

Sie wohnt in einem mobilen Häuschen. Oft sitzt sie stundenlang am offenen Fenster und hält Ausschau. Erfreut sammelt sie Sonnenstrahlen, füllt ihre Gieskannen mit Regentropfen, schnappt sich Windböen und tanzende Schneeflocken. Zu jeder Jahrszeit findet sie etwas, was sie unbedingt in ihr Vorratskämmerchen bringen muss. Besonders aufmerksam verfolgt sie die Gewitter. Denn es ist gar nicht so leicht, Blitze und Donner einzufangen. Wenn dann auch noch ein großer Regenbogen erscheint, hat sie alle Hände voll zu tun, um ihre Eimer wieder mit frischen Farben zu füllen.

Agape schläft nie. Nachts bewacht sie ihr kleines Haus, schaut zum Himmel hinauf und fängt den funkelnden Sternenstaub ein. Auch mit strahlendem Mondglanz hat sie schon viele Säcke abgefüllt.

Am glücklichsten aber ist sie, wenn sie mit dem Häuschen auf Reisen gehen darf. Vertrauensvoll wagt sie sich nach draußen und gesellt sich zwischen die Leute, Tiere und Pflanzen; nimmt mit den gesammelten Sonnenstrahlen Tränen auf, gießt ausgetrocknete Herzen und verdorrte Pflanzen. Ihre Windböen blasen alle Sorgen davon, die Schneeflocken bedecken sanft das hoffnungslose Schwarz. An manche Menschen verteilt sie Geistesblitze, wichtigtuende Großmäuler hingegen werden mit lautem Gedonner davongejagt…

Jeden Tag ist sie unermüdlich, malt und pinselt, lässt alles bunt erscheinen. Sie begrünt graue Städte und verwandelt stinkige Abwässer in kristallklare tiefblaue Seen. Agape ist geduldig. Nichts und niemand kann sich ihr lange entziehen, auch der größte Griesgram nicht. Sie vermag alles zum Guten zu wenden. Dabei ist sie äußerst flexibel, kennt weder Grenzen noch Länder und auch nicht die Zeit.

Heute durfte ich sie sehen. Als mein Töchterchen mich umarmte, saß sie am Fenster und blinzelte mir mitten ins Herz. Agape wohnt auch in Deinem und meinem Häuschen. Lasst uns unsere Fensterläden öffnen, die Türen entriegeln, damit sie Ausschau halten, ein- und ausgehen kann, wann immer sie möchte und sich über den ganzen Erball verbreitet.

Vielleicht triffst ja gerade Du heute noch auf Agape und wirst von ihr in Sternenstaub gehüllt…