Heping
Vor einigen Wochen besuchte ich eine Kunstgalerie und spürte dort sofort, es würde nicht eine dieser üblichen Vernissagen werden. Mir fiel die Ruhe auf, obwohl in der Galerie schon viele Menschen waren. Die Gäste sprachen leise miteinander keine Spur vom unvermeidlichen Geschnatter hysterischer und wichtigtuerischer Möchtegernkünstler und selbst ernannter Kunstkritiker in Designerklamotten. Keine Handys störten diese Atmosphäre. Wie angenehm!
Ich betrachtete die Kalligraphien und Tuschebilder der chinesischen Künstlerin Ina Shen. In einem Nebenraum machten einige Leute Tai-Chi-Übungen.
Als die Übenden ihre Tai-Chi-Form beendet hatten, erschien Minuten später Ina Shen und beantwortete die Fragen von Kunstinteressierten, die sich nicht so gut auskannten mit der chinesischen Tuschemalerei.
Dann hielt Ina Shen eine kurze Ansprache. Sie sagte: „Der Unterschied zwischen chinesischer und westlicher Malerei ist der: Ein westlicher Maler nimmt Staffelei oder Skizzenblock, posiert sich damit innerhalb einer Landschaft und versucht das, was sein Auge wahrnimmt, auf Papier oder Leinwand festzuhalten. Wenn ich durch die Landschaft ziehe, singe ich ein Lied, rieche, spüre, schmecke ich alles, nehme es in mich auf. Erst am späten Abend greife ich zu Papier und Pinsel und lasse mein Herz erzählen.“
Ina Shen ging danach zum nächsten Bild: „Ein chinesisches Tuschebild beinhaltet die bildliche Darstellung, die Poesie, die Kalligraphie und die Stempelkunst, welche wiederum einen Mikrokosmos der genannten Künste darstellt. Faszinierend an der chinesischen Schrift ist die Tatsache, dass sie eine Symbolschrift ist. Wenn Sie auf chinesisch den Begriff Baum schreiben, malen Sie einen stilisierten Baum.“
Sie schlenderte zu einem weiteren Bild, deutete darauf und sprach: „Ich male Bambus, um meine innere Stille freizusetzen. Ist die Ähnlichkeit dabei wichtig? Dicht wachsende oder vereinzelte Blätter, gekrümmte oder gerade Äste? Manche werden den Bambus vielleicht sogar für Hanf oder Schilfrohr halten. Warum sollte ich sie überzeugen, dass es Bambus ist?“ Sie lächelte und widmete sich dem nächsten Bild.
Dieses Bild war sehr ausdrucksstark und voller Energie in der Pinselführung. Ina Shen sah das Bild an, schwieg lange und sagte dann: „Chinesische Malerei ist mehr als Malerei. Sie lässt sich durchaus auch als eine Tai-Chi-Form verstehen. Haben Sie vorher die Tai-Chi-Übenden gesehen? Das Qi, die Lebensenergie, hat eine wesentliche Bedeutung in der chinesischen Malerei. Ein Kenner entdeckt sofort, ob ein Strich laienhaft abbricht. Auch die Haltung während des Malens und Schreibens entspricht den Regeln des Tai Chi wie auch den des Zazen (Zen-Meditation). Umso verständlicher ist es, dass viele chinesische Maler und Kalligraphen gleichzeitig auch versiert in den Künsten des Tai Chi und Qi Gong sind und umgekehrt zahlreiche Meister des Tai Chi auch hervorragend mit Pinsel und Tusche umzugehen verstehen. Die chinesische Tuschemalerei ist somit mehr als bildhafte Darstellung. Sie ist ein Weg auf ganzheitlicher Ebene, weshalb man durchaus vom Dao (Weg) des Pinsels sprechen kann. Kalligraphieren ist Meditation. Es ist eine Übung zur Steigerung des körperlichen und seelischen Wohlbefindens. Kalligraphie bringt körperliche und geistige Vorteile, denn sie fördert Disziplin, Geduld und Ausdauer. Deshalb führten viele bekannte Kalligraphen Chinas ein langes, erfülltes Leben. Kalligraphie zu praktizieren kann die Persönlichkeit formen und das Lebensziel verändern.“
Vor diesem Bild blieb ich stehen und ließ es einwirken, während die Künstlerin den Gästen ihre weiteren Werke erklärte.
Im Nebenraum begannen mittlerweile zwei Gongspieler, ihre Gongs in Schwingungen zu versetzen. Ich schloss meine Augen und genoss diese musikalischen Klangvariationen. Im Anschluss fragte ich die Gongspieler, was denn nun das Schlagen eines Gongs mit Tuschemalerei gemeinsam habe. Die spontane Antwort war: „Gongspielen und Tuschemalerei beides ist wie einen Drachen reiten! Können Sie sich vorstellen, wie die Handhabung eines Pinsels zu einem abenteuerlichen Wolkenritt werden könnte? Haben Sie sich einmal jenes feine hauchdünne Papier angeschaut, auf dem gemalt wird und dann vielleicht einmal einen chinesischen Pinsel, gesättigt mit schwarzer Tusche, in der entsprechenden Haltung in die Hand genommen und sich vorgestellt, was bei der ersten zarten Berührung Pinsel/Papier alles geschehen könnte?“
Die ersten Besucher gingen bereits. Vor dem Ausgang saß die Künstlerin an einem Tisch und schrieb jedem Besucher einen Spruch auf ein Reispapier, meistens „Langes Leben“ oder „Glück“. Manche ließen sich ihren Namen auf chinesisch übersetzen und schreiben.
Ich stand jetzt ebenfalls in der Reihe, die sich gebildet hatte. Die Künstlerin sah mich mit ihren Mandelaugen an und fragte: „Welchen Spruch darf ich Ihnen auf den Weg geben?“
Ich antwortete: „Können Sie mir auf Chinesisch schreiben, was mich am meisten beschäftigt und was ich mir am meisten wünsche? Kein Spruch nur ein Wort. Nämlich das Wort ,Frieden.“
Während sich Ina Shen das Papier zurechtlegte und den Tuschestein abrieb, meinte sie: „Die fernöstliche Tuschemalerei ist ein Weg zur Stille, zum Selbst. Wenn man den Pinsel in die Hand nimmt, dann muss man sein Sehen zurücknehmen, das Hören umkehren, alle Gedanken abtun und sich auf die spirituelle Wirklichkeit konzentrieren. Meine ganze Aufmerksamkeit gilt nun den zwei Schriftzeichen Heping (Frieden). Heping heißt auch ,Miteinander gut auskommen. Wenn der Geist still und der Atem harmonisch ist, dann wird das Werk ins Allerfeinste eindringen.“
Sie tauchte den Pinsel in die Tusche. Ich sprach kein Wort mehr und betrachtete fasziniert die schwungvoll ausgeführten Pinselstriche. Sie hatte dabei einen Gesichtsausdruck, als wollte sie den Pinsel, die Tusche und das Blatt hypnotisieren. Sie reichte mir das Blatt und sagte: „Möge ihr Wunsch in Erfüllung gehen! Friede ist das Wichtigste überhaupt!“
Ich begab mich wieder hinein in die großstädtische Hektik und fuhr einige Stationen mit der U-Bahn. Ein Mann, der mir gegenüber saß, las in seiner Zeitung. Die Überschrift auf der ersten Seite deutete auf einen neuen Krieg hin! Ich betrachtete mein Blatt Papier mit der Kalligraphie „Heping“. Ich trug die Kalligraphie heim wie eine seltene, exotische Blume und stellte sie in ein Regal meiner Schrankwand.
© by Hermann Bauer
Diese Geschichte ist aus dem Buch „Ein hungriger Bär tanzt nicht",
erschienen im Geest-Verlag. ISBN 3-937844-78-3
Chinesische Kalligraphie: Ina Shen-Bauer