WO DIE EINSAMKEIT WOHNT
Autor 1: »Mir ist kalt, Justus. « Ich will nicht jammern, muss aber diesem Schweigen ein Ende machen. Er grinst. »Kein Wunder Lilly, du wolltest in diese Eiswüste.« Er hat recht, diesen verlassenen Ort habe ich vorgeschlagen, aber nur, um meinem Mann mitzuteilen, dass es so nicht weitergeht. Um endlich mal zu reden. Über Gefühle und nicht nur über
sinnentleerte Alltagsdinge. Nun frieren wir auf dieser Parkbank fest, die Worte erstarren, sobald sie meinen Mund verlassen. »Justus«, Kondenswölkchen, „»mich friert’s, weil ich einsam bin. Ich will sagen, mich friert’s in unserer Beziehung.« Justus atmet hektisch. Wolkentürme bauen sich vor seinem Gesicht auf, mutieren zu einem Fragezeichen vor seiner Stirn. Er schüttelt den Kopf. »Meinst du, ich stricke einen Pullover, der deine Einsamkeit wegwärmt?« Wieder dieses dämliche Grinsen. Sein spöttisches »Ach!« erkenne ich an dem Wölkchen vor seinem Mund. Eine Träne
schleicht sich aus meinem Augenwinkel. Plötzlich greift eine warme Hand nach meinen Eisfingern. »Komm!«
Ich folge nur widerwillig, aber sitzen zu bleiben, käme dem Erfrierungstod gleich. Während wir durch den Park wandern, höre ich ein Summen. Es ist Justus, aus dessen Mund die Töne leise herausströmen. Die Melodie kommt mir bekannt vor. Automatisch formen meine Gedanken die Worte. So how can you tell me you're lonely …
Der Himmel verdunkelt sich rasch, Blau löst sich in diffusem Grau auf und das glitzernde Farbenspiel des Schnees scheint zu erstarren. Wird zu kaltem Weiß. Das Summen hört nicht auf. Justus zieht mich mit und ich trotte hinterher. Das Summen endet plötzlich. Nein, es wandelt sich und ich höre die Töne, noch ehe ich ihren Ursprung sehe.
»Voilà.« Justus macht eine einladende Handbewegung, als sei er ein Conférencier auf einer Bühne. Typisch, denke ich, doch dann sehe ich ihn. Den Mann, allein steht er am Fuße einer Treppe, die zu einem großen Torbogen führt. Er spielt Saxophon und die weichen Töne seiner bluesartigen Musik
hüllen ihn ein. Niemand, der ihm zuhört. Völlig versunken spielt er sich seine Traurigkeit von der Seele. Magisch angezogen löse ich meine Hand aus Justus’ Griff, gehe ein paar Schritte auf den Einsamen zu und lasse die Töne in mich hineinfließen. Justus legt seinen Arm um meine Schulter. »Und du redest von Einsamkeit?« Geflüstert, die Worte. Aber diesmal höre ich in seiner Stimme weder Spott noch Vorwurf. Ein Lächeln kommt mir so absichtslos hoch, ich weiß nicht woher, es scheint mir, als sei es lange in mir gewesen. Der Saxophonist unterbricht sein Spiel nicht, aber seine Augen lächeln auch.
»Komm«, sagt Justus wieder und zeigt auf das Portal. Stufe für Stufe erklimmen wir die Treppe und als wir unter dem Torbogen stehen, hat sich meine Sichtweise verändert. Wir sind auf einem bunten Jahrmarkt, der einem Kaleidoskop aus Farben gleicht. In dem Glanz sehe ich sie. Die Frau, die frierend in ihrer Bude steht und bunte Socken hochhält. Den jungen Mann, der allein an einem Stand harrt, die Flasche Rotwein in der Hand. Das Mädchen mit den Rastazöpfen, das einen Hund hinter sich herzieht und bei jedem Mülleimer in den Abfällen stochert. Sie alle wollen am bunten Jahrmarkt des Lebens teilhaben.
Auf einmal überkommt mich ein Gefühl von Scham, das nicht von den Lichtern der Karussells und der heiteren Musik aus den Lautsprechern verdrängt werden kann. Inmitten des strahlenden Glanzes wohnt sie, die Einsamkeit. Meine Einsamkeit … Noch ehe ich diesen Gedanken zu Ende gedacht habe, sagt Justus: »Deine Einsamkeit ist hausgemacht, Lilly.« Sachlich, beinahe kühl kommen die Worte, doch eigenartigerweise wird es mir auf einmal warm.
DAS ERSTE MAL
Autor 2:
Ich mochte die Großstadt nicht. Schon gar nicht während des Vorweih-nachtstrubels, in dem mir die Stadt noch größer vorkam, weil so viele Menschen in die Innenstadt strömten. Trotzdem lief ich eines kalten Tages bereitwillig mit den anderen Schafen zum Metzger, denn die Chefin hatte mir gesteckt, dass der Boss bald einen runden Geburtstag feiern würde, und da es in der kleinen Firma, in der ich seit
ein paar Jahren arbeitete, etwas familiär zuging, fühlte ich mich irgendwie ver-pflichtet, auch eine Kleinigkeit zu schenken. Außerdem stand ja Weih-nachten vor der Tür, und für mich als Single-Mann war die Gruppe der zu Beschenkenden recht überschaubar. Die City war gut gerüstet: eine prachtvolle Weihnachtsbeleuchtung verscheuchte die früh einsetzende Dämmerung, und die Lager waren randvoll mit Geschenken, die noch keine waren. An diesem Tag war ich noch schlechter gelaunt als sonst, weil die Temperatur arg abgefallen war, und mir ein eisiger
Wind entgegen blies. Ich hatte mein Geschenk, ein Schweizer Messer mit ein paar tausend Klingen, in der Tasche, war schnellen Schrittes auf dem Weg zum Bahnhof und fror mir verschiedene Körperteile ab. Meine Füße hatten sich schon vor einer halben Stunde verab-schiedet. Ich wollte nur noch meinen Zug erwischen und nach Hause zu meinen Spekulatius. Als ich an einem Discounter vorbeikam, fiel mein Blick auf ein kleines Mädchen, und ich ging schlagartig langsamer. Das Kind war sieben oder acht Jahre alt, und es war vor dem Geschäft angebunden! Die Kleine zitterte in ihrem dünnen
Anorak und weinte leise. Ich schaute mich verwirrt um. Die meisten Leute gingen vorbei, ohne die Kleine überhaupt zu bemerken. Einige Passanten, vor allem Frauen, warfen beim Gehen einen verwunderten Blick über die Schulter zurück, verlangsamten kurz ihren Schritt, eilten dann aber weiter. Eine Handvoll älterer Herrschaften war stehenge-blieben, traute sich aber noch nicht, etwas zu unternehmen. In der Großstadt wirst du vorsichtig. Ich lief hinüber zu dem am Boden kauernden Häufchen Tränen und ging vor ihm in die Hocke. "Ist deine Mutter da drin? Einkaufen?" Das Mädchen nickte.
"Du kannst nicht auf dem kalten Boden sitzen!", rief ich empört und zog es hoch. Erst jetzt sah ich, dass es auf einem Stück Karton gesessen hatte. Die Kleine war erschreckend dünn und federleicht. Mein Innerstes schüttelte den Kopf und war sehr betroffen. Bilder von lachenden Kindern, die sich auf Weihnachten freuten, schossen mir durch den Kopf. Ich blickte durch die Fensterscheibe in das Geschäft und fragte das Häufchen Elend, ob es seine Mutter ausmachen könne. Das Mädchen nickte wieder und zeigte mit dem Finger auf eine dicke Frau mittleren Alters, die gerade ihre
Einkäufe in Plastiktüten verstaute. Wut kroch in mir hoch und verdrängte das Mitleidsgefühl, das angesichts des angebundenen Kindes in mir aufgekom-men war. Mit klammen Fingern öffnete ich den Knoten des Seils, das um einen Fahrradständer und um das Handgelenk des Mädchens gebunden war, und überlegte kurz, dass ich nun meinen Zug mit Sicherheit verpassen würde. An das Messer in meiner Tasche dachte ich gar nicht. Das kurze Seil sah aus wie ein Stück von einem Springseil. Meine Wut wurde größer. "Warum hat dich deine Mutter überhaupt angebunden? So etwas hab' ich
ja noch nie gesehen!" Das dürre Ding zuckte nur mit den Schultern und sah mich stumm an. Ich war mit der Situation etwas überfordert, und meine Gedanken schlugen Purzelbäume. Jugendamt! Am Wochenende geschlossen. Polizei anrufen! Ich nestelte nach meinem Handy. Doch bevor ich es aus der kleinen Jackentasche fingern konnte, hörte ich, wie jemand rief: "Hervorragend! Ganz toll!" Ein junger Mann mit einer Videokamera eilte auf mich zu. Ihm folgten ein paar weitere junge Leute nach, die mit ihren wilden Frisuren und einheitlichen Parkas wie Studenten aussahen und ebenfalls
zufrieden grinsten. "Nicht die Polizei anrufen!", lachte der mit der Kamera und reichte mir die Hand. Verwirrt und verblüfft nahm ich den Handschlag an. Mein Blick fiel auf den Camcorder. "Versteckte Kamera?" "Nicht direkt," antwortete der junge Kerl. "Ein Studienprojekt. Jetzt vor Weihnachten..." "Warum haben Sie die Gegend nicht abgesperrt oder irgendwie kenntlich gemacht, dass hier Filmaufnahmen laufen?", unterbrach ich ihn. "Wir wollten ECHTE Gefühle einfangen! Die nackte Wahrheit über die Gesellschaft zur schönsten Zeit des Jahres und...." Weiter kam er nicht, denn zum ersten
Mal in meinem Leben schlug ich jemandem so richtig genüsslich auf die Schnauze.
SCHATTEN DER VERGANGENHEIT AUTOR 3: Nackt kniete ich auf dem Boden wie vor einem Altar. Es war Zeit für die Beichte. Vermochte jemand mich reinzuwaschen von meinen Sünden? Meine Augen zum Himmel gerichtet fragte ich mich; "Wie lange wollte ich und wen um Vergebung bitten?" Also schön, mir war klar, ich hatte mich mit dem Teufel eingelassen und erinnerte mich gut, denn mein Lager war noch warm und ich konnte noch immer die Glut seiner Augen spüren, wie
sie auf mir ruhten; die Hitze, die in mir aufstieg, nur bei dem Gedanken an ihn. Es zerreißt mich, war meine Vermutung. Er will mich vernichten, mir die Luft zum Leben nehmen, um mir meine Seele zu rauben. Seither kam er jede Nacht, tanzte um mich herum, gierte mit seinen blutunterlaufenen Augen und züngelte nach mir. Die Flammen schlugen meterhoch, als seine Wollust wuchs. Messerscharfe Krallen teilten mein zartes Fleisch. Blut rann aus jener Öffnung. Gierig leckte er es auf. Seine rauhe Zunge speichelte und streichelte, drang in alle Furchen. Ich, der Ohnmacht nahe, krampfte kaum mehr, sondern gab mich ihm und dem Schmerz hin. Ich war zu
seiner Sklavin geworden, seiner Gespielin, die ihn willenlos empfing. Noch immer aber verspürte ich eine gewisse Angst, wenn er mich heimsuchte und er genoss es, mich wimmern zu hören. Ob es nur die Einsamkeit war, das Ablassen von mir oder die Erleichterung, dass er fort war, wusste ich bald nicht mehr zu unterscheiden. Mit der Zeit fieberte ich unseren Treffen entgegen. Jede Nacht wartete ich auf sein Erscheinen, glaubte inzwischen auserwählt zu sein. Er kam nicht mehr wie der Tod über mich, nein ich spürte mit ihm das Leben. Nun fühlte ich mich emotional stark genug, ihn herauszufordern nicht nur in
der Horizontalen. Ich schmiedete Pläne, überwandt meine Hemmungen, bot mich ihm an, bog mich ihm entgegen und genoss es, ihn leiden zu sehen, denn er hatte keine Macht mehr über mich. Damit hatte ich den Kampf gewonnen und er zog sich zurück. Mir blieben nur die Narben auf und unter der Haut sowie das Wissen, dass es ihn gab. Hin und wieder brach sie aus mir heraus meine dunkle Seite, die er geweckt hatte und ich lächelte diabolisch in mich hinein, wenn ich wieder einmal im Begriff war, mir Schmerz zuzufügen. Doch ich ließ ab, denn ich erkannte, es würde mir nur kurz Erleichterung verschaffen. Nein, es war nicht die Zeit um zu flehen, sondern
mir bewusst zu werden, wer ich war und was ich wollte im Leben. Ich erhob mich mit einem, meinen Mund umspielenden Lächeln und wandte mich wieder dem Licht zu, welches mir den Weg aus der Dunkelheit wies.
HOFFNUNG AUTOR 4: Durst - die Zunge klebt am Gaumen - der Hals schmerzt. Panik! Sie will um Hilfe rufen, aber kein Ton kommt aus ihrer Kehle. Viel später und viel klarer: Sie liegt in einem Gitterbett. Eine Krankenschwester beugt sich über sie. „Deine Eltern haben dich hergebracht. Du hast Glück gehabt, es war noch nicht zu spät, um dir den Magen auszu-pumpen.“
Ihr fällt wieder alles ein: Der ewige Streit zwischen den Eltern. Ihre Verzweiflung darüber, dass sie zwischen ihnen steht. Sich für ein Elternteil entscheiden soll. Unerbittlich pochen beide darauf, dass sie Partei ergreift. Doch wie soll sie das? Sie liebt doch Vater und Mutter. Dann die Ansage ihrer Mutter: „Wenn du zu deinem Vater hältst, dann sorge ich dafür, dass du ins Heim kommst.“ Sie zweifelt keinen Augenblick an dieser Aussage. Weihnachten ist nicht mehr fern, doch es wird ein trauriges Fest werden. Wo andere die Vorweihnachtszeit genießen, ist sie am Ende ihrer Kräfte
angekommen. Schließlich sieht sie nur noch einen verzweifelten Ausweg. Später bekommt sie ein Bett zugewiesen, teilt das Zimmer mit einer älteren Frau. Die mustert sie mit Interesse. Wie bist du hier gelandet“, fragt sie. Das Mädchen dreht sich zur Wand, will nichts hören, nichts sehen, dämmert vor sich hin. Am nächsten Morgen dann ein Arztge-spräch. „Du wolltest deinen Eltern einen Schreck einjagen, was!“ sagt er, grinst über-heblich. „Jetzt hast du es ihnen aber gezeigt." „Ich war so dumm! Es tut mir leid und es
wird nicht wieder vorkommen!“ Sie würde alles sagen, um hier wegzukommen. Von ihrem Zuhause erzählt sie vorsichtshalber nichts. Der Arzt schaut sie nachdenklich an. „Du bist als auch so ein dämliches Stück, das sich wichtig machen will. Und hast du eine Freundin, der du das erzählen wirst?“ „Ja klar, meiner besten Freundin erzähle ich alles“, das ist glatt gelogen. Sie hat keine beste Freundin und schämt sich viel zu sehr, als dass sie mit irgend-jemandem über all das reden würde. „Wie konntest du bloß“, sagt ihre Mutter anklagend. „Ich habe die ganze Zeit
Herzschmerzen, nur wegen dir! Wie konntest du bloß all die Schlaftabletten nehmen!“ Düster mustert sie ihre Mutter, wagt aber nichts zu sagen. Plötzlich mischt sich die Frau ein, mit der sie das Zimmer teilt. Sie setzt sich aufs Bett, nimmt die Hand des Mädchens. „Kind, du bist noch so jung, hast das ganze Leben vor dir: Glück, Liebe, Freude. Das willst du einfach so wegwerfen?“ „Aber“, das Mädchen weiß nicht, ob es die Hand wegziehen soll, oder nicht. „Schau mich an“, fährt die Frau fort. „Ich bin alt, ich bin krank und manchmal weiß ich nicht mal mehr wo ich bin, aber
ich stehe das durch. Weil - alles ist besser als das große Nichts! Ich weiß nicht, was dir passiert ist, aber glaub einer alten Frau: Auch das größte Unglück geht vorbei!“, sie lässt die Hand los. „Und jetzt versprich mir, dass du so etwas nie wieder machst.“ Etwas passiert mit ihr, lässt alle mühsam aufgebauten Mauern in ihrem Inneren brechen. Lässt sie weinen, richtig weinen, erleichternd und alles hinweg-spülend. Während sie schluchzt, tätschelt die fremde Frau ihren Rücken. „Na, na, na, so schlimm ist das doch bestimmt nicht“, brummelt sie, und schaut bekümmert die Mutter des Mädchens an, die bemüht
geschäftig die Tasche packte, sich wie üblich nicht um ihre Tochter kümmert. „Weißt du was, ich gebe dir meine Adresse. Ich werde übermorgen entlassen. Du kannst mich jederzeit besuchen. Was meinst du?“ Das Mädchen lächelt zaghaft. „Ja, das werde ich ganz bestimmt.“
Glückszeit
Autor 5:
„Tim?“ Nachdem minutenlang nur das Ticken der Wanduhr zu hören war, hallte mein als Frage ausgesprochener Name überlaut durch den Raum. Ich wusste, dass ich etwas sagen musste, das war die Bedingung, aber ich konnte es nicht. Nicht in diesem Kreis und eigentlich überhaupt nicht. Meine Augen hielt ich noch immer fest geschlossen. Ein plumper Versuch, mich von der Außenwelt abzuschotten, oder die Außenwelt von mir. Laura schob langsam
ihre Hand in meine und erdete mich sofort. Reden konnte ich dadurch noch immer nicht, aber die aufkeimende Panik legte sich wieder. Es tat gut, dass sie bei mir war und ich war froh, sie gebeten zu haben, als Begleitung mit mir zu diesem Treffen zu kommen. Niemals hätte ich gedacht, dass wir uns einmal so nah sein werden, uns ohne Worte verstehen und Halt geben würden, wenn ihn einer von uns verliert. Kennengelernt hatten wir uns vier Monaten zuvor auf dem Dach dieser Klinik. Es war ein weiteres Krankenhaus, in das ich zur Genesung verlegt wurde. Wieder nur ein Krankenhaus, aber wenigstens hatte dieses viele Stockwerke
und war hoch genug für meinen Plan. Mühsam zusammengeflickt wurde ich in all den anderen Kliniken. Dieses sollte nun meine Endstation sein. Ein dehnbarer Begriff, von dem ich wusste, dass sich meine Deutung nicht mit der meiner Ärzte deckte. Ich war Patient der Kinder-und Jugendpsychatrie. Nur weil mir vier Monate zur Volljährigkeit fehlten, zählte ich als Kind. Dabei hatte ich aufgehört ein Kind zu sein, als ich mich vor zwei Jahren zu meinem Bruder auf seine Rennmaschine setzte. Er wollte mir grenzenlose Freiheit zeigen und den Rausch der Geschwindigkeit vermitteln. Als ich aus dem Koma erwachte, war
Freiheit nur noch ein Fremdwort und Geschwindigkeit hatte sich in zähe Langsamkeit verwandelt. Mir fehlten beide Beine, die Finger der rechten Hand und zum Glück die Erinnerung an den Unfall. „Tim, du musst jetzt etwas sagen!“, flüsterte Laura und strich auffordernd mit ihrem Daumen über meinen Handrücken. Ich sollte etwas sagen, das wusste ich. Es war ein Hohn, da mir immer noch nicht klar war, was ich hier wem und warum erzählen sollte. Diese Gruppentreffen hasste ich, weil mein Kopf niemanden etwas anging. Er war so ziemlich das einzige an mir, was ganz
geblieben war, an dem nicht herum operiert wurde, genäht, geflickt, gestückelt. Warum durfte nicht wenigstens sein Inhalt mein Eigentum bleiben? Meiner und Lauras, denn sie hatte ich längst hineingelassen. „Du tust es doch nicht“, hatte sie gesagt, als ich oben auf dem Dach des achtstöckigen Gebäudes stand und davon ausging, allein zu sein. Ich wollte nicht mehr an diesem Leben teilnehmen. Hatte die Schnauze voll und bekam Würgereize, wenn mir immer wieder beteuert wurde, dass ich das alles in den Griff kriegen würde. Das Leben wäre schön, blablabla. Nichts war schön und
nichts bekam ich in den Griff. Noch immer gestalteten sich alltägliche Tätigkeiten zu Horrorszenarien. Dazu kam das Wissen, niemals wieder auf dem Fußballfeld stehen zu können. Meine Rolle als Mittelstürmer würde ich tauschen gegen die eines Zuschauers in der Rollstuhlloge. Nicht mal richtig Beifall würde ich klatschen können mit den Resten meiner rechten Hand. Ich hatte fertig, wie man so schön sagt und sah nur einen vernünftigen Ausweg für mich. Und genau zu diesem Zeitpunkt mischte sich Laura mit diesem einen Satz in das Trümmerfeld meines Lebens.
Langsam drehte ich mich in meinem
Rollstuhl um und nahm sie zum ersten Mal bewusst zur Kenntnis. Sie war auch Patientin der Klinik, sollte wohl so wie ich für das Leben draußen gerüstet werden, nachdem sie bei einem Unfall beide Eltern verloren hatte. Genau wusste ich es nicht, was interessierten mich andere.
„Und woher hast du diese Weisheit?“, blaffte ich sie wütend an. Ich wollte allein sein und schon gar nicht von einem Mädchen dabei beobachtet werden, wie ich heulend am Dachrand saß. „Weil ich auch schon da stand, wo du jetzt stehst“, antwortete sie so leise, dass ich sie fast nicht gehört hätte. „Wenigstens konntest du stehen.“
Zynisch funkelte ich sie an. Sie hatte mich durcheinander gebracht und in meinem Kopf dehnte sich Leere aus. „Dann mach doch! Und bedank dich schnell noch bei denen, die unten die Sauerei wegmachen müssen.“ Damit wendete sie sich um und ging langsam zur Tür, die in das Treppenhaus führte. Die hatte Nerven! Sie ging wirklich, drehte sich nicht noch einmal um und erst das laute Klappen der Stahltür weckte mich aus meiner Starre. Als ich sie am nächsten Tag im Speisesaal traf, warf sie mir nur ein schnippisches „Hab ich doch gesagt!“ zu. Von diesem Zeitpunkt an trafen wir uns regelmäßig. Sie war anders, als all die
Therapeuten, Patienten, Ärzte und Mädchen, die ich kannte. Sie war anders und mit ihr wurde alles anders. „Schade. Wieder eine Woche mehr hier drin“, murmelte Laura und endlich öffnete ich meine Augen. Längst war die Stunde vorüber und die letzten Stühle wurden scharrend weggeräumt. Noch immer stand ich dort, wo vorher der Kreis war und schaute nun endlich zu Laura auf. Ihre Enttäuschung war deutlich sichtbar und funkelte glitzernd in ihren Augen. „Es tut mir leid“, war alles, was ich über die Lippen brachte. Als ich ihre Hand greifen wollte, entzog sie diese und ging
wortlos. Ich war so ein armseliger feiger Wurm. Wir wollten einen vorsichtigen Start in das Leben draußen wagen. Wollten im Haus meiner Eltern gemeinsam das ausprobieren, von dem alle sagten, dass wir es schaffen könnten. Die Bedingung war jedoch, dass ich endlich regelmäßig und aktiv an diesen Gruppentreffen teilnahm. Zehn Stunden, in denen ich offen und ehrlich zu meinen Gefühlen stehen sollte. Wieder hatte ich es nicht geschafft und fühlte mich elendig. Warum gelang es Laura scheinbar mühelos und mir nicht? Ihre zehn Stunden hatte sie längst absolviert. Zügig verließ ich den Raum, ignorierte
den Ruf des Psychologen und wollte auf schnellsten Weg zu ihr. In ihrem Zimmer angekommen, gefror mir das Blut in den Adern. Wortlos starrte ich auf die Reisetasche, die neben Lauras Bett auf einem Stuhl stand. Wie im Zeitlupentempo musste ich zuschauen, als ein Kleidungsstück nach dem andern darin verschwand. Laut ratschte der Reißverschluss zu, Laura nahm die Tasche auf und verließ wortlos ihr Zimmer. Ich schlucke die Erinnerungen wie ein zu großes Stück heiße Kartoffel hinunter und mache eine Pause. Als ich die Augen öffne sehe ich sie beide. Eng aneinander
gekuschelt, die Hände haltend, sitzen die zwei Personen vor mir, die mein Lebensglück bedeuten. Die Menschen, für die ich durchs Feuer gehen, oder in meinem Fall rollen würde. Der Kloß in meinem Hals lässt sich einfach nicht schlucken und ergriffen schaue ich Mutter und Tochter schweigend in die gleich aussehenden Augen.
Wir haben beschlossen, dass Sofie an ihrem vierzehnten Geburtstag alt genug ist, unsere gemeinsame Geschichte zu erfahren.
Laura lächelt mich zärtlich an. „Soll ich weitererzählen?“
Die Autoren in ALPHABETISCHER Reihenfolge:
Darkjuls
Enya2853
Lagadere
Memory
Tetris
Die Auflösung erfolgt am 15.11.2024