Waldkauz Zach auf Abwegen
Um die Mittagszeit erreichten wir Gattern.
Ein Dorf mit fast dreihundert Einwohnern.
War es jedenfalls mal. Als Vorhut flog ich einmal durch die Gassen.
Es gab keinerlei Lebenszeichen.
Eine kurze Info an Odin, und schon erschien
der Hund am Dorfeingang und kontrollierte die
Häuser. Eine halbe Stunde später kehrten wir zu den
Menschen zurück.
»Lasst uns nachsehen, ob wir noch
etwas
Brauchbares finden!«, meinte Giada, »vielleicht
ein funktionierendes Bad.«
»Machen wir. Zach kann inzwischen versuchen, Hajo aufzuspüren.
Dann haben wir beim Aufbruch gleich die richtige Richtung.«
Irgendetwas stimmte mit Erik nicht. Normalerweise wäre er
sofort losgeschossen, um Hajo keine Sekunde zu schenken.
Jetzt stand er da, sah die Menschenfrau an, grinste und stimmte einer
unnötigen Verzögerung zu.
Na ja, keine Pause für mich.
Während sich meine Kameraden ein
schickes Nest suchten,
machte ich mich auf, die Plünderer zu suchen.
Die grobe Richtung war klar, Kreise zu fliegen nicht notwendig.
Tagsüber zu fliegen machte mir immer noch Angst.
Es gab kaum Deckung vor den tagaktiven Greifern.
Deshalb musste ich konzentriert bleiben,
konnte nicht einmal meine Gedanken zu Lea schweifen lassen.
Meine Stimmung sank.
Zweimal versuchte ich, mir eine Maus zu fangen,
zweimal griff ich ins Leere.
Meine Stimmung sank
tiefer.
Hungrig und übellaunig machte ich erst einmal eine Pause.
Eine hohle Weide diente mir als Unterschlupf.
Als die Nacht anbrach, flog ich weiter.
Aus dem Unterholz kam ein leises Fiepen.
Die Maus hatte keine Chance.
Sie bemerkte mich erst, als meine Krallen in
ihr Genick einschlugen.
Das warme, blutige Fleisch verbesserte meine
Laune enorm. Gestärkt kam ich meiner Aufgabe nach.
Gegen Morgen holte ich Hajos Leute ein.
Sie hatten sich in einer Stadt namens Liezen breitgemacht.
Ihre Spur zu finden und ihr zu folgen war einfach.
Eine Elefantenherde hätte keine deutlicheren Spuren hinterlassen können.
Ich erreichte die Stadt völlig unbehelligt.
Roks, die ich unterwegs bemerkt hatte, waren
zu weit weg, um Kenntnis von mir zu nehmen.
Ich kreiste hoch über der Stadt und versuchte,
die Anzahl der Plünderer zu schätzen. Ich
kam
auf siebenundvierzig Menschen. Dazu kam noch
eine große Horde südlicher Roks, die etwas abseits lagerten.
Ich hatte genug gesehen.
Niemand hatte mich bemerkt.
Gemächlich ließ ich mich auf das nächste
Waldstück zu gleiten. Das Jagen verschob ich auf den Abend.
Jetzt musste ich erst mal schlafen.
Im Wipfel einer alten Zeder fand ich ein geeignetes Versteck.
Sofort fiel ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Bei Einbruch der Dämmerung wurde ich
wach.
Zur Orientierung musste ich hoch in die Luft, ein
paar Kreise fliegen.
Hier in den Bergen hatte ich arge Probleme mit den Richtungen.
Aber nun ging es auf direktem Weg zurück zu meinen Kameraden.
Plötzlich stellten sich meine Nackenfedern
auf. Ich ließ mich absacken und verkroch mich in
einem knorrigen Haselstrauch.
Jetzt erst blickte ich mich um. Direkt über mir
verdunkelten die Schwingen eines
riesigen Vogels den Mond.
Aber war das wirklich ein Vogel?
Er hatte Ähnlichkeit mit einem Reiher. Den
langen Hals mit dem spitzen Schnabel nach vorne gestreckt,
kreiste er über mir. Mein Schnabel wurde ganz trocken.
Der Vogel brannte.
Das war keine Einbildung!
Er leuchtete glutrot. Seine buschigen
Schwanzfedern und seine großen Schwungfedern
zogen Flammen hinter sich her.
Ich drückte mich tiefer in mein Versteck.
Das Vieh kreiste noch ein paar Minuten
über
mir. Gerade so, als könnte es mich spüren.
Dann verschwand es Richtung Liezen.
Am ganzen Körper zitternd nahm ich meine
Reise wieder auf.
Einige Stunden und sechs erlegte Mäuse später
stieß ich auf meine Gefährten.
Ich übermittelte Odin alles, was ich in Erfahrung gebracht hatte,
einschließlich meiner Begegnung mit dem Feuervogel.
Erik gönnte mir keine Pause. Wir zogen sofort
weiter.
»Sei vorsichtig, wenn du dem Vogel begegnest!
Niemand weiß genau, wozu Feuervögel in der Lage sind.«
Odins Gedanken klangen besorgt.
»Ich pass auf.« Genau genommen wollte ich
dem Vogel nicht noch einmal begegnen.
Die nächsten Stunden vergingen ruhig. Das stetige Bergauf
war keiner von uns gewöhnt. Auch mir nahm die dünne
Luft den Atem beim Fliegen.
Wir hielten in gerader Linie auf Liezen
zu.
Erik war sich sicher, dass sich Hajo nicht die
Mühe machen würde, viele Wachen aufzustellen.
Weswegen auch? Er hatte die Roks als Verbündete,
und freie Menschen gab es nur wenige.
Apropos Roks; wir liefen geradewegs auf eine
Horde Roks zu. Ich musste Odin warnen.
»Wie viele sind es? Und welcher Art?«
Odins Fragen ließen mich noch einmal im vollen Tempo
die Roks überfliegen. »Zwölf, keine südlichen Roks.«
»Gut.« Damit schoss Odin zu
Erik.
Noch bevor Odin sich wieder meldete, war
klar, dass wir nicht ausweichen würden.
Meine Gefährten hatten bereits Kampfposition eingenommen.
»Wir geh’n direkt drauf«, klang es dann auch
in meinem Kopf.
Ich nahm wieder meine Beobachtungsposition ein.
Inzwischen hatten die Roks die Menschen auch bemerkt.
Sie zogen ihre schartigen Schwerter und rannten
auf meine Gefährten
zu.
Das heißt auf Erik.
Giada und Odin waren seitlich abgetaucht,
während Erik einfach auf die Roks zu spazierte.
Der Anführer stürzte sich auf Erik!
Und stoppte abrupt, als Eriks Schwert seinen
Hals durchbohrte. Mein Gefährte hatte sein
Schwert so schnell gezogen, dass ich es gar nicht
mitbekommen hatte. Zeitgleich nahmen Giada
und Odin die Horde in die Zange. Giadas
Klinge
zuckte schneller durch die Körper, als ein ungeübtes
Auge sehen konnte.
Der Hund war noch schneller.
Als Erik sich dem Trupp zuwandte, waren die
Roks nur noch eine blutige Masse.
Das Team wurde immer effizienter. Keiner
von uns war verletzt. Es ging sofort weiter. Erik
drückte jetzt wieder aufs Tempo. Gegen Abend
sahen wir die Silhouette von Liezen.
Odin rückte zu mir auf. »Wir beide kundschaften die Stadt
aus.«
»Gut.« Ich sackte tiefer.
»Sei vorsichtig, Vogel!«
»Seit wann bist du so fürsorglich?«
»Na ja, du bist der Einzige, der fliegen kann.«
Genug geflachst!
Langsam drangen wir in die Stadt ein.
Ich führte Odin zu der Stelle, wo ich die Plünderer gesehen hatte,
vorbei an dem Lindwurm aus Metall bis zu dem Platz vor
dem Rathaus.
Überall lag Müll herum.
Es stank entsetzlich.
Aber es waren weder Menschen noch
Roks in der Nähe.
Die Horde muss kurz nach mir aufgebrochen sein.
Odin war bereits auf dem Weg zum Ortsausgang.
»Sie halten sich weiter an die Straße Richtung Graz.
Lass uns Erik informieren!«
»Lauf schon mal vor! Ich komme sofort nach.
In dem kleinen Waldstück da vorne habe ich
Haselmäuse gesehen. So eine Delikatesse kann
ich mir nicht entgehen
lassen.«
»Gut, aber mach schnell!«
Ich machte mich auf den Weg zu dem Waldstück.
Da es inzwischen schon dämmerte, waren meine Erfolgsaussichten,
die flinken Haselmäuse zu fangen, ganz gut.
Ich wechselte in den Jagdmodus. Ich war gut in Form;
die Haselmäuse bemerkten das Verderben nicht, das auf sie zu kam.
Ich war völlig auf meine Beute fokussiert. Ei-
ne Haselmaus zu erwischen war eine Herausforderung.
Sie waren viel flinker als die trägen Haus- und Feldmäuse.
Kurz irritierte mich ein Schatten über mir.
Doch das rettete die Maus nur kurz.
Ich erwischte sie mitten im Sprung. Meine
Krallen schlugen ihr ins Genick.
Ich suchte mir einen bequemen Ast, um meine
Beute zu verschlingen. Der frische Blutgeruch
machte mich ganz kribbelig.
»Gibst du mir was ab?«
Mir fiel die Maus aus dem Schnabel.
Das konnte nicht
sein!
»Na na, Zach. So mit offenstehendem Schnabel bist du
nicht so beeindruckend.«
Meine Kiefer klappten zusammen. »Lea?«
»Ja, meinst du, ich kann nicht fliegen?«
»Ähh.«
»Na, was ist jetzt mit der Maus?«
»Sofort! Flieg nicht weg.« Meine Lea war hier.
Unglaublich! Und sie nahm mich wahr.
Überglücklich sammelte ich die Maus auf,
flatterte wieder hoch zu Lea und legte ihr die Beute zu Füßen.
»Danke, Süßer«, säuselte
sie.
»G-G-Gerne«, stotterte ich.
»Komm mit! Ich habe eine gemütliche Baumhöhle
für uns gefunden.«
Das ließ ich mir nicht zweimal sagen.
Ich folgte ihr durch den Wald, über Lichtungen,
hoch hinaus auf den Berg. Wieder hatte ich das Gefühl,
als würde ein Schatten auf mir liegen.
»Kommst du?« Lea drängte.
Ich beschleunigte und jagte in vollem Tempo hinter ihr her.
Keinesfalls sollte sie denken, ich sei eine lahme Ente.
An ihrem Bau angekommen, bremste sie
mich
dann aus. »Ich hab noch Hunger, Zach. Fängst
du mir ein paar Mäuse?« Dabei schmiegte sie sich eng an mich.
Die nächste Stunde verbrachte ich mit Jagen.
Ich brachte ihr sieben Mäuse.
Jetzt ließ sie mich in ihr Nest! Frustriert schaute ich sie an.
Da lag meine Lea, tief und fest am Schlafen.
Ich kuschelte mich ganz nah an sie ran.
Schnell schlief auch ich ein.
Als ich aufwachte, schnitt mir ein stechender
Schmerz durch den Kopf. Gleichzeitig
schien Lea zu flimmern.
Egal! Ich war einfach nur glücklich, in ihrer Nähe zu sein.
Als Lea aufwachte, fragte sie gleich nach Futter.
Sofort flog ich los.
Maus auf Maus endete in meinen Krallen. Die
Haselmauspopulation war am Aussterben.
Erst als ich völlig erschöpft war, gab sich Lea zufrieden.
Jetzt war mir nach einer Belohnung.
Trotz Erschöpfung begann ich zu balzen.
Und wieder enttäuschte Hoffnung!
Offensichtlich satt, zeigte mir meine Angebetete
die kalte Schulter.
So ging es den ganzen Tag weiter.
Ich ließ mich dadurch nicht entmutigen. Bei manchen Weibchen
dauerte es halt länger, sie zu erobern.
Zur Dämmerung wollte ich mich wieder an sie kuscheln.
Aber sie schrie plötzlich ganz jämmerlich auf.
Alles flimmerte.
Ich konnte sie kaum noch erkennen.
Panik stieg in mir auf. »Lea, was ist!?«, schrie ich.
Was passierte mit meinem Engel?
Ihre Schreie wurden immer lauter. Ihr Körper verformte sich.
Jämmerlich fiepte ich mit.
»Zach!«, dröhnte es in meinem Kopf, »komm zu dir!«
»Häh?«, antwortete ich wie ein Depp. Was
war das überhaupt für eine Stimme?
»Zach!« Lauter diesmal.
Mein Kopf wollte platzen.
Und Lea?
Lea sah jetzt aus wie der verdammte Feuervogel.
Nur kleiner.
Was war hier los? Die Panik krallte mich
wieder. »Lea!«, schrie ich.
»Das ist nicht Lea!« Wieder diese
verfluchte
Stimme in meinem Kopf. Die musste da raus.
Kraftvoll schlug ich meinen Kopf gegen den Ast.
Und ... fing an zu taumeln.
Es half nichts. Die Stimme blieb.
»Komm endlich zu dir, Zach, verfluchter Vogel!«
»Lass mich in Ruhe, Odin!«
Odin?
Wo kam denn der Hund jetzt her?
Und was war mit Lea?
»Endlich, Zach. Deine kleine Freundin war nie hier.
Was da im Nest sitzt, ist des Feuervogels
Junge.
Und du fütterst es die ganze Zeit.«
Ich schüttelte mich. Vor mir saß wirklich ein
kleiner Feuervogel.
»Hast du es kapiert?« Odins Stimme klang ungeduldig.
Ich schaute mich um. Unter mir hatten sich
meine Gefährten versammelt.
Odin stand auf dem Rücken des Feuervogels.
An dessen Kopf bildete sich eine riesige Beule.
Giada ließ grinsend eine selbstgebaute
Schleuder ums Handgelenk kreisen.
»Was ist mit mir passiert?«, wollte ich
von Odin wissen.
»Das Vieh hier unter mir hat deine Gedanken
manipuliert, damit du seine Brut fütterst. Hatte
ich dich nicht vor ihm gewarnt?«
Hmm, als hätte ich irgendetwas dagegen unternehmen können.
Also keine Lea. Todtraurig flog ich zum
Hund. »Und jetzt?«
»Jetzt suchen wir Hajo. Du erinnerst dich?
Deshalb sind wir hier.«
»Ja.« Aber ohne Lea. Was machte das dann
für einen Sinn? »Aua!« Odin hatte mir in
den Po
gezwickt. »Was soll das?«, keifte ich ihn an.
»Hör auf mit dem Gejammer! Du wirst deine
echte Lea schon noch bekommen. Jetzt müssen
wir weiter. Wenn der Feuervogel aufwacht, sollten
wir schon weit weg sein.«
»Warum dreht ihr ihm nicht einfach den Hals um?«
»Magische Wesen zu töten bringt Unglück«,
erklärte Odin, »außerdem haben wir
bestimmt
sein Revier verlassen, bis er zu sich kommt.«
Mehr Erklärungen würde ich von dem Hund nicht bekommen.
Immer noch tieftraurig ließ ich mich auf
Odins Rücken nieder und von ihm Richtung Straße tragen.
Zum Fliegen war ich zu deprimiert.
Erik und Giada schauten sich an, zuckten mit
den Schultern und nahmen Odin und mich in die Mitte.
Als wir Liezen erneut erreichten, hatte ich
mich wieder einigermaßen gefangen.
Ich nahm meinen Platz an der Spitze ein
und
sondierte den Weg, Odin dicht unter mir.
Wir mussten nicht lange suchen. Die Plünderer hatten
sich immer noch nicht die Mühe gemacht, ihre Spur zu verwischen.