Kurzgeschichte
REMIX - Eine Reise

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"REMIX - Eine Reise"
Veröffentlicht am 22. April 2009, 28 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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REMIX - Eine Reise

REMIX - Eine Reise

Beschreibung

" ...'Remix' bezeichnet die Neuabmischung eines bestehenden Musikstücks, eine Neu-Organisation der musikalischen Elemente, die sich auf ganz unterschiedlichen Ebenen entfaltet und sich dabei mehr oder weniger weit vom Original entfernen kann. ... Die Spannweite der Möglichkeiten reicht jedoch bis hin zu Neu-Interpretationen, in denen das Original nicht mehr eindeutig zu erkennen ist. An die Stelle einer herkömmlichen Songform treten charakteristische Gestaltungsmittel wie Zitat und Collage. Die ursprüngliche Musik wird in einzelne Elemente gespalten, Geräusch und Klang werden zeitlich neu organisiert und in einen virtuellen Raum gestellt. ... " (Bernhard Eichner)

Eine Reise

Ich sitze auf einem Stuhl und sehe durch eine Scheibe. „Siehst du jetzt besser?“, kommt eine Männerstimme aus dem Nichts und auf einmal ist es dunkel. Natürlich nicht, ich sehe ja gar nichts mehr. „Mehr können wir nicht für dich tun“, höre ich die Stimme, „das ist das Optimum.“ Danke, wunderbar.
Ich versuche, die große Scheibe zu ertasten, die gerade noch vor mir war, aber es ist nichts mehr da. Vorsichtig stehe ich auf und gehe langsam ein paar Schritte in die Richtung, in der vor ein paar Minuten noch die Tür nach draußen war. Es ist nichts mehr da, um mich herum ist nur noch ein großer leerer Raum, der furchtbar hallt. Wenn ich einen Fuß aufsetze, dröht es unerträglich in den Ohren. Etwas zu rufen oder zu sagen, traue ich mich erst gar nicht. Mit zugehaltenen Ohren renne ich los ins Dunkel und werde immer schneller. Auf einmal falle ich und werde von der Luft aufgefangen. Sie trägt mich und ich sinke langsam tiefer, bis ich auf dem Boden ankomme.
Mein Kopf tut wahnsinnig weh, ich lege mich hin und will mich nicht mehr bewegen. Alles dreht sich vor meinen Augen und alles ist schwarz und weiß. „Steh auf!“, ruft eine Stimme, aber ich sehe niemanden. Ich werde an den Armen gepackt und weggetragen. Ich will mich nicht wehren, weil ich das Gefühl habe, mein Körper gehört nicht zu mir. Ich will wieder fliegen. Betrunken, im Schnee rumliegen, erfrieren. Einzelne Worte finden irgendwie den Weg zu mir, obwohl ich nicht in meinem Körper bin. Aber ich habe doch nichts getrunken und ich bin auch nie hier her gefahren.
Da sehe ich jemanden. Irgendwie kenne ich die. Ja, die kenne ich. Da gehe ich hin. Ich nehme den beiden Männern, die mich gerade in ein Krankenzimmer tragen wollen, meinen Körper weg und gehe zu diesem Mädchen, was ich meine, zu kennen. Sie sagt: „Er ist auf Toilette und kotzt, schon seit einer halben Stunde.“ Ja und, das ist sein Problem, denke ich, aber wenigstens ist hier jemand, den ich wirklich kenne. Aber ich will sie nicht verärgern und höre ihr eine Weile zu, wie sie irgendwas von einer Party erzählt, auf der wir gerade sind. Warum erzählt sie mir das, wenn sie gleichzeitig davon ausgeht, dass ich die ganze Zeit dabei war? Sie ist betrunken und will nach Hause. Ich soll sie fahren, aber ich weiß nicht, wo sie wohnt und ich weiß nicht, wo wir sind. Wir setzen uns ins Auto und fahren los.
An jedem Haus steht ein Auto, das ich kenne und ich denke: Oh, ich weiß, wer da wohnt! Ich will anhalten und sie alle besuchen. Komm, Jenny, bisschen Zeit haben wir doch. Aber Jenny ist nicht mehr da. Ich sollte sie doch nach Hause fahren? Ich dreh mich verwirrt um, da ist kein Mensch. Auf einmal ist mir klar, es war eine Schulfeier, das muss es gewesen sein. Aber wo ist Jenny und wessen Auto ist das? Ich sehe überall Luftballons, das ganze Auto ist voll, alle sind aufgeblasen. Oh Gott, wenn die platzen, dann bau ich vor Schreck einen Unfall... und ich bin so müde. Ich gucke wieder auf die Straße, aber es ist keine Straße da. Vor mir steht ein Haus, es ist ein weißes Holzhaus und hat blaue Eckbalken. Ich gebe Gas und fahren direkt darauf zu. Wie blöd muss man sein? Es ist nicht gefährlich, sage ich mir, du kennst das Haus, du hast es schon mal gesehen, du wirst dadurch sehen, wo du bist.
Ich fliege wieder! Das Auto verschwindet unter mir, ich sehe noch, dass es gelb war. Ich fliege immer höher und es wird hell, die Sonne geht auf und es wird wahnsinnig warm. Um mich herum wird es nebelig, in dem Dunst sehe ich nichts mehr. Ich weiß nicht, wo ich bin, wohin ich mich bewege und ob ich gerade im Himmel bin.
Auf einmal spüre ich Fliesen unter meinen Füßen. Ach ja klar, Dusche, denke ich. Ich werde leicht auf den Boden gedrückt und muss mich ganz klein zusammen kauern. Ich höre leise Musik und sehe einzelne Personen, die sich langsam im Dunst abzeichnen. Die kennst du, sage ich mir, die kennst du alle, aber sie sehen alle gleich aus. Sie tanzen. Es muss ein großer Raum sein. Am Rand sind Duschen, sie versprühen Nebel, aber kein Wasser. Die Tanzenden werden nicht nass. Sie tragen lange hellblaue Kleider, die beim Tanzen weit um sie schwingen. Sie sehen wunderschön aus.
Ich bleibe in der Ecke sitzen und bewege mich nicht. Die Musik wird lauter und schneller, der Tanz wird immer energiegeladener und kraftvoller. Ich muss aufstehen und näher herangehen. Sie tanzen im Kreis und ich schlüpfe unbemerkt zwischen ihnen durch und stelle mich in die Mitte. Aber sie scheinen mich sowieso nicht zu sehen, ihre Gesichter verändern sich nicht und sie beachten mich nicht. Ich sehe sie mir genauer an. Sie sehen perfekt aus wie tanzende Puppen. Ich will wissen, ob sie echte Menschen sind und strecke eine Hand aus, ich traue mich nicht, sie anzusprechen. Nichts passiert, ich kann sie nicht berühren. Der Tanz um mich wird immer schneller, die nebelige Luft macht es schwer zu atmen. Mir wird schwindelig. Ich bekomme Angst. Ich schließe die Augen, irgendwie muss das hier vorbei gehen, sonst schreie ich. Ok, ich schreie...
Schon siehts wieder alles anders aus. Sie stehen alle um mich herum, sie sind so klein. Und jetzt sehen sie nicht mehr aus wie Puppen, sondern wie Teletubbies. Um mich herum ein Kreis aus sechs roten Teletubbies, die ungefähr halb so groß sind wie ich. Sie sehen mich mit großen Augen an, alle genau gleich. Sie machen mir Angst, ich weiß nicht warum. Diese Augen. Sie durchbohren mich. Ich kenne euch, sage ich. Ich kenne eure Augen. „Wir kennen dich auch“, sagen sie alle gleichzeitig mit genau der gleichen Stimme. „Du hast unsere Beziehung zerstört“, sagen sie, „Sieh dir das mal an.“ Was denn, welche Beziehung? Sie zeigen auf einen Bildschirm.
Ich sehe ein Paar, sie streiten sich wahnsinnig, sie schreien und weinen, aber ich kann nichts hören. Die kleinen roten Wesen sehen mich an, vorwurfsvoll und traurig. Geht weg, sage ich, ich habe damit nichts zu tun. „Aber gib zu, das zu sehen, macht dich froh. Du warst immer glücklich darüber, dass sie keine Kinder wollten. Und jetzt sind wir ganz alleine.“ So ein Unsinn. Ich versuche,die beiden auf dem Bildschirm zu erkennen, aber das Bild verschwimmt immer mehr. Wenn ich jetzt weine, fühlen sie sich im Recht. Dabei kann es gar nicht sein. Menschen, die rote Wesen als Kinder haben, können nicht diejenigen sein, um die ich so weit kämpfe, dass ich ihre Beziehung zu zerstören versuche. Die Frau auf dem Bildschirm dreht sich zu mir um, sieht mich verwundert an und kommt auf mich zu. Sie lässt den Mann alleine im Film weiter streiten und verlässt den Film. Sie steht vor mir und fragt mich, ob sie mir irgendwie helfen kann.
Ja, klar, ich muss ja noch irgendwie zum Sport kommen, denk ich. Ok, sagt sie, ich nehm dich mit. Ach ja, die ist das ja, denke ich. Wir steigen ins Auto und fahren zur Turnhalle. Ich kann mich nicht entspannen, die bohrenden Blicke der kleinen roten Wesen lassen mir keine Ruhe. Sie vermischen sich mit den Blicken aller anderen Menschen in der Halle. Ich fühle mich beobachtet, alle wissen, was ich denke, denk ich. Aber was denke ich denn? Mir darf nichts passieren, denke ich, der Unfallschrank geht hier nicht auf. Ich versuche, mich vollständig auf das zu konzentrieren, was ich tue. Die Blicke bildest du dir nur ein, keiner hier weiß, was du verbrochen hast... Aber was habe ich denn getan? Die Blicke sind kaum auszuhalten. Ich möchte weg.

„Hast du dich schon mal von außen gesehen?“, fragt er. „Wenn du dich von außen siehst, weißt du viel mehr über dich.“

Woher willst du das wissen? Ich dachte, man sieht sich nur von außen, wenn man gerade stirbt? Bin ich jetzt halbtot oder was?

„Nein, du sollst dich nur mal sehen. Du musst es dir nur vorstellen, dafür musst du nicht sterben. Stell dir vor, du siehst dich da, wo du eben warst. Was siehst du?“

Ich sehe viele Menschen, sie sind in einem großen Raum und sehen aus wie Roboter. Sie reden nicht miteinander, aber ich könnte sie sowieso nicht verstehen. Es ist nicht wichtig, ob sie miteinander reden, weil das, was sie sagen, bedeutungslos ist. Sie kennen sich nicht. Wichtig ist, dass sie funktionieren, durchgehend das tun, was hier von ihnen verlangt wird. Dadurch erlangen sie gefühlte Zufriedenheit und, wenn sie Glück haben, auch etwas Anerkennung und Aufmerksamkeit. Sie sehen sich nur kurz an, lächeln einen Augenblick lang, aber meinen es nicht wirklich so. Alles wirkt emotionslos, vielleicht sind manche müde, andere konzentriert oder nachdenklich. Sie tun, was sie tun müssen, das wozu sie da sind. Das ist, was man von außen sieht. Und du meinst, wenn ich das sehe, weiß ich mehr über mich?

Er antwortet nicht. Was soll ich denken? Fühle ich gar nichts, fühle ich in Wirklichkeit nie etwas? Und die anderen?

„Es sind immer dieselben Menschen, sie leben ihr Leben, jeden Tag tun sie das Gleiche. Sie sind nicht interessant. Du musst sie nicht kennen lernen. Sie sind nicht spannend, auch wenn sie manchmal so tun. Sie sind alle gleich. Wenn du sie beobachtest, fühlen sie sich bedroht. Wenn sie dich beobachten, ist es stumpfe Neugier.“

Was willst du sagen? Warum bin ich nicht wie sie, bin ich kein Mensch?

 

Er ist weg. Und ich weiß nicht, wer er war und nicht mal, wie er aussah. Warum soll ich die Menschen nicht ansehen? Ich springe vom Dach, fliege los über die Häuser und lande vor dem Supermarkt. Unauffällig setze ich mich auf den Fahrradständer und sehe zu, wie die Menschen hin- und herlaufen. Ich beobachte sie nicht, denke ich. Ich soll es ja nicht, ich betrachte sie als Masse, als uninteressante Masse. Ein kleines Kind wirft mir Brotstücke zu. Was soll das denn? Ich sehe es genauer an. Es ist ein kleiner Junge, er sieht aus, als wäre er ziemlich intelligent für sein Alter. Ich überlege, wie alt er wohl ist. Stopp, sage ich mir, du beobachtest schon wieder! Ein Auto rast auf den Parkplatz und überfährt den Jungen. Keiner sieht es. Und ich kann ihm nicht helfen, ich bin anscheinend nur ein Vogel. Er muss sterben, warum? Ich will niemanden mehr sehen. Kann ich mit Blicken töten? War der Mann vorhin Gott? Ich will losfliegen und falle auf den Boden.
„Haha, guck mal, wie dumm! Die Katze hat versucht zu fliegen!“

 

Welche Katze? Ach da. Da spaziert eine Katze durch eine Wohnsiedlung und sieht sich neugierig um. Sie biegt von der Straße ab in einen Garten und erkundet vorsichtig das Haus. Die Terrassentür steht offen und sie schlüpft hinein. Ich kann in das Haus sehen, darin sind ein Mann, eine Frau und die Katze. Jeweils neben ihnen ist eine Skala, die im positiven Bereich rot und im negativen blau ist.

Frau liegt auf dem Sofa.

Mann sitzt am Computer.

Frau – Null.

Katze springt auf ihrem Schoß.

Frau – 50% rot.

Frau streichelt Katze.

Katze – 100% rot.

Mann kommt herein und sieht Katze, regt sich auf.

Mann – 100% blau.

Katze beachtet ihn nicht. Frau beruhigt ihn.

Frau – Null.

Katze sieht Frau dankbar an und verschwindet schnell durch die Tür.

Frau kippt um.

Game Over.




Ich sitze auf einem Schotterweg. Es ist ein Friedhof, ich sitze genau vor einem noch frischen Grab. Ich muss den Namen nicht lesen um zu wissen, dass es die Frau ist, die gestorben ist. Die Katze hat sie umgebracht. Aber es war die Katze. War es die Katze oder war ich es? Ich habe das Spiel nicht gespielt.

Langsam gehe ich zwischen den Grabsteinen entlang. Ich sehe einen Jungen, der am Rand auf einem Rasenstück sitzt und anscheinend einen Brief schreibt. Wahrscheinlich ein Abschiedsbrief, denke ich. Nach einer Weile steht er auf, lässt seinen Block liegen und geht. Er hat mich nicht gesehen, obwohl ich ein paar Meter entfernt stand. Bin ich unsichtbar? Ich gehe hin und lese:




Du bist geflogen. Aber du kannst nicht fliegen. Ich weiß nicht, wohin du wolltest, aber es scheint irgendwie weit weg gewesen zu sein. Du hast nicht geschrien und du hast nicht geweint, du bist stumm durch die Luft geflogen, die Arme von dir gestreckt. Als du gelandet bist, hast du gelächelt, aber nicht mehr geatmet. Du hast geblutet überall, aber du warst wunderschön, weil du glücklich aussahst. Ich habe fast gehofft, dass du zu mir kommst. Ich konnte dich sehen, aber dir nicht helfen. Ich konnte nur zusehen und insgeheim das scheinbar Schlechteste für dich hoffen. Du und alle anderen, die es gesehen und erlebt haben, können nicht wissen, dass es nicht schlimm ist. Aber so glücklich, wie du aussahst, habe ich gehofft, dass du es ahnst und dass du das, was man das Leben nennt, loslässt. Es ist nicht das Leben und der Tod. Es ist das Leben und das andere Leben. Es ist kein Sterben, es ist eher wie ein Straßenseitenwechsel. Die andere Seite ist nicht unerreichbar, aber schwer zu fassen und zu verstehen. Sie haben dich festgehalten, deswegen kann ich nicht erfahren, ob dir bewusst war, was du fast erreicht hättest. Ich hätte dafür gesorgt, dass es dir gut geht. Aber du wolltest und solltest bleiben, wo du bist. Ich wünsche mir nur, dass du nicht vorhattest, auf der Straße liegen zu bleiben. Ich hoffe, ich sehe dich nicht wieder.




„Kannst du mich verstehen?“, fragt er auf einmal. Er hat mich also doch gesehen und ist wiedergekommen... Ja, doch, das kann ich. „Komm mit. Du bist hier falsch. Du bist hier genauso falsch wie ich. Wir haben hier nichts zu suchen, wir werden hier nicht glücklich.“ Aber wo dann, weißt du das? Er nickt und gibt mir ein Zeichen, ihm zu folgen. Wir gehen in eine alte Fabrikhalle, eine graue, schmutzige Ruine. Durch vollgemüllte Räume und immer wieder Treppen hinauf, ich folge ihm, weil ich nicht weiß, was ich anderes tun soll. Durch eine Luke kommen wir auf das Dach. Es ist sehr windig und kalt, die schwache Sonne kommt nicht dagegen an. Hier soll ich glücklich leben? „Nein, aber hier startet die Reise“, strahlt er und setzt sich auf den Boden um langsam näher an die Kante zu rücken. Dann legt er sich flach auf den Bauch und sieht hinab. Ich krieche neben ihn und sehe unter uns eine große, graue Stadt, die leblos aussieht. Sie liegt so weit unten, dass mir schwindelig wird. „Willst du springen?“, fragt er neugierig. Nein! Warum sollte ich von einem Dach in eine abstoßende Stadt springen? Mal abgesehen davon, dass ich nie lebens abkommen werde. „Gut“, sagte er nur, „hättest du springen wollen, hätte ich an dir gezweifelt.“ Er lacht, steht auf und geht über das Dach, springt durch die Luke und ich sehe ihn noch hinter einer Tür verschwinden. Aus der Nähe sehe ich, dass an der Tür „Abenteuer“ steht. Man hat wohl nie seine Ruhe.

 

Gerade, als ich mich entschieden habe, hineinzugehen, kommt ein alter Mann heraus. Er sieht mich ausdruckslos an und sagt mit mechanischer Roboterstimme:

„Wenn man da drin ist, verändert sich langsam alles. Man denkt, es ist gut, man denkt, die Welt wird gut. Aber es ist nicht die Welt, die sich verändert, es ist immer nur die Sicht. Die Konturen werden weicher, Menschen scheinen zu lächeln, Lichter heller und strahlender zu leuchten. Geräusche harmonieren miteinander, sie untermalen als eine einzige Musik die bunten Bewegungen. Die Töne werden Bewegungen, alles bewegt sich zur Musik. Gedanken tanzen durch den Kopf, hin und her. Sie sind nicht wichtig, nichts ist wichtig, solange nur das Gefühl bleibt. So lange trägt der Bass den Körper erschüttert, bewegen sich auch die Gedanken im passenden Takt. Gefühle bewegen das Herz, nichts ist unpassend, belastend oder störend. Nach einer Weile setzt der Boden ein, auch er tanzt. Die Wände tanzen, die Menschen werden groß und klein abwechseld, drehen sich, schwanken hin und her. Wie in einer großen Hüpfburg werfen sie einen zurück, sie fangen sich auf und stoßen sich zurück. Alles ist eine Illusion. Wenn der Bass nicht mehr den Herzschlag ersetzt, ist alles wie vorher. Wenn man Glück hat und es nicht schlechter ist.“

Er geht an mir vorbei und verschwindet hinter einer anderen Tür.

 

Wem soll ich glauben? Der Junge meinte doch, hier sei unser Glück und unsere richtige Welt?

Ich sehe mich um und sehe an einer Wand ein paar Meter weiter eine große Landkarte. Sie zeigt den Grundriss eines großen Gebäudes. Überall sind Räume eingezeichnet, die alle mit „GLÜCK?“ bezeichnet sind. Das Gebäude besteht aus 90 Stockwerken, jedes mit 26 Räumen. Hier bin ich also, denke ich. Im obersten Stockwerk vor Raum 2340. Heißt das so viel wie, die „letzte Lösung“ ist hinter dieser Tür? Ich steige hier nicht durch und hier ist kein Mensch.

Wahrscheinlich haben alle ihr Glück gefunden und bleiben in ihrem Raum.

 

Ein Mann im Anzug kommt auf mich zu und fragt mit einem gekünstelten Lächeln: „Kann ich Ihnen helfen?“ Wie funktioniert das hier alles? Was muss ich hier machen, wozu bin ich hier? Wo kann Glück sein in einer grauen Drecksruine? Vielleicht rege ich mich zu viel auf, aber ich halte dieses Chaos nicht mehr aus. Der Mann drückt mir lächelnd einen Flyer in die Hand, verabschiedet sich höflich und geht.




WILKOMMEN IN DER GLÜCKSFABRIK!

Folgen Sie dieser Anleitung und sie werden Ihr persönliches Glück finden. Sie stehen noch in einer verkommenen Ruine mit beängstigend vielen Räumen. Wählen Sie ihre Lieblingszahl und nehmen Sie die Treppe in das entsprechende Stockwerk. Dort laufen Sie durch die Flure alle 26 Türen ab, die richtige wird sie magisch anziehen. Gehen Sie hinein.

Haben Sie die Tür nicht gefunden, gehen Sie bitte in ein anderen Stockwerk, ihre Intuition könnte Sie getäuscht haben. Eine der 2340 Türen ist auch Ihre Tür zum Glück. Die Suche kann beschwerlich sein, aber sie lohnt sich.

Wenn sie letztendlich durch „Ihre“ Tür gegangen sind, wird Sie etwas erwarten, dass wir nicht vorhersehen können. Es ist ihr persönliches, individuelles Glück.

Ihre gesamte Umwelt wird sich verändern, Sie werden diese Ruine nicht mehr als diese wahrnehmen, sondern sie wird auf einmal die Welt für Sie sein und die gesamte Realität darstellen. Eine Realität, wie Sie sie sich immer gewünscht haben.

WIR WÜNSCHEN IHNEN VIEL ERFOLG!“




Na gut, versuchen kann ich es ja. Ich laufe die Treppe hinab. Warum bin ich in der 90. Etage? Ich laufe und laufe, die Beine tun mir weh, deswegen entscheide ich mich, zuerst im 9. Stockwerk zu suchen und dann erst im 2. Falsch gehen kann man sich ja anscheinend nicht. Keine der 26 Türen strahlt für mich irgendwas aus, alles sind nur verrostete, verdreckte Fabriktüren einer alten Ruine. Hinter manchen Türen hört man Geräusche, Musik, Stimmen, Lachen, Weinen, Motorengeräusche. Nichts zieht mich magisch an. Auch in der 2. Etage ist es nicht anders. Gibt es für mich kein Glück? Soll ich jetzt wirklich die anderen Etagen auch noch alle durchsuchen? Das einzige, was mich magisch anzieht, ist der Ausgang...

 

Ich gehe langsam nach unten ins Erdgeschoss und sehe mich um. Hier sind 27 Türen, eine geht nach draußen. Ich kann zurückkommen, also kann ich auch erstmal gehen. Aber was ist draußen, was ist die Realität? Und wo sind die ganzen Menschen, ich kann ja nicht allein auf der Welt sein. Ich will nicht gesehen werden, erst recht nicht von jemandem, den ich selbst nicht sehe. Schnell und heimlich laufe ich zur Tür, auf der „Ausgang“ steht und gehe hinaus. Im ersten Moment denke ich, ich habe mich in der Tür vertan. Vor mir liegt nicht mehr die graue Stadt, auch nichts anderes, an das ich mich erinnern kann. Ich drehe mich um, hinter mir steht immer noch die Fabrikruine. Davor, auf einem großen betonierten Platz, wartet ein Heißluftballon. Anscheinend wartet er nur auf mich. Ich steige ein und wickele meine Jacke enger, als der Luftballon langsam abhebt. Außer mir ist nur ein anderer Mensch in der Gondel, warm eingepackt wie ich, steht dieser Mensch da und sieht in die Ferne. Ich kann das Gesicht nicht sehen.

 

Langsam fange ich an, mich zu entspannen, ich fühle, dass ich hier richtig bin, dass ich hier hingehöre und hier nichts Unvorhersehbares passiert. Wir fliegen über Wiesen, Dörfer, Städte und Wasser. Wenn das hier die Welt ist, was habe ich dann vorher gesehen? Die Aussicht ist wunderschön, so eine Welt habe ich noch nie gesehen, aber ich kann mir vorstellen, dass so, und zwar genau so, die Welt eigentlich sein soll. Ich weiß nur nicht, warum ich hier nicht allein bin, wer dieser Mensch ist. Sonst würde alles so wunderbar auf ein kitschiges Happy-End hinauslaufen, auch wenn ich mir kein Leben im Heißluftballon vorstellen kann. Wir können doch nicht immer weiter und höher fliegen, denke ich. Und hier ist niemand an Bord, der Ahnung hat oder unsere Fahrt überwacht. Irgendwann fällt der Brenner aus oder sonst irgendwas geht hier schief und wir werden abstürzen. Irgendwann. Aber jetzt gehts mir gut. Es ist ein komisches Gefühl, ich drehe mich um, um erkennen zu können, wer bei mir ist. Die Anwesenheit ist schützend und macht mir keine Angst, aber meine eigene Unfähigkeit, mit diesem Menschen zu sprechen, verwirrt mich.

 

Er oder sie dreht sich nach einer Weile um und sieht mich durch einen schmalen Spalt zwischen Schal und Kapuze an. Die Augen sehen mich ununterbrochen an, der Blick durchbohrt mich und ich sehe so viel. Es sind die Augen der tanzenden Puppen, die Augen der kleinen roten Wesen. Die gleichen Augen, die mich beobachtet haben, die der getöteten Frau, alle sind plötzlich eins, werden vor mir die diesem einen Menschen. Aber dieser Mensch ist neu. Dieser Mensch ist wirklich und sieht mich an, so das sich merke, dass ich existiere, dass ich ein Mensch bin, dass alles Vergangene weniger real ist als dieser Moment. Wir müssen nicht sprechen und ich muss nicht denken, solange wir zusammen hier sind und immer höher steigen.

Ich fühle Erleichterung, Leichtigkeit, Vertrauen, Liebe.

Ist das Glück?

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