„Hör auf zu schreien!“, flüsterte sie ihm ins Ohr und er verstummte.
Sie hatte ihn gegen die Wand eines Hauses in einer verlassenen Seitenstrasse gedrückt.
Er konnte nicht entkommen. Unmöglich.
Obwohl er sportlich war und der beste Footballspieler seiner Klasse, konnte sie ihn mühelos in Schacht halten.
Und dabei war sie über einen Kopf kleiner als er und war so dünngliedrig, dass es schien, als könne man sie mit einer Hand zerdrücken...
Sie war mindestens ein Jahr jünger als er. 16, vielleicht sogar 15.
Er war überwältigt von ihrer Schönheit gewesen, als sie auf einmal in dieser Gasse auftauchte.
Sie hatte kinnlanges, schwarzes, glattes Haar mit sieben perfekten, roten Locken zerstreut auf dem schönen Haar.
Sie war ganz blass, hatte Augenringe, und doch solch makellose Gesichtszüge, dass es schien, als sei sie eine in Stein gemeisselte Statue einer Göttin, würde sie sich nicht bewegen.
Und wie sie sich bewegte! So fliessend und anmutig.
Er war überwältigt gewesen, verzückt.
Doch dann drückte sie ihn schon gegen die Wand und eine ihrer feingliedrigen Hände legte sie an seine Kehle. Ihre Hand war eiskalt und hart.
Ihr Druck um seinen Hals verstärkte sich ein bisschen. Er schrie wieder. Sie lachte nur. Es klang so melodisch wie ein Windspiel und ebenso verzaubernd.
„Es hört dich eh niemand“, sagte sie kalt.
„Was willst du von mir?“, fragte er ängstlich, seine Stimme zitterte.
Obwohl sie so gefährlich und tödlich wirkte, fand er sie immer noch wunderschön.
„Dass du mir hilfst weiterzuleben.“
Sie war eine Verrückte, entschied er.
Dass ihm das nicht früher aufgefallen war.
Immerhin hatte sie solch komische Haare, und ihre Kleidung gehörte eindeutig zur Gothicszene: sie trug schwarze Spinnennetzstrümpfe, einen schwarzen Minirock mit Nieten und aufgestickten Fledermäusen, ein Korsett mit Rüschchen und schwarze Armstulpen. Dazu eine Halskette mit einem schwarzen Fledermausanhänger.
„Nein“, lachte sie. „Ich bin nicht verrückt.“ Wie wenn sie seine Gedanken gelesen hätte... „Nur nicht das, was du als normal ansehen würdest.“
Sie drehte seinen Kopf zur Seite.
„Und... und was wäre das?“, fragte er. Ängstlich, erschrocken, verstört. Todesnahe.
Sie lachte kalt.
Dann sah sie ihm zum ersten mal direkt in die Augen.
Ihm stockte der Atem.
Ihre Augen waren rubinrot. Kalt und gefährlich. Wie die einer Raubkatze.
Dann ging alles ganz schnell.
Sie stellte sich auf ihre Zehenspitzen und biss in seinen freigelegten Hals.
Seine Haut hätte ebenso gut Butter sein können, so mühelos durchdrangen ihre scharfen Zähne sie.
Ein Vampir!, dachte er schockiert. Zu mehr war er nicht fähig.
Es tat höllisch weh, schrecklichere Schmerzen hatte er noch nie erlitten.
Doch von der stelle, in die sie ihn biss strömte eine lähmende Kälte durch seinen ganzen Körper. Er konnte nicht einmal schreien.
Er spürte, wie ziehend und gewaltsam ihm immer mehr und mehr Blut aus seinem Körper entzogen wurde.
Genauso wie er spürte, dass er langsam das Bewusstsein verliert.
Er konnte nicht einmal mehr richtig seine Gedanken ordnen. Die ganze Zeit strömten ihm Gedanken durch den Kopf wie: hätte ich doch nur... ; ... das Ende? ; ich werde nie mehr... ; ... ich sterbe!
Irgendwann verlor er das Bewusstsein und klappte zusammen. Sie hielt ihn fest, damit er nicht jetzt schon auf den Boden fiel. Es schien ihr keine Mühe zu machen, den grossen, muskulösen Körper zu halten, während sie von ihm trank.
Nach einer Weile hörte sie auf zu trinken und liess ihn los. Er sackte wie eine Puppe auf dem Asphalt zusammen, wo se ihn achtlos liegen liess.
Sie hörte sein Herz. Es schlug nur noch unregelmässig, schwach. Bald würde es ganz aufhören zu schlagen. Doch er war jetzt schon näher dem Tod, als sie es jemals war.
Und sie hatte schon mal Selbstmord begannen. Schon mehrere Male, doch das hatte nichts gebracht...
„Danke“, murmelte sie. „Danke für dein Opfer“
Dann verschwand sie in einer anderen Seitenstrasse.
Die Dunkelheit hiess sie Willkommen, wie eine alte Freundin, umhüllte sie, schloss sie ein, verbarg sie. Als hätte es sie niemals gegeben.
Und genau so sah es aus, als im Morgengrauen die Leiche des toten Jungen gefunden wurde.
Er wurde als Alexander Bannet identifiziert. Ein 17 jähriger Teenager, ein guter Schüler, ein begehrter Junge bei den Mädchen, ein zuverlässiger Freund.
Jetzt war er tot.
Es war Mord, da war sich die Polizei sicher, schon der 4. Fall in zwei Monaten, doch wie jedes Mal fand man keine Spuren. Weder Fingerabdrücke, noch sonst etwas.
Als gäbe es doch keinen Mörder.