Kurzgeschichte
Unser Nest

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"Unser Nest"
Veröffentlicht am 19. November 2024, 12 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

1953 wurde ich in Husum geboren. Ich bin an der Nordsee und in Frankfurt aufgewachsen. Meine große Leidenschaft sind die Literatur und das Schreiben. Zahlreiche Gedichte und Geschichten von mir haben in Anthologien und Gemeinschaftsbüchern ihren Platz gefunden. Seit zehn Jahren schreibe ich Romane, von denen bislang sieben veröffentlicht wurden. In meinen Büchern zeichne ich menschliche Grenzsituationen, die immer von einem Funken Hoffnung ...
Unser Nest

Unser Nest


Beitrag zur Schreibparty 106

Thema: Novemberbilder

Wortvorgaben:
Dankbarkeit
dunkel
Erinnerung
reichhaltig
Vielfalt
ziehen


Unser Nest

Der Sommer ist so plötzlich gealtert. Kurze Zeit hat der goldene Oktober sein Licht in die Welt geworfen. Früchte reiften und versprachen eine reichhaltige Ernte. Jetzt hat sich der November mit den ersten Nebeltagen herangeschlichen und Feuchtigkeit mitgebracht. Die Kastanie vor dem Haus wirft das Laub ab, Blätter verrotten auf dem Gartenweg. Kühler ist es geworden und dunkler. Ein Geruch nach faulendem Obst hängt in der Luft. Vermischt sich mit dem Duft nach Holz und Pilzen. Die Jahre haben Spuren hinterlassen. Der

Gartenzaun ist marode, die Beete sind mit Unkraut übersät, die grüne Farbe der Fensterläden blättert ab. Alles ist so anders. Was mache ich hier? Was suche ich? Warum bin ich nach all den Jahren hierhergekommen, ausgerechnet jetzt, wo mich der Novemberblues gefangennimmt? Den Schlüssel halte ich fest in der Hand, gehe bis zur großen Eingangstür, verharre, versuche die Furcht wegzuatmen.


Mir dämmert die Erinnerung an die Zeit, als ich hinauf ins Kämmerlein gestiegen bin. Die Treppe hat unter meinem Leichtgewicht geknarzt. Und wenn du

kamst und ich schon auf dich wartete, hörte ich das Ächzen der Stufen. Wir hatten uns dort oben ein Nest gebaut. Fernab der Alltagssorgen. Wenn wir aus dem Fenster schauten, lag der See vor uns. Im Sommer spendete der große Baum ein wenig Schatten, im Winter ließen seine kahlen Äste blasse Sonnenstrahlen hindurch. Unser Nest gab uns ein Zuhause. Im Sommer war es heiß, im Winter kalt, an den Fensterscheiben wuchsen Eiskristalle. Wir haben Schweiß und Frösteln weggeliebt. Das weiche Licht erinnere ich, den herben Wein und Mahlers Fünfte, zu deren Töne wir im Traum versanken. Deine Worte sind mir

genauso eingebrannt wie deine dunklen Augen und die großen Hände. Wie die Tage voller Lachen und Leichtigkeit, wie die wilden und zärtlichen Nächte. Eine Vielfalt an Empfindungen, die uns gleich einem Kaleidoskop durchströmten. Wir fühlten uns beheimatet, für Stunden manchmal nur, aber das reichte bis zum Wiedersehen. Doch dann kam der Tag, als du mir von Abschied sprachst. Es war auch November, ein kühler grauer Tag, an dem der Nebel alles verdeckte. Dein Blick fiel an mir vorbei in tiefste Stille. Als du gingst, schwieg die Treppe und ich wusste, ich würde ihr Ächzen nie wieder hören.


Ich betrachte den Schlüssel, zögere, stecke ihn in meine Tasche. Dann wandert mein Blick zum Himmel. Ein Schwarm Vögel fliegt übers Haus hinweg. Die letzten Kraniche, die nach Süden ziehen. Ich werde nicht hinaufgehen. Unser Nest ist leer. Ich lausch' der Trauermelodie in mir. Dort unterm Dach ist alles alt, verstaubt, verbraucht. Und obwohl mich ein Hauch von Wehmut streift, fühle ich tiefe Dankbarkeit für das, was wir hatten.




Text: Enya Kummer
Coverbild und Covergestaltung:
Enya Kummer
Innenbild: by Pixabay

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Hörbuch

Über den Autor

Enya2853
1953 wurde ich in Husum geboren. Ich bin an der Nordsee und in Frankfurt aufgewachsen. Meine große Leidenschaft sind die Literatur und das Schreiben. Zahlreiche Gedichte und Geschichten von mir haben in Anthologien und Gemeinschaftsbüchern ihren Platz gefunden. Seit zehn Jahren schreibe ich Romane, von denen bislang sieben veröffentlicht wurden. In meinen Büchern zeichne ich menschliche Grenzsituationen, die immer von einem Funken Hoffnung begleitet werden. Letztes Jahr wurde mein erstes autobiografisches Werk veröffentlicht: Wenn der Raps blüht.
Zurzeit arbeite ich an der Fortsetzung. Arbeitstitel: Storchenjahre.
Ich habe Mathematik, Psychologie und Pädagogik studiert und war im Bildungsbereich tätig.
Inzwischen genieße ich das Rentendasein und die Beschäftigung mit meinen Enkelkindern. Ich bin außerdem als Lektorin und Korrektorin tätig.

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FranckSezelli Liebe Enya,
eine wehmütige und zugleich schöne Erinnerung an eine vergangene Liebe. Die wehmutsvollen Gedanken passen sehr gut in die graue, nasskalte Jahreszeit. Ich habe deinen sprachlich sehr gut verfassten Textr gern gelesen.
Liebe Grüße
Franck
Gestern - Antworten
Enya2853 Lieber Franck,
ganz herzlichen Dank für deinen lieben Kommentar und die Talerchen. Ich freue mich, dass dir meine kleine Geschichte gefallen hat. Ja, in diesen grauen Tagen erfasst einen zuweilen die Wehmut und man erinnert sich ...

Liebe Grüße und einen schönen Tag.
Enya
Heute - Antworten
Memory Liebe Enya,

schaue gerade mal wieder hier vorbei und finde deine wunderbare traurig schöne Geschichte.
So ist es mit Erinnerungen. Manchmal schmerzen sie, manchmal zaubern sie ein Lächeln ins Gesicht.
Manche holt man immer wieder hervor, andere möchte man irgendwo versenken.

Du hast irgendwie alles ein wenig vereint und zu einem puren Lesegenuss zusammengefügt. Großes Kino!

Ganz liebe Grüße
Sabine
Gestern - Antworten
Enya2853 Liebe Sabine,
wie schön, dass du vorbeigeschaut hast. Ich freue mich sehr über deine lieben Worte und die Geschenke. Erinnerungen tragen wir mit uns, die wunderbaren und auch die manchmal traurigen. Aber eben das macht Leben aus.
Herzlichen Dank für alles.

Ich wünsche dir einen schönen Tag.
Liebe Grüße
Enya
Heute - Antworten
Kornblume Hallo Enya,
schöne Erinnerungen sollte man ab und zu hervorkramen. Vor allem die
1. große Liebe mit all den Schmetterlingen im Bauch und der rosaroten Brille auf der Nase ist so besonders, dass sie uns selbst im hohen Alter zum Lächeln bringt.
Beim Lesen Deiner schönen Geschichte verspürte auch ich ein kribbeln im Bauch.Habe mein Fotoalbum von damals hervorgekramt, um mir die Bilder von ihm nochmal anzuschauen. Jetzt nach langer Zeit, ohne Groll. Das war damals, beim abruten Auseinandergehen ganz anders..
Kornblumenblaue Grüße an Dich.
Gestern - Antworten
Enya2853 Liebe Kornblume,
wer kennt sie nicht, diese erste große Liebe, an die man sich meist gern erinnert. Ja, es ist gut, wenn man nach vielen Jahren ohne Groll auf das Erlebte zurückblicken kann.
Ganz lieben Dank für deinen Kommentar.
Liebe Grüße mit ein paar Sonnenstrahlen
Enya
Heute - Antworten
FLEURdelaCOEUR Liebe Enya,
das ist so ganz besonders schön, weil einem die Trauer über den Verlust nicht den Atem nimmt, sondern die Dankbarkeit ein Gefühl des Ausgleichs hervorruft. Du schreibst wirklich außergewöhnlich gut!
Kann dich zu dieser kleinen Herbstgeschichte nur beglückwünschen!

Ganz liebe Grüße,
fleur
Gestern - Antworten
Enya2853 Liebe Fleur,
hab ganz herzlichen Dank für deine lieben Worte und die Beigaben wie Herz und Coins. Du kennst mich, auch bei traurigen und schweren Ereignissen (Texten) brauche ich immer diesen positiven Fingerzeig.
Ich freue mich, dass dir die kleine Geschichte gefällt.

Einen schönen Tag und liebe Grüße
Enya
Heute - Antworten
Lagadere 

Ich will es mal so sagen:
Dürfte ich auf eine einsame Insel nur EINEN Text von Dir mitnehmen, könnte ich mich nicht entscheiden, ob diesen hier oder meinen Liebling "Schattenkind".
Ich würde das so lösen: Diesen hier mitnehmen und "Schattenkind" auswendig lernen und auf der Insel schnell niederschreiben!

:-)

Beeindruckte Grüße
Uli

Vorgestern - Antworten
Enya2853 Moin Uli,

hüstel ... das ist nun wirkklich zu viel der Ehre - meine Texte auf einer einsamen Insel ...
Ich freue mich aber, dass dir diese Minigeschichte auch gefällt.
Hab herzlichen Dank.

Liebe Grüße und einen schönen Tag.
Enya
Gestern - Antworten
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