Kurzgeschichte
wo früher der Friedhof war - SP 106

0
"wo früher der Friedhof war - SP 106"
Veröffentlicht am 02. November 2024, 10 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
http://www.mystorys.de

Über den Autor:

Lebe meine Träume, pflege meine Laster, denke positiv. Bin wie ich bin und manchmal anders
wo früher der Friedhof war - SP 106

wo früher der Friedhof war - SP 106


Schreibparty 106

---------------------------------------------

Thema: "Novemberbilder"


Wortvorgaben: Dankbarkeit, dunkel, Erinnerung, reichhaltig, Vielfalt, ziehen


Text: Martina Wiemers

Bilder und Buchcover:

historische Fotos-Ausstellung vor Ort






Der Wind rüttelte im Halbdunkel an den Hausdächern und Fenstern des neuentstandenen Ortes am Geiseltalsee. Wolken zogen tiefhängend am Himmel entlang. Abseits, am Rande des Ufers, wo früher in der Nähe der Friedhof war, lag ein Kreuz im Gras. Verwittert, verschmutzt, regenverschmiert, unleserlich der Name.



Einst stand es auf einem Grab. Doch als die evangelische Kirche und der Friedhof in den Sechzigern der Braunkohle weichen mussten, fast alle Dorfbewohner umgesiedelt wurden, entsorgte man die Überreste, Steine, Kreuze im Nirgendwo.

An die Umbettung der Verstorbenen erinnert heute nur eine Stele an der

Friedhofsmauer


Ich bückte mich, entfernte reichhaltig gewachsenes Moos und Gras vom Kreuz und ging in die katholische Kirche des Ortes, die damals vom Bagger verschont blieb. Der junge Pfarrer hörte mir aufmerksam zu und versprach sich zu kümmern.


Vor einigen Tagen erhielt ich folgenden Brief: Sehr geehrte Frau W….., nach Rücksprache mit dem Bürgermeister und der Friedhofsverwaltung wurde das von ihnen gefundene Kreuz gesäubert

und auf dem Friedhof neben der Erinnerungstele fest verankert. Eine Tafel mit zeitgeschichtlichen Hinweisen und dem Auffindungsort erinnert nun stellvertretend an die vielen namenlosen Toten.


Die Möglichkeit der Begegnung und des Trauerns für ehemalige Bewohner des Ortes, die ihre Verstorbenen damals ungefragt und alternativlos zurücklassen mussten, wird seit dem dankbar angenommen.

Gottes Segen und Gesundheit ………………


Heute, an einem grauen Tag im November, bereite ich auf diesem Friedhof das Grab meiner Großeltern, die gleich nach der Umsiedlung starben, auf die Trauer- und Winterzeit vor. Sichere die Tannenzweige und das mitgebrachte Blumengesteck gegen den Wind. Ihre Namen auf dem Grabstein sind gut zu lesen. Erinnern an Geburt und Tod.

Nach kurzem Innehalten ziehe ich mich still zurück, gehe in die katholische Kirche, begrüße und danke dem Pfarrer, setze mich in die letzte Reihe, schaue zu Jesus am Kreuz. Fühle mich auch als Atheistin hier geborgen. Ein Stückchen alte Heimat, das ich schon für verloren glaubte. Bin

dankbar für mein vielfältig buntes Leben, welches mich täglich neu überrascht. Genieße den Augenblick, schöpfe Kraft und lege auf dem Rückweg neben dem Kreuz meine mitgebrachten Blumen nieder.



(letzte Fotos der evangelischen Kirche mit Friedhof und der Apotheke, kurz bevor sie die der Braunkohle zum Opfer fielen)


0

Hörbuch

Über den Autor

Kornblume
Lebe meine Träume,
pflege meine Laster,
denke positiv.

Bin wie ich bin
und manchmal anders


Leser-Statistik
17

Leser
Quelle
Veröffentlicht am

Kommentare
Kommentar schreiben

Senden
schnief Gerade diese Erinnerungen kommen dann immer wieder, besonders wenn man Gräber zu Gedenktage und winterfest gestaltet. Vielleicht hilft dir dieses gefundene Kreuz bei der Verarbeitung deiner Kindheitserlebnisse.
Liebe Grüße Manuela
Vor ein paar Wochen - Antworten
FranckSezelli Liebe Martina,
Erinnerungen können schmerzen, gerade solche unverarbeitete aus lange zurückliegender Zeit.
Ich beobachte auch an mir, dass einem die Vergangenheit umso näher geht, je älter man wird. Man wird in manchen Dingen widerstandsfähiger, weil man viel schon erlebt hat, in anderen Dingen wird man empfindlicher.
Auch als Atheist kann man christliche Traditionen hoch achten. Du hast mit deinem Kontakt zum katholischen Pfarrer auf jeden Fall Gutes getan.
Ich habe deine wehmütige Geschichte gern gelesen.
Herzliche Grüße
Franck
Vor ein paar Wochen - Antworten
Enya2853 Liebe Kornblume,
eine so schöne, mit leiser Melancholie und Wehmut versehene Geschichte, die mir sehr gefällt.
Du zeichnest mit Worten ein authentisches "Novemberbild" und ich freue mich, dass du wieder bei der Schreibparty dabei bist.

Bitte verlinke deinen Beitrag noch im Forum.
Liebe Grüße und ein schönes Wochenende.
Enya
Vor ein paar Wochen - Antworten
Kornblume Hallo Enya,
Melancholie und Wehmut überkommt mich in jedem Jahr beim herrichten der Gräber.
In diesem Jahr kam noch dazu ,dass ich mir nach so vielen Jahren Gedanken über die damalige Umbettung der Verstorbenen,die ich als Kind miterlebt habe, gemacht habe. Gruselig, .Bei den Gedanken an die Überbleibsel, denn damals ging alles sehr schnell unter Ausschluß und Protest der Dorfbewohner, richten sich mir die Haare zu Berge. Habe ich das alles bis jetzt erfolgreich verdrängt. Kindheitstrauma ???
Grüße schickt die Kornblume
Vor ein paar Wochen - Antworten
Enya2853 Hallo Kornblume,
das mit den Gräbern kann ich sehr gut nachvollziehen, habe hier einige zu versorgen.
Das, was du als Kind erlebt hast, ist sicher nicht ganz einfach zu verarbeiten. Mag sein, dass du es verdrängt hast, daher finde ich es umso wichtiger, dass du darüber schreibst. Es hängen ja viele Erinnerungen daran und vor allem auch Verlust.

Liebe Grüße
Enya
Vor ein paar Wochen - Antworten
Darkjuls Hallo Kornblume, ich habe Deine doch traurig anmutende Geschichte interessiert verfolgt. Das Wort "Stele" war mir nicht geläufig, deshalb las ich es nach. Schön, dass Du Dich wieder in die Schreibparty einbringst.

Liebe Grüße Marina
Vor ein paar Wochen - Antworten
Kornblume Immer wenn ich im November die Gräber meiner Großeltern dort auf diesem Friedhof herrichte,überkommt mich Trauer und Melancholie.
Das war früher nicht so.
Sonntgsgrüße schickt die Kornblume
Vor ein paar Wochen - Antworten
Apollinaris Nun es ist leider auch wahr - ungeförderte Kohle heizt nicht. Da kann man nochso lang drauf sitzen. :I
Vor ein paar Wochen - Antworten
Kornblume da wirst Du wohl recht haben.Trotzdem bin ich um meine verlorene Heimat traurig.Die Katholische Kirche auf dem Coverbild steht noch. Kurz nach unserer Aussiedlung wurde im Geiseltal die Braunkohlenförderung wegen zu geringer Ausbeute eingestellt.
Sonntagsgrüße an Dich
PS
wenn die Wende nicht gekommen wäre,würde es dort immer noch wie auf dem Mond aussehen.
Vor ein paar Wochen - Antworten
Apollinaris Hmm. :I
Vor ein paar Wochen - Antworten
Zeige mehr Kommentare
10
10
0
Senden

171859
Impressum / Nutzungsbedingungen / Datenschutzerklärung