Kurzgeschichte
Seelenlast - SP 106

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"Bedrückende Erinnerungen"
Veröffentlicht am 04. November 2024, 16 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Ich lebe mit meiner Frau in Frankreich. Erst in meiner neuen Heimat habe ich mit dem Schreiben begonnen. Es bereitet mir Freude, mit meiner Fantasie den Leserinnen und Lesern vergnügliche und unterhaltsame Stunden schenken zu können. http://franck-sezelli.jimdo.com/
Bedrückende Erinnerungen

Seelenlast - SP 106

Seelenlast

Beitrag zur Schreibparty 106 zum Thema


Novemberbilder


Vorgaben:
Dankbarkeit, dunkel, Erinnerung, reichhaltig, Vielfalt, ziehen


Autor: Franck Sezelli

Titelbild: Komposition des Autors aus freien Fotos von Pixabay


November 2004


Seelenlast

Der Zug rast durch die nebelgraue Landschaft. Es ist November. Aber das ist es nicht allein, was Julia auf der Seele drückt. Eine schwere Last liegt auf ihrer Seele, macht ihr dunkle Gedanken, die sie nicht verscheuchen kann. Trotzdem ist sie eingeschlafen, das gleichmäßige Rattern des Zuges und die angenehme Wärme ihres Sitzes haben sie wohl einnicken lassen. Sie schreckt auf einmal hoch und weiß im Moment nicht, wo sie ist. Ihr Kopf lehnt am Fenster, von ihrer Steppjacke vor unangenehmen Stößen geschützt. Vor ihren Augen ziehen nasse Wiesen

und braune Felder vorbei, ab und zu auch ein paar Häuser. In der Ferne sieht sie ein Wäldchen, das der Herbst mit einer Vielfalt an Farben bunt geschmückt hat. Die junge Frau lehnt sich bequem in ihren Sitz zurück, schließt die Augen und versucht, wieder einzuschlafen. Bis nach Rostock, wo sie ihre Freundin Sophie besuchen will, sind es bestimmt noch anderthalb Stunden. Sie hat sich bisher noch niemandem anvertraut, ihren Eltern nicht und auch nicht ihren Freundinnen zu Hause. Vielleicht kann sie gegenüber Sophie ihr Herz ausschütten. Denn es ist eine ungeheure Belastung, die in den vergangenen Monaten keinesfalls

geringer geworden ist. Diese begleitet sie seitdem praktisch jede Minute ihres Lebens, der Novemberblues hat alles nur noch schlimmer gemacht. Julia verspricht sich keine Befreiung, aber doch eine Linderung der sie ständig bedrohenden und lähmenden Angst. Sie hat Sophie seit deren Wegzug nach Mecklenburg nicht mehr getroffen. Nur übers Internet und telefonisch sind sie in Verbindung geblieben. Dabei waren sie beste Freundinnen in der ganzen Schulzeit und auch während der weiteren Ausbildung. Voller Dankbarkeit denkt sie an diese schönen Jahre der Kindheit und Jugend zurück. Wegen dieses innerlich noch immer bestehenden sehr engen

Verhältnisses einerseits und der räumlichen Distanz andererseits denkt Julia, dass es ihr leichter fällt, der Freundin alles zu erzählen. Als die junge Frau die Augen wieder öffnet, durchzuckt sie ein furchtbarer Schreck. Ihr Magen zieht sich zusammen, ihr wird schlecht. Es ist, als ob ihr Blut gefriert. Kalte graublaue Augen starren sie zwei Abteile weiter von der anderen Gangseite an. Unter einer schwarzen Basecap mit den tausendfach gesehenen Buchstaben NY lauert ein aggressiver wie auch gieriger Blick. Julia fühlt sich total ausgeliefert und hilflos. Die zurückgedrängten Bilder kommen mit Macht wieder

hoch. Es war ein Nachmittag im August. Sie hatte sich in den Garten zurückgezogen, in ihre Lieblingsecke, wie schon etliche Male in diesem von gutem Wetter reichhaltig gesegnetem Sommer. Hier konnte niemand hineinschauen. Nur ein winziges, stark verschmutztes Mansardenfenster, das zum gegenüberliegenden Haus gehörte, zeugte davon, dass es außerhalb dieses von hohen Hecken umsäumten Rasenstücks eventuell noch Menschen gab. Die Eltern von Julia waren im Urlaub, sie selber hatte heute frei und war allein. Die Sonne schien prächtig vom blauen Himmel herunter, aber zum Glück nicht

so heiß wie an den vergangenen Tagen. Also legte die junge Frau sich auf ihre Liege, nicht ohne vorher das Bikini-Oberteil abgelegt zu haben. Dann ... dieser Kerl lag mit seinem ganzen Gewicht auf ihr. Sie spürt noch heute, wie er nach ihren Brüsten grapscht, kräftige Hände umspannen ihre Handgelenke und drücken sie nach unten. Stinkender, keuchender Atem schlägt ihr ins Gesicht, Geifer rinnt aus einem verzerrten Mund, kalte Augen durchbohren sie. Es gelingt ihr nicht, den Mann abzuschütteln. Sie spürt ekligen Schweiß überall auf ihrer Haut. Und danach ... kann sie nur noch kotzen. Unter der Dusche will der Weinkrampf

kein Ende nehmen. Dieser Blick, diese Augen – sie ist sich sicher, das ist er. Wie er herüberglotzt, hat er sie wohl auch erkannt. Sie kann hier nicht bleiben ... Julia überwindet ihre Lethargie, die sie gerade in den letzten grauen Tagen so gefesselt hat, nimmt alle Kraft zusammen, springt auf, schnappt sich ihre Jacke und die Reisetasche und läuft schnell aus dem Wagon. Ein freundlicher älterer Herr neben der Tür hält sie ihr auf, sodass sie schnell den Abstand zu dem Kerl vergrößern kann. Im nächsten Wagon wirft sie sich ihre Jacke über und rennt weiter. Beim Schließen der

nächsten Tür sieht sie voller Panik, dass der Kerl ihr hinterherkommt. Angst und unbändige Wut überkommen sie zugleich. Sie dreht sich um und flieht weiter durch den Zug, von Wagon zu Wagon. Der Verfolger nimmt sich Zeit, er genießt offenbar ihre Angst. Julia hat das lähmende Gefühl, ihm nicht entkommen zu können. Sie greift in ihre Jackentasche. Es ist da ... Was sie ertastet, gibt ihr ein wenig Halt in ihrer schieren Verzweiflung. Der letzte Wagen, die letzte Tür ... Ich muss hier raus. Dieser Gedanke beherrscht sie. Ich kann umnöglich mit diesem Kerl auf so engem Raum zusammen

sein. Aber da steht er schon vor ihr. Sein Atem stinkt, wie sie es in schrecklicher Erinnerung hat. »Was rennst du denn weg, du dummes Ding? Dir hat es doch auch gefallen ...« Ich muss weg von hier! Julias Blick fällt auf die Notbremse links über der Tür. Der Gedanke und die blitzschnelle Bewegung ihres linken Armes nach oben sind eins. Ein heftiger Ruck! Die Bremsen quietschen. Der Kerl in seiner ihn beherrschenden Gier begreift nichts. Er sieht nur, wie die offene Jacke und der erhobene Arm ihm Gelegenheit geben, sich von hinten an die Frau zu pressen und ihre Brüste zu umfassen. Er

drückt sie schmerzhaft. Dann ein erstauntes Aufstöhnen ... und er sackt hinter seinem Opfer zusammen. Die Klinge des Springmessers war gleichsam von allein aus dem Heft hervorgeschnellt. Am nächsten Tag konnte man in der Ostsee-Zeitung folgende Meldung lesen:


Gestern kam es im IC2178 zu einem tödlichen Zwischenfall. Ein junger Mann wurde schwerverletzt im Zug aufgefunden. Er hatte eine tiefe Stichwunde im Bauchraum, an der er

noch in der Nacht im Krankenhaus verstarb. Die tatverdächtige junge Frau hatte die Notbremse gezogen und konnte entfliehen. Nach ihr wird bundesweit gefahndet.













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Hörbuch

Über den Autor

FranckSezelli
Ich lebe mit meiner Frau in Frankreich. Erst in meiner neuen Heimat habe ich mit dem Schreiben begonnen. Es bereitet mir Freude, mit meiner Fantasie den Leserinnen und Lesern vergnügliche und unterhaltsame Stunden schenken zu können.
http://franck-sezelli.jimdo.com/

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Darkjuls Hallo Franck, schön dass Du bei der Schreibparty ebenfalls Gast bist. Deine Geschichte ist spannend und emotional erzählt und könnte ebensogut wahr sein. Die Vorgabe sind gut und passend eingebunden. Viel Erfolg wünscht Dir Marina
Vor ein paar Monaten - Antworten
FranckSezelli Hallo Marina, ich freue mich über deinen lobenden Kommentar und dass dir die Geschichte, obwohl sie nicht gerade positiv stimmt, offenbar gefallen hat.
Liebe Grüße
Franck
Vor ein paar Monaten - Antworten
FranckSezelli Liebe Enya,
ich weiß, das ist eine bedrückende Geschichte. Aber auch das Leben birgt nicht nur Frohsinn – und der November ist besonders geeignet, über die traurigeren Seiten des Lebens nachzudenken.
Es ist so, dass viele von sexueller Gewalt betroffenen Frauen es wirklich nicht schaffen, sich zu offenbaren oder gar eine Anzeige aufzugeben. Die Gründe hast du genannt.
Vielen Dank für die Beschäftigung mit dieser fiktiven Geschichte von mir und deinen mich berührenden Kommentar.
Liebe Grüße
Franck
Vor ein paar Monaten - Antworten
Enya2853 Lieber Franck, ich bin absolut dafür, derartige Themen nicht zu verdrängen, nicht wegzuschauen, sondern sich damit auseinanderzusetzen.
Leben bietet viele Facetten und sie alle sollten in unsrem Schreiben Platz finden. Da bin ich ganz bei dir.
Liebe Grüße
Enya
Vor ein paar Monaten - Antworten
Enya2853 Lieber Franck,
auch mich lässt diese Geschichte nicht los, ich habe sie gestern schon gelesen. Leider könnte sie genauso wahr sein.
Es ist traurig, dass viele solche Überfälle nicht oder erst sehr spät angezeigt werden. Ich kann es nachvollzierhern, denn wie arg muss es die eh schon traumatisierte Psyche belasten, alles noch einmal detailliert zu beschreiben. Oder Befragungen ausgesetzt zu sein, die wenig oft von wenig geschulten Beamten durchgeführt werden und die daher eher wenig Einfühlungsvermögen zeigen.

In diesem Fall habe auch ich meine Zweifel, dass sie mit Notwehr davonkommt, denn es gibt keine Zeugen. Und von der ursprünglichen Tat keine Anzeige.

Eine gute, wenngleich auch bedrückende Geschichte, die Wortvorgaben hast du prima eingebunden.
Liebe Grüße
Enya
Vor ein paar Monaten - Antworten
schnief Eine starke Geschichte und ich kann mich nur den anderen anschliessen.
Liebe Grüße Manuela
Vor ein paar Monaten - Antworten
FranckSezelli Vielen lieben Dank, Manuela!
Es grüßt dich herzlich
Franck
Vor ein paar Monaten - Antworten
Bleistift 
"Seelenlast..."
In der Tat, ein schlimmer, sich wiederholender Albtraum, den man keiner Frau zumuten möchte und wer möchte denn schon die Erniedrigung in dieser Opferrolle erdulden wollen. Und nicht zu vergessen, die psychische Schädigung, die diese Opfer erleiden, die kann manchmal ein ganzes Leben lang anhalten. Und wie oft kommt es in der Realität sogar vor, dass die Täter straffrei ausgehen, weil keine Anzeige erstattet wurde..
Zudem wie hier, in diesem Fall m.E. wohl von Notwehr auszugehen wäre...
Strafgesetzbuch (StGB) § 32 Notwehr:
(1) Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, handelt nicht rechtswidrig.
(2) Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden.
Die geforderten Themenworte hast Du übrigens famos integriert... ...smile*
LG
Louis :-)
Vor ein paar Monaten - Antworten
FranckSezelli Der folgende "Gastkommentar" ist von mir.
Franck
Vor ein paar Monaten - Antworten
Gast Lieber Louis,
vielen Dank für deine zwei Kommentare, die sich sowohl auf meine Geschichte, als auch auf die dadurch aufgeworfenen realen Probleme in unserer Gesellschaft beziehen.
Ich kann dir nur völlig recht geben in allem, was du schreibst.
Auch wenn so etwas so oder ähnlich durchaus passieren könnte, möchte ich betonen, dass die ganze Geschichte von mir völlig frei erfunden ist und keinen mir bekannten realen Bezug hat. Die Idee entstand aus einer Aufgabenstellung in einem Schreibforum. Da sie eben so traurig ist, meinte ich, sie passt hier zum Novemberblues.
Liebe Grüße, noch immer aus Leipzig,
von Franck
PS: Leider kann ich dir für die Kommentare keine Coins geben, du hättest in den letzten Tagen schon ein Geschenk von mir. Nicht traurig sein!
Vor ein paar Monaten - Antworten
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