Prolog
Es war tiefster Herbst in Cadzand-Bad. Der Nebel hing schwer und dicht über dem kleinen Küstenstädtchen, verschluckte jedes Geräusch und ließ selbst das nahegelegene Meer nur erahnen. Die Welt bestand aus Schemen und Schatten, das Rauschen der Wellen klang wie ein fernes Flüstern. Ein Schatten jagte den nächsten, wanderte über das schmale Kopfsteinpflaster, auf dem nur wenige Schritte verhallten, bevor sie im Nebel verloren gingen. Die Stadt war wie im Dämmerschlaf, eingehüllt in eine trügerische Ruhe.
In diesen stillen, nebelverhangenen Tagen hatten sich die Bewohner von Cadzand-Bad in ihre Häuser zurückgezogen. Die Sommertouristen waren längst verschwunden, hatten das Städtchen mit der ersten Kälte verlassen und nur eine verwaiste Promenade und leere Strandbars zurückgelassen. Kein Lachen hallte mehr durch die Straßen, kein Kinderkreischen störte die abendliche Stille. Nur vereinzelt konnte
man einen Fischer an der Küste sehen, der mit den Wellen kämpfte, während die Dämmerung sich wie ein bleischwerer Schleier über das Meer legte.
Am vierten Tag des Nebels, kurz vor Morgengrauen, wurde die Stille unterbrochen. Es war ein Vogelschrei, ein hoher, durchdringender Ton, der in der kalten Luft widerhallte und sich wie ein unsichtbarer Blitz durch den Nebel schnitt. Ein Spaziergänger, der mit seiner alten, krummen Hündin den Strand entlangging, blieb stehen und lauschte. Der Schrei war verstummt. Nichts rührte sich – außer dem Rauschen des Meeres, das wie ein Echo dunkler Geheimnisse klang.
Dann sah er es.
Eine Gestalt lag am Rande des Strandes, dort, wo der Sand in Schlamm überging und das Wasser still zurückwich. Es war eine menschliche Figur, halb verdeckt vom nassen Sand, fast so, als ob das Meer sie vor dem Blick der Welt verstecken wollte. Der Spaziergänger trat zögernd näher, das Herz schlug ihm bis zum Hals. Die Gestalt lag reglos, das Gesicht halb in den Sand gedrückt. Es war ein Mann, das
erkannte er sofort, und die Kleidung – einmal teuer, jetzt zerfetzt und nass – ließ erkennen, dass er hier nicht hergehörte.
Mit zitternder Hand griff der Spaziergänger nach seinem Handy. Er wollte die Polizei rufen, doch ein unbestimmtes Gefühl von Angst hielt ihn zurück. Etwas an der Szene schien fast inszeniert, als wäre es eine düstere Einladung, ein grausames Memento, das darauf wartete, entdeckt zu werden.
Blaue und rote Lichter durchbrachen schließlich den Nebel, tauchten den Strand in gespenstische Farben. Die Polizei rückte an, vermummt und wortkarg, ihre Stimmen gedämpft, als wollten sie die Stille nicht stören. Sie markierten den Fundort im Sand, setzten ihn mit grellen Bändern ab, als könnten diese die Dunkelheit fernhalten. Doch der Nebel drängte näher, kroch wie kaltes Wasser in die Knochen und verbreitete eine beklemmende Atmosphäre. Die Menschen schienen nur noch Schatten zu sein, verloren in der weiten, grauen Leere.
Mit dem Sonnenaufgang klärten sich die Nebelschwaden allmählich, doch die bedrückende
Stimmung blieb. Die Polizei stellte Fragen, suchte nach Spuren, doch der Sand hatte die meisten längst verschluckt. Das Gesicht des Mannes, halb entstellt und bleich, erzählte von einer grausamen letzten Nacht. Und doch blieb vieles unerzählt – die Abwesenheit eines Namens, eines Motivs, einer Antwort auf die Frage, was ihn hierher geführt hatte.
Cadzand-Bad würde sich in den kommenden Tagen verändern. Die Bewohner spürten es bereits, ein Zittern lag in der Luft. Ungeklärte Fragen, verdrängte Ängste, und ein unheimliches Gefühl, dass der Nebel nicht einfach wieder verschwinden würde, sondern dass er etwas mitgebracht hatte – etwas Dunkles, das tief im Sand schlummerte und nun mit aller Macht ins Licht drängen wollte.