Beschreibung
Ich weiß nicht, ob ich euch so eine lange Erzählung zumuten kann - sie beschreibt die Lebensumstände einfacher Familien in den Jahren des Weltkriegs .... was für ein Unterschied zu heute!!
OMA, WEIßT DU NOCH?
Oma, weißt du noch? „Oma, bitte erzähl´ uns wieder einmal von früher. Weißt du noch, wie es war, als du ein Kind gewesen bist? Was sind deine ersten Erinnerungen?”“Meine ersten Erinnerungen? - Oh, da muss ich sehr weit zurück denken. Ich glaube, da war ich gerade drei Jahre alt.Das Christkind war hier gewesen und hatte mir eine Puppe und ein einfaches Puppenbett aus Holz gebracht. Den ganzen Abend spielte ich nur mit dieser Puppe, legte sie schlafen, weckte sie, zog sie an und aus, sprach mit ihr und trug sie im Zimmer herum. Ich hatte sie wohl zu lieb, denn als ich sie einmal allzu fest drückte, ging der Kopf ab.”“Oh je!”“Ja, oh je! Ich glaube, das war mein erster großer Schrecken. Irgendwie hatte ich nämlich schon als kleiner Knirps mitbekommen, dass wir sehr arm waren. Entbehrung und Hunger waren fast selbstverständlich. Selten gab es genügend zu essen und noch seltener Geschenke. Diese Puppe war eine wunderbare Ausnahme - schließlich hatte sie ja auch das Christkind gebracht. Sie war etwas Besonderes und man musste gut auf sie aufpassen. - Und nun das!Zu Tode erschrocken legte ich sie ins Puppenbettchen, deckte sie bis zur Nasenspitze zu und zog mich selbst heimlich und still zum Schlafen zurück.Doch am nächsten Morgen! Wie überrascht war ich, als der Kopf wieder ganz fest auf dem kleinen Körper saß. Ein Wunder! Das Christkind war ein zweites Mal zu mir gekommen! Sicher kannst du dir vorstellen, wie erleichtert und wie glücklich ich war.”“Oma, da war das Christkind aber lieb!”“Das kannst du wohl sagen. - Ich habe diesen Augenblick bis heute nicht vergessen. Das waren zwei sehr prägende Momente in meinem Leben - der große Schreck, sowie das Schuldgefühl - und am folgenden Morgen die erlösende Erleichterung, das unbeschreibliche Glück.““Sag´, was hat dir denn das Christkind sonst noch gebracht?”“Sonst noch? - Kindchen, das war ohnehin schon so viel! Viel mehr als üblich. Es war Krieg und wir hatten gar nichts. Das Christkind hatte auch sehr wenig, es war damals genauso arm wie alle anderen. Für viele Familien bestand die Weihnachtsfreude darin, dass an diesem Tag ein schönes Stück Fleisch auf dem Tisch stand und die Mütter für die Kinder Kekserln backen konnten, ganz einfache Kekserln, ohne Füllung, ohne Schokolade, Mandeln, Zuckerguss oder dergleichen.” “Da geht es uns heute schon viel besser, gell ja?!Kannst du dich noch an etwas anderes erinnern?”“Ja, da war der Waschtag. Der hat immer großen Eindruck auf mich gemacht.”“Wieso der Waschtag?”“Nun ja, das war damals ganz anders und sehr anstrengend. In den meisten Häusern befand sich im Keller eine Waschküche. Nach einem Plan wurde festgelegt, wer wann waschen durfte. Manchmal benützten zwei oder mehrere Familien die Waschküche zugleich.”“Wie sah denn so eine Waschküche aus?”“Da gab es einmal einen Ofen, einen riesigen Ofen, der mit Holz oder Kohle gefeuert wurde. Man konnte große Töpfe, die “Waschhefen” auf ihn stellen oder Kessel in ihn hinein hängen. Darin wurde dann die Wäsche gekocht. Des Weiteren standen Bottiche, Eimer und Waschtröge bereit. Der Fußboden lief zur Mitte hin leicht schräg ab und hatte dort ein Loch. Hier konnte das Wasser abrinnen. Der Waschtag war jedes Mal ein Schwerarbeitertag. . Meine Mutter und meine Oma verbrachten fast den ganzen Tag in der Waschküche. Nur kurz kamen sie in die Wohnung. Mutti hatte eine Schürze umgebunden und ein Kopftuch hielt ihre Haare aus der Stirn. Die Gesichter der beiden Frauen waren rosig und feucht. Die aufgeweichte Haut an ihren Händen fast weiß und ganz verschrumpelt. Sie faszinierten mich ungemein, und ich streichelte vorsichtig über die Finger meiner Mutter. Wie eine Berg- und Tal-Landschaft in Miniatur fühlte sich das an..Kinder hatten in der Waschküche nichts zu suchen. Sie waren im Weg und wurden jedes Mal hinaus geschickt. Trotzdem schlich ich hin und wieder den Frauen in diesen geheimnisvollen Kellerraum nach. Wenn ich die Türe öffnete, sah ich gar nichts. Der Raum war voll von Wasserdampf. Erst nach und nach konnte ich durch den Nebel einige Gestalten erkennen.Mutti stand mit aufgekrempelten Ärmeln am Waschtrog und bearbeitete die Wäsche auf einer Rumpel. Auf und ab, immer wieder fuhren ihre Arme auf dem Waschbrett auf und ab. Ihr gegenüber bürstete meine Oma Hemd- und Blusenkrägen und schrubbte energisch an hartnäckigen Schmutzstellen.Auf der anderen Seite der Waschküche wand unsere Nachbarin Wäsche aus. Sie zog sie schwungvoll einige Male durch das Schwemmwasser, wand sie aus und warf sie in einen Bottich. Dann zog sie den Stöpsel aus dem Trog. Das Wasser schoss heraus, rann einfach auf den Boden, zur Mitte des Raumes hin und gurgelte durch das Loch. Aber schon holte die Frau mit einem Eimer frisches Wasser, leerte es in den Waschtrog, stülpte die Wäsche hinein und wiederholte den Schwemmvorgang.Ich stand und sah den Frauen staunend bei ihrer Arbeit zu. Sie hatten mich wohl nicht bemerkt. Noch mehr allerdings beeindruckte mich die Atmosphäre in diesem Raum. Sie schien mir wie von einer anderen Welt. Vielleicht sogar ein bisschen gespenstisch, und schleunigst trat ich den Rückzug an.”“Omi, aber sag´ ,warum haben sich die Frauen so geplagt, warum haben sie die Wäsche nicht einfach in die Waschmaschine gesteckt?” “Weil es noch keine gab.”“Es gab keine Waschmaschine?”“Nein. Die gab es noch lange nicht. - Sogar ich selbst habe, als deine Mama geboren wurde, noch im Trog Wäsche gewaschen und täglich die Windeln im Hefen ausgekocht.”„Wieso die Windeln? Kann man Pampers denn kochen?”“Nein, natürlich nicht. Doch damals gab es auch noch keine Pampers. Wir hatten Stoffwindeln. Diese wurden immer wieder verwendet. Man konnte sie nicht wegwerfen wie die Pampers. Also wurden sie täglich ausgekocht und gewaschen.”“Hast du das auch in einer Waschküche getan?”“Nein. In der Küche. Ich hatte bereits einen Elektroherd, auf dem ich die Wäsche in einem großen Topf auskochte. Aber gewaschen, gerumpelt habe ich noch wie einst, als ich als Kind meiner Muttergeholfen hatte.““Wie alt warst du damals denn?”“So zwischen 8 und 14 Jahren. Ich hatte damals schon einige Haushaltsaufgaben zu erfüllen, beispielsweise jeden Samstag im Wohnzimmer den Fußboden und im Stiegenhaus die Treppen aufzureiben. Du weißt ja, dass meine Mutter, also deine Uromi, so wehe Knie hatte und das alles nicht tun konnte. Wenn ich den Boden geschrubbt hatte, legten wir Zeitungspapier auf, damit keiner auf den feuchten Boden steigen und ihn gleich wieder schmutzig machen konnte.”“Uff! Da bin ich aber froh, dass Mama heute so pflegeleichte Fußböden hat und in manchen Zimmern nur dicke Teppiche liegen. Die braucht man nur abzusaugen - das kann sogar ich machen. Ich kann auch schon in der Mikrowelle etwas wärmen. Hast du das als Kind auch getan?”“Oh nein! Mikrowelle! Wo denkst du hin?Mikrowelle, Elektroherd, Tiefkühltruhe und Kühlschrank - das alles kannte ich als Kind nicht.”“Nur du nicht? Oder hatten andere Familien das alles auch noch nicht?”“Vielleicht gab es bei den Reicheren schon einen E-Herd oder Kühlschrank? Aber sicher noch kein Tiefkühlgerät und schon gar nicht einen Mikrowellenherd. Die Kühlanlagen in den Krankenhäusern, aber auch in großen gastronomischen Betrieben, wurden mit riesigen Eisblöcken versorgt, die mit Pferdefuhrwerken geliefert wurden.Wir selbst besaßen weder einen Kühlschrank, noch einen Keller. Damals hatten die Molkereien und auch kleine Milchgeschäfte sogar am Sonntag Vormittag offen. Vor dem Gottesdienst lief ich jedes Mal mit einer blechernen Kanne in die Stadt, um frische Milch zu kaufen. Im Sommer wickelte meine Mutter das Sonntagsfleisch in Zeitungspapier und legte es in den Kachelofen hinein. In dem gemauerten Heizraum lag es kühl und luftig. Dieser große Kachelofen, der fast bis zur Decke reichte, wurde ja nur in der kalten Jahreszeit geheizt.Im Küchenherd hingegen entfachte meine Mutter für jede Mahlzeit Feuer. Außerdem befand sich in so einem Herd ein “Wasserwandl”, darin wurde bei jedem Einheizen automatisch Wasser heiß gemacht, denn Warmwasser gab es damals natürlich auch noch nicht. So war es im Sommer, wie du dir denken kannst, in der Küche immer ziemlich warm.””Wann habt ihr dann endlich einen Elektroherd bekommen?”“Das dauerte noch einige Jahre. Sogar in der Hauptschule, als ich in der vierten Klasse den Kochunterricht besuchte, benutzten wir einen Herd für feste Brennstoffe. Unsere Haushaltslehrerin teilte die Schülerinnen in drei Gruppen - eine war fürs Kochen zuständig, eine fürs Abwaschen, Herrichten und Helfen, und die dritte Gruppe fürs Holzhacken, Feuermachen und Nachlegen. Ich meldete mich immer freiwillig zu der dritten Gruppe - und die Lehrerin hat es nie bemerkt. So hackte ich ein ganzes Jahr lang Holz.”“Warum denn? Das ist ja schwere Arbeit und sehr gefährlich?” “Nein. Ich war gut im Holzhacken, denn ich habe auch zu Hause immer Holz gemacht. Nach der Schule, nach dem Mittagessen, war mein erster Weg in den Hof zur Holzhütte, um einen Korb voll Scheiter zu hacken und ihn in die Wohnung hinauf zu tragen.”“Omilein, da warst du aber schön arm! Da geht es uns heute schon viel besser!”“Ich weiß nicht so recht, mein Schatz.Denn arm waren wir sicher nur in materieller Hinsicht. Und auch das war, solange wir zu essen hatten, nicht so schlimm, weil ja niemand etwas hatte. Sonst aber, das muss ich schon sagen, war unsere Kindheit schön und reich. Wir waren niemals einsam. Jedes Kind war im Schoß der Familie geborgen, es war immer jemand da. Durch die Not vielleicht gab es ein sehr starkes Zusammengehörigkeitsgefühl. Heute ist sich jeder selbst am wichtigsten, er und seine Angehörigen. Doch damals war eigentlich jeder für jeden da. Das war schön und gab uns Sicherheit. Ich glaube sogar, dass auch die Erwachsenen - obwohl um vieles ärmer als heute - damals ausgeglichener und zufriedener waren.Vielleicht irre ich mich? Aber schau doch nur um dich. Nur wenige zeigen aufrichtige Anteilnahme und echtes Interesse am anderen. Keiner hat mehr Muße und Zeit. Jeder hetzt und hastet und alle jagen dem Wohlstand hinterher. Jeder will mehr und mehr, will alles haben. Wir hatten so wenig. Doch wir hatten viele Freunde. Im Hof, im Garten und im Wald kamen alle Kinder der Umgebung zu Spiel und Tratsch zusammen. Meistens waren wir eine ganze Horde. Und da wir noch recht bescheiden waren, konnten wir uns über jede Kleinigkeit enorm freuen und waren für alles dankbar. Es gab kaum Spielsachen. Wir hatten nur uns und unsere Fantasie. Und ich sag´ dir, das war eine herrliche Zeit! Die ganze Welt gehörte uns! In unserer Vorstellung holten wir alles, was uns fehlte, in unsere Mitte. Wir verwandelten uns in Kaiser und Könige, Soldaten, Räuber und Gendarm, waren Kaufmann, Doktor, Lehrer, Bauer und Lokomotivführer, spielten Tarzan, Winnetou und Indianer. In alle Rollen schlüpften wir und die Natur lieferte uns die notwendigen Requisiten. Ein Zweig konnte Zepter oder Gewehr sein, Bischofsstab oder eine Angel, der Pfeil eines Indianers oder eine Wünschelrute.In leere Zwirnspulen schnitzten wir Hörner und Füße, Kastanien erhielten Beine aus Zahnstochern. Aber auch Tannenzapfen und Steine genügten - und schon stellten wir Armeen auf oder besaßen eine Ranch, die wir mit Reisigzweiglein umzäunten und vor Indianerüberfällen schützten.”“Toll, Oma! - Aber sag, hast du nie mit Puppen gespielt?”“Nur als ganz kleines Mädchen. Später nicht mehr. Viel lieber heckte ich mit der ganzen Kinderschar einen Unsinn nach dem andern aus. - Am liebsten allerdings spielte ich Völkerball.””Ja, das spiel ich auch gern! Ich bleibe fast immer bis zum Schluss im Feld drinnen. -Aber mit meinen Puppen spiel ich auch gern, besonders mit den Barbie-Puppen. Von denen hab´ ich so viele, dass ich eine ganze Klasse zusammen stellen kann. Ich bin natürlich die Frau Lehrerin.”“Ja, Schule gespielt habe ich auch oft. Wenn es schlechtes Wetter gab und ich nicht hinaus durfte. Meine Kinder waren aber keine Puppen, sondern Karten.”“Karten? Wie kann man mit Karten Schule spielen?”“Glückwunsch-, Oster-, Weihnachtskarten und alle möglichen anderen. Ich habe sie alle gesammelt, schrieb auf jede einen Namen und legte sie in Zweierreihen auf den Fußboden. Das war meine Klasse. Und ich war - wie du - die Lehrerin. Und zwar eine sehr strenge Lehrerin.”“Ich bin nicht streng. Und ehrlich gesagt, spiel ich auch gar nicht so oft mit den Puppen. Viel lieber schau ich mit meinem Bruder fern oder wir spielen mit dem Gameboy. War deine Mutti auch so streng und hat dir das nur selten erlaubt?”“Ein Gameboy! Das ist etwas ganz Neues. Den gab es noch nicht einmal, als deine Mama ein Kind war. Damals tauchten die ersten „Schwarz-weiß-Fernseher“ in den Familien auf. Wir waren sehr stolz auf dieses Zauberkastl. Mittwoch Nachmittag und zum Wochenende wurde Kinderprogramm gesendet und die ganze Familie verfolgte gespannt die Abenteuer des Kasperls oder von Furry, einem sehr gescheiten und lieben Pferd. - Als ich Kind war, gab es noch kein Fernsehgerät. Wir besaßen nicht einmal ein Radio. Ich war schon zwölf Jahre alt, als in unserem Wohnzimmer zum ersten Mal Musik aus einem Radio erklang. Mir erschien dieser Apparat wie ein Wunder. Stundenlang konnte ich davor sitzen und versuchen, die Melodien mitzusingen. Wenn aber Nachrichten gesendet wurden, durfte niemand einen Muckser machen. Man erfuhr fast augenblicklich, was sich wo zugetragen hatte. Man war am Puls der Zeit. Für meinen Großvater und meine Mutter waren die Nachrichten im Radio der Höhepunkt des Tages.”“Für deinen Papa sicher auch? Bei uns ist der Papa immer ganz scharf auf die Nachrichtensendung.”“Ich hatte keinen Papa mehr. Er fiel im letzten Kriegsjahr, kurz vor meinem sechsten Geburtstag.”“Arme Oma! - Wahrscheinlich hast du auch deswegen Holz hacken müssen - weil kein Papa mehr da war. - Ich kann mir nicht vorstellen, keinen Papa zu haben.”“Gott sei Dank! - Doch damals hatten viele Kinder keinen Vater mehr. Der Krieg hat unendlich viel Unglück und Leid gebracht und viele, viele Menschenleben gefordert.”Leider gibt es auch heute noch in vielen Ländern auf der Erde Krieg, Not und Elend.”“Warum werden die Menschen nicht gescheiter?Warum hören sie nicht auf damit, wenn sie wissen, wie schrecklich das alles ist?”“Warum? - Diese Frage kann dir wahrscheinlich niemand beantworten.Überfälle und Kriege hat es immer gegeben, so weit wir Kunde von der Menschheitsgeschichte haben - und es wird sie traurigerweise wohl immer wieder geben.”“Kannst du dich noch an den Krieg erinnern?”“An den Krieg selbst? Wenig. Ich wusste nichts von besseren Zeiten. Armut, Hunger, Entbehrungen waren für mich ganz normal - ich kannte ja nichts anderes. Und von den Sorgen und Ängsten der Erwachsenen hab´ ich nicht viel gespürt, von ihrem verzweifelten Kampf ums tägliche Leben.Doch im letzten Kriegsjahr wurde auch unsere Stadt bombardiert. Das war schlimm, sehr, sehr schlimm.”“Erzähl´, Oma!”“Sobald die Sirenen in einem durch Mark und Pein gehenden Auf und Ab zu heulen begannen, hastete jeder in die Luftschutzkeller. Die Frauen ließen alles liegen und stehen, schnappten die Kleinkinder und begaben sich in die Schutzräume. Alte Männer und Frauen eilten herbei und die Schulkinder kamen mit ihren Lehrerinnen angelaufen.Dicht aneinander gedrängt hockten wir in den Bunkern und fürchteten uns.Wenn in der Nähe eine Bombe einschlug, zerbrach die Druckwelle nicht nur sämtliche Fensterscheiben in der Straße, sondern ließ den Kellerraum bedrohlich erzittern. - “Hoffentlich werden wir nicht verschüttet!” gerieten einige, die bereits Freunde oder Bekannte ausgegraben hatten, in panische Angst. Die Frauen bekreuzigten sich, begannen zu beten und zogen ihre Kinder fester an sich. Ich steckte meinen Kopf tief in den Schoß meiner Mutter, fühlte ihre Hand auf meinem Scheitel und machte die Augen zu.”“Ich glaub´, ich wäre vor Angst gestorben.”“Sicher ist meine Mutter, wie viele andere, in diesen Stunden hundert Tode gestorben. Sie wird an ihren Mann und die vielen Soldaten gedacht haben, die an der Front ihr Leben lassen mussten. Sie wird Angst um ihre Familie und ihre Freunde gehabt haben und Angst um uns selbst.Wenn dann, oft nach Stunden, die Entwarnung kam, traten wir zögernd ins Freie.Manchmal war alles wie vorher. Doch manchmal bot sich uns ein Bild des Grauens. Dort, wo ein Haus gestanden hatte, gab es nur noch Schutt und Asche. Einzelne Wände ragten gespenstisch gegen den Himmel und langsam senkten sich dicke Staubwolken auf die Trümmerhaufen. Da und dort stießen Menschen wehklagende Schreie aus und sahen entsetzt um sich. Sie hatten kein Zuhause mehr, nichts mehr, wo sie hingehen konnten - nur noch das nackte Leben. Diese Angst und das Grauen übertrug sich auch auf die Kinder. Wir spürten die Gefahr und die Bedrohung. So blieb mir ein Frühlingstag in ganz besonderer Erinnerung:Es war Ostern, Ostern 1944. Mutti und ich waren auf dem Weg in die Kirche, als Fliegeralarm einsetzte. Mit vielen anderen Leuten rannten wir in den nahe gelegenen Bunker am Stadtrand. In einen großen, hohen Felsen waren zwei Stollen geschlagen, die damals als Luftschutzkeller dienten. Durch ein großes Loch drängten wir in die riesige Höhle. Da drinnen aber war es schaurig. Dumpfe, modrige Luft schlug uns in der Finsternis entgegen. Der Boden war glitschig und von Unrat übersät. Die größte Angst jedoch hatte ich vor den Fledermäusen, die am Tag da drinnen schlafen sollten. Ich selbst habe zwar keine gesehen - wahrscheinlich hatten sie angesichts der menschlichen Invasion längst das Weite gesucht - doch die Schauergeschichten, die andere Kinder erzählten, ließen mir die Haare zu Berge stehen und ich hielt während der ganzen Zeit schützend die Arme über meinen Kopf.”“Oma, wie kann man so viel Angst überhaupt aushalten?”“Man kann. Man kann sie sogar vergessen oder sagen wir “beiseite legen”. Denn viel deutlicher sind mir von jenem Bombenangriff die nachfolgenden Stunden in Erinnerung geblieben.Wir standen also in dieser stinkenden Höhle herum, als das Geheul der Sirenen abermals die Stille des Sonntag Vormittags durchschnitt. Nicht auf und ab, sondern in einem gleichmäßig anhaltendem Ton. Entwarnung! Wieder großes Gedränge. Und dann fanden wir uns im Freien. Rechterhand führte der Weg in die Stadt und nach Hause. Meine Mutter aber nahm mich bei der Hand und wandte sich nach links.Der Himmel war rein und blau. Die Sonne lachte herab, als ob die Welt in Ordnung wäre, und ein sanfter Frühlingswind streichelte mein Gesicht. Wir betraten den Buchenwald. Leise rauschte es in den zartgrünen Blättern und Zweigen. Unzählige Vogelstimmen sangen das Lob Gottes. In schrägen Streifen fiel das Sonnenlicht durch das Blätterdach der hohen, schnurgeraden Buchen, tanzte über den Waldboden und verzauberte den Wald in ein Paradies. Spinnennetze, die in den Zweigen hingen, funkelten, sobald sie ein Sonnenstrahl traf, wie feinstes Silberfiligran.Ich meinte, den lieben Gott zu spüren und hielt den Atem an.Weiter drinnen im Wald war der Boden übersät mit blühenden Veilchen. Sicher waren es die ersten, die ich sah, zumindest bewusst und in solchen Mengen. Selig lief ich hin und her. Alle musste ich mir ansehen, mich niederbeugen und daran riechen. Ein kleines Sträußchen durfte ich mit nach Hause nehmen.Und diese Veilchen in dem sonnendurchfluteten Buchenwald an einem Ostersonntag vor über sechzig Jahren sind mir deutlicher in Erinnerung geblieben als alles andere. In unglaublicher Fülle sehe ich sie überall aus dem Boden sprießen, sehe mich selbst, sechsjährig und beeindruckt von dieser Schönheit, von Blüte zu Blüte laufen. Diese Erinnerung und die Freude, die ich damals empfand, begleiteten mich all die Jahre meines Lebens und ließen mich immer wieder hoffen und an Wunder glauben.”“Oma, wie gibt´s denn so etwas? Warum weißt du das mit den Blumen nach so langer Zeit noch so genau, fast genauer, als das mit dem Fliegeralarm und dem Luftschutzkeller?”“Unser Körper ist sehr weise, mein Schatz. Das hat der liebe Gott gut eingerichtet, dass die schönen Erlebnisse viel intensiver in Erinnerung bleiben, die schlimmen jedoch mit der Zeit verblassen oder gar verdrängt werden. Vielleicht hätte man sonst nicht die Kraft zum Weiterleben? Denn stell dir vor, jedes Leid und jede Angst, die du erfahren hast, würde lebendig bleiben und dich dein Leben lang begleiten? - Das wäre fürchterlich, findest du nicht auch?” “Ja, das wäre furchtbar! Das find´ ich auch. Ich finde aber auch, dass es damals gar nicht so schön war. - Ich bin sehr froh, dass ich heute lebe. Du musst zugeben , dass es uns jetzt viel besser geht.”“Du hast ja Recht! Und das ist auch gut so und richtig.Jede Epoche hat ihre schönen und schlechten Seiten, hat Vor- und Nachteile. Die Kunst ist nur, sich in jeder Zeit wohl zu fühlen, ihre Möglichkeiten zu nützen und dabei Mensch zu bleiben.Denn glaube mir, Menschsein, ein Herz für andere zu haben und die Natur zu achten, ist immer das Wichtigste. Heute vielleicht wichtiger denn je.Wenn wir das aber nicht vergessen, wenn wir selbst nicht zu Robotern und Erfolgsjägern um jeden Preis werden, dann ist unsere Gegenwart, in der es uns an nichts mangelt, wirklich wunderbar.Mir ist es noch nie so gut gegangen wie jetzt. Nein, mein Schatz, auch ich wünsche mir die Jahre meiner Kindheit und Jugend nicht zurück. Doch sie gehören zu mir, zu meinem trotz allem schönen und erfüllten Leben. Sie ließen meine Seele wachsen und reifen, ließen mich zu dem werden, was ich heute bin: deine Oma, die dich sehr lieb hat und dir ein erfülltes und schönes, ein glückliches und möglichst sorgenfreies Leben wünscht.”
I. H. 2009