Schreibparty 106: Novemberbilder
So zwiespältig oder traurig viele unserer reichhaltigen Erinnerungen auch seien, eines Tages werden sie unerwartet nütz-lich.
Vaters Tante Trudel war ein Muster-exemplar ihres Sternbilds. Gutmütig und großzügig zu allen Anwesenden, mür-risch herziehend über alle Abwesenden. Uns Kinder verwöhnte sie regelmäßig mit Unmengen Süßigkeiten, die nicht nur wegen der Masse keine Dankbarkeit auslösten, sondern auch, weil sie sich draußen über unsere angebliche Gier
beklagte, wegen der sie noch immer ein wenig arbeiten müsse.
Sie und andere Leute lehrten uns schnell, eine menschliche Vielfalt zu akzeptieren, notfalls distanziert zu ertragen.
Tante Trudel verbrachte ihr Leben „un-bemannt", abgesehen von kürzeren Be-kanntschaften mit den Erzeugern ihrer beiden Kinder: in einer Zeit lange vor DNA-Tests und lange vor Frauenrechten; in einer Kleinstadt mit schnellen bös-willigen Vorurteilen. Unser Vater mußte oft ihr Türschloß auswechseln, weil der Hauswirt „ganz sicher" in ihrer kleinen schmuddligen Wohnung herumspionierte:
Als sie nämlich heimkam, stand ihr Glas plötzlich woanders. Doch auch neue Schlösser halfen freilich nicht lange.
Tante erzählte einmal von ihrer Schwe-ster, die von deren Mann geprügelt wur-de, wenn das Essen nicht pünktlich auf dem Tisch stand. Ich sagte „Du hast es da alleine besser!" Sie stutzte und lä-chelte dann: „Da hast du eigentlich recht."
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Draußen herrschten der übliche kalte dunkle November sowie ein kaum er-forschtes tückisches Virus. Zum großen
Glück hatten die Kollegen uns allen rasend schnell den Rechnerzugriff aus der Ferne eingerichtet, die Corona-Quarantäne traf uns also nicht ganz so hart. Die menschlichen Kontakte fehlten aber doch. Einmal stand ich nachts kurz auf und zuckte zusammen: Wie kommt die Suppentasse in den Flur? Hier war einer drin und signalisiert damit grin-send, „Hej, wir haben dich!" ─ Es war nur ein kurzer Blitz, dann griff ich mir an die Stirn und lachte: „Huhu, Tante Trudel …"
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