Nicht mal ein Baumstumpf blieb übrig
Ich erinnere mich noch gut an das Mietshaus meines Großvaters. Seine Wohnung befand sich im ersten Stock. Sah man von dort aus dem Fenster, lag auf der gegenüber liegenden Straßenseite ein im Zweiten Weltkrieg zerbombtes Haus in Schutt und Asche. Zu gerne hätte ich dort in der Ruine gespielt, was man mir allerdings verbot. Vor dem Haus stand eine mächtige Trauerweide. Im Novembernebel sah dieser Baum direkt unheimlich aus. Als Kind dachte ich immer, in der Baumkrone müssten Gespenster, Hexen und Schlangen wohnen.
Das Wohnzimmer war für mich nie interessant. Ein riesiger englischer Bücherschrank stand darin, voll gestopft mit großen und kleinen Büchern, deren Rücken langweilige Farben wie Grau oder Braun hatten.
Das eigentliche Leben spielte sich in der Wohnküche ab. Großvater war Uhrmacher. Es tickte in der ganzen Küche. Manche Uhren gingen falsch, viele überhaupt nicht. Überall lagen Uhrbänder, Ziffernblätter und Zahnräder herum.
Am schönsten war es, wenn sich der Opa rasierte. Ich saß ihm morgens am Tisch gegenüber und beobachtete die sich täglich wiederholende Zeremonie aufmerksam. Zuerst schärfte er sein Messer an einem Ledergurt, dann seifte er sich sein Gesicht mit Schaum ein. Ich wartete nur darauf, dass er mir mit dem Pinsel einen Tupfer auf meine Nase oder Backe strich. Zum Schluss rasierte er mit dem gefährlich aussehenden Messer den Bart ab und schmierte den Schaum, der auf dem Messer war, ins Handtuch. Danach schnappte er sich die Zeitung und verschwand für eine halbe Stunde im Bad.
Als er zurückkam, stand bereits das Frühstück auf dem Tisch, das Oma inzwischen hergerichtet hatte. Nach dem Frühstück blätterte der Opa noch stundenlang die Zeitung durch, zumindest kam es mir damals so lang vor.
Von der Küche aus konnte man auf einen kleinen Balkon gehen. Statt Blumen pflanzte die Oma in Kisten Küchenkräuter wie Schnittlauch, Petersilie und Bärlauch.
Manchmal rief mich der Opa: „Komm schnell auf den Balkon, ich zeig' dir etwas.“
Einmal schnitt ein älterer Mann mit der Sense den Rasen. Ein anderes Mal zog ein Händler seinen Holzkarren in den Hof, läutete eine schrille Handglocke und bot mit lautem Geschrei den Bewohnern des Blocks frische Kartoffeln und Eier an.
Am lustigsten war es aber, wenn ein Kriegsversehrter, der nur ein Bein hatte, im Hof Ziehharmonika spielte. Er kam jeden Nachmittag vorbei. Manchmal wickelte Opa eine Münze in Zeitungspapier und sagte zu mir: „So, das Geld wirfst du jetzt dem Musiker runter.“ Der freute sich immer und gab speziell für mich Clownzugaben.
Großvater sprach nicht viel. Die Stille im Raum wurde nur unterbrochen von seinem gequälten Atmen er hatte Asthma und dem Ticken der zahlreichen Uhren.
Im Raum roch es nach Pfeifentabak und Pfefferminztee. An der Wand hing neben dem Kreuz und der Weihwasserschale eine ähnlich lange Pfeife, wie ich sie aus Wilhelm Buschs „Max und Moritz“ kannte. Leider rauchte Opa nie daraus. Er hatte andere Lieblingspfeifen, die kleiner und für mich nicht so bedeutungsvoll waren.
Oft sagte er zu mir: „Wir schauen mal gemeinsam, ob wir für dich im Küchenschrank etwas finden.“
Dann öffnete er geheimnisvoll die Schranktür, und ich fand meistens versteckt zwischen Tabak und Zigarrenkisten Milchkaramellen. Bevor ich sie aß, roch ich an der Verpackung. Den herrlichen Tabakgeruch habe ich noch heute in der Nase.
Die Oma arbeitete fast den ganzen Tag. Nur selten fand sie die Zeit, um mit mir „Mensch ärgere dich nicht“ oder „Fang den Hut“ zu spielen. Ich wunderte mich immer, wie zerstreut und unkonzentriert sie beim Spielen war. Ich kann mich nicht erinnern, je ein Spiel verloren zu haben.
Dem Opa waren diese Brettspiele zu läppisch. Er sagte: „Wenn du mal groß bist, werden wir gemeinsam Schach spielen.“ Es wurde nie etwas daraus.
Meine Großeltern sind schon lange tot. Vor kurzem kam ich mit dem Auto in die Gegend, in der sie wohnten. Ich fuhr einen kleinen Umweg, denn ich wollte das Haus nochmal sehen. Es sah noch genauso wie vor fünfzig Jahren aus. Aber wo waren die Felder und Wiesen geblieben, auf denen ich meinen Drachen hatte steigen
lassen?
Die Ruine, in der ich so gerne gespielt hätte, war natürlich längst durch einen neuen Wohnblock ersetzt worden. Sogar die herrliche alte Trauerweide wurde umgesägt. Nicht mal ein Baumstumpf blieb übrig. Ob es die Wiese im Hof noch gab? Oder musste sie Garagen weichen? Ich wollte es nicht mehr wissen und fuhr weiter.
© by Hermann Bauer
Diese Geschichte ist aus dem Buch „Ein hungriger Bär tanzt nicht",
erschienen im Geest-Verlag. ISBN 3-937844-78-3
Illustration: Franziska Kuo.