Mit den Enkelkindern ging es wie am laufenden Band. Heinrich und Johanna hatten ein süßes, kleines Mädel. Sie nannten es nach der Mutter, kürzten den Namen nur auf Hanna ab. Jetzt wurde Wilhelmine schon zum dritten Mal Großmutter. Wie doch die Zeit verging .
Der kleine Fritz wurde schon zwei Jahre alt. Er wollte nie mit nach Hause, wenn er bei den Großeltern war. Wilhelmines Eltern waren bereits Urgroßeltern und schon ein bisschen klapprig. Das Resolute hatte Urgroß- mutter abgelegt. Sie kam auch nur noch
ganz selten zu Besuch. Aber dafür ging Mutter jetzt zu ihnen, wenn es ihr die Zeit erlaubte. Dann putzte sie die Fenster, hing Gardinen auf, putzte den Flur, machte alles, was für Großmutter zu schwer sein könnte. »Weißt du, Mutter, du sollst doch noch lange bei uns bleiben«, sagte sie dann. Aber Oma fühlte sich nutzlos. »Ach, Wilhelmine, zu was taug ich denn noch?« Mutter machte ihr Mut. »Die Hauptsache ist, du bist noch da. Du weißt doch, wie die Kinder an dir hängen.« Oma zweifelte. »Sie lassen sich aber nur selten sehen.« »Trotzdem haben sie dich nicht weniger lieb als
früher.« »Wilhelmine, es war so eine schöne Zeit, als sie klein waren.« »Dafür haben wir doch jetzt süße, kleine Enkel. In ein paar Wochen kommt noch eines dazu.« »Das schon, aber ich bin eben zu alt und klapprig.« Wilhelmine war besorgt. »Aber, Mutter, was ist denn heute mit dir? Du wirst doch nicht krank?« »Wo denkst du hin? Mach dir nur um mich keine Sorgen! Du hast gerade genug mit deinen Trabanten zu tun.« Auf dem Heimweg dachte Mutter: »Oma wird doch nichts
passieren.« Zu Hause fragte Vater: »Wie geht es den Großeltern?« »Weißt du, Oma gefiel mir nicht. Sie war so traurig. Sie wird siebzig, da ist das Beste vorbei. Als ich ging, rief sie mir noch nach: ›Grüß Johann und die Kinder! Sie sollen sich mal sehen lassen.‹ Elisabeth und Anna können sie Sonntag mal besuchen. Deine Mutter hat recht, die Kinder machen sich sehr rar, und sie hat so viel für uns alle getan.« »Ja, Wilhelmine, so ist das Leben, uns wird es auch nicht besser gehen.« »Jetzt muss ich aber Abendbrot machen. Elisabeth ist in einer halben Stunde hier. Du weißt, wie hungrig sie immer ist.
Anna, deck den Tisch, es wird Zeit!« »Sofort, Mutter, ich will nur schnell noch die Seite zu Ende lesen.« »Elisabeth, wo warst du so lange?«, fragte Mutter als diese endlich nach Hause kam. »Ich war noch eben bei Mimmi. Sie freut sich so auf das Baby. Ich glaube, es geht ihr gut.« »Wie war’s im Geschäft?« »Wie immer, ich muss schon die Hüte über Kochschwaden halten, damit sie die richtige Form kriegen.« »Macht es dir Spaß?« »Ich weiß es selber nicht, Mutter. Begeistert bin ich nicht, aber vielleicht kommt das
noch.« »Ist Frau Michels denn mit dir
zufrieden?« »Ich glaube schon, ich mache doch alles, was sie will.« »Jetzt komm und iss erst mal!« »Großen Hunger habe ich nicht. Mimmi hat leckere Butterbrote gemacht.« »Aber, Elisabeth, sie hat doch selbst kaum genug zu essen.« »Sie wäre doch beleidigt gewesen, wenn ich nicht wenigstens eine Schnitte genommen hätte.« »Schon gut, mein Mädel.« Anna fragte: »War der Junge wieder da?« Liesbeth wurde rot. »Ich weiß es nicht.« Anna grinste. »Du lügst! Mutter, sieh
nur, wie rot sie wird!« »Anna, halte deinen vorlauten Mund!«
Langsam wurde es Zeit, schlafen zu gehen. »Hast du für den Konfirmandenunterricht gelernt? In drei Wochen ist die Prüfung.« »Ja, Mutter, es geht wie geschmiert.« »Das freut mich für dich. Hast du keine Angst?« »Überhaupt nicht, mein Kopf wird schon nicht abfallen.« Als die beiden Mädchen im Bett lagen, fragte Anna noch einmal: »Sag schon, Elisabeth, war er wieder da?« Liesbeth beschwor ihre Schwester: »Ja, Anna, aber sag es den Eltern nicht! Sonst
steht Vater jeden Abend vor der Tür und will mich abholen.« »Ich versprech es, Liesbeth. Ist er hübsch?« »Oh ja, ich glaube schon. Groß und schlank, er hat so schwarzes Haar wie du, und fein ist er wie ein richtiger Kavalier«, schwärmte Elisabeth. »Du bist doch nicht verliebt in ihn, Liesbeth?« »Wo denkst du hin? Ich bin doch erst vierzehn. Rede nur nicht so einen Quatsch! Vater würde mich anständig versohlen, wenn ich mich mit ihm unterhielte.« »Ach, Elisabeth, er braucht es doch gar nicht
wissen.« »Anna! Halte endlich deinen Mund und schlaf!« »Ja, ja, ist schon gut.« Am nächsten Abend holte Anna Elisabeth ab. Sie platzte fast vor Neugier. Mensch, dachte sie, als sie den jungen Mann sah, ist der aber hübsch. »Hör mal, Kleine, auf wen wartest du denn?«, fragte er, nachdem er sie bemerkte. »Auf meine Schwester.« Da öffnete Elisabeth die Tür. Sie war sprachlos. »Aber, Anna, wartest du schon lange?« »Nein, ich bin gerade gekommen.« »Dann lass uns schnell
gehen!« Der junge Mann fragte: »Darf ich ein Stück mit euch gehen?« »Lieber nicht«, sagte Elisabeth. Der Junge war hartnäckig. »Ich habe aber denselben Weg. Also, warum nicht? Ihr habt doch keine Angst vor mir?« »Das fehlte noch«, meinte Anna, »wir sind ja zu zweit.« »Na also.« »Nein, nein«, sagte Elisabeth, »die Eltern würden böse sein.« »Also gut, kleines Fräulein, vielleicht später einmal.« »Bist du verrückt, Anna, mich einfach so zu überrumpeln?«, schimpfte Liesbeth. »Was ist denn
dabei?« »Tu nur nicht so dumm! Ich kenn dich doch. Hältst du mich für so naiv, dass ich nicht weiß, warum du mich ab- holst? Hoffentlich hat Mutter nichts gemerkt.« Elisabeth war ein bisschen böse und sagte den ganzen Weg kein Wort mehr. Mutter wartete schon. »Na, ihr zwei? Beeilt euch, wir sind schon beim Abendbrot!« »Was gibt es denn Schönes?« »Kartoffelsalat mit Hering.« »Prima, komm schnell, Liesbeth!« Alle saßen um den Tisch. Johanna mit der kleinen Hanna, Heinrich, Vater und
August. »Na«, fragte Johanna, »wie gefällt es dir?« »Nicht so gut, Johanna«, meinte Liesbeth zerknirscht. »Aber, Mädel, warum denn nicht?« »Das kann ich nicht so einfach erklären. Die Hausarbeit bei Mutter hat mir besser gefallen. Wisst ihr, die Frau Weber, die den schönen, großen Hut kaufte, bei der möchte ich lieber arbeiten. Ich glaube, sie mag mich auch gut leiden.« »Aber, Elisabeth, sie könnte dir doch nur eine Stelle im Haushalt bieten.« »Mutter, das würde mir auch genügen.« »Elisabeth, es ist aber ein Unterschied, ob man bei jemandem arbeitet oder ihn
nur hin und wieder sieht. Ist Frau Michels denn nicht gut zu dir?« Elisabeth war niedergeschlagen. »Doch, doch, es macht mir einfach keinen Spaß.« Mutter kam ihr etwas entgegen. »Aber, Kind, so schnell wirft man die Flinte nicht ins Korn. Ein paar Wochen musst du noch aushalten, und wenn es dir gar nicht gefällt, dann werde ich mich mit Frau Michels unterhalten, ob du dich für den Beruf eignest oder nicht. Bis dahin gib dir Mühe, sonst blamieren wir uns ja! Jetzt wird erst mal anständig gegessen, dann sieht die Welt gleich schöner aus. Dann setzt du dich mit Anna in die Laube! Die frische Luft wird dir
guttun.« »Oh ja, Mutter, ich glaube, das ist es, was mir fehlt.« Die anderen hatten gut zugehört. Als die beiden nach draußen gingen, sagte Johanna: »Mutter, ich glaube, Elisabeth gibt zu schnell auf, sie denkt, die Menschen sind alle so gütig wie du. Da wird sie lange suchen können.« »Sie ist ein bisschen verwöhnt, darum fällt es ihr schwer. Aber sie schafft es schon, ist ja erst ein paar Tage da.« »Etwas Spaß muss es ihr aber machen, sonst hat es keinen Sinn.« »Hast recht, Johanna, aber sie muss sich doch erst an die Fremden gewöhnen. Es
ist doch eine große Umstellung.« Johanna schaute auf die Uhr. »Mutter, wir müssen nach Hause, die kleine Hanna schläft schon ein. Heinrich, erhebe dich!« Doch Heinrich hatte Sitzfleisch. »Eben noch dies Spielchen zu Ende machen ...« »Gut, hoffentlich dauert es nicht mehr so lange.« »Nein, nein, Johanna, gute zehn
Minuten.«
Als sich die beiden verabschiedeten, meinte Mutter: »Lasst euch bald wieder sehen! Oh, Vater, wenn doch Mimmi ein bisschen Glück von den beiden
abbekommen hätte, ich würde wer weiß was dafür geben. Johanna und Heinrich sind glücklich und zufrieden wie selten eine Familie. Eine Mutter hat ein Gefühl dafür.« »Ja«, meinte Vater, »besonders eine wie du.« Mutter rief: »Kinder! Die beiden wollen sich verabschieden!« Johanna sagte: »Elisabeth, halte die Ohren steif, und du, Anna, lass dich mal bei uns sehn! Jetzt hast du noch Zeit.« »Gut, mach ich, vielleicht am Sonntag. Da kann Elisabeth mitkommen.« »Fein.« Mutter dachte: Dann ist das Haus aber
leer. Doch da hatte sie sich geirrt. Mittags um zwei trudelten Johann und Viktoria mit ihrem kleinen Spross ein. Vater hielt gerade sein Mittagsschläfchen. Mutter stopfte Strümpfe, sie hatte immer etwas zu tun. »Kinder, fein, dass ihr kommt. Ich setze gleich Kaffeewasser auf. Einen Kuchen habe ich jeden Sonntag.« »Das wussten wir doch. Aber Viktoria hat zur Vorsicht ein paar Waffeln gebacken.« »Prima, die essen wir noch nebenbei.« Die beiden saßen noch nicht richtig, da trudelten auch Wilhelm und Berta ein. Sie meinten: »Da haben wir wieder einen Riecher
gehabt.« »Kommt, es ist für alle reichlich da! Ich freue mich so, dass ihr gekommen seid. Vater lassen wir noch ein bisschen schlafen, er ist immer so schlapp. Das Alter macht sich bemerkbar. Bei der Schufterei bleibt das nicht aus. Wisst ihr, Kinder, Vater hat jetzt einen ganz jungen Kumpel. Der ist so nett und nimmt Vater die schwerste Arbeit ab. Das tut ihm so gut. Aber er sagt: ›Ich kann den Jungen doch nicht ausnutzen. Sicher, im Moment hat er viel mehr Kraft als ich, aber das Leben ist lang, da soll er sich nicht für mich abrackern.‹« »Ja, Mutter, so ist Vater, immer steht er
noch seinen Mann. Wer weiß, wie lange noch.« Die Enkel hingen sehr an Oma, aber an Opa noch mehr. Sie zankten sich oft wie die Wilden, jeder wollte auf seinen Schoß. Die beiden hatten acht Kinder großgezogen, da wussten sie, wie man mit ihnen umgehen muss. Berta fragte: »Wie geht es den Großeltern?« »Weißt du, Berta, mit Mutter ist das so eine Sache. Man weiß nie richtig, was mit ihr los ist. Ich glaube, es geht ihr nicht besonders gut. Aber ihr kennt sie ja.« »Wo sind denn Elisabeth und Anna?« »Sie besuchen Heinrich und Johanna. Da
könnt ihr gleich was erleben, wenn sie heimkommen.« Mutter weckte Vater ganz behutsam. »Johannes, du willst wohl den ganzen Sonntag verschlafen. Es ist gleich fünf.« »Gut, ich komme sofort.« Die Jungens riefen noch: »Schlafmütze!« »Wilhelmine, das ist aber nicht nett von dir, mich nicht zu wecken, wo doch die Kinder da sind.« »Macht nichts, Vater. Die Ruhe hat dir gutgetan. Jetzt ist es aus mit der Ruhe. Du weißt doch, die Enkelchen lassen dich nicht fünf Minuten in Frieden.« Wie aufs Stichwort stürzte sich alles auf
Opa. »Langsam, Kinder, einer nach dem anderen! Na, meine Kleinen, wart ihr schön brav?« »Sicher, Opa. Hast du was für uns?« »Da muss ich mal nachsehen.« »Dürfen wir mitkommen?« »Wenn ihr wollt.« »Opa, was ist es denn?« »Nur ein paar Stückchen Zucker.« Heute hatte Opa Kandis, da freuten sich die Kinder. »Passt aber gut auf, dass ihr ihn nicht verschluckt!« Viktoria rief: »Fritz, jetzt lasst Opa erst mal Kaffee trinken! Dann wollt ihr drei doch bestimmt ein
Spielchen machen.« Das war für Opa immer eine besondere Freude, wenn er die Söhne betrügen konnte. Oma sagte: »Passt auf, Jungens, ihr wisst doch, wie gern Opa schummelt.« Langsam trudelten auch Liesbeth und Anna ein. »Vater, dürfen wir mitspielen?«, fragen sie. »Was denn?«, fragte Wilhelm. »Ihr könnt doch gar nicht spielen.« »Lass es lieber nicht drauf ankommen! Die zwei haben mich schon oft reingelegt.« Mutter fragte: »Wie war es bei
Johanna?« »Prima. Sie hatte so leckere Sachen gebacken, und der Tisch war so hübsch gedeckt, als käme der Kaiser von China. Mutter, Johanna ist einmalig.« »Das weiß ich.« Ein bisschen Trauer legte sich trotzdem auf ihr Herz. Sie dachte an Fritz: Der arme Junge! Aber er würde sich mitfreuen, wenn er sehen könnte, in was für einer harmonischen und glücklichen Ehe die beiden leben. Besonders, da seine geliebte Johanna so zufrieden ist und seine Eltern nicht auch noch auf so eine liebe Schwiegertochter verzichten müssen. Beim Abschiednehmen meinte Wilhelm
zu seinen jüngeren Schwestern: »Ihr zwei werdet immer hübscher. Wie macht ihr das nur?« Elisabeth streckte ihm die Zunge raus: »Wir haben ein besonderes Rezept.« »Schaut euch das Küken an! Ich möchte dir am liebsten den Hintern versohlen.« »Versuch es doch mal! Du traust dich ja nicht.« »Nein, Schwesterchen, mit dir leg ich mich nicht an, du würdest immer den Kürzeren ziehen. Vielleicht müsste ich dir noch die Tränen abwischen. Es ist ja alles nur Spaß, Elisabeth.« Berta fragte: »Mutter, wie geht es Mimmi? Ich habe sie lange nicht
gesehen.« »In ein paar Tagen ist es so weit. Besuch sie doch mal!« »Mach ich, Mutter.« Als alle gegangen waren, sagte Vater: »Unsere Tiere denken heute, sie kriegen nichts zu fressen.« »Ich helfe dir schnell. Dann wird es Zeit, schlafen zu gehen. Ich bin auch schon hundemüde.« »Das glaube ich dir, Mutter, die Kinder bringen doch viel Unruhe ins Haus. Du willst das nur nicht wahrhaben. Ich sehe dir an, wie abgespannt du bist.« Wilhelmine war zufrieden. »Das macht nichts, Vater, oder möchtest du etwa auf ihren Besuch
verzichten?« »Oh nein, Mutter, so habe ich es nicht gemeint. Ich freue mich genau wie du, wenn sie recht oft kommen.« Anna und Elisabeth räumten noch schnell auf. Dann gingen sie auf ihr Zimmer, legten nur ihr Zeug für den anderen Morgen bereit und dann ab ins Bett. Die Mädels tuschelten noch. Anna sagte: »Elisabeth, ich denke immer, unser Haus wird leer, dabei wird es immer voller.« »Aber nur an den Sonn- und Feiertagen, da haben Vater und die Jungens frei, das wollen sie ausnutzen. Vor allen Dingen wollen sie den Eltern eine Freude mit ihrem Besuch machen. Vater spielt doch
zu gerne Schafskopf. Es ist ja das einzige Vergnügen, das er noch hat.« »Es ist schon gut, Elisabeth, aber es wäre auch schön, wenn wir die Eltern mal einen Sonntag für uns allein hätten.« »Gut, Anna, dass das niemand gehört hat.« »Meinst du, sie verstünden es nicht?« »Doch, doch, nun schlaf aber, es wird Zeit. Gute Nacht, Anna.« »Gute Nacht, Elisabeth. Was meinst du, ob der Junge morgen Abend wieder vor eurem Geschäft steht?« »Anna, gib endlich Ruhe! Sonst können wir nicht einschlafen und sind morgen hundemüde.« Elisabeth dachte auch an den jungen
Mann, aber sie gab Anna keine Antwort mehr. Die Eltern schliefen längst. Sie konnten das Ganze nicht mehr so verkraften. Am Morgen waren wieder alle fit. Anna und Elisabeth gingen zusammen aus dem Haus, sie hatten denselben Weg. Anna musste um acht in der Schule und Liesbeth im Geschäft sein. »Soll ich dich heute Abend abholen, Elisabeth?« »Untersteh dich!«, raunzte Liesbeth. Anna ließ nicht locker. »Was ist denn dabei? Aber du erzählst mir, wenn er da war.« »Ja, ja, nun verschwinde schon und pass auf in der
Schule!«
Anna lachte. »Mach ich, Schwesterchen.«
Elisabeth machte es auch heute einfach keinen Spaß auf Arbeit, so sehr sie sich auch bemühte, schon Mutter zu Liebe. Mutter hatte es längst gemerkt und sich fest vorgenommen, mit Elisabeths Chefin zu reden. Frau Michels merkte auch bald, dass es für das Mädel nicht das Richtige war. Sie gab am Abend Elisabeth einen Brief für die Mutter mit. Elisabeth fragte gleich: »Habe ich etwas falsch gemacht?« »Nein, Liesbeth, du bist sehr fleißig, aber darauf allein kommt es nicht an. Man kann niemandem einen
Beruf aufzwingen. Es muss schon eine gewisse Zuneigung zu diesem Beruf bestehen. Und sei mal ganz ehrlich, dir macht es keinen Spaß, Hutmacherin zu sein.« Elisabeth nickte nur mit dem Kopf. »Kind, wie ich deine Eltern kenne, werden sie Verständnis für dich haben. Du kennst doch Frau Weber. Sie hätte dich gern in ihrem Haushalt. Sie führt ein großes Haus. Du kannst alles bei ihr lernen. Kochen, Servieren und noch manches mehr. Sie will dich nicht als Dienstmädchen, sondern als Haustochter. Du würdest natürlich nichts verdienen, außer Taschengeld und Verpflegung. Hättest du Lust? Sie würde sich
freuen.« Elisabeth war begeistert. »Oh ja, ich werde gleich mit Mutter reden.« »Gut, Elisabeth, es tut mir so leid, dass es bei uns nicht so geklappt hat. Wir hatten dich alle so gern. Vergiss den Brief nicht! Bis morgen. Auf Wiedersehen.« Als Liesbeth aus der Tür trat, stand der Bengel doch wieder da. Er gibt einfach nicht auf, dachte sie. »Heute Abend darf ich aber ein Stück mit Ihnen gehen? Sag bitte ja!« Elisabeth meinte: »Wozu denn?« »Dazu, dass ich Sie ein Stück des Weges bringen darf. Nur um mich ein bisschen mit Ihnen zu
unterhalten.« »Wenn uns meine Freunde oder Brüder sehen, werden sie Sie verprügeln.« Der junge Mann ließ sich trotzdem nicht abschrecken. »Sie wollen mir wohl Angst machen, aber da haben Sie kein Glück.« Sie waren schon ein ganzes Stück zusammengegangen, da meinte Elisabeth: »Ich hatte es noch gar nicht erlaubt, mich zu begleiten. Aber jetzt muss ich allein weitergehen, sonst gibt es Ärger mit den Eltern. Mutter hat ausdrücklich gesagt, ich soll nicht mit Jungens rumtrödeln.« »Also gut, Mädel, bis morgen. Wollen Sie mir nicht wenigstens Ihren Namen
sagen?« »Bitte, ich heiße Elisabeth Biel.« »Und ich Heinz Lege, aber meine Freunde nennen mich Legen Kepp.« »Das ist ja ulkig. Meine Familie sagt meistens Liesbeth.« Er meinte: »Ich finde aber Elisabeth viel hübscher.« Sie hatten den halben Weg schon
zurückgelegt, da rannte Elisabeth los. Den Brief von ihrer Chefin hatte sie ganz vergessen. Als sie zu Hause ankam, war sie ganz außer Atem. »Aber, Elisabeth«, rief Mutter, »warum bist du so gerannt, als wäre einer hinter dir her?« »Wer weiß?«, sagte Anna
grinsend. »Du wurdest nicht gefragt!«, fauchte Liesbeth. Elisabeth gab Mutter den Brief und erzählte, was Frau Michels ihr vorgeschlagen hatte. Sie war sprachlos, weil Mutter einverstanden war. »Ach, Kind, ich habe doch längst gemerkt, dass dir der Beruf nicht gefiel.« »Aber, Mutter, ich freue mich so, dass du einverstanden bist.« »Elisabeth, das ist deine letzte Chance, nutze sie!« »Ja, Mutter, das verspreche ich dir. Was wird Vater sagen?« »Dasselbe, mein Mädel.« »Dann wollen wir es gleich morgen
hinter uns bringen.« Anna konnte die Zeit nicht abwarten, Elisabeth allein zu sprechen. Aber sie hatte Pech. Elisabeth hatte es längst gemerkt und dachte: Du dumme Pute, heute schmierst du dich an. Du wartest schön, bis wir schlafen gehen. Anna war ja auch nur eineinhalb Jahre jünger, aber viel reifer als Elisabeth. Im Moment hatte sie nur Jungen im Kopf. Sie nahm alles ernst, dabei war es für die Jungen nur Spaß. Nur einer von ihnen nahm es schon sehr ernst, obwohl er auch erst sechzehn war. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, Anna zu
heiraten.
Die anderen lachten ihn aus. »Gustav, sie geht doch noch zur Schule.«
»Das weiß ich, aber in zwei Wochen kommt sie raus. Ich kann auch gut noch zwei bis drei Jahre warten.«
Seine Freunde schüttelten die Köpfe. »Mensch, du bist ja verrückt.«
»Wartet nur ab, ich werde es euch schon beweisen.«
FLEURdelaCOEUR Ich habe auch diese Neuauflage eurer Familiengeschichte sehr gern gelesen. LG fleur |