Kurzgeschichte
Marlons potemkinische Dörfer

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"Marlons potemkinische Dörfer"
Veröffentlicht am 12. Mai 2009, 14 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Marlons potemkinische Dörfer

Marlons potemkinische Dörfer

Beschreibung

"Die Suche nach der Party die gerade nicht ist"

Wir fuhren viel zu schnell und doch immer noch zu langsam. Neben mir, am Steuer, saß Marlon. Völlig aufgekratzt, ein unseliger Mutant, dem ein Lenkrad aus den Händen zu wachsen schien. Er umklammerte das Ding so fest, dass seine Knöchel völlig weiß waren und aus seiner Haut zu platzen drohten. Dabei schnaufte er wütend und seine Wut war begründet. Wir waren unterwegs zu einer Party irgendwo in der Einöde. Dass es diese Party überhaupt nicht gab wussten wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht, aber vielleicht ahnten wir beide es bereits. So ist es nun mal im Leben, ständig jagt man nicht existenten Partys nach. Manchmal bewusst, manchmal unbewusst.
 Der Wald um uns herum wurde immer dichter, ich hatte keine Ahnung wo genau wir hier waren. Marlon ebenfalls nicht, aber er gab Gas als würde er jede einzelne Kurve kennen. Und es gab dutzende Kurven hier oben. In Gedanken sah ich uns bereits am nächsten Baum zerschellen, doch der Gedanke war mir relativ gleich, auch wenn er sich mir aufdrängte wie eine Prostituierte. Würde es so kommen, was sollte ich schon dagegen unternehmen? Marlon bitten langsamer zu fahren? Da hätte ich ebenso gut die Sonne bitten können nur für mich einmal blau zu leuchten. Nein, irgendwie gefiel mir auch, was er da tat. Ich wollte überhaupt nicht, dass er langsamer fuhr. Es war, als würde das Auto mit bloßer Wut anstelle von Sprit fahren und das faszinierte mich.
Worauf er wütend war? Naja, darauf, dass er nichts zu rauchen hatte und dass wir uns anscheinend verfahren hatten. Bei Marlon reichte das bereits für einen mittelschweren Amoklauf. Einmal hatte er seinen Fernseher zertrümmert, weil er kein Bier mehr hatte, obwohl er fest davon überzeugt gewesen war, dass noch mindestens eins hätte da sein müssen. So musste halt sein Fernseher dran glauben. Das kaputte Ding stand noch Jahre danach in seiner Wohnung und wurde, soweit ich weiß, nie durch einen neuen ersetzt.
Ich beschloss ihn ein wenig anzustacheln und fragte ihn, ob er eine Ahnung hätte wo wir waren. Hatte er natürlich nicht. Er gab auch keine Antwort, sondern verkniff nur den Mund und umklammerte das Steuer noch ein wenig fester. Gleich würde die Haut an seinen Knöcheln oder vielleicht die Knöchel selbst platzen, ich wartete nur noch auf das Geräusch.
 Er jagte in die nächste Kurve, ohne von der Bremse zu gehen. Die Reifen quietschten, ich lachte. Marlon nicht. Er arbeitete mit solch einer Verbissenheit an unserem baldigen Unfalltod, dass ich noch mehr lachen musste. Es war als hätte man einem tasmanischen Teufel das Autofahren beigebracht.
Jetzt kam eine längere Gerade und der Wagen beschleunigte besorgniserregend. Der Motor heule auf, denn Marlon weigerte sich hoch zu schalten. Für einen kurzen Moment überlegte ich, einfach die Handbremse zu ziehen. Aber da hätte ich genauso gut das Steuer herumreißen und uns direkt in die Bäume lenken können, bei dieser Geschwindigkeit. Stattdessen schaltete ich das Autoradio wieder ein, dass Marlon kurz vorher ausgeschaltet hatte. Es lief irgendein Schlagerpop-Gedudel. Ich drehte lauter, so laut, dass die Boxen in den Türen widerliche vibrierende Töne von sich gaben, die sich bis in meine Magengrube durchboxten, wo sie die ganze Suppe darin zum Tanzen brachten. Ich musste kotzen, also kurbelte ich unbeholfen das Fenster auf und tat es. Der Fahrtwind riss es mir förmlich aus dem Mund und das ganze Zeug landete auf meinem rechten Arm und der Beifahrerseite. Ich schrie auf vor Ekel und kurz darauf vor Panik, denn Marlon verlor die Kontrolle über den Wagen und wir gerieten ins Schlingern. Ich sah die Bäume näher kommen und wieder verschwinden, dann drehten wir uns mitten auf der Straße und kamen zum Stehen. Die beiden Kreuze am Straßenrand mussten wohl noch ein bisschen auf uns warten.
Jetzt lachte Marlon, während der Wagen quer auf beiden Spuren stand. Sein Lachen war so verrückt, dass ich einfach mitlachen musste, auch wenn mir immer noch kotzelend war. Es erinnerte mich an eine Knochensäge, keine Ahnung warum. Sein Lachen war einfach etwas Rostiges und dennoch Scharfes, das sich am harten Knochen Realität langsam abnutzte. Heute hat Marlon überhaupt keinen Grund mehr zum Lachen. Die Säge ist stumpf geworden.
Minuten vergingen, verrückte Minuten. Ein einziger wahnsinniger Lachanfall. Wir waren hier mitten im Nirgendwo, gefangen in unseren eigenen Vorstellungen eines gelungenen Samstagabends. Alles was schief gehen konnte, war schief gegangen, wie so oft. Irgendwann verebbte mein Lachen langsam und mein Zwerchfell begann zu schmerzen. Marlon lachte weiter, dabei hatte er nicht mal was genommen. Plötzlich sah er zu mir rüber und grinste frech wie ein kleines Kind. „Wir haben gerade einen angefahren.“Erneutes Lachen, diesmal nur von Marlon. Hatte ich wirklich das gehört, was ich glaubte? Hatten wir jemanden überfahren? Meine Gedanken überschlugen sich und mir wurde noch schlechter. Ich wollte gerade aussteigen, da packte mich Marlon am Arm. Das Lachen war aus seinem Gesicht gefallen, wie ein Stein von einer Autobahnbrücke.  „Bist du verrückt? Wir fahren weiter!“Ich hielt inne. Etwas in seiner Stimme kam mir seltsam vor. Verarschte er mich? Es wäre nicht das erste mal gewesen, er konnte das wirklich gut, er hätte Schauspieler werden sollen. Einmal hatte er mir erzählt, er hätte sich mit HIV angesteckt und ich hatte es ihm geglaubt. Tagelang. Er hatte nicht einmal verräterisch mit einem Auge gezuckt oder so was. Seine Gags waren lausig, aber er brachte sie glaubwürdig rüber. Ich redete mir ein, dass das auch diesmal der Fall wäre.
 Ich glaubte mir selbst so bereitwillig wie ich nur konnte. Marlons Blick ließ keinerlei Rückschlüsse zu, doch sein Griff an meinem Arm war unheimlich fest, so fest, dass ich später einen fast vollständigen blauen Abdruck seiner Finger bekam. Ihm schien es ernst zu sein.  Einige Sekunden lang waren nur die Vögel aus dem nahen Wald zu hören. Sie schienen uns zu verspotten und gleichzeitig aus ihrem Revier vertreiben zu wollen. Oder verkündeten sie gerade dem restlichen Wald, dass auf dieser Straße ein neuer Kadaver gelandet war? Ein seltener menschlicher Leckerbissen?

Ich hatte immer noch den Türgriff in der Hand, doch statt auszusteigen streckte ich einfach wieder den Kopf aus dem Fenster und versuchte irgendwie nach hinten zu schauen, Marlon hatte noch immer meinen Arm im Griff. Ich konnte nichts erkennen, langsam wurde es auch dunkel um uns herum. Warum sollte sich jemand um diese Zeit mitten in dieser Einöde herumtreiben? Ich fragte Marlon noch mal, ob er sich sicher sei. Er nickte nur, startete den Motor und fuhr los.

Die nächste halbe Stunde schwiegen wir beide, bis wir feststellten, dass wir uns nun endgültig verfahren hatten. Mittlerweile war es richtig dunkel geworden und die Käffer wurden immer seltener. Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass wir nicht mehr die Party suchten (später stellte sich heraus, dass wir mindestens zweimal an dem gesuchten Ort vorbeigefahren waren, was aber nicht tragisch war, denn die Party die wir besuchen wollten, hatte niemals stattgefunden…). Ich schlug Marlon vor wieder nach Hause zu fahren, aber er reagierte überhaupt nicht darauf. Seit dem Zwischenfall verhielt er sich noch seltsamer, was ich bei ihm nie für möglich gehalten hatte. Sein Blick fixierte irgendetwas weit hinter dem Horizont, was nur er sehen konnte. In jeder Kurve fürchtete ich, dass er einfach mit offenen Augen geradewegs in die Leitplanke rasen würde. Hin und wieder zuckte sein rechtes Augenlid, wie die Karikatur eines Irren. Er war irre, spätestens seit unserem Unfall war er so verrückt wie ein rumänischer Straßenköter. Was ich vor einer guten halben Stunde noch unterhaltsam und faszinierend fand, jagte mir nun einen Schrecken ein. Doch eigentlich waren wir ja beide irre, wir hatten einen Menschen überfahren (ich vermutete einfach, dass es ein Mensch gewesen war, auf meine Fragen antwortete Marlon mir nicht) und ihn einfach liegen gelassen.
 Eigentlich liebte ich zu der Zeit das Gefühl, dass ich hatte, wenn ich mal wieder Scheiße gebaut hatte. Doch diese Sache lag mir im Magen wie C4-Sprengstoff. Wir fuhren weiter schweigend durch die Wälder und Felder dieser gottverlassenen Gegend. Wenig später erschien die Straße mir seltsam vertraut und bald war ich mir sicher, dass wir wieder auf eben jener einsamen Straße waren, auf der Marlon die Kontrolle über seine Schrottkiste verloren hatte. Tja, der Täter kehrt immer zum Tatort zurück. Warum sollte das nicht für einen triebgesteuerten Mutanten wie Marlon gelten? Ich erinnerte mich an die vielen Kurven, bei denen mir schlecht geworden war und bald kam die lange Gerade, an deren Ende wir etwas erwischt hatten. Ich sagte nichts, aber ich sah ihm an, dass er genau wusste wo wir waren. Plötzlich wurde er langsamer und fuhr an den Straßenrand. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er wirklich Reue empfand und nach dem Opfer sehen wollte. Nicht er, da war er einfach nicht der Typ für. Ich traute ihm eher zu, dass er es beseitigen wollte, noch mal drüber fahren womöglich, nur um ganz sicher zu sein.
 Doch vielleicht hatte ich auch ein völlig falsches Bild von ihm, schließlich kannte ich ihn da noch nicht allzu lange. Vielleicht war das unmoralisch Verrückte an ihm ja nur ein kleiner Teil seines Charakters. Vielleicht lauerten unter dieser Oberfläche ja doch irgendwo menschenähnliche Züge. Es hätte mich wirklich überrascht.

Die Straße war leer, kurz vor der Kurve konnte man noch schwach die Bremsstreifen erkennen, die wir im Asphalt hinterlassen hatten. Aber von einem Opfer war weit und breit nichts zu sehen. Wir stiegen aus und ließen die Scheinwerfer des Wagens an, immer noch ohne zu sprechen gingen wir die Straße ab, bis zu der Kurve. Bis auf die Reifenspuren deutete nichts auf einen Unfall hin. Marlon sah mich fragend an und zuckte mit den Schultern. Plötzlich bewegte sich etwas am Waldrand. Vermutlich war es nur ein Reh, es hätte aber ebenso gut ein verletzter, irrer Landstreicher sein können, der nach Rache trachtet. Ein Ast knackte. Vögel flatterten davon. Die Dunkelheit schien um uns herum noch dunkler zu werden.
 „Da hinten, da liegt irgendwas. Es bewegt sich“, sagte Marlon und deutete auf die Stelle, aus der das Knacken gekommen war. Die Luft war kühl und still und verstärkte jedes noch so kleine Geräusch. Ich glaubte mein eigenes Herz schlagen hören zu können. Irgendwo weit weg, außerhalb meines eigenen Körpers. Es raschelte noch mal, an einer anderen Stelle. Marlon schrie kurz auf, doch ich konnte noch immer nichts erkennen. Meine Augen waren im Dunkeln fast gar nicht zu gebrauchen und die Stelle, aus der das Geräusch kam, lag abseits unseres Scheinwerferlichtes. Marlons Gesicht wurde gerade noch so von der Seite angeschienen, was ihm einen surrealen, sadistischen Touch gab. Ich fragte ihn was er sah, zitternd. Er drehte seinen Kopf langsam und wie in Trance.
 „Ich sehe einen kleinen Kotzbaron, der sich gleich in die Hose scheißt.“
 Dann lachte er sein Knochensägen-Lachen und ließ sich auf den Boden plumpsen. Erst eine knappe Minute später realisierte ich, dass er mich schon wieder verarscht hatte.

Heute tröste ich mich mit dem Gedanken, dass er niemals irgendeine Party erreicht hatte, zu der er wollte. Er war immer nur orientierungslos durch die Gegend gefahren und hatte Potemkinische Dörfer gesucht, die er selbst errichtet hatte. Er suchte sie noch immer, nur würde ihn nun niemand mehr an ein Steuer lassen. Marlon war seit Jahren in einer geschlossenen Psychiatrie. Ich hatte ihn nie besucht. Warum auch? Er war ein verdammtes Arschloch.

ENDE
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zellhaufen

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zellhaufen Danke... - nee, nicht ganz autobiographisch, aber solche Leute kenne ich leider wirklich. Eigentlich mag ich solche Leute auch irgendwie, bzw. finde sie faszinierend.
LG
Vor langer Zeit - Antworten
pfalzgraf Ich hoffe - dies war nicht autobiographisch. Ansonsten würde ich Dir raten Deinen Bekanntenkreis zu überdenken. Aber toll geschrieben. Spannend wie ein Krimi. Macht Spaß auf mehr
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