Beitrag zur Schreibparty 106
Thema: Novemberbilder
Wortvorgaben:
Dankbarkeit
dunkel
Erinnerung
reichhaltig
Vielfalt
ziehen
Unser Nest
Der Sommer ist so plötzlich gealtert. Kurze Zeit hat der goldene Oktober sein Licht in die Welt geworfen. Früchte reiften und versprachen eine reichhaltige Ernte. Jetzt hat sich der November mit den ersten Nebeltagen herangeschlichen und Feuchtigkeit mitgebracht. Die Kastanie vor dem Haus wirft das Laub ab, Blätter verrotten auf dem Gartenweg. Kühler ist es geworden und dunkler. Ein Geruch nach faulendem Obst hängt in der Luft. Vermischt sich mit dem Duft nach Holz und Pilzen.
Die Jahre haben Spuren hinterlassen. Der
Gartenzaun ist marode, die Beete sind mit Unkraut übersät, die grüne Farbe der Fensterläden blättert ab. Alles ist so anders. Was mache ich hier? Was suche ich? Warum bin ich nach all den Jahren hierhergekommen, ausgerechnet jetzt, wo mich der Novemberblues gefangennimmt?
Den Schlüssel halte ich fest in der Hand, gehe bis zur großen Eingangstür, verharre, versuche die Furcht wegzuatmen.
Mir dämmert die Erinnerung an die Zeit, als ich hinauf ins Kämmerlein gestiegen bin. Die Treppe hat unter meinem Leichtgewicht geknarzt. Und wenn du
kamst und ich schon auf dich wartete, hörte ich das Ächzen der Stufen. Wir hatten uns dort oben ein Nest gebaut. Fernab der Alltagssorgen. Wenn wir aus dem Fenster schauten, lag der See vor uns. Im Sommer spendete der große Baum ein wenig Schatten, im Winter ließen seine kahlen Äste blasse Sonnenstrahlen hindurch.
Unser Nest gab uns ein Zuhause. Im Sommer war es heiß, im Winter kalt, an den Fensterscheiben wuchsen Eiskristalle. Wir haben Schweiß und Frösteln weggeliebt. Das weiche Licht erinnere ich, den herben Wein und Mahlers Fünfte, zu deren Töne wir im Traum versanken. Deine Worte sind mir
genauso eingebrannt wie deine dunklen Augen und die großen Hände. Wie die Tage voller Lachen und Leichtigkeit, wie die wilden und zärtlichen Nächte. Eine Vielfalt an Empfindungen, die uns gleich einem Kaleidoskop durchströmten. Wir fühlten uns beheimatet, für Stunden manchmal nur, aber das reichte bis zum Wiedersehen.
Doch dann kam der Tag, als du mir von Abschied sprachst. Es war auch November, ein kühler grauer Tag, an dem der Nebel alles verdeckte. Dein Blick fiel an mir vorbei in tiefste Stille.
Als du gingst, schwieg die Treppe und ich wusste, ich würde ihr Ächzen nie wieder hören.
Ich betrachte den Schlüssel, zögere, stecke ihn in meine Tasche. Dann wandert mein Blick zum Himmel. Ein Schwarm Vögel fliegt übers Haus hinweg. Die letzten Kraniche, die nach Süden ziehen. Ich werde nicht hinaufgehen. Unser Nest ist leer. Ich lausch' der Trauermelodie in mir. Dort unterm Dach ist alles alt, verstaubt, verbraucht. Und obwohl mich ein Hauch von Wehmut streift, fühle ich tiefe Dankbarkeit für das, was wir hatten.
Text: Enya Kummer
Coverbild und Covergestaltung:
Enya Kummer
Innenbild: by Pixabay