Wie die Märchenfiguren ins Märchenbuch kamen...
Vor vielen, vor sehr vielen Jahren lebten viele der Märchenfiguren gemeinsam in einer großen Stadt. Sie war umgeben von sieben Hügeln und auf jedem Hügel stand ein Schloss. Darinnen wohnten sieben Könige, sieben Königinnen, die liebreizenden Prinzessinnen und die schönen, tapferen Prinzen. Ihren Hofstaat holten sie aus der Stadt, in der andere Märchenfiguren lebten, wie zum Beispiel Frau Holle, das tapfere Schneiderlein, Gold- und Pechmarie, Hans im Glück und viele, viele andere.
Draußen am Stadtrand aber hausten die Armen. Da gab es Hänsel und Gretel, Hänschen und Margarete, das Rotkäppchen, Aschenputtel, Schneeweißchen und Rosenrot, den kleinen Däumling, sowie einige Kinder, die gar niemanden mehr hatten, keine Eltern, keine Omis, nicht einmal eine böse Stiefmutter, sodass sie vom Betteln leben mussten.
All diese armen Kinder aber waren dick befreundet und halfen sich gegenseitig, wo sie nur konnten.
Ihre Eltern mussten in den Schlössern gegen eine Handvoll Essen all die niederen Dienste tun. Sie waren sehr, sehr arm und wussten oft nicht, wie sie ihre Kinder ernähren sollten. Von schönen Kleidern und Schuhen gar nicht zu reden. Nicht einmal die abgelegten Gewänder der Königskinder bekamen sie. Die Königinnen warfen sie eher weg oder verbrannten sie, ehe sie diese prächtigen Kleidungsstücke den Armen gaben.
Als die Not immer größer wurde und die Eltern von Hänsel und Gretel nun gar nichts mehr zu essen hatten, wollten sie die Kinder in den Wald schicken. Dort könnten sie sich von Beeren ernähren.
Hänsel und Gretel hörten das und liefen zu ihren Freunden.
„Wir wollen uns auf den Weg in das Schlaraffenland machen.“, sagten sie, „Weil in den Wald gehen wir nicht. Da wohnt die Hexe.“
„Vielleicht könnten wir sie gemeinsam überlisten und dann in dem Lebkuchenhaus wohnen?“, fragte Aschenputtel.
„Das wäre schon möglich“, meinte Hänschen, „doch bedenkt: Das Haus ist aus Lebkuchen. Was passiert, wenn es regnet? Und was, wenn wir es aufgegessen haben? Wir hätten dann weder ein Dach über dem Kopf, noch etwas zu essen.
„Du hast natürlich Recht!“, stimmte ihm Schneeweißchen zu. „So machen wir uns auf die Suche nach dem Schlaraffenland.“
Und alle Kinder waren einverstanden.
Hänschen schlich mit Margarete ins Haus des Zauberers und stahl den „Goldenen Rehbock“ mitsamt dem goldenen Wagen.
Das Gespann sollte sich für ihre Flucht sehr hilfreich erweisen.
Dann machten sich die Kinder unverzüglich auf den Weg.
Die Sterne strahlten hell am Himmel und der gute alte Vollmond leuchtete ihnen wie eine Laterne durch den finsteren Wald. Als die Kinder beim Hexenhaus vorbei kamen, brachen sie ein paar Lebkuchentafeln heraus.
„Knusper, knusper, knäuschen!
Wer knuspert an meinem Häuschen?“,
hörten sie die Hexe fragen.
„Der Wind, der Wind,
das himmlische Kind!“,
rief Gretel mit heller Stimme. Dabei zitterten ihre Knie.
„Ich hab´ Angst!“, flüsterte sie, „lasst uns schnell weiterfahren.“
„Nein“, sagte Hänschen, „wir brechen noch ein paar Lebkuchen als Reiseproviant ab.“
„Und wenn die Hexe heraus kommt?“
„Dann verwandle ich uns alle in einen Erlenstrauch mit vielen Blättern. Der Rehbock wird zum Stamm, der Wagen zu Ästen und wir zu Blättern.“
Flink brachen die Kinder einige Lebzelten aus dem Haus, warfen sie in den goldenen Wagen und fuhren weiter.
Die Frage der Hexe,
„ Knusper, knusper, knäuschen,
wer knuspert an meinem Häuschen?“,
hörten sie gar nicht mehr.
Der goldene Rehbock flog wie der Wind über sieben Täler und sieben Berge.
Wenn sie zu einem Fluss kamen, sprach Hänschen sein Zaubersprüchlein:
„Entchen, ihr Entchen,
kommt doch geschwommen -
macht uns ein Brückchen,
dass hinüber wir kommen!“
Die Enten kamen geschwommen und bildeten eine Brücke – und weiter ging die flotte Fahrt.
Diese Reise war gar nicht ungefährlich. Denn die Kinder mussten dunkle, tiefe Wälder durchqueren, in denen Zauberer und Hexen ihr Unwesen trieben und hungrige Wölfe umher irrten. Sie mussten Berge überwinden, in deren Schluchten Drachen auf der Lauer lagen.
Aber Elfen und gute Feen standen den Kindern unbemerkt bei und so erreichten sie wohlbehalten endlich den Berg aus Reisbrei.
Sich da durchzubeißen war nun wahrlich keine leichte Aufgabe. Die Kinder aßen und aßen. Sie schliefen, aßen und aßen, schliefen, aßen ...
„Ach hätten wir nicht so viel Lebkuchen gegessen!“, stöhnten sie und hielten sich die vollen Bäuche.
Endlich aber waren sie durch. Eines nach dem anderen zwängte sich durch die schmale Röhre, die sie in den Berg gegessen hatten. Nur der goldene Rehbock und der goldene Wagen blieben draußen. Sie beobachteten, was die Kinder jenseits der Mauer erwartete und kehrten dann in die Märchenstadt mit den sieben Hügeln zurück.
Die Kinder aber standen staunend da. Wo waren sie bloß gelandet?
Denn das, was sie sahen, war mit Sicherheit nicht das Schlaraffenland. Es war eine kleine, freundlich wirkende Stadt, mit netten Häusern und Gärten voll blühender Blumen.
Unsicher nahmen sich die Freunde an den Händen und gingen vorsichtig weiter.
In einem der ersten Häuser saß ein Mann an einem Gartentisch. Er trug eine große Brille und einen langen, weißen Bart. Als er die Kinder sah, rief er sie an.
„Nanu, ihr lieben Kinderlein,
Was soll euer Ziel denn sein?
Wo kommt ihr her, wo wollt ihr hin?
Und welchen Weges wollt ihr zieh´n?“
Die Kinder schilderten ihre abenteuerliche Flucht.
Der alte Mann bat sie in sein Haus. Er gab ihnen zu essen, zu trinken und hörte ihren Erzählungen aufmerksam zu.
„Wenn ihr wollt, könnt ihr bei mir bleiben.“, sagte er, „ich gebe euch eine neue Heimat.“
Das tat er auch.
Er nahm all die Märchenfiguren in seinem großen Märchenbuch auf, denn der alte Mann war ein Dichter.
Möglicherweise hat der goldene Rehbock auf seiner Rückreise die wunderliche Kunde verbreitet, denn von überall strömten die Märchenfiguren dieser Stadt zu. Aus aller Welt kamen sie, von anderen Märchenländern und –Städten, vom Meeresgrund, aus der Wüste, vom gläsernen Berg und aus den tiefsten Wäldern. Aber auch aus unserer Stadt mit den sieben Hügeln und den sieben Schlössern und Königen.
Alle wollten zu dem gütigen, alten Mann mit dem weißen Bart. Alle wollten in das Märchenbuch, wo sie behütet und beschützt leben könnten.
Er nahm alle auf und bot jedem einen Platz in seinen schönen Büchern.
... Und dort leben sie immer noch in friedlicher Eintracht, und werden dort leben, solange es Kinder gibt, die gerne Märchen lesen.
I. H.