Kurzgeschichte
Evolution

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"Evolution"
Veröffentlicht am 09. Mai 2009, 6 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Evolution

Evolution

  Draußen vor dem Fenster singt ein kleiner Dinosaurier, während sich ein Mini-Säbelzahntiger schnurrend an meiner Hand reibt. Früher hätte er sie abgerissen und in einem Rutsch gefressen. Evolution ist wirklich etwas Angenehmes. 
 Da sitze ich – die Krone der Schöpfung – und jage mir meine Spritze in den Arm. Der kleine Dino vor meinem Fenster fliegt zirpend davon, als hätte er genau darauf gewartet. Machs gut, mein Lieber, man sieht sich. Evolutionier noch ein bisschen, vielleicht wird ja doch noch was aus dir. 

Ich kippe nach hinten, die Spritze immer noch in meinem Arm und scheiße mir dabei in die Hose. Ja, ich, die Krone der Schöpfung, das Meisterwerk der natürlichen Auslese, scheiße mich ein. Es ist nicht einmal unangenehm. Fast behaglich, wie eine alte Kuscheldecke aus der Kindheit. 
 Die Wirkung der Spritze ergießt sich über mich und umfängt mich wie eine Plazenta. Ich stürze raus aus dieser Welt und rein in die kuschelige Dunkelheit. „Hello Darkness, my old friend. I´ve come to talk with you again.“  
 Meine Gedanken verlieren sich in der Unendlichkeit meines eigenen Kopfes. Die Zeit beginnt zu zerfließen, wie Vanilleeis auf einer voll aufgedrehten Heizung. Ich entwickele mich zurück zum Einzeller. Verdammt und glücklich treibe ich dahin in meinem eigenen Sud. 

Bismarck, mein Kater, knabbert an meinem Fuß herum. Keine Ahnung, wie lange er schon am Knabbern ist. Das ist allerdings auch nicht der Grund dafür, dass ich wach geworden bin. 
 Ich starre an die Decke die einmal weiß gewesen war, nun aber das Gelb von Nikotin angenommen hat und voller seltsamer schwarzer Flecken ist, von denen ich keine Ahnung habe, wie sie dorthin gekommen sind. Ich starre oft dorthin, vor allem nachts, wenn ich nicht schlafen kann, weil die Nachbarin über mir sich alle zwanzig Minuten mit ihrer Gehhilfe zur Toilette schleift. Ihre Blase muss die Größe einer Erdnuss haben. 
 Dieses schreckliche Geräusch von Metallstelzen, die auf den Parkettboden knallen. Es hört sich jedes Mal an, als würde sich die alte Dame dort oben prügeln. Als würde sie jede Nacht mit dem Tod wrestlen. 
 Plötzlich höre ich, was mich wieder in die Realität der anderen zurückgespült hat. 

„Hilfe!“ 

Die Stimme klingt, als käme sie aus tiefem Wasser. Hilflos und gebrechlich dringt sie durch die Mauern meiner Altbauwohnung. 

„Hilfe!“ 

Monoton und so verzweifelt. Es ist die Stimme der Frau über mir. Wie lange sie wohl schon ruft? Ich hebe meinen Kopf und sehe aus dem Fenster. Es ist immer noch ein wenig hell, viel Zeit kann noch nicht vergangen sein. Obwohl die Kacke an meinem Hintern bereits fast getrocknet ist. 
 Das dritte „Hilfe“ schmerzt in meinem Kopf. Ich weiß, dass ich endlich meinen Arsch hochkriegen sollte, um ihr zu helfen. Ich weiß aber auch, dass ich mir wünsche, einfach kein weiteres „Hilfe!“ mehr von ihr hören zu müssen. Und tatsächlich: Für ein paar Minuten ist es still und ich beginne mir einzureden, dass ich mir alles nur eingebildet habe. Das mein zerfressenes Gehirn mir nur einen makaberen Streich gespielt hat. In der Stille geht Bismarck von Knabbern zu Ablecken über. 
 Dann kommt es wieder, etwas leiser zwar, doch trotzdem füllt es meinen ganzen Verstand aus. 

„Hilfe!“ 

Ich schäme mich dafür, aber ich will es einfach nicht mehr hören. Am liebsten würde ich meinen Fernseher, oder meine Anlage voll aufdrehen. Doch mein Strom ist abgestellt. Die Stimme der alten Frau ist die erste, die ich seit Tagen höre. Ich schwanke gedanklich und versuche gegen die Schweinehundarmee in meinem Kopf anzukämpfen. Während ich noch dabei bin, hat mein Körper bereits eine neue Spritze aufgezogen und den Arm für die Injektion vorbereitet.
 Ich mache einen überraschten Gesichtsausdruck, als ich mir die Nadel in den Arm steche, so als hätte ich niemals damit gerechnet… 
 Die Dunkelheit, mein alter Freund, kommt diesmal nicht langsam angekrochen, sondern fällt über mich her wie ein bengalischer Tiger. Die Welt rauscht unter mir davon wie ein Luftballon, aus dem man die Luft herausgelassen hat. Keine Dinosaurier mehr vor meinem Fenster, keine alte Frau, die über mir mit dem Tod wrestlet. Nur ich, der in einer giftigen Blase durch den endlosen Raum treibt.
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zellhaufen Re: Ich habe schon fröhlicheres gelesen - Findest du? Also zumindest diese eine Textzeile passte doch ganz gut. Wenn das ganze ein Film wäre, sähe es vielleicht etwas anders aus :-)
Vor langer Zeit - Antworten
pfalzgraf Ich habe schon fröhlicheres gelesen - aber dennoch dürfen auch die Depris nicht zu kurz im Leben kommen. Nur dass Du ein Zitat von Simon + Garfunkel eingebaut hast erstaunt mich schon ein wenig. Nick Cave wäre wohl angebrachter gewesen.
Vor langer Zeit - Antworten
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