Beschreibung
Eine Stadtwanderung durch das Berlin von heute
Zehn Stunden durch Berlin
Von der Friedrichstraße kommt man mit der S-Bahn in vier Minuten zum Alex. Wir gingen stattdessen zu Fuß und machten den kleinen Umweg über Wedding, Prenzlauer Berg und Friedrichshain – und ließen uns Zeit.
Ich sollte meinen Berliner Freund auf dem Bahnhof treffen und war eine Stunde zu früh. Diese Zeit nutzte ich, um … Ja, wenn jedermann sonst von Kranzler reden darf, kann ich auch einmal für ein Geschäft Reklame machen. Also, ich sah mir das Kulturkaufhaus Dussmann an der Friedrichstraße an. Wer mir im deutschen Sprachraum ein besseres Sortiment an Büchern nachweisen kann, möge es tun. Sie haben auch große Abteilungen für DVDs und CDs; der Keller ist eine Schatzkammer der Klassik. Gut für meine bescheidene Geldbörse, dass ich nicht in Berlin lebe.
Nachher gingen wir gleich über die Spree. Mein Freund, geborener Berliner, erwies sich als ein noch größerer Berolina-Spezialist, als ich geglaubt hatte. Während er mich zum Dorotheenstädtischen Friedhof dirigierte, wies er nonchalant auf Theater, Kneipen, Ministerien, Hauptquartiere von Parteien, Stiftungen und Lobbyverbänden hin. Oder er erzählte sehr amüsant von Bauskandalen. Jener Friedhof ist ja recht bekannt, es gibt größere und schönere, mit prächtigeren Grabmälern und herrlicher als Parkanlagen. Doch keiner kommt ihm in Deutschland in seiner exquisiten Belegung gleich. Soll ich anfangen, die schier endlose Liste herunterzubeten: Hegel und Fichte, Schinkel, Klenze und Rauch, Eisler und Heartfield, Brecht und die Weigel, Heinrich Mann, Arnold Zweig, Hans Mayer, Herbert Marcuse und Heiner Müller, Günter Gaus … Ich breche ab und frage nur noch: Wussten Sie, dass auch Johannes Rau hier und nicht in Wuppertal oder Düsseldorf begraben liegt? Seltsam, er wollte das so.
Vor uns links an der Chausseestraße grüßte von weitem eine Großbaustelle. Mein Freund schmunzelte verdrießlich – das kann er sehr gut – und zählte die Kräne: Mehr als damals am Potsdamer Platz! Ich riet falsch: Charité-Erweiterung? – Nee, nix mit Gesundheit oder Kultur. – Das Bauschild, noch nicht lesbar, kam mir ziemlich klein vor. - Ja, sagte er, am liebsten würden sie es ganz verstecken. Es wird die neue BND-Zentrale. – Müssen wir von diesem gigantischen Bauwerk an derart zentraler Stelle auf die Gefährdung unseres Gemeinwesens schließen? Dann stünde es wirklich schlimm um uns.
Wir kamen an weiteren Friedhöfen vorbei, an einer alten Eisenbahnbrücke, deren Rostrot wunderbar vom dichten Lenzgrün der Bäume abstach – und nahmen an den Mauerresten der Bernauer Straße die neue Trambahnlinie zum Prenzlauer Berg. Dort angekommen, erzählte er mir so viel über die jüngere Geschichte des Stadtteils, seine Bewohner einst und jetzt, über Besetzung, Häuserkampf und Verdrängung, dass ich mich auf einmal selber elend fühlte: Wir sollten jetzt etwas essen gehen. Nach Bauernfrühstück stand uns der Sinn, doch versuchen Sie einmal, das heute am Prenzelberg zu bekommen … Wir klapperten vergeblich Szenecafés ab. Also, wenn Sie diese Gegenästhetik aus Sperrmüll und Vernachlässigung lieben, bei überhöhten Preisen, versteht sich, bitte sehr … Wir zwei gingen zum Schlachter am Eberswalder Platz und labten uns an Leberkäs und Hackbraten. Zum Ausgleich frequentierten – vornehmes Wort zu edlem Handwerk – frequentierten wir, sage ich, hinterher einen Konditormeister, der die phantasievollsten kleinen Kuchenkreationen feilbot, von denen Sie jemals gehört oder wahrscheinlich nie gehört haben.
Der Prenzelberg hat so viele schöne breite Straßen mit stattlichen alten Häusern, in denen kaum einmal eine Lücke klafft. Wir wanderten durch viele von ihnen. Ich vermied es, auf die Uhr zu sehen. Auf einmal lag der Friedrichshain vor uns, mit seinen beiden Gipfeln aus Trümmerschutt, mit dem See und der Gastronomie an seinem Gestade – wir kehrten schon wieder ein und saßen danach am Märchenbrunnen. Da herzte und küsste sich ein ortstypisches Liebespaar, entschuldigen Sie, ist mir halt im Gedächtnis geblieben.
Dann noch die Karl-Marx-Allee, was soll ich darüber sagen? Die Häuser sehen wie noble Wohnschlösser aus, beinahe wie an der Loire – und der Verkehr auf dieser Magistrale ist infernalisch. Wer kann da leben? Wir machten dicht am Alex noch einmal Rast, und zwar in einem neuen eleganten Kubus, mit roten Steinplatten verkleidet. Er heißt Alexa und ist ein Einkaufszentrum, das mit viel Geschmack und sehr viel Detailliebe entworfen wurde. Der Architekt ist Portugiese, und wirklich glaubte ich einen dezent maurischen Einfluss zu erkennen. Im Innern gibt es die üblichen Filialen für den Alltagsbedarf, kaum Extravagantes; umso mehr ist die Schönheit des Centers zu loben.
Allmählich saß mir die Zeit im Nacken. Mein Hotel lag weit draußen und ich wollte dort nicht tief in der Nacht ankommen. So hetzten wir also zum S-Bahnhof Alexanderplatz und trennten uns an der Friedrichstraße. Wie viel mehr wäre noch anzuschauen, wie viel mehr an Meinung auszutauschen gewesen …