Kurzgeschichte
Starre

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"Starre"
Veröffentlicht am 10. Mai 2009, 8 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Ich bin alleinerziehende Mutter dreier Kinder. Die Tiefe in Menschen interessiert mich und die Nähe. Mag es, wenn mich jemand an sich ran lässt, statt mir nur die Oberfläche entgegen zu halten.
Starre

Starre

Ich laufe durch mein Leben und suche. Aber ich weiß nicht, wonach. Spüre die Ruhelosigkeit in mir und kenne kein Gegenmittel. Die Küche duftet nach frischem Brot. Ich esse eine Scheibe. Aber der Hunger geht nicht weg. Ich hatte keinen Hunger auf Brot. Mein Hunger trägt keinen Namen. Es ist schlicht unstillbarer Hunger. Der Film den ich gestern sah machte mich traurig. Alle Filme danach hatten die gleiche Wirkung. Egal, was ich mir ansehe, es macht mich traurig. Die Musik, die ich noch letzte Woche mit Hochgefühl genoss tränkt mich mit Sehnsucht. Malt Bilder in tristeren Farben, als schwarz und grau. Etwas fehlt. Rastlose Gedankenwelten in endlos verschlungenen Wegen. Meine Kinder sind großartig. Ich habe eine Arbeit, die mir Spaß macht. Meine wenigen Freunde sind die besten, die man sich wünschen kann. Ich finanziere mein Leben und die meiner Kinder alleine. Wir wohnen in einem gemütlichen Haus mit zerschlissenen Möbeln. All das ist meins. Ich könnte Stolz sein. Aber die Leere ertränkt den Stolz. Was würde mich glücklich machen? Fehlt mir ein Mann im Leben? Ja. Ein geliebter Weggefährte. Aber er würde nicht das absolute Glück herbei führen. Es ist das Leben an sich, das mich langweilt. Es ist das Leben an sich, das mir fehlt. Was ist das Leben an sich? Reiche Tage voller neuer Erlebnisse und Erfahrungen. Gibt es das nicht mehr, wenn man über Vierzig ist? Lebt man tagein tagaus nur noch in Wiederholungen? Was trage ich dazu bei, etwas zu erleben? Ich lebe meinen Alltag. Ich rufe selten Freunde an, halte keinen Kontakt. Oft vergehen Wochen, in denen ich damit ausgelastet bin, meinen Job zu erledigen und des Rest des Tages mit meinen Kindern und bestenfalls mit deren Freunden zu verbringen. Ich forme nicht mit an meinem Leben. Nehme nichts selbst in die Hand. Sitze zuhause und warte darauf, dass das Leben endlich passiert. Und abends sinke ich in meine Kissen. Enttäuscht. Enttäuscht darüber, dass das Leben tatsächlich immer noch auf sich warten lässt. Mir ist meine Energie abhanden gekommen. Der Alltag verzerrt die Reserven, die ich eigentlich so dringend für das Leben bräuchte. Die Wände kommen näher und ich habe Angst, irgendwann die Tür nach draußen nicht mehr zu finden. Mich nicht mehr über die Schwelle zu trauen, weil mein Leben so klein wurde durch all die Eintönigkeit. Nichts, was ich in Gesprächen noch mitzuteilen hätte. Unterhaltungen mit Erwachsenen fallen schwer. Bin uninteressant. Beschränke mich auf zuhören. „I could use somebody....“ Kings of Leon. Oh ja, wie ich jemanden brauchen könnte ... „I hope it’s gonna make you notice someone like me“. Ja, man bemerkt mich eigentlich nicht. Nimmt mich nicht wahr, weil ich mich nicht zeige. Nicht mal vor mir selbst. Ich weiß nicht, was ich gerne essen oder trinken möchte. Ich weiß nicht, was ich gerne tun möchte. Ich weiß nur, dass etwas fehlt. Buchstabenlose Worte die mir Leere einimpfen. Es gibt kein Lexikon, das diese Sprache übersetzt. Ich möchte mal wieder Leichtigkeit empfinden. Tanzen, Tag und Nacht. Wenigstens in Gedanken. Möchte in einer Traumwelt leben. Und vergeude mein wahres Leben daran. Verpasse es, weil die Sehnsucht Unmögliches fordert. Möchte meine Träumerei aber nicht aufgeben. Weil alles andere nicht genug wäre. Niemals genug. Sehne mich nach Sommer und Sonnenschein. In mir. Glücksgefühle die mich zum Platzen bringen und alles herausbefördern, was in mir schlummert. Mich aus meinem Schlummer hinaus taumeln lassen. Mit wachen, offenen Augen das Leben umarmen. Lachen von ganz tief drinnen. Sorglose Liebe zum Jetzt. Ohne gestern und morgen auskommen. Aber Sehnsucht wühlt im gestern und im morgen. Hat mit dem Jetzt nichts zu tun. Träumen geschieht im morgen. Das Jetzt stirbt während dessen. Ich sehne mich danach, jünger zu sein. Noch einmal alle Möglichkeiten zu haben. Mich jugendlich neu zu verlieben. So viele verpasste Gelegenheiten. Und doch zieht das Leben weiterhin an mir vorbei und die verpassten Gelegenheiten wachsen an.
 

Ich war immer ein zum kotzen braves Kind. Tat selten etwas verbotenes. Und schaffe es bis heute noch nicht. Ich würde so gerne mal voll über die Stränge schlagen. Aber mein Mut reicht nicht aus dazu. Das ängstliche Kind in mir hält mich immer noch geknebelt. So vieles, das sich nicht mehr nachholen lässt. Wie soll ich damit weiterleben? Möchte die Uhr zurück drehen, aber das ist nicht möglich. Wie kann ich statt dessen meinen Hunger stillen? Aus dem Jetzt und dem was kommt das beste machen. Aber wie? Was wäre das beste? Manchmal möchte ich eine Tasche packen, ins Auto schmeißen und einfach losfahren Richtung Süden. Andererseits weiß ich, dass ich mich alleine dort nicht wohlfühlen würde. Könnte es nicht genießen. Bin unsicher, alleine in der Welt. Keine Ahnung, was mein Weg wäre. Wo mein Glück läge. Will forschen und nie aufgeben. Was ist der Sinn eines Lebens? Das Glück. Aber was ist Glück? Und gibt es das überhaupt in beständiger Form? Brauche andere Menschen, um mich an ihnen zu spüren. Um sie zu spüren. Um das Leben zu spüren. Das Zusammenspiel mit anderen macht das Leben aus. Ich würde sterben ohne Menschen um mich und bemühe mich doch nicht darum. Lebe in meiner eigenen kleinen Welt mit meinen Kindern und dem Alltagstrott. Eintönigkeit raubt meine Farbpalette und hinterlässt eine reinweiße Leinwand. Wann schaffe ich es bloß endlich, die Farbtöpfe heraus zu holen, mit der ganzen Hand hineinzulangen und eigene Bilder zu entwerfen? Was hält mich zurück? Was bremst mich? Wovor habe ich Angst? Dass die Farben nicht zu mir passen. Dass ich zu alt bin für leuchtende Töne. Und wenn schon?! Lieber meine eigenen Farben, als gar keine. Und wenn keiner meine Kunstwerke bewundert, sie mich aber glücklich machen, ist das doch schließlich auch schon was. Aber wem muss ich das einreden? Nur mir selbst. Sonst interessiert es niemanden, ob die Bilder gefallen oder nicht. Wozu also die Sorge? Ich sollte einfach drauf los malen! Die große Leinwand starrt mich an und raubt mir die Kraft. Zu viel weiß blendet mich. Mit stolzem Blick. Nichts einladendes. Müsste ihr die Stirn bieten und stehe doch mit eingezogenem Kopf ihr gegenüber. Könnte sie mich doch freundlich anlächeln... Könnte ich sie doch freundlich anlächeln. Was könnten wir in einander entfachen ... wie könnten wir einander befruchten, bereichern. Einander überhaupt erst einen Sinn geben. Baue die Staffelei ab, lege die Leinwand bei Seite, vergrabe die Farbtöpfe und entschwinde in meine Traurigkeit. Nichts bewegt sich. Nichts bringt mich zum laufen. Ruhe erstarrt in Enge. Lebendig begraben. Das Leben entglitten durch jede Pore. Ohne ein Gefühl zurück zu lassen. Lebloser Körper inmitten der Welt, inmitten anderer Leben, inmitten anderer Atemzüge, taumeln. Feuchte Augen, Rinnsäle entlang der Wangen, düstere Falten die noch älter fühlen lassen. Verrenne mich in meiner Endzeitstimmung. Und renne doch gar nicht. Hoffe auf Sonnenschein morgen. Besucher mit bunten Pinseln in Händen. Warte in Starre.

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Jule
Ich bin alleinerziehende Mutter dreier Kinder. Die Tiefe in Menschen interessiert mich und die Nähe. Mag es, wenn mich jemand an sich ran lässt, statt mir nur die Oberfläche entgegen zu halten.

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evchen Absolut ergreifend... - ...und wenn es tatsächlich dich selbst betrifft ist es noch ergreifender. Sollte es nicht um dich gehen bin ich positiv geflasht von so viel Einfühlungsvermögen. Wie auch immer... Ich habe eine Frage an das lyrische Ich: Warum muss es gleich die ganze Hand voll Farbe sein? Ich würde mich Finger für Finger voran arbeiten und erst nach einiger Übungszeit die ganze Hand in den Farbtopf stecken. So ist meiner Meinung der Schritt zurück in ein aktives Leben einfacher. Dein Text hat mir sehr gefallen weil er authentisch eine Situation beschreibt die es, glaube ich, gar nicht so selten gibt. Ich denke diese Gefühle treten überall dort auf wo der Alltag das Abenteuer frisst und die Routine die Spontanität verdrängt. Bloß ist dies ja auch kein Wunder denke ich denn gerade mit Kindern ist es doch so, dass diese einen geregelten Tagesablauf benötigen. Und ich denke die Eltern oder besser in diesem Fall fügt die Mutter sich ganz automatisch ein, ihren Kindern zu liebe. Aber Einsicht ist der erste Schritt zu Besserung. Und ich denke Schritt für Schritt kann man dem Ziel näher kommen ohne dabei zur schlechten Mutter zu mutieren.

Liebe Grüße Evi
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EisEngel Ein... - interessanter Gedankengang... (:
Gefällt mir gut... (:

glg EisEngel
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