Meine Frau, die Ilsebill
„Der Fischer und seine Frau“ ist das Lieblingsmärchen meiner Enkelin Petra.
Egal, welche Märchenfiguren ich wachrufe, zum Schluss will sie immer die Geschichte von dem armen Fischer-Ehepaar hören.
Wie der Mann einen Fisch fängt, der sprechen kann. Wie dieser um sein Leben bettelt und verspricht, den Fischer dafür reich zu beschenken.
Der Mann wünscht sich, statt in der armseligen Fischerhütte endlich in einem schönen Haus zu wohnen, und wirft den Fisch zurück ins Wasser.
Und siehe da, vor ihm steht tatsächlich ein schmuckes Landhaus.
Seine Frau, die Ilsebill, ist jedoch sehr unbescheiden. Nach kurzer Zeit hat sie auch mit dem Haus keine Freude mehr und verlangt, ihr Mann soll vom Fisch ein vornehmes Stadtpalais fordern. Sie bekommt es.
Ilsebill wünscht sich immer noch mehr. Das Stadtpalais wird zur Burg, dann zum Schloss.
Der Fischer wäre wohl zufrieden, allein, er gibt dem Drängen seiner Frau nach und ruft jedes Mal den Fisch.
„Meine Frau, die Ilsebill,
will nicht so, wie ich es will.“,
klagt er und trägt dem Fisch deren Wünsche vor.
Doch auch mit dem Schloss ist Ilsebill nach kurzer Zeit unzufrieden. Sie will Königin, und dann gar Kaiserin sein. Wieder ruft der Fischer nach dem Fisch und berichtet traurig:
„Meine Frau, die Ilsebill,
will nicht so, wie ich es will.
Sie möchte nun sogar Königin sein.“
Der Fisch ist ärgerlich, aber er macht sie auch noch zur Königin, und dann sogar zur Kaiserin.
Doch abermals ruft der Fischer nach einiger Zeit nach dem verwunschenen Fisch:
„Meine Frau, die Ilsebill,
will nicht so, wie ich es will –
stell dir vor, jetzt verlangt sie sogar,
der Liebe Gott zu sein.“
Da wird der Fisch aber richtig zornig und nimmt dem Fischer und seiner Frau, der Ilsebill, wieder alles weg. Das Schloss, die Pagen, das Gesinde – alles ist mit einem Schlag verschwunden. Der Fischer und seine Frau, die Ilsebill, stehen wieder vor ihrer armseligen Fischerhütte ....
Dieses Märchen ist offensichtlich Petras Lieblingsmärchen. Vielleicht auch, weil ich davon einen entzückenden Zeichentrickfilm auf einer Videokassette besitze. Immer, wenn Petra bei uns ist, will sie diese Aufzeichnung sehen. Einmal, manchmal zweimal pro Tag. Wenn es nach Petra ginge, würde sie sich den kurzen Film fünf- oder auch zehnmal täglich ansehen.
Draußen regnet es. Wir sitzen gemeinsam im Wohnzimmer. Petra verfolgt am Fernsehschirm zum wiederholten Male die Geschichte von dem Fischer und seiner Ilsebill. Mein Mann füllt einen Lottoschein aus.
„Wenn wir nur auch einmal etwas gewinnen würden!“, murmelt er vor sich hin. „Dann könnten wir das Wohnzimmer neu einrichten oder uns eine Brause mit Dampfdüsen kaufen, die du dir so wünscht.“
„Ein neuer Computer, so einer mit ganz flachem Bildschirm wäre auch nicht schlecht.“, kontere ich.
„Ein schickes Auto noch besser – was würdest du von einem BMW halten?“, träumt mein Mann.
Petra schaut uns entsetzt an.
„Nein“, haucht sie verschreckt, „Omi, gelt, das ist nicht wahr. Das meint ihr nicht echt.“
„Nicht echt?“, fragt Opa. „Das wäre doch schön. Was würdest denn du dir wünschen, wenn wir einen Lotto-Sechser gewinnen sollten?“
Petra schaut uns unsicher an und schüttelt ratlos ihr Köpfchen.
Langsam wird es Abend. Mein munteres, kleines Mädchen ist beim Nachtmahl sehr still. Dann bringe ich sie ins Bett und erzähle ihr eine Gute-Nacht-Geschichte.
Petra schlingt ihre Ärmchen um meinen Hals.
„Omi“, flüstert sie, „Omi, ihr meint das aber nicht wirklich? Oder?
Ihr habt so ein schönes Haus, so einen schönen Garten – und ich bin so gern bei euch.
Wenn ihr wirklich so viele Wünsche habt, dann geht es euch vielleicht wie dem Fischer und seiner Frau? Bitte, Oma, seid nicht unbescheiden!“
Ich streichle über ihr Haar.
„Das war ja bloß Spaß.“, versuche ich, sie zu beruhigen.
Mehr bringe ich nicht über meine Lippen. Ich kann Petra nur fest an mich drücken .....
und denke mir: Wie wahr! Es soll uns niemals schlechter gehen als jetzt.
Welch ein glückliches Leben dürfen wir doch führen!
Und dennoch: Sind wir nicht alle ein bisschen wie Ilsebill und wollen immer mehr und mehr?
Andrerseits: Wo wären wir jetzt, wenn die Menschen nicht dieses Streben hätten? Vielleicht würden wir noch als Steinzeitmenschen in Höhlen hausen und zufrieden sein, dass wir Wildtiere erlegen und zu essen haben?