Beschreibung
Einfach eine kleine Geschichte
Die Uhr
„Mami, Mami!“
Die kleine Eva kam zu ihrer Mutter gerannt, die gerade über die Spüle gebeugt, einen Teller abwusch. „Was ist denn, mein kleiner Schatz?“ „Mami, Mami“, rief Eva wieder und fuchtelte wild mit den Armen, „unsere Uhr, unsere Uhr im Wohnzimmer ist weg!“
„Ich weiß Schatz, heute ist ja auch ein besonderer Tag.“
„Wieso??“ Eva machte große Augen.
„Weil heute der Tag ist, wo die Uhren sich treffen.“ „Treffen?“ Eva schaute jetzt ungläubig drein. „Ist das jetzt so wie mit dem Weihnachtsmann, der eigentlich Papa gewesen ist?“ „Nein, Schatz, das mit den Uhren stimmt wirklich.“ Sie legte den Teller hin und kniete sich mit verschwörerischem Grinsen zu Eva herunter. „Einmal im Jahr, treffen sich alle Uhren an einem geheimen Ort-“ „Wo?!“ „Das weis man ja eben nicht. Also da treffen sie sich und-“ „Und was machen sie dann??“ „Sie vergleichen die Zeit und unterhalten sich darüber, wie schnell doch die Zeit vergeht und die ein oder andere ältere Uhr erzählt wahrscheinlich von ihren Zeigerschmerzen oder das ihr die ganze Zeit langsam auf den Zeiger geht.“ „Häh?? Aber wo treffen sie sich denn jetzt. Es gibt doch so viele Uhren?? Wo haben die denn Platz?“
„Na, sie treffen sich außerhalb der Zeit, da haben sie dann genug Raum und Platz.“ „Oh… was bedeutet außerhalb der Zeit? Wie lange bleiben sie da?“ Eva hing jetzt an den Lippen der Mutter. „Oh sie bleiben so lange sie wollen, es ist ja außerhalb der Zeit?“ Die Mutter lächelte und wuschelte Eva durch die Haare, dann stand sie auf und widmete sich dem nächsten Teller.
„Das ist aber viel Zeit…“ „Oh ja, sie haben viel Erholung dort, aber das brauchen sie auch, schließlich arbeiten sie sonst das ganze Jahr ununterbrochen und messen stets genau die Zeit für uns.“ „Aber, die Uhr im Wohnzimmer ist doch auch schon einmal stehen geblieben?“ „Ja, Schatz, auch Uhren werden mal müde. Aber nachdem sie sich ausgeruht hatte, ging es doch wieder.“ „Papa hat aber gesagt, es liege an den Batterien.“ „Was hab ich gesagt?“ Der Vater hob Eva hoch auf seine Schultern und gab danach seiner Frau einen leichten Kuss auf die Wange. „Hallo, ihr zwei. So noch mal, was hab ich gesagt.“ Evas Mutter zwinkerte ihm zu. „Du hast doch gesagt, Papi, die Uhr im Wohnzimmer brauche neue Batterien, oder?“ Der Vater nahm sie wieder herunter und küsste Eva auf die Stirn. „Ja, das stimmt“, Eva sah triumphierend zu ihrer Mutter, „ Aber Ruhe brauchte sie auch.“ „Wirklich?“, Eva sah ihn misstrauisch an, „du hast früher auch mal gesagt du wärst nicht der Weihnachtsmann, dabei bist du es.“ „Das war was anderes.“ „Okay, und wann kommt unsere Uhr jetzt zurück?“ „Sie war nie weg, Schatz, sie ist immer noch da. So und jetzt geh’ spielen, ja. Ich und dein Vater müssen kurz reden.“ „Okay.“ Eva ging leicht beleidigt nach oben in ihr Zimmer. Oben schloss sie die Tür und stieg aufs Bett. Sie sah fast automatisch auf ihre Uhr. Die hing friedlich an der Wand und tickte. „Du warst auch nie weg, obwohl du eine Uhr bist.“ Für einen Moment entfiel das Ticken. Eva wartete mit angehaltenem Atem und lauschte. Da war es wieder, das Ticken, aber eben war es weg gewesen, für ein oder zwei Sekunden.
Am Abend, als ihre Eltern schliefen, ging Eva die Treppen herunter und in Wohnzimmer. Ein leises Ticken, viel leiser als es sonst war, empfing sie. Die Uhr hing wieder über dem Sofa, wie immer. Eva kletterte auf das Sofa und nahm die Uhr herunter. Irgendwie sah sie verändert aus, glücklicher und zufriedener und auch ihr Ticken wirkte ruhig, wie das Ein- und Ausatmen eines Lebewesens. „Du musst mir irgendwann von den anderen Uhren erzählen“, flüsterte Eva und hob die Uhr wieder vorsichtig an die Wand. Die Uhr schien wieder einen Moment aus zusetzten mit ihrem Ticken, dann tickte sie friedlich und freudig weiter, während Eva aufgeregt, aber auch glücklich, sich oben in ihre Ecke kuschelte.