Also gut, dann eben zum Automaten. Filterzigaretten waren eigentlich zu teuer, aber wo sollte ich in diesem Nest am Samstagabend Tabak herbekommen? Ich ging runter ins Erdgeschoss, nahm die Jacke vom Garderobenhaken, öffnete vorsichtig die Haustür. Klamme Luft schlug mir entgegen, im Schein der Straßenlaternen zeichnete sich Nebel ab. Plötzlich bekam ich wieder Muffe: Gab es wirklich keine andere Lösung? Konnte ich mir nicht einfach ein paar Zigaretten schnorren, von Klaus oder Hartmann? Musste ich wirklich da
raus? „Stell dich nicht so an!“, schimpfte ich leise mit mir selbst und atmete tief ein, als wollte ich tauchen. Dann stapfte ich ins Freie, zog mit einem entschlossenen Ruck die Haustür hinter mir zu. Stille. Wo war der Straßenlärm, das Rauschen der Züge? Irgendwas musste doch zu hören sein. Ein Flugzeug am Himmel vielleicht? Stimmen? Schritte? Ich bewegte mich nicht, hörte auf zu atmen, konzentrierte mich völlig auf die Geräusche der
Umgebung. Aber da war tatsächlich gar nichts. Nur eine einzige, tiefe Ruhe, wie ich sie bisher noch nie erlebt hatte. Ich stand in einer fremden Welt. Hinter mir der Reihenhausblock, gerade mal zwei Stockwerke hoch. Er zog sich bis zur Straßenecke, ungefähr fünfzig Meter von hier entfernt. Zwischen ihm und der Straße lag ein Streifen mit Vorgärten. Die Blumenbeete waren fein säuberlich abgezirkelt und wirkten durch die umgegrabene Erde trotzdem schmutzig, irgendwie ländlich. Gegenüber eine Wiese, in etwa so groß wie ein
Fußballfeld, links davon eine Handvoll Einfamilienhäuser. Kein Lebenszeichen kam aus ihnen, sämtliche Fenster waren dunkel. Es wirkte, als würden die Gebäude leerstehen. Der Automat wäre gleich an der Ecke, hatte Henri gesagt. Ich spähte in die Dämmerung, konnte aber nichts erkennen. Das Gartentürchen quietschte leise beim Öffnen, das Holz des Jägerzauns war glitschig und feucht. Mit einem sehr mulmigen Gefühl ging ich raus auf die Straße. Noch immer war es ungewohnt, saubere Gehwegplatten unter sich zu spüren anstatt Streusand. Bis vor kurzem hatte er überall gelegen, aber
jetzt wurde er nach und nach weggefegt. Ging der Winter tatsächlich zu Ende, nach einer gefühlten Ewigkeit? Aber von Frühling war auch noch nichts zu sehen, Sonne und Wärme ließen auf sich warten. Es war eine seltsame, unwirkliche Zwischenzeit. Ich schlich vorwärts, ließ den Block langsam an mir vorüberziehen. Die Häuser waren grün, gelb oder braun gestrichen, eins orange. Bis auf ihre Farbe sahen alle gleich aus: Links neben der Haustür das große Küchenfenster, rechts die kleine Luke, die zur Toilette im Erdgeschoss gehörte, und im ersten Stock immer zwei gleich große Fenster
nebeneinander. Auf einigen Treppensimsen standen Blumentöpfe, in denen aber nie etwas wuchs. Eine aufgeräumte, saubere Welt. Ich hatte hier nichts verloren, war ein totaler Fremdkörper, ein Eindringling. Hinter den dunklen Fenstern schienen plötzlich überall Augenpaare aufzutauchen, die mich feindselig musterten. Panik kroch in mir hoch, der Weg wurde immer länger. Mensch, wo blieb nur dieser verdammte Automat? Ich wollte schon kapitulieren und auf dem Absatz kehrt machen, als ich ihn doch noch entdeckte: an der Außenwand
des letzten Hauses. Man musste durch den Vorgarten gehen, um hinzukommen. Durfte man das überhaupt? Wer hatte bloß die bescheuerte Idee gehabt, den Zigarettenautomaten mitten auf ein Privatgrundstück zu setzen? Wenigstens stand die Gartenpforte offen. Als ich zwischen den Blumenrabatten hindurchging, rechnete ich jeden Augenblick damit, dass ein Hund anschlug oder mich plötzlich jemand aus dem Dunkel anbrüllte. Hastig zog ich eine Schachtel und sah zu, dass ich wieder auf die Straße kam. „Keine Panik!", sagte ich mir beim
Zurückgehen. Ich versuchte ruhig zu bleiben, setzte langsam und konzentriert einen Fuß vor den anderen. Aber schon wurde ich wieder schneller, ohne etwas dagegen tun zu können. Schließlich rannte ich fast. Große Erleichterung, als ich endlich das Haus wieder erreichte! *** Ich hockte in meinem Sessel und starrte Löcher in die Luft. Der Wecker tickte, die Zeit verrann, versickerte, verschwand im Nichts. Waren es Minuten?
Stunden? Der Arbeitslärm draußen auf dem Flur wollte nicht enden. Unermüdlich schleppten Henri, Klaus und Hartmann Möbel nach oben. Bugsierten sperrige Teile durch den engen Treppenaufgang, riefen sich Kommandos zu. Nicht immer klappten ihre Manöver: Einmal rammten sie mit voller Wucht das hölzerne Treppengeländer – das Quietschen klang wie ein protestierendes, schmerzvolles Aufschreien. Eine Zeitlang hatte ich vorhin mitgeholfen, aber seit meine eigenen Sachen oben waren, saß ich lieber hier
und hörte mir an, wie sie da draußen keuchten und schnauften. Hatte ich ein schlechtes Gewissen? Okay, vielleicht ein bisschen. Nachher sollte es gemeinsames Abendbrot geben, dann würden sie über mich herfallen, garantiert. Ich glaubte jetzt schon ihr Gemotze zu hören: „Hauke, der faule Sack!“, „Hat uns total hängen lassen!“ und so weiter. Egal! War es meine Idee gewesen, aus der Nordstadt wegzuziehen in ein beschissenes Kaff am Ende der Welt? Na also! Zum x-ten Mal wanderte mein Blick
durch diesen fremden Raum, der jetzt mein Zimmer sein sollte: Ein langgezogenes Rechteck, fast ein Schlauch. Ich saß an einer der Längsseiten, nahe der Tür. Neben mir ein Tischchen für Aschenbecher und Kippen, dann ein zweiter Sessel. Unter dem Fenster der einklappbare Schreibtisch. Gegenüber das Bettsofa, links in der Ecke der Kleiderschrank. Außer der Sitzecke, die Klaus mir vermacht hatte, waren alle Möbel frisch aus dem Einrichtungshaus. Mein altes Zimmer war eine Ansammlung von Sperrmüll gewesen: ein speckiger Sessel, ein durchgelegenes Bett, ein Schrank,
der jeden Augenblick zusammenbrechen konnte, und so weiter. Früher hatte ich nie darüber nachgedacht, aber jetzt wunderte ich mich, wie ich es in dem ollen Plunder so lange ausgehalten hatte. Es war ein Bestechungsversuch, ganz klar. Die neuen Möbel sollten mich dazu bringen, dass ich die Situation endlich akzeptierte. Aber das konnten sie vergessen, nie im Leben würde ich die Nordstadt einfach hinter mir abhaken. Hieß ich etwa Henri? Dieser Volldepp von Bruder war zuerst auch gegen den Umzug gewesen. Aber kaum hatten sie ihm neue Sachen versprochen, war er zum Gegner übergelaufen.
Typisch! Auch auf Hartmann war ich insgeheim sauer. So was nannte sich also Kumpel. Muttern und Klaus hatten ihn als Helfer geholt, gegen Bares. Schön und gut, aber musste man sich deshalb gleich so reinhängen? Er knüppelte wie verrückt, gab alles, wollte den Job tipptopp erledigen. Das schien für ihn geradezu eine Frage der Ehre zu sein. Wieder mal schlau eingefädelt von Klaus. Der Typ wusste einfach, wie man die Leute einspannte. Mit Knete, sicher, aber da war noch mehr: Sie bewunderten ihn, wollten immer alles für ihn geben,
sich total aufopfern. So wie jetzt Hartmann. Also war er auch bloß ein Umfaller. Machte erst gemeinsame Sache mit den Pappnasen und verdünnisierte sich morgen wieder in die Nordstadt, ließ mich hier hängen. Elender Verräter! *** Die „Rockpalast“-Nacht fing an. Ich hatte den Fernsehton weggedreht, ließ die Musik über meine Anlage kommen. Die Sendung wurde parallel im Radio
übertragen, in Stereo. Wenn ich bloß ein besseres Bild gehabt hätte! Ständig wurde es zu Schnee, alles Hin- und Herrücken der Zimmerantenne half nichts. Wahrscheinlich war man hier draußen zu weit ab vom Schuss für normalen Empfang. Hartmann hing wie ein Toter in seinem Sessel – der Umzug hatte ihm den Rest gegeben. „Ohne ihn wären wir heute nicht fertig geworden“, hatte Klaus vorhin gesagt. „Geschuftet wie ein Tier hat der.“ Toll, dafür war er jetzt nicht mehr zu gebrauchen! Ich hatte eigentlich gehofft, dass wir noch ein bisschen quatschen könnten, immerhin war es
unser letzter gemeinsamer Abend. Das konnte ich wohl vergessen. Endlich der große Moment: The Who betraten die Bühne! Würden sie es noch bringen? Immerhin gingen sie stramm auf die 40 zu. Zuerst klangen sie tatsächlich etwas lahm, aber je länger das Konzert dauerte, desto mehr kamen sie in Fahrt. Und schließlich war klar: Sie hatten es noch drauf, die alten Recken! Bloß schade, dass Keith Moon nicht mehr dabei war. Kenney Jones war okay, aber er hatte einfach nicht dieselbe Power. Hartmann war schon wieder am Einnicken, tiefer und tiefer sank ihm der
Kopf auf die Brust. Vorhin hatte er noch getönt, er würde sich total auf das Konzert freuen, und jetzt pennte er ständig weg. Zwischen seinen Fingern steckte eine qualmende Kippe. Gespannt beobachtete ich, wie sie immer weiter runterbrannte. Jeden Augenblick würde sie ihm die Pfoten versengen – geschah ihm recht! Schließlich hatte ich Erbarmen und nahm ihm das Ding weg – man war ja kein Unmensch. Ich zog selbst noch ein paarmal dran und drückte den Stummel im Aschenbecher aus. Es war schon ein komisches Gefühl, endlich im eigenen Zimmer rauchen zu dürfen. Aber das riss
es auch nicht mehr raus. Gern wäre ich zum Schmöken weiterhin auf die Straße gegangen, wenn wir dafür in der Nordstadt geblieben wären. Zu allem Unglück wurde heute Nacht auch noch auf Sommerzeit umgestellt. Sie klauten uns einfach eine Stunde, diese Schweine. Das Alleinsein hier draußen, in der Fremde, würde noch früher losgehen. Bei diesem Gedanken spürte ich ein Würgen im Hals – mir blieb regelrecht die Luft weg. *** Den dritten Tag war ich jetzt schon hier,
und außer dem kurzen Gang zum Automaten am Samstag hatte ich noch keinen Fuß vor die Tür gesetzt. Am liebsten wäre ich gar nicht mehr rausgegangen, hätte mich ganz in mein Zimmer verkrümelt. Aber das hätte auch nichts genützt. Selbst wenn ich in den Hungerstreik getreten wäre – Muttern hätte den Umzug niemals rückgängig gemacht. Eher wäre ich hier oben jämmerlich verreckt. der Glückliche! Er war gestern mit Klaus in die Nordstadt zurückgefahren. Auf einmal lagen 60 Kilometer zwischen uns. Kurz mal bei ihm vorbeischauen, auf eine Zigarette, ein Bierchen – das ging
nicht mehr. Wir kannten uns seit einer halben Ewigkeit, hatten so viel zusammen erlebt, und nun war er einfach weg. Da war nur noch Leere, unbegreifliche Leere. Und endlose Langeweile. Robinson Crusoe konnte sich nicht mieser gefühlt haben als ich. Hauke Jansen auf seiner einsamen Insel. Ich spürte eine Mordswut in mir aufsteigen. Alles hatten sie mir weggenommen, regelrecht von mir abgeschnitten, diese Mistsäcke. Mein komplettes Leben war auf dem Müllhaufen gelandet. Am liebsten hätte ich geschrien, den Frust aus mir
rausgebrüllt. Aber keiner hätte es gehört, sie waren alle unterwegs. Muttern machte Einkäufe. Henri strolchte durch die Gegend. Und Klaus war arbeiten. Klaus – erst hatte ich ihn im Verdacht gehabt, hinter der Idee mit dem Umzug zu stecken. Er wohnte ja selbst irgendwo in dieser Gegend, mit Frau und zwei Kindern. Wenn er demnächst wie geplant geschieden war, wollte er ganz bei uns einziehen. Er hatte also zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Bei uns konnte er sich einnisten, gleichzeitig würde er es nicht weit zu seinen beiden Gören
haben. Aber Muttern schwor immer hoch und heilig, dass der Hauskauf allein ihre Idee gewesen wäre. Die Nordstadt hätte uns „kaputtgemacht“, behauptete sie. Nur Hochhäuser und Beton, überall besprühte Wände, eingeschlagene Scheiben, zerkloppte Sitzbänke, demolierte Spielplätze. Dazu der ganze Müll, den die Leute einfach aus den Fenstern warfen. Das hätte sie nicht mehr nötig, meinte sie. Na super, und ich durfte jetzt hier sitzen und in der Nase bohren. Die Schule mussten Henri und ich natürlich auch wechseln. Er war hier auf
der Realschule angemeldet, ich kam auf irgendein „Kreisgymnasium“ in Eckhorst, 30 Kilometer entfernt. Auf die tägliche Fahrerei freute ich mich schon.
Wenigstens hatten wir jetzt erst mal Osterferien. Zwei Wochen Gnadenfrist, bevor es hier richtig losging.
Schulwechsel – das klang für mich wie der totale Horror. In der Nordstadt gab’s bloß das KBZ, sonst nichts. Genauer: das „Kurt-Schumacher-Bildungszentrum“. Egal ob Gymmis, Real- oder Hauptschüler – alle waren dort gewesen. Irgendwo im Keller existierte auch eine Sonderschule. Das Gebäude war ein Labyrinth, ein regelrechtes Monster aus Beton, Stahl, Plastik und Glas. Mehr als 3.000 Leute wuselten in ihm herum. Einige nannten unsere Schule bloß „KZ“. Das war hart, aber es passte. Wer sich bei uns nicht knallhart durchsetzte,
wurde früher oder später selbst plattgemacht. Die Lehrer hackten auf den Schülern rum, die Schüler revanchierten sich, indem sie die schwachen, gutmütigen Lehrer terrorisierten. Auch unter den Schülern selbst herrschte Kriegszustand, permanentes Hauen und Stechen. Man musste unbedingt Verbündete finden, sich einer Gruppe anschließen, notfalls selbst eine gründen. Wer allein blieb, sah keine Sonne mehr. Hartmann war das beste Beispiel. Keiner hatte ihn damals dabeihaben wollen, höchstens als nützlichen Idioten, als Ventil, um Dampf abzulassen. Regelrecht gequält hatten sie ihn. Wenn ich nicht
angefangen hätte, ihn zu beschützen, wäre es ihm schlecht ergangen. Irgendwann hätten sie ihn endgültig fertiggemacht. Wir hatten uns gleich in der Ersten kennengelernt. Mit unseren sieben Jahren waren wir die beiden Klassenältesten gewesen. Dass wir damals nebeneinander saßen, war aber reiner Zufall: Ich war erst ein paar Tage nach der offiziellen Einschulung ans KBZ und in die Klasse gekommen. Alle Sitzplätze waren da schon vergeben – außer der neben ihm. Ich merkte schnell, dass er eine ganz schräge Nummer war. Andauernd machte
er Stress, störte den Unterricht, flippte aus. Er hatte immer Panik, übersehen zu werden, zu kurz zu kommen. Wenn er nicht ganz vorn dabei war, nicht die erste Geige spielen durfte, drehte er durch. Warf Sachen durch die Gegend, trat gegen Stühle, kippte den Tisch um. Er musste festgehalten werden, bis es vorbei war. Manchmal bekam er Schreikrämpfe, dann stopfte ihm Frau Blank, unsere Lehrerin, einfach einen Lappen in den Mund. Seinen Eltern schien es piepegal zu sein, was er trieb. Mehr als einmal lieferten ihn die Bullen im Klassenzimmer ab. Später erfuhr ich, dass Hartmanns Mutter
schon frühmorgens zu ihrem Putzjob musste. Und sein Vater, der arbeitslos war, stand meistens erst mittags auf, weil er sich am Abend vorher die Hucke zugesoffen hatte. Niemand interessierte sich also groß für Hartmann und dessen jüngere Schwester Bettina. Kein Wunder, dass er ab und zu „vergaß“, in die Schule zu kommen, lieber durch die Gegend stromerte. Prügeln konnte er sich überhaupt nicht. Jede, buchstäblich jede Klopperei verlor er, sogar gegen Mädchen. Ein einziger, gut gesetzter Schlag, und es war vorbei. Er fing an zu heulen, rannte weg, alles mögliche – er war wirklich eine total
Null. Trotzdem legte er sich ständig mit irgendwelchen Leuten an. Meistens wollten sie ihn bloß verarschten und zur Weißglut bringen, aber das kapierte er nicht. Immer wieder ging er ihnen auf den Leim, wollte die Sache schließlich mit Fäusten regeln, und dann gab's Saures. Irgendwie stand ihm „Schlag mich!“ auf die Stirn geschrieben, und natürlich erfüllten ihm alle diesen Wunsch. Er war also selbst schuld an seinem Schicksal, trotzdem tat mir der Kerl leid. Alle Welt benutzte ihn als Fußabtreter, sie schlugen und vermöbelten ihn, wo sie konnten – es war heftig. Aber auch
typisch KBZ. Irgendwann hatte ich genug. Ich fing an, ihn zu verteidigen, lenkte den Ärger auf mich, den er sich gerade mal wieder eingehandelt hatte. Weil ich eher schmächtig war, wurde ich meistens unterschätzt. Aber ich war schnell, außerdem hatte ich Stehvermögen, konnte viel einstecken, geduldig auf meine Chance warten. Und die kam fast immer. Als Gegenleistung für meine Schutzdienste nahm Hartmann mich nachmittags mit auf Tour. Außerhalb der Schule hatte er jede Menge Kumpels. Viele waren älter als wir, sie rauchten, hatten Waffen. Einige klauten wie die
Raben in den Supermärkten und verhökerten ihre Ware untereinander – Klamotten, Werkzeug, technische Geräte. Manchmal ging es zu wie auf dem Basar. Bei einer Gruppe waren wir ziemlich oft. Ich hatte jedes Mal Muffe, wenn wir hingingen, trotzdem kam ich immer wieder mit. Sie waren die Größten, jeder in der Nordstadt kannte ihre Namen. Da war Holgi, so was wie der Kopf der Gang. Er hatte schon häufiger mit den Bullen zu tun gehabt, war sogar mal im Jugendknast gewesen. Wolkan konnte Karate und Kung-Fu. Manchmal machte er sich einen Spaß daraus, Leute auf die Matte zu legen, wenn sie ihm blöd kamen. Salami, der eigentlich Selim
hieß, klaute ständig Mofas und kurvte damit rum, dabei war er erst zwölf. Der Härteste war Ramos. Er hatte eine echte Knarre, die er wie einen Schatz hütete. Einmal ließ er uns näher ran. Das sei eine Polizeiwaffe, erklärte er, eine P6 von SIG Sauer. Und zum Beweis, dass er sich mit dem Ding auskannte, ließ er das Magazin rausspringen. Wir waren natürlich mächtig beeindruckt. Bei mir zu Hause lief es ähnlich wie bei Hartmann: Niemanden kümmerte es, was ich tagsüber trieb. Muttern arbeitete in der Nordstadt-Klinik. Sie kam erst spätabends oder nachts zurück, wenn Henri und ich schon in der Falle lagen.
Ursprünglich hatte sie in der Klinik-Kantine angefangen, als ungelernte Kraft. Später war sie ins Büro gewechselt, hatte nebenbei einen Abschluss als Sekretärin gemacht. Auch danach hatte sie sich laufend weitergebildet und war immer höher aufgestiegen. Mittlerweile lief ohne sie nichts wohl mehr in dem Laden. Dafür musste sie aber endlos Überstunden schieben. Vaddern machte einen Deppenjob auf der Werft, überwachte dort irgendwelche Maschinen. Abends genehmigte er sich gern noch ein Schlückchen in der „Schwarzen Hand“, einer berüchtigten
Spelunke am Einkaufszentrum, in der angeblich schon so manches Monatsgehalt komplett versoffen und verdaddelt worden war. Wenn er nach Hause kam, natürlich jedes Mal völlig blau, kriegte er meistens seinen Moralischen. Die halbe Nacht saß er in der Küche und jammerte rum. Wie mies der Job wäre, dass er die Schnauze voll hätte, ohne uns längst abgehauen wäre und solche Sachen. Zwischendurch hörte man ihn in die Spüle reihern. Am Anfang hatte Muttern immer versucht, ihn zu beruhigen und zu trösten, aber irgendwann war ihr wohl der Geduldsfaden gerissen. Mittlerweile
gab sie Contra, wenn Vaddern in der Küche seine nächtliche Show abzog, manchmal klatschte es auch laut. War ihr da die Hand ausgerutscht? Ich wollte es gar nicht so genau wissen, wollte am liebsten überhaupt nichts sehen und hören von dem ganzen Elend. Keine Ahnung, wie ich es immer schaffte, wieder einzupennen. Mitleid war es garantiert nicht, was ich Vaddern gegenüber empfand. Eher Horror, dass man so runterkommen konnte. Aber schlussendlich war mir der Typ egal. Er war eh bloß unser Stiefvater. Der richtige hatte vor Ewigkeiten die Biege gemacht, ich
konnte mich kaum noch an ihn erinnern. Muttern hatte dann schnell wieder geheiratet, seitdem gab es halt Vaddern und sonst nichts. Genau genommen hatten wir sogar Glück mit ihm gehabt. Wenigstens prügelte und randalierte er nicht, wie so viele andere in der Nordstadt. Höppner im zehnten Stock zum Beispiel flippte fast jeden Abend aus. Pausenlos hörte man es da oben scheppern und klirren, dazwischen kreischte die Frau unverständliches Zeugs. Eric, der Sohn, hatte ständig geschwollene Lippen und Veilchen. Es hieß sogar, dass Höppner es mit seiner Tochter trieb. Dann lieber eine Flasche
wie Vaddern. Henri und ich wuchsen sozusagen wie Waisenkinder auf. Wir mussten selbst sehen, wie wir klarkamen, hatten dafür aber alle Freiheiten: Abends blieben wir endlos lange draußen, wir glotzten fern bis zum Abwinken, gingen pennen, wann wir Bock hatten. Unsere Hausaufgaben wurden nie kontrolliert, die Zeugnisse ungeprüft unterschrieben. Bloß sitzenbleiben war tabu. Und ich konnte jeden Nachmittag mit Hartmann losziehen, ohne dämliche Fragen befürchten zu müssen. Die Treffen mit ihm, die Besuche bei Holgis
Clique – das alles war mir bald wichtiger als jede Scheiß-Familie. Holgi und seine Leute waren schlicht die Größten. So wie sie wollten Hartmann und ich später auch sein. Am besten noch gefährlicher. Unsere Gang sollte die heftigste werden, die es in der Nordstadt je gegeben hatte. Die Leute würden sich unsere Namen nur zuflüstern, aus Angst, weil wir so berüchtigt waren, aber auch aus Ehrfurcht, weil sie uns bewunderten. Es machte Spaß, sich mit Hartmann solche Geschichten auszudenken. Obwohl ich insgeheim natürlich wusste, dass sie ein Traum bleiben würden. Hartmann und gefährlich – wie sollte das wohl
funktionieren? „Hartmann“ – allein dieser Name stand für einen schlechten Scherz. Aber darüber dachte ich nicht nach. Nach der Vierten kam er auf die Hauptschule. Erst sollte ich dort auch hin, aber dann meinte unser Lehrer für Schreiben und Lesen, ich wäre am Gymnasium besser aufgehoben. Ergebnis: Als die Schule wieder losging, waren Hartmann und die anderen plötzlich weit weg. Zehn Minuten musste man durchs riesige Gebäude laufen, um sie zu sehen. Klar, ich besuchte sie so oft wie möglich, trotzdem war es jetzt anders als früher: Viele Leute, über sie quatschten,
kannte ich nicht. Auch die Namen ihrer neuen Lehrer hatte ich noch nie gehört. Bald rannte ich nicht mehr jede Pause rüber in den Hauptschultrakt. Das Gehetze nervte auf Dauer, außerdem gab's auch in der neuen Klasse ein paar nette Leute. Aber nicht bloß am KBZ sah ich Hartmann jetzt seltener, auch nachmittags unternahmen wir immer weniger zusammen. Ganz allmählich verloren wir uns aus den Augen. Schließlich riss die Verbindung komplett ab. Ich hörte rein gar nichts mehr von ihm, wusste nicht mal, ob er überhaupt noch in der Nordstadt
wohnte. *** Tag Numero fünf. Muttern, Henri und ich saßen beim Essen: Koteletts mit Stampfkartoffeln und Gemüse. Schmeckte eigentlich ganz lecker – ich hatte gar nicht gewusst, dass Muttern so gut kochen konnte. Von jetzt ab sollte es täglich eine gemeinsame Mahlzeit geben – mittags, so lange Muttern Urlaub hatte, und abends, wenn sie wieder zur Arbeit musste. Bisher waren Henri und ich zum Essen immer in die Schulkantine gegangen. In
den Ferien hatte Muttern uns Geld dagelassen, damit wir uns selbst was zum Beißen kauften. Meine Kohle war natürlich meistens für Süßigkeiten und Comics draufgegangen, später für Tabak. „Willst du heute nicht mal rausgehen?“, fragte sie, als ich mir gerade einen zweiten Berg Püree auf den Teller schaufelte. Ich warf ihr einen extra genervten Blick zu. Fing sie schon wieder damit an? Was kümmerte es sie, dass ich bloß drinnen hockte? Wieso interessierte sie sich mit einem Mal dafür, was ich trieb? Ich wollte nicht, dass sie anfing, in meinem
Leben herumzuschnüffeln. Bisher war ich immer gut alleine klargekommen. Drei Wochen hatte sie freigenommen, um sich „gemeinsam mit uns einzuleben“, wie sie es nannte. Drei volle Wochen – so lange war sie vorher nie zu Hause gewesen. Es fühlte sich sehr komisch an, sie auf einmal ständig zu sehen. Neulich hatte sie mir geraten, hier neue Freunde zu finden. „Freunde finden“ – wie das klang! So was erledigte man doch nicht wie Hausaufgaben! Entweder es ergab sich oder eben nicht. Diese plötzliche Fürsorglichkeit wirkte total aufgesetzt. Nach ihrem Urlaub würde
sowieso alles wieder werden wie vorher, in der Nordstadt. „Geh doch mal mit Henri los“, schlug sie jetzt vor. „Der kennt hier schon Leute. Vielleicht kannst du dich da ja anschließen.“ Vor Schreck blieb mir glatt das Essen im Hals stecken. Mit Henri losgehen? Diesem Riesenbaby, das aussah, als wäre es gerade zehn geworden? Hatte sie noch alle Tassen im Schrank? In Wirklichkeit war Henri 15, also bloß ein Jahr jünger als ich. Wir waren sogar zusammen eingeschult worden – zum
Glück in unterschiedliche Klassen. Inzwischen ging er einen Jahrgang tiefer, weil er in der Siebten sitzengeblieben war. In der Nordstadt hatte er sich nachmittags immer mit Jüngeren herumgetrieben. Bei denen war er natürlich der Big Boss gewesen, der alle nach Lust und Laune herumkommandieren konnte. Wer nicht parierte, bekam Kloppe oder flog ganz raus. „Henri und seine Minirocker“ hatte man sie überall genannt. Oder auch „die Müllmänner“, weil sie gern in die Müllcontainer der Wohnblöcke stiegen und sich dort einnisteten. Es hieß immer, sie hätten da drinnen regelrechte Höhlensysteme angelegt, in denen sie
hausten, ähnlich wie die Penner und Obdachlosen der Gegend.
Und mit so einem Idioten sollte ich jetzt losgehen? Hielt Muttern mich noch immer für den kleinen Jungen aus der Grundschule? Diese Zeiten waren doch lange vorbei!
In der Achten waren die ganzen Sitzenbleiber in meine Klasse gekommen, Dominik, Thorsten, Gerhard, Zucki und so weiter. Mit einem Schlag wurde alles anders, keine Spur mehr von der drögen Langeweile in der Schule, wie bisher. Die Neuen waren älter, selbstbewusster und irgendwie cooler, schnell entstand eine Clique um sie herum. Unser verbindendes Element war das Rauchen. Es unterschied uns von den anderen, den Strebern und Schnarchnasen. In den Pausen verdrückten wir uns immer zusammen vom Schulgelände, um eine zu qualmen.
Ab und zu zogen wir auch eine Tüte durch. Nach den letzten Sommerferien kamen noch mehr Leute zu uns, die eine Ehrenrunde drehen mussten. Jetzt war endgültig Party angesagt. Wir machten uns einen Spaß daraus, den Unterricht regelrecht zu sabotieren, alles im Chaos versinken zu lassen. Von den Scheiß-Lehrern ließen wir uns gar nichts mehr sagen, die kriegten nur Druck. Manchmal schafften wir es, dass sie heulend rausliefen, das feierten wir immer wie einen Sieg. Auch in der Nordstadt herrschte seit
einiger Zeit Aufbruchstimmung. Überall bildeten sich Cliquen, formierten sich um, lösten sich wieder auf, alles war ständig in Bewegung. Der Treffpunkt ergab sich meist zufällig: eine Sitzbank, ein Spielplatz in der näheren Umgebung – was sich gerade anbot. Man hockte zusammen, laberte, machte Quatsch. Wenn man Bock hatte, drehte man eine Runde, zeigte sich unter den Leuten. Ich gehörte nirgends fest dazu, war bald hier dabei, bald dort. Aber genauso wollte ich es. Wenn man unabhängig blieb, kriegte man viel besser mit, was im Viertel
lief. Eines Nachmittags hing ich mit ein paar Kumpels bei mir vor der Haustür ab. Piet war dabei, ein Typ aus dem Nachbarblock, der schon als Knirps die Keller der Gegend aufgebrochen hatte. Und Marcel, der in meine Parallelklasse ging. Wie die meisten vom KBZ-Gymnasium wohnte er nicht direkt in der Nordstadt, sondern in der Jahn-Siedlung, einem Nachbarstadtteil. Die Leute von dort galten eigentlich als Schnösel, mit denen sich keiner abgab, aber Marcel war eine Ausnahme. Er schimpfte am lautesten von allen über sein Viertel, nannte es immer „Bonzennest“, wollte es
am liebsten abfackeln und so weiter. Auch sonst gab er sich extra hart. Zum Beispiel kannte ich keinen, der so viel klaute wie er. Wir saßen also bei mir vor der Haustür und laberten. Zum x-ten Mal musste Marcel eine Schachtel Camels herumreichen und uns versorgen. Sie war Teil seines letzten Raubzuges: Zehn Stangen hatte er angeblich aus dem Edeka-Markt im Einkaufszentrum rausgetragen. Wie, das blieb sein Geheimnis. „Nachher kommt noch ein alter Bekannter dazu“, meinte Piet beiläufig.
Ich dachte mir nichts dabei und fragte nicht weiter nach. Irgendwann sah ich aus den Augenwinkeln einen Typen auf uns zusteuern. Ich hatte das Gefühl, ihn zu kennen, aber der Groschen wollte und wollte nicht fallen. Erst als der Kerl sich direkt vor uns aufbaute, kam mir die Erleuchtung: Es war Hartmann. Und war es doch nicht. Meine Fresse, wie der sich verändert hatte! Das Haar hing ihm lang und verfilzt auf die Schultern herab, über der Lippe und am Kinn spross dichter, rötlicher Bartflaum. Sein Gesicht war kantig und knochig geworden, es zeigte keine Spur mehr von der alten Gutmütigkeit, die den ständigen Schlägen getrotzt hatte. Dazu dieser
Blick – etwas Berechnendes, fast Heimtückisches lag in ihm, das mir unwillkürlich Respekt einflößte. Wir quatschten über harmlose Sachen. Was gerade abging in der Nordstadt, wie cool es früher gewesen war und ähnliches. Es war wie ein vorsichtiges gegenseitiges Abtasten. An diesen neuen, fremden Hartmann musste ich mich erst gewöhnen. Er und Piet gingen seit kurzem in eine Klasse. Piet hatte ihm erzählt, dass wir uns heute hier treffen würden, und Hartmann hatte sofort zugesagt, vorbeizukommen. Diese erste Begegnung dauerte nicht
lange, aber von nun an sah ich Hartmann wieder öfter. Mit dem Looser und Prügelknaben aus der Grundschule hatte er keine Ähnlichkeit mehr. Er wirkte abgehärtet, gestählt. Man hatte das Gefühl, ihm besser nicht blöd zu kommen. Die alten Sticheleien und Witzchen, mit denen wir ihn früher immer aufgezogen hatten, ließen wir jetzt lieber bleiben – auf einmal hatten alle ein bisschen Muffe vor ihm. Zu recht, wie sich bald zeigte. Eines Nachmittags gingen Hartmann, Piet und ich runter zum Einkaufszentrum, um Bier zu holen. Auf der Betonmauer neben dem Eingang saßen oft Alkis und soffen. Auch
heute lungerte dort ein Typ rum, etwas älter, stämmig gebaut, Bierdose in der Hand, schon ordentlich einen im Kahn. Als wir vorbeigingen, laberte er uns blöd an. Früher wäre Hartmann bei dieser Sorte sofort abgehauen. Jetzt machte er halt und guckte neugierig, fast provozierend. „Was willsu, Milchgesicht?“, brüllte der Säufer, „ist das hier'n Zoo, oder was?“ Er stand auf, warf die halbvolle Dose in die Ecke, Bierschaum spritzte durch die Gegend. Der Platz vorm Supermarkt war mit einem Mal wie leergefegt. Piet nickte mir beschwörend zu. Ich verstand, wollte Hartmann am Ärmel greifen und in den
Laden ziehen. Notfalls dem Besoffenen irgendwas Lustiges zurufen, zur Besänftigung. Aber der Typ holte bereits aus. Scheiße, dachte ich, das geht nicht gut. Hartmann, der den Schlag längst erwartet hatte, sprang zur Seite. Die Faust rauschte weit an ihm vorbei, fast meinte ich den Luftzug zu spüren. Der nächste Schlag kam, und wieder wich Hartmann problemlos aus. Das wiederholte sich ein paarmal. Hartmann hatte zu tänzeln angefangen, wie ein Boxer. Der Säufer war inzwischen stark am Keuchen. Urplötzlich knipste Hartmann sein
Grinsen aus wie eine Lampe und schlug selbst zu. Fast ohne Ansatz, genau auf die Nase. Es klatschte laut. Der Typ ging nach unten, hielt sich mit beiden Händen den Zinken. Hartmann packte seine Ohren und rammte ihm mit voller Wucht das Knie in die Fresse. Der Alki taumelte, fiel, knallte mit dem Hinterkopf gegen die Betonbrüstung. Gerade wollte er sich berappeln, als Hartmann zutrat, mit der Stiefelspitze mitten ins Gesicht. Und noch mal, immer und immer wieder. Ich sah das Blut, den Körper, wie er sich zusammenkrümmte, beim nächsten Tritt wieder zurückflog, hörte das Stöhnen und Jammern. Schließlich fasste ich Hartmann an der
Schulter, um ihn wegzuziehen. Er fuhr herum wie von einem Stromschlag getroffen. Sein Gesicht war völlig bleich, um die Augenhöhlen hatten sich Schatten gebildet, zwischen den Brauen lag eine tiefe Falte. Erkannte er mich nicht? Unwillkürlich bekam ich Schiss… Aber schon hellte sein Blick sich wieder auf. Das unheimliche Glimmen in den Augen verschwand, auch das Gesicht bekam wieder Farbe. Piet und ich nahmen ihn zwischen uns. Wir mussten schleunigst die Biege machten, bevor es Ärger gab. Um den Alki würde sich
schon jemand kümmern – war nicht das erste Mal, dass da einer vorm Eingang lag. Noch tagelang waren wir wie geplättet von Hartmanns Aktion. Hatte er in der Zwischenzeit Karate gelernt? Alles war wie programmiert abgelaufen. Jede Bewegung einstudiert und tausendmal geübt, nichts dem Zufall überlassen. Wie eine Maschine. Nur am Schluss, da war ihm ein bisschen die Sicherung durchgebrannt. Von Piet erfuhr ich, dass er eine ganze Weile völlig von der Bildfläche verschwunden war. Aber was er in dieser
Zeit getrieben hatte – keiner wusste es. Hartmann selbst schwieg sich darüber aus. Sobald man ihn auf das Thema ansprach, wurde er wortkarg und abweisend. Offenbar wollte er darüber nicht quatschen. Die Story mit dem Alki verbreitete sich in der Nordstadt wie ein Lauffeuer. Mit einem Schlag war Hartmann anerkannt. Mehr noch: Er war jetzt eine Persönlichkeit, von der alle mit Ehrfurcht sprachen. „Hartmann“ – auf einmal passte dieser Name wie die Faust aufs Auge. In einem Punkt hatte er sich allerdings
überhaupt nicht verändert: Er war noch immer der totale Vorweggeher und Klarmacher. Wusste diverse günstige Quellen für Kippen, Bier, Dope. Kannte sämtliche wichtigen Leute – Dealer, Waffenhändler, Schläger, die Bosse der großen Cliquen. Und das, obwohl er so lange weg vom Fenster gewesen war. Ich hatte eigentlich geglaubt, zu wissen, was bei uns abgeht. Hartmann belehrte mich eines Besseren. Wieder mal war er es, durch den ich unser Viertel erst richtig kennenlernte. *** Das Essen war vorbei, ich hatte mich
wieder nach oben verzogen. Träge saß ich in meinem Sessel, rauchte Kette und starrte aus dem Fenster. Draußen goss es gerade wie aus Eimern. Das ruhige, neblige Wetter vom Wochenende hatte sich leider nicht gehalten, ein Schauer nach dem anderen kam runter. Krasse Windböen zerrten und rüttelten am Hausdach, dass es nur so knackte und quietschte. Wenn es irgendwann weggeflogen wäre, hätte ich mich nicht gewundert. Manchmal wurden die Tropfen plötzlich zu weißen Flocken, ein regelrechtes Schneegestöber
entstand. Hatte ich doch geahnt, dass der Winter noch nicht ausgestanden war! Er kam immer wieder zurück, war einfach nicht totzukriegen. Mittlerweile konnte ich mich kaum noch daran erinnern, dass es auch etwas anderes gab außer Kälte, Sturm und Schnee. Am Freitag würde ich mit Muttern nach Eckhorst fahren, irgendwelche Formalitäten für meine Einschulung regeln. Die Fahrt lag mir wie ein Wackerstein im Magen. War diese neue Schule komplett anders als das KBZ oder konnte man den Wechsel dorthin locker
meistern? Wie würde es überhaupt nach den Osterferien werden? Eigentlich war für Schönhagen eine ganz andere Schule zuständig, in einem Ort namens Schmölln. Aber der Schulbus dorthin brauchte wohl ewig, weil er unterwegs sämtliche Dörfer abklapperte. Das wollte Muttern mir ersparen. Eckhorst lag auf ihrem Weg zur Arbeit, eine halbe Autostunde von hier weg. Sie würde mich morgens mitnehmen und unterwegs absetzen. Zurück sollte ich den Linienbus nehmen. Das war sicher alles gut überlegt, trotzdem klang es nervig und kompliziert. In der Nordstadt war ich zu Fuß zur Schule gegangen,
gerade mal zehn Minuten hatte das gedauert. Einen dämlicheren Zeitpunkt zum Umziehen hätte Muttern sich gar nicht aussuchen können! Im letzten Halbjahr war ich schulmäßig derbe abgestürzt, hatte ein katastrophales Zeugnis eingefahren. Ein Riesengeschrei war losgebrochen, die Pauker hatten sogar damit gedroht, mich auf die Realschule zu entsorgen. Eigentlich ließ ich mir von denen gar nichts sagen, aber mit dieser Ankündigung hatten sie mich auf dem falschen Fuß erwischt. Bei uns mochte es beschissen gewesen sein, aber lange nicht so schlimm wie auf der Haupt- und
Realschule. Plötzlich war mir mulmig geworden. Ich hatte mich zusammengerissen und versucht, den Karren aus dem Dreck zu ziehen, zu retten, was noch zu retten war. Mit Erfolg: Inzwischen sah es längst nicht mehr so übel aus wie im Winter. Vielleicht hätte es sogar mit der Versetzung noch geklappt. Und ausgerechnet jetzt sollte ich auf eine neue Schule wechseln, wo ich niemanden kannte, völlig neue Lehrer bekam. Wie sollte das wohl funktionieren? Es war, als hätte mir jemand in vollem Lauf ein Bein
gestellt.
Wie bisher jeden Tag würde ich bis zum Abendbrot hier sitzen bleiben. Und nach dem Essen wieder so lange fernsehen, bis ich vor der Glotze einschlief. Morgen ging dann alles von Neuem los.
Vielleicht würde ich nachher mal bei Hartmann anrufen. Über Ostern wollte ich ihn in der Nordstadt besuchen. Ostern – das waren noch zweieinhalb Wochen! Wie sollte ich die bloß rumkriegen?
Hartmann und ich – die erste Begegnung vor der Haustür lag noch nicht lange zurück, da trafen wir uns wieder jeden Nachmittag. Manchmal kam auch Piet mit. Es war ein bisschen wie früher, zu Grundschulzeiten: Wir streiften durchs Viertel, besuchten die verschiedenen Cliquen, hingen mit den Leuten ab. Aber am liebsten gingen wir runter zur „Bahnschiene“. So hieß in der Nordstadt die Strecke der Hafenbahn, die hinter dem Viertel verlief. Vormittags kam hier ein Zug nach dem anderen und brachte Kohlen runter zum Kraftwerk am Kanal.
Nachmittags hörte das auf, dann war die Schiene unser Reich. Hier konnten wir machen, worauf wir Bock hatten, egal ob rauchen, saufen oder kiffen. Keiner stresste deswegen rum, rief die Bullen oder sonst was. Auf die Schiene verirrte sich niemals ein Erwachsener. Zuerst latschten wir immer ein Stückchen. Der Trippelschritt über die Holzschwellen war uns längst in Fleisch und Blut übergegangen. Schließlich setzten wir uns irgendwo hin, zogen eine Tüte durch, machten uns ein Bier auf. Es war total entspannt. Oft trafen wir Leute, die ebenfalls hier draußen
herumstreunten. Wenn wir Lust hatten, erkundeten wir das alte Militärgelände hinter der Schiene. Es war nach dem Krieg aufgegeben worden, und längst hatte sich die Natur das Gebiet zurückerobert. Neben diversen gesprengten Bunkern gab es überall wilde Müllkippen. Die Leute schleppten ihr altes Zeugs anscheinend lieber hierher, als es ordnungsgemäß zu entsorgen. Uns sollte das nur recht sein: Wir schichteten regelrechte Gebirge aus Sperrmüll, Plastik, Kartons auf und zündeten sie an. Wenn die Flammen am höchsten loderten, warfen wir alte Spraydosen hinein, gingen in Deckung
und warteten gespannt, dass sie explodierten. Manchmal schlugen wir uns bis zum Kanalufer durch. An einem ehemaligen Hafen standen noch immer ein paar rostige Wracks herum, irgendwelche alten Tank- und Versorgungsschiffe. Wir kletterten in die stählernen Schiffsrümpfe und Steuerhäuser und suchten nach verwertbaren Gegenständen. Natürlich immer erfolglos, weil längst alles ausgeschlachtet war. Das Gelände hinter der Bahnschiene war auch der ideale Platz für unsere
Schießübungen. Wir hatten mittlerweile eine eigene Knarre, eine Walther TPH. Hartmann hatte sie besorgt, über irgendwelche Kanäle, die nur ihm bekannt waren. Für die Munition hatten wir zusammengelegt. Wir zielten auf Dosen und Flaschen, Hartmann und Piet manchmal auch auf Ratten und Kaninchen. Aber die verfehlten sie meistens. Überhaupt blieben wir alle ziemlich miserable Schützen. Eines Tages fanden wir inmitten des Schienengeländes einen Platz, der uns gefiel. Wir schleppten zwei Sofas und einen Couchtisch von der nächsten Müllkippe heran, stellten die Sachen
zusammen und hatten ein Wohnzimmer unter freiem Himmel. Sogar einen alten Kanonenofen trieben wir auf, für die Abende, die immer noch ziemlich frisch waren. Aus Mangel an Kohlen heizten wir ihn mit Pappe und Müll. Leider war alles immer fix heruntergebrannt und die heimelige Wärme, die sich einen Moment lang ausgebreitet hatte, verflog schnell. Aber bald brauchten wir keinen Ofen mehr. Der Sommer kam, und er wurde bombastisch: wochenlang nur blauer Himmel und Affenhitze. Wer konnte, flüchtete aus der Nordstadt und kam hierher, ins Gelände hinter der Bahnschiene. Unsere Sitzecke
entwickelte sich mehr und mehr zu einer zentralen Anlaufstelle. Bald versammelte sich die halbe Nordstadt bei uns. Selbst diejenigen, die man sonst nur selten traf, die total ihr eigenes Ding machten, kamen plötzlich angelatscht. Zum Beispiel die Leute aus der Bunker-Clique. Der Name spielte auf ihren Treffpunkt an: Sie hatten sich einen der alten Bunker hergerichtet, von denen es hinter der Bahnschiene so endlos viele gab. Ihrer sollte angeblich besonders gut erhalten sein. Aber Genaueres ließ sich nur schwer in Erfahrung bringen, denn bisher war kaum jemand dort gewesen. Die Bunker-Leute achteten peinlich
genau darauf, wer bei ihnen ein- und ausging. Aus gutem Grund: Alles Dauerhafte wurde früher oder später plattgemacht, von Chaoten und anderen Leuten, die Dampf ablassen wollten. Das AWO-Jugendheim war das beste Beispiel, immer wieder schlugen irgendwelche Psychos dort alles kurz und klein. In der Nordstadt gab es eigentlich gar keine festen Gruppen und Versammlungsorte. Cliquen bildeten sich zufällig und verschwanden ebenso schnell wieder, alles war ständig in Bewegung. Treffen tat man sich, wo es gerade passte. Etwas Festes aufzubauen machte bei uns
absolut keinen Sinn. Die Leute aus der Bunker-Clique waren die Einzigen, die diese Regel ignorierten. Sie hatten einen festen Treff, und man musste Mitglied bei ihnen werden. „Der Bunker“ – jeder im Viertel sprach diese Worte mit Respekt aus. Etwas Legendenumwobenes, geradezu Mystisches haftete dieser Gruppe an. Als wäre damit ein geheimer Zirkel gemeint, dessen Angehörige nur ihren eigenen Gesetzen gehorchten. Und irgendwie stimmte es ja auch. Wir waren natürlich stolz wie Oskar, dass ausgerechnet diese Stars sich jetzt
bei uns trafen. Klar, es lag es vor allem am Wetter. Aber sie hätten sich ja auch eine eigene Sitzecke einrichten können. Stattdessen kamen sie zu uns – es war einfach der Hammer! Im Herbst, als das gute Wetter zu Ende ging, dann die Überraschung: Sie boten uns Asyl in ihrem Bunker an, als Gegenleistung. Wir waren erst mal unentschlossen: Sollten wir das Angebot wirklich annehmen? Hartmann wollte nicht, er meinte, da drinnen würde unsere Dreierfreundschaft den Bach runtergehen. Mich dagegen lockte die Aussicht auf Wärme und ein Dach über dem Kopf. Die Regentage häuften sich,
abends wurde es mittlerweile wieder arschkalt. Außerdem war es eine Ehre, von der Bunker-Clique aufgenommen zu werden. Alle in der Nordstadt wollten das, aber kaum jemand schaffte es – so eine Chance musste man einfach nutzen, fand ich. Piet hatte keine Meinung, aber am Ende konnte ich ihn auf meine Seite ziehen. Und so kam der Tag, da wir zum ersten Mal den berühmten Bunker betraten. Der Eingang lag hinter einem Labyrinth aus Trümmern und war selbst aus unmittelbarer Nähe kaum auszumachen. Drinnen sah es ein bisschen wie in einer Höhle aus. Durch die Sprengung war eine
Art Tunnel entstanden, ungefähr zwei Meter breit und acht Meter tief. Die Bunkerleute hatten den Boden mit Holzpaletten ausgelegt und diese wiederum mit alten Teppichen abgedeckt. Am Rand lagen überall Matratzen. Und in jeder Ecke stand ein Ofen. Der Rauch wurde durch ein abenteuerliches Geflecht aus Rohren abgeleitet. Fenster gab es natürlich keine. Petroleumfunzeln sorgten für Licht, die auch tagsüber angezündet werden mussten. Im Sommer konnte man sich Schöneres vorstellen, als hier drinnen zu hocken. Aber jetzt, im Herbst, wirkte alles heimelig und
urgemütlich. Eine gute Zeit begann: Kein Rumgerenne bei Kälte und Dauerregen mehr, stattdessen jeden Nachmittag herkommen, auf die Matratzen fläzen, mit den Leuten quatschen. Es war total lustig. Und immer mollig warm – die Kanonenöfen taten gute Arbeit. Einige in der Clique waren regelrechte Experten in Sachen Heizen. Das Kohlenschleppen ging eigentlich reihum, aber ich schaffte es immer, mich zu drücken. So ließ es sich aushalten. Dass wir früher die Winter immer draußen verbracht hatten, konnten wir uns bald nur noch
schwer vorstellen. *** Muttern wollte zum Einkaufen fahren, in einen Nachbarort namens Hoheneck. Ich musste mit, tragen helfen, sämtliche Proteste verhallten wirkungslos. Es ging also raus, in Feindesland, zum ersten Mal nach sechs Tagen Stubenhocken. Zum Glück dauerte die Autofahrt nicht lange. Der weitläufige Parkplatz vorm Supermarkt war so gut wie leer. Ich wunderte mich, wozu es in dieser gottverlassenen Gegend einen so großen Laden gab. „Das ist hier eine
Ferienregion“, erklärte Muttern. „Bald kommen die Urlauber. Die Geschäfte sind dann sogar sonntags offen. Und nach der Saison fällt alles wieder in den Winterschlaf. Viele Läden haben dann zwischen eins und drei zu.“ Drinnen teilten wir uns auf. Muttern wieselte mit dem Einkaufswagen durch den Markt, ich stand am Fleischtresen an. Der Fleischer war ein uriger Typ mit roter Nase, Händen wie Klosettdeckeln und einem gutmütigen Grinsen. Er kannte alle Kundinnen vor mir mit Namen, redete Platt mit ihnen. Als ich drankam, schaltete er auf Hochdeutsch um, nannte mich „Junger Mann“. Seine plötzliche
Förmlichkeit störte mich, warum auch immer. Danach gingen wir noch zum Bäcker neben dem Markt. Eine Kundin vor uns hatte zu wenig Geld dabei. Sie wühlte in ihrem Portemonnaie, kramte in ihrer Handtasche, durchsuchte ihren Mantel – nichts. Blöde Schnarchtante!, dachte ich genervt. Dann sah ich, wie die Verkäuferin ein kleines Heft hervorkramte, ein Oktavheft, wie man es für Vokabeln benutzte. Sie blätterte, kritzelte irgendwas rein und ließ die Frau gehen – mit ihren Sachen! Ich war völlig verdattert: Anscheinend
konnte man hier anschreiben lassen! Wie gutgläubig waren diese Dorftrottel eigentlich? Glaubten die ernsthaft, dass sie jemals ihr Geld sehen würden? Das war ja besser als Klauen! Wieder zu Hause luden wir gerade die Sachen aus dem Auto, als zwei Häuser weiter die Tür aufging. Ein Mädchen kam raus, ungefähr in meinem Alter, ziemlich brav, aber hübsch. Halblanges Haar, dunkle Augen, ein bisschen südländisch. Sie latschte in unsere Richtung, ihre stattlichen Möpse waren ordentlich am Wippen. Und die ganze Zeit glotzte sie uns an. Als sie mit uns auf einer Höhe war, kam der Hammer: „Hallo“, sagte sie
und strahlte übers ganze Gesicht. „Guten Tag“, grüßte meine Mutter zurück, ebenfalls sehr freundlich. Dann war das Mädel vorbeigezogen. Ich stierte ihr hinterher, völlig konfus. Was war das denn gewesen? Einfach „Hallo“ zu sagen, als wären wir bereits alte Bekannte. Dazu dieses Grinsen! Und Muttern hatte auch noch zurück gegrüßt. „Kanntest du die?“, fragte ich. „Nein, aber bei den Nachbarn kann man doch mal höflich
sein.“ Ich guckte sie wohl ziemlich begriffsstutzig an. „So ist das hier eben“, sagte sie und lud weite Sachen aus. Als wir fertig waren, ging ich wieder nach oben, drehte mir eine Zigarette. Die Abendsonne spiegelte sich in den Fenstern des Nachbarblocks. Die Reflexion schien in mein Zimmer, zeichnete über dem Rauchtischchen ein goldgelbes Rechteck an die Wand. Im Lichtstrahl sah man Qualm und Staubteilchen
tanzen. Immer wieder musste ich an die Begegnung vor dem Haus zurückdenken, mit der Nachbarstochter. Die Kleine wollte mir gar nicht mehr aus dem Kopf. Wie sie Muttern und mich angeschaut hatte, so… offen. Ohne jede Scheu oder gar Angst. Und dann dieses Lächeln… Ich merkte, dass ich richtig durcheinander war. *** In Sachen Mädchen war ich ein echter Spätzünder. Alle hatten sich nach und
nach eine Freundin zugelegt, nur ich war bis zuletzt allein rumgelaufen. Immer wenn sich mir ein weibliches Wesen näherte, hatte ich mir vor Angst fast in die Hose gemacht. Diese verfluchte Schüchternheit! Dazu kam, dass ich leider beschissen aussah: Spargel-Tarzan, käsiges Gesicht, Pickeln. Und zu allem Unglück musste ich seit der Siebten eine Brille tragen. Ich setzte sie zwar nur in der Schule auf, während des Unterrichts, aber das blöde Teil gab meinem Selbstvertrauen endgültig den Rest. Welches Mädel wollte schon eine Brillenschlange als
Freund? Der Wind drehte sich erst in der Bunker-Clique. Ich kapierte, dass es vor allem eine Frage der Lautstärke war. Man musste die Klappe aufmachen, voll auf Angriff gehen, dann funktionierte es. Sachen wie Aussehen spielten dann überhaupt keine Rolle. Allerdings waren die Mädchen im Bunker anders als zum Beispiel in der Schule, nicht so kompliziert und eingebildet. Bloß Schwäche durfte man nicht zeigen, das nutzten sie sofort aus. Man musste unbedingt die Oberhand behalten, der Boss bleiben. Aber das war
leicht.
Als ich erst mal Blut geleckt hatte, legte ich voll los. Baggerte, knutschte, fummelte, was das Zeug hielt. Ich wollte möglichst schnell alles nachholen, was ich vorher verpasst hatte. Am Ende hatte ich außer Pimpern so ziemlich alles ausprobiert. Und fast sämtliche der zahlreichen Mädchen im Bunker abgearbeitet. Jedenfalls kam es mir so vor. Und ich erzählte es auch überall so.
Das schöne, sorgenfreie Cliquenleben – es hätte von mir aus immer so weitergehen können. Leider blieb das reines Wunschdenken. Eines Nachmittags betrat ich den Bunker, und mir blieb vor Schreck fast das Herz stehen: Dort saßen die Solterbeck-Brüder, neben ihnen Salami und Wladdi, also Wladimir, weiter hinten erkannte ich Krause, Ramos und noch ein paar andere. Das übelste Gesocks, das die Nordstadt zu bieten hatte – es war komplett bei uns versammelt! Bei diesen Typen musste man mit allem rechnen; wer denen in die Finger geriet, konnte sein Testament
machen. Selbst Hartmann, der sonst alle Welt kannte, hielt sich von ihnen fern. Salami und Ramos hatten ja früher zur alten Clique um Holgi gehört, aber mittlerweile waren die beiden völlig runtergekommen. Weshalb wir solche wie die als Knirpse so bewundert hatten, kapierte ich jetzt rein gar nicht mehr. Irgendjemand aus unserer Truppe hatte anscheinend den Schnabel nicht gehalten und ihnen erzählt, wo der Bunker war. Ich tippte auf einen der Neuzugänge. Die Zahl der Cliquenmitglieder hatte zuletzt stark zugenommen, Hartmann, Piet und ich waren bloß drei von vielen gewesen. Und das Anwachsen war leider auf
Kosten der Sicherheit gegangen, wie sich nun herausstellte. Die Solterbeck-Leute fühlten sich schon ganz wie zu Hause: Lümmelten auf den Matratzen rum, bedienten sich an unserem Alk-Vorrat, ohne lange zu fragen. Unsere eigenen Leute saßen wie ein Häuflein Elend dazwischen. Obwohl wir eigentlich in der Überzahl waren, wagte es niemand, einen Muckser zu tun. Alle machten gute Miene zum bösen Spiel. Nach zwei Stunden zogen sie geschlossen wieder ab. Allgemeines Aufatmen. Aber insgeheim wussten wir, dass die Sache
nicht ausgestanden war. Und tatsächlich kamen sie paar Tage später wieder. Diesmal hatten sie ihren eigenen Stoff mitgebracht. Sie ließen sich volllaufen und fingen bald untereinander Streit an. Als Ramos und Wladdi aufeinander losgingen, machten wir die Biege. Von draußen hörten wir die Fetzen fliegen. Am nächsten Tag sah es im Bunker aus wie nach einer Explosion. Überall leere Flaschen und Scherben. Der Boden voller Matsch und Schmodder. Neben einem der Öfen lag eine Machete mit blutverschmierter Klinge, auf einigen Matratzen prangten Blutflecken. Anscheinend waren sie mit Messern aufeinander losgegangen – typisch! Es
dauerte ewig, bis wir einigermaßen klar Schiff gemacht hatten. Von nun an kamen sie fast täglich. Von uns dagegen traute sich kaum noch jemand in den Bunker. Wer hatte schon Bock, dort zwischen lauter Psychos zu sitzen und um sein Leben zu fürchten? Stattdessen trafen wir uns bei Bodo vor der Haustür. Beratschlagten, was man tun könnte, palaverten endlos rum. Die Leute aus der Kiffer-Fraktion waren partout gegen Gewalt. Sie meinten, die Sache müsse sich irgendwie friedlich lösen lassen. Hartmann, Bodo und ich dagegen waren uns sicher, dass es nur ein Mittel gab, um Typen wie die Solterbecks
wieder loszuwerden: Schläge, so übel und schmerzhaft wie irgend möglich. Alles andere brachte nichts. Wenn wir jetzt nicht knallhart durchgriffen, konnten wir den Bunker abschreiben. Schließlich gelang es Bodo, alle vom Mitmachen zu überzeugen, inklusive der Kiffer. Wir rotteten uns in voller Truppenstärke vor der Haustür zusammen. Ralf, dessen Alter bei einem privaten Sicherheitsdienst arbeitete, verteilte Schlagstöcke, auch ich ergatterte einen. Wir warteten, bis es dunkel war, dann stürmten wir den Bunker. Die Solterbeck-Leute hielten gerade mal wieder ein Besäufnis ab und
checkten null, was abging. Ich hämmerte mit meinem Schlagstock wie ein Berserker auf alles ein, was sich bewegte, zermatschte einigen Leuten ordentlich die Fresse. Die Schlacht war schnell gewonnen, sie rannten wie die Hasen. Wobei wir auch dreimal so viele Leute waren wie sie, dazu kam der Überraschungseffekt. Natürlich waren wir mächtig stolz. Zwar hatten sich einige vor der Aktion regelrecht eingeschissen, aber wen interessierte das jetzt noch? Wir waren die Sieger, hatten ihnen gezeigt, wo der Hammer hängt, das allein
zählte. Ab sofort postierten wir Wachen am Bunkereingang und in der näheren Umgebung, die Alarm schlagen sollten, wenn sich irgendwo eine Solterbeck-Nase zeigte. Und viele von uns waren jetzt bewaffnet, mit Messern, Schlagringen, Gaspistolen und Tschakus, für den Fall der Fälle. Aber Solterbecks und Co. hatten ihre Lektion offenbar gelernt: Sie tauchten nicht mehr auf. Hatten wir sie tatsächlich von ihrem Drang geheilt, sich bei uns einzunisten? So recht mochte ich dem Frieden nicht trauen. An einem Sonntag Anfang November
stand Hartmann bei mir vor der Tür: „Der Bunker ist abgefackelt“, meinte er bloß. Ich griff mir meine Jacke, und wir gingen los. Schon von weitem konnte man die Bescherung sehen: rußgeschwärzter Beton über dem Eingang, überall die verkohlten Reste des Mobiliars. Dann der Blick nach drinnen: Nur ein schwarzes, nach Qualm stinkendes Loch war übriggeblieben. Kemal und Piet schleppten leere Benzinkanister an, die sie in der Nähe gefunden hatten. Man konnte sich leicht ausmalen, was passiert war: Sie hatten sich bei Nacht und Nebel angeschlichen, alles mit Benzin übergossen und
angezündet. Die Sachen mussten wie Zunder gebrannt haben. Ich war bloß erstaunt, dass sie diese Aktion überhaupt hinbekommen hatten – anscheinend hatte ihnen der Alk das Hirn noch nicht völlig weggefressen. Alle standen ratlos da. Bodo und Jönck erzählten, die Feuerwehrleute wären mit ihren Fahrzeugen im Gelände stecken geblieben. Sie hatten letztendlich die Brandstelle nur einkreisen und sichern können. Becky, einer aus der Kiffer-Fraktion, schoss eifrig Fotos – er wollte sich an die lokalen Medien wenden. Naiver Trottel!, dachte ich. Die interessierte das doch einen
Dreck. Die ganze Zeit versuchte ich, ebenfalls wütend und enttäuscht zu sein, wie die anderen. Aber ich bekam es nicht hin, hatte im Gegenteil das Gefühl, als ginge mich das alles hier nichts mehr an. Ehrlich gesagt hatte ich nie wirklich geglaubt, dass es mit dem Bunker auf Dauer funktionieren würde. Und jetzt war halt passiert, was in der Nordstadt am Ende immer passierte: Die Alkis kamen und machten alles kaputt. Das war der normale Gang der Dinge, daran konnte man nichts ändern. Schließlich hatte ich keine Lust mehr, mit den anderen vor einem Haufen verkohlter
Trümmer rumzustehen und zu jammern. Ich drehte mich um, sagte „Tschüss“ und ging nach Hause. Jetzt waren wir bloß noch eine Clique wie alle anderen, ohne Dach über dem Kopf, ohne irgendetwas, das uns zusammenhielt. Wir hingen bei Bodo vor der Haustür rum, zofften, stritten, machten uns an. Die Stimmung war einfach beschissen. Manchmal überlegten wir, was Neues aufzuziehen. Uns zum Beispiel hinter der Bahnschiene eine Bude aus Holz zu bauen. Aber den Reden folgten nie Taten, unser Glaube an ein solches Projekt war dahin. Die Polizei ermittelte wegen Brandstiftung, einige
von uns wurden als Zeugen vernommen. Natürlich blieb alles ohne Ergebnis. Eines Nachmittags kam Grundmann mit einem dunkelroten Veilchen an. Zwei aus der Solterbeck-Truppe hätten ihn nach der Schule in die Mangel genommen, berichtete er. Kurz darauf präsentierte uns Köpke einen derben Bluterguss in der Rippengegend und erzählte eine ähnliche Story. Sie hatten uns also noch immer auf dem Kieker. Das mit dem Bunker genügte ihnen anscheinend nicht, sie wollten Rache bis zuletzt. Aber anstatt die Sache offen auszutragen, verlegten sie sich auf
Guerilla-Taktik. Schlugen aus dem Dunklen zu und verschwanden wieder. Wie sollten wir uns dagegen wehren? Nur noch in Gruppen unterwegs sein? Völlig unmöglich! Wir wohnten in unterschiedlichen Gegenden der Nordstadt, gingen im KBZ auf verschiedene Schulzweige, hatten andere Stundenpläne. Immer mehr unserer Leute bekamen nun ihr Fett weg, es ging Schlag auf Schlag. Sogar Bodo erwischte es, sie richteten ihn übel zu: Rippenbruch, Gehirnerschütterung, diverse Platzwunden im Gesicht. Ausgerechnet Bodo, einen unserer stärksten
Leute! Erst jetzt dämmerte uns, mit wem wir uns eigentlich angelegt hatten. Jeder hatte plötzlich nur noch Schiss um den eigenen Arsch, immer mehr Leute blieben weg, die Clique schrumpfte von Tag zu Tag. Das Wetter tat das seinige, um die Auflösung zu beschleunigen: Erst regnete es pausenlos, dann kam der Schnee. Bei Bodo vor der Haustür fror ich jetzt immer wie ein Schneider, meine Füße waren nur noch Eisblöcke. Die Solterbeck-Leute veranstalteten bald regelrechte Treibjagden auf uns. Am Anfang mochte es ihnen ja tatsächlich
um so was wie Ehre gegangen sein, immerhin hatten wir ihnen ziemlich auf die Zwölf gegeben. Aber jetzt wollten sie sich nur noch an unserer Angst weiden, daran zogen sie sich hoch, diese Psychos! Einen nach dem anderen griffen sie sich, nahmen ihn in die Mangel. Eigentlich war es bloß eine Frage der Zeit, bis ich an die Reihe kommen würde. Und schließlich passierte es. An diesem Abend herrschte dichtes Schneetreiben, die Straßen waren wie ausgestorben. Ich hatte bei Piet einen Film geguckt und wollte nur nach Hause. Mir war übel, mein Schädel dröhnte. Ich hätte besser nicht so viel trinken
sollen. Erst registrierte ich gar nicht richtig, dass da ein paar Gestalten von der Seite herankamen. Erst als sie sich vor mir aufbauten, erkannte ich sie: Wladdi stand da, Salami, Kongo und diverse andere. Es war, als hätte mir jemand einen kalten Lappen ins Gesicht geklatscht. Hektisch suchte ich nach einer Fluchtmöglichkeit. Aber nun kamen sie von überall: aus Hauseingängen, Büschen, vom Spielplatz am Ende des Blocks. Selbst die verschneite Wiese hinter dem Edeka-Markt war plötzlich voller schwarzer Schatten – Abhauen
konnte ich vergessen. Ich hatte nur noch Angst, nackte Angst. Gleich würden sie mich zum Krüppel schlagen. Wahrscheinlich waren dies die letzten Momente, die ich gesund erlebte. Ich hätte am liebsten um Gnade gefleht. Einen Augenblick lang passierte nichts, sie genossen anscheinend den Überraschungseffekt. Dann trat jemand aus ihrem Kreis vor – Kongo. Ich roch seine Alkoholfahne, den Rauch in seinen Klamotten. Aber er zögerte. Spürte er meine Angst? Wurde sie über meinen Blick, meine Haltung sichtbar, ohne dass ich es wollte? Seine Schläge kamen
merkwürdig langsam, fast schwerfällig. Als hätte er Mitleid, würde nur seine Pflicht tun. Ich überlegte, wegzuspringen und ihm selbst ein paar reinzusemmeln. Aber das hätte alles nur noch schlimmer gemacht, deshalb hielt ich still, ließ es über mich ergehen.Ich spürte, wie meine Lippe aufplatzte, die Nase zu bluten anfing. Und hoffte mit jedem Schlag, dass es jetzt gut sein würde. Meine Rechnung ging nicht auf. Als ich schon ziemlich benommen war, packten mich welche von hinten. Ich wurde zum Anlieferhof des Einkaufszentrums geschleppt, wo um diese Zeit niemand mehr war. Sie stellten mich vor das
geschlossene Eisentor, und es ging in die nächste Runde. Mit jedem Schlag in die Fresse knallte mein Kopf gegen die Gitterstäbe, und ich sah Sterne, ganze Feuerwerke, die am Nachthimmel explodierten. Irgendwann ließen sie mich einfach in den Schnee kippen. Wahrscheinlich bearbeiteten sie mich noch weiter, als ich lag, aber das bekam ich nicht mehr richtig mit. Als ich die Augen aufmachte, rieselten Schneeflocken auf mich herab. Mühsam rappelte ich mich hoch. Sofort fing alles an, sich zu drehen; das Blut lief mir wieder aus Nase und Mund, der verschneite Boden vor mir sprenkelte
sich rot. Instinktiv griff ich in den sauberen Schnee an der Seite, nahm eine Handvoll und schmierte mir die kalte, weiße Masse ins Gesicht – es half, das Bluten hörte auf. Zu Hause dann der Blick in den Badezimmerspiegel: Ein blaues Auge prangte in meinem Gesicht, meine Ober- und Unterlippe waren aufgeplatzt. Ich sah völlig zermatscht aus. Immerhin fehlte kein Zahn. Dafür hatte ich am ganzen Körper Blutergüsse. Und alles tat mir weh. Muttern erzählte ich am nächsten Tag, dass ich in eine ehrliche Prügelei Mann
gegen Mann verwickelt worden war. Zwar hätte ich dem Typen eine Abreibung verpasst, aber beim Hobeln fielen eben auch Späne. Damit gab sie sich zufrieden. Ich durfte an diesem Tag sogar zu Hause bleiben, musste nicht in die Schule. Die Schmerzen ließen bald nach. Ich hatte anscheinend keine ernsthaften Schäden davongetragen, jedenfalls keine körperlichen. Aber etwas war doch anders seit jener Nacht: Ich bekam nun immer regelrechte Panikattacken, wenn ich draußen unterwegs war. Glaubte Schatten zu sehen, die mich verfolgten, Gestalten, die mir ans Leder wollten.
Ständig war ich auf der Hut, versuchte unübersichtliche Stellen zu meiden, hatte eine starke Abneigung gegen weite Flächen, wollte nicht wieder leichte Beute werden. Sämtliche Wege, die ich draußen zurücklegen musste, gerieten zur Qual. Irgendwie war bei mir der Faden gerissen, ich fühlte mich nur noch erschöpft und müde. Hartmann riet mir, das alles nicht so schwer zu nehmen, sonst würde ich bald durchdrehen und anfangen, weiße Mäuse zu sehen, wie die Alkis. Er selbst steckte das Ganze viel besser weg als ich, obwohl er natürlich auch Kloppe bekommen hatte, und das nicht zu knapp.
Außerdem war er in der Hauptschule deutlich näher dran am Geschehen. Stimmte es, was er sagte? War ich womöglich ein Schlappschwanz, zu weich für die Nordstadt? Auch in Sachen Mädchen merkte ich, dass bei mir die Luft raus war. Der permanente Bagger-Ton, immer auf Anmache, auf Angriff – ich brachte das nicht mehr. Meine Schwäche wurde natürlich sofort ausgenutzt. Die Mädchen zogen alles, was ich sagte, gnadenlos durch den Kakao. Jeder Satz von mir erntete schallendes, geradezu hysterisches Gelächter. Sie fanden immer einen Anlass, mich zu verarschen und
hochzunehmen. Irgendwie konnte ich sie sogar verstehen. Früher hatte ich sie ziemlich mies behandelt, hatte mir eine nach der anderen gegriffen und wieder fallengelassen, wenn sie mir über wurde. Und jetzt kam halt die Antwort, wurden alte Rechnungen beglichen. Manchmal hätte ich am liebsten gerufen: „Kapitulation! Ihr habt gewonnen!“ Aber wie hätte das vor den anderen ausgesehen? Wohl oder übel musste ich mich zusammenreißen und Contra geben. Oder lieber ganz die Klappe halten. Bald stand ich nur noch in der Gegend rum, sagte nichts mehr. Ich wollte nicht wieder ein gefundenes Fressen für die
Weiber werden.
Unter der Zimmerdecke hing dichter, blauer Qualm. Das war ein verdammt guter Spliff gewesen! Hartmann hatte mir das Dope dagelassen, als er Sonntag in die Nordstadt abgehauen war. Ich konnte bloß hoffen, dass der Dunst nicht durchs ganze Haus zog. Klaus wusste mit Sicherheit, wie ein Joint roch. Aber anscheinend schliefen alle längst. Es war zwei Uhr durch. Von draußen kam nicht mehr das kleinste Fünkchen Licht herein, seit Stunden herrschte völlige Stille. Sogar das Heulen in den Heizungsrohren hatte inzwischen
aufgehört. Alles wirkte wie tot. Es war komisch, so dazusitzen und zurückzublicken, die Vergangenheit abzuspulen wie einen Film. Früher wäre mir so etwas nie eingefallen, da hatte nur das gezählt, was von vorn kam. Aber auf einmal schien ich einem Geheimnis auf der Spur zu sein, meinem Geheimnis. Ich durfte den Faden nicht verlieren, musste unbedingt dran bleiben… *** Der Bunker war also abgefackelt. In der Nordstadt jagten uns die Solterbeck-Leute durch die Straßen, und wen sie
erwischten, schlugen sie halbtot. Als wäre das alles nicht genug gewesen, kam es jetzt auch in der Schule zum großen Knall. Jahrelang hatte ich mich am KBZ immer durchgemogelt. Wozu sich den Arsch aufreißen für die Penne, die mit mir und meinem Leben nicht das Geringste zu tun hatte? Und Muttern waren meine Zensuren eh wurscht gewesen, von Vaddern ganz zu schweigen. Also hatte ich zugesehen, dass es für die Versetzung langte, und mir ansonsten ein ruhiges Leben gemacht. Dann waren die ganzen Sitzenbleiber in
meine Klasse gekommen, der erste Schwung in der Achten, der Rest im letzten Sommer in der Neunten. Seitdem funktionierte mein System nicht mehr, irgendeine innere Alarmglocke hatte sich verabschiedet. Ich tat jetzt rein gar nichts mehr für die Schule, machte bloß noch Quatsch, gab den Klassenkasper. Oder ich pennte. Legte den Kopf auf die Tischplatte und träumte was Schönes. Irgendwie musste ich ja den Schlaf nachholen, den ich in der Nacht zuvor versäumt hatte. Weil ich im Bunker oder an der Haustür versackt war. Oder weil ich zu Hause ewig lange vor der Glotze gehockt hatte. Irgendeinen Grund gab es immer. Nicht gerade die besten
Voraussetzungen, um ein Musterschüler zu werden. Aber die anderen in meiner Chaos-Klasse waren auch nicht besser, weshalb meine miesen Zensuren nicht groß auffielen. Die Schule ging mir dermaßen am Arsch vorbei, dass ich nach und nach sogar meine Ausstattung verbummelte. Hefte, Schreibzeug, Instrumente wie Zirkel, Geodreieck und Taschenrechner, sogar die Bücher, die ja Schuleigentum waren – alles weg. Am Schluss hatte ich nicht mal mehr eine Tasche. Ich latschte einfach so in die Schule, schaute beim Nachbarn mit ins Buch, lieh mir zur Not von jemandem Zettel und
Stift. Kurz vor den Weihnachtsferien eröffnete mir Herzog, der Klassenlehrer, dass mein Zeugnis katastrophal ausfallen würde. Vier Fünfen und zwei Sechsen – Versetzung im Sommer akut gefährdet. Ich dachte: Reg dich nicht auf, Mann, ist doch nur'n Halbjahreszeugnis, das wird schon wieder. Aber so leicht sollte ich leider nicht davonkommen. Herzog wollte, dass ich nach den Ferien in die Parallelklasse wechselte. Weigerung hätte keinen Zweck, erklärte er, ansonsten würde er persönlich dafür sorgen, dass ich einen Abflug auf die Realschule machte, er wüsste da Mittel
und Wege… Langsam kapierte ich, was abging: Er wollte ein Exempel statuieren. Machte mich allein verantwortlich für das Tohuwabohu in seiner Klasse, obwohl alle ihren Anteil daran hatten. Er ließ mich über die Klinge springen. Trennte mich von den Kumpels, entsorgte mich in die Parallelklasse, von der alle wussten, dass dort bloß Streber und Spießer waren. Verdammter Dreckskerl! Muttern wurde zum Gespräch einbestellt. Morgens schimpfte sie noch, weil sie deshalb einen wichtigen Termin auf der Arbeit verpasste. Konnte sich gar nicht
erklären, was meine Lehrer von ihr wollten. Abends war sie sichtlich geschockt. Sie hatte von meinem Absturz nicht die leiseste Ahnung gehabt. Zum ersten Mal erlebte ich, dass sie ausrastete. Sie brüllte rum, fühlte sich von mir beschissen und betrogen, machte richtig Theater. Und das bloß wegen eines dämlichen Zeugnisses! Ab sofort würden andere Saiten aufgezogen, verkündete sie unheilvoll. Sie wollte jetzt täglich meine Hausaufgaben kontrollieren. Die verbummelten Schulbücher musste ich vom Taschengeld bezahlen. Und jeden Abend sollte um Punkt zehn Uhr
Zapfenstreich sein, damit ich genug Schlaf bekam. Zehn Uhr! War ich ein kleiner Junge, oder was? Überhaupt – wieso mischte sich die Kuh plötzlich in mein Leben ein? Bisher war ihr doch immer alles egal gewesen. Stinksauer rannte ich in mein Zimmer und schloss die Tür ab. Muttern baute sich draußen auf und wollte, dass ich aufmachte, sonst würde sie die Bullen rufen. Ich brüllte zurück: „Lass mich in Ruhe!“. Es wurde eine Art Belagerungszustand. Wir gifteten uns dermaßen an, dass Henri zu flennen anfing – das hatte er zuletzt als Kind
gemacht. Erst nach und nach dämmerte mir, dass ich eine ziemliche Dummheit begangen hatte. All die Jahre war ich nicht sitzengeblieben, hatte auch sonst in der Schule keine Probleme gemacht. Als Gegenleistung hatte Muttern mich in Ruhe gelassen. Dieser Deal war nun gebrochen, und prompt hatte ich sie am Hals. Schöner Mist! Schließlich passierte auch noch die Sache mit Vaddern… Der Idiot hatte sich wieder mal die Birne zugesoffen und dazu noch irgendwelche
Pillen eingeworfen. Mitten in der Nacht klirrte und schepperte es plötzlich aus Richtung Wohnzimmer, dann folgte ein dumpfer Schlag, als wäre etwas Schweres zu Boden gefallen. Kurz darauf fing Muttern an zu schreien, „Arzt“, „Polizei“ und so weiter. So hatte ich sie noch nie gehört. Henri und ich stürmten ins Wohnzimmer: Vaddern lag am Boden, mit verdrehten Gliedern, brabbelnd, sabbernd. Sein Hemd war zerrissen, auf seiner Brust prangten blutige Schnitte. Hatte der Typ etwa versucht, sich umzubringen? Henri glotzte interessiert auf Vaddern runter. Als er die Wunden und das Blut
entdeckte, huschte ein Grinsen über sein Gesicht – auf so was fuhr er ab, der Sadist. Muttern stand nur schlotternd da und war zu keiner Handlung mehr fähig. Also blieb es an mir hängen, zum Telefon zu greifen. Aber wen rief man in so einem Fall eigentlich an, die Polizei oder eher die Feuerwehr? Schließlich wählte ich einfach „110“. Die Bullen blieben ganz cool und meinten, sie würden einen Krankenwagen schicken. In dieser Nacht herrschte draußen mal wieder totales Schneechaos. Die Männer in den weißen Kitteln wären beinahe nicht durchgekommen. Als sie Vaddern auf der Trage an mir vorbeischleppten,
sah ich, dass die Schnitte auf seiner Brust nur oberflächliche Kratzer waren. Nicht mal einen anständigen Selbstmord hatte er hingekriegt, dieser Loser! Mir war nicht klar gewesen, dass es schon so schlimm um ihn stand. Im Laufe der Jahre hatte ich gelernt, Vaddern möglichst nicht zu sehen und zu hören. Verständigung mit ihm war schlicht unmöglich, bei seinem Alk-Konsum. Und immer lief er rum wie ein Stück Dreck: stinkende Klamotten, fettige Haare, unrasiert. Dass sie ihn auf der Arbeit nicht längst rausgeschmissen hatten, grenzte an ein Wunder. Auf seinen Job warteten doch tausend
andere. Bald wurde er aus der Notaufnahme in eine Entzugsklinik verlegt. Muttern meinte, dort könne er von ihr aus bleiben, bis er Schimmel angesetzt hatte. Ich verstand ihre Wut. Jahrelang hatte sie sein nächtliches Geheul ertragen. Hatte ihn aus der „Schwarzen Hand“ abgeholt, wenn er nicht mehr laufen konnte, hatte seine vollgepissten Klamotten gewechselt. Zum Dank hatte er regelmäßig einen Gutteil Teil Lohns versoffen. Der Typ war für sie die reine Hölle gewesen. Hartmann meinte, in der Entzugsklinik
würde Vaddern so manchen Bekannten treffen. Wahrscheinlich war das gar nicht so falsch. Viele aus der Nordstadt landeten dort, Männer, Frauen, Kinder. Ich nahm mir immer wieder vor, ihn zu besuchen. Man kann den Kerl doch nicht einfach auf den Müllhaufen werfen, dachte ich. Vielleicht ließ sich ja, wenn er endlich trocken war, mal vernünftig mit ihm quatschen. Aber dann fuhr ich doch nie hin. Seit dem Zusammenbruch hatte ich Vaddern nicht mehr wiedergesehen. Und wahrscheinlich würde es auch dabei bleiben. In den Weihnachtsferien bekam ich Grippe, total heftig. Ich schob es auf das
Herumlaufen in Regen, Schnee und Kälte, auf den Winter, der härter war als alle, die ich bisher erlebt hatte. Aber ich ahnte, dass mehr dahintersteckte als bloß das Wetter… Meine Welt war erschüttert. Erst das mit der Solterbeck-Gang und dem Bunker, dann der Knall in der Schule, schließlich Vadderns Absturz. Nichts funktionierte mehr, alles zerbröckelte mir unter den Händen. Das schlimmste aber war: Ich hatte das Gefühl, völlig allein zu sein, von Gott und der Welt abgeschnitten. Tatsächlich war in dieser Zeit tagsüber nie jemand zu Hause. Muttern arbeitete
wie eh und je. Sie musste vor den Feiertagen wohl ordentlich was wegschaffen und interessierte sich nicht dafür, ob jemand krank oder gesund war. Henri war ebenfalls von morgens bis abends unterwegs. Und so dämmerte ich einsam vor mich hin, bei 40 Fieber. Im Fall der Fälle hätte mir keiner geholfen, ich wäre einfach jämmerlich verreckt. Ich begann zu phantasieren, Dinge zu sehen, die gar nicht da waren, Bilder von tückischen Sümpfen, giftigen Nebeln, die über den Boden waberten, mich verfolgten. Weglaufen war fast nicht möglich, mit jedem Schritt versank ich tief im Morast. Die Nebel fanden mich,
hüllten mich ein, nahmen mir den Atem. Langsam wurde ich abwärts gezogen, unerbittlich, unaufhaltsam… *** Dann kam dieser besondere Morgen, kurz vor Weihnachten. Ich hatte geschlafen wie ein Toter und spürte gleich nach dem Aufwachen, dass es mir besser ging. Das Fieber war gesunken, die Gliederschmerzen hatten nachgelassen, auch das Husten tat nicht mehr so weh. Aber da war noch etwas anderes. Eine Art Kraft, die mir von irgendwoher zufloss. Hoffnung, fast Freude. Die
Angst, die bis zuletzt immer stärker, immer mächtiger geworden war, schien plötzlich zurückgedrängt. Woher das neue Gefühl kam, konnte ich nicht sagen, doch ich hatte eine seltsame Ahnung, dass sich in meinem Leben bald etwas ändern würde. Geschirrklappern war zu hören. Komisch, ich wusste sofort, dass dieses Geräusch mich geweckt hatte. Wahrscheinlich weil es nicht hierher gehörte. Es klang, als würde jemand den Tisch decken. Aber das konnte nicht sein. Tisch decken, zusammen essen – wo gab es das? Bei uns jedenfalls nicht. Und auch bei niemandem sonst, den ich kannte. Sicher
träumte ich noch. Henri steckte seinen Kopf zur Tür herein: „Frühstück!“, sagte er knapp und verschwand wieder. Frühstück? War der Wahnsinn komplett? Drehte ich endgültig durch? Sogar Kaffeegeruch meinte ich jetzt wahrzunehmen. Dabei hatte ich derben Schnupfen und konnte gar nichts riechen. Trotzdem – nun war ich neugierig geworden. Ich stand auf, zog mir einen Pulli über und ging in den Flur. Aus Richtung der Küche sah ich einen hellen, warmen Lichtschein, Radiomusik war zu hören. Und mein Schnupfen musste
vorbei sein, denn es roch definitiv nach Kaffee. Als ich in die Küche kam, glaubte ich meinen Augen nicht zu trauen: Da war der gedeckte Tisch, die Kaffeemaschine lief. In einem Topf auf dem Herd sprudelte Wasser mit Frühstückseiern vor sich hin, im Toaster steckten zwei Scheiben. Auf der Fensterbank brannte sogar eine einsame Kerze – wo hatte Henri die ausgebuddelt? Er und Muttern saßen bereits am Tisch. Kaffee wurde mir eingeschenkt, auf meinem Teller landete ein goldbraunes, noch dampfendes Toast. Dann
frühstückten wir gemeinsam. Redeten, tratschten, erzählten uns sogar Witze. Ich hustete vor Lachen, hustete mich regelrecht frei, keuchte den letzten Rest Erkältung aus mir heraus. Mehrmals überlegte ich ernsthaft, mich zu kneifen, um ganz sicher zu gehen, dass ich nicht mehr schlief. Es war wie Weihnachten. Oder noch besser. Und die gute Stimmung blieb. Vadderns Abgang ließ uns regelrecht aufatmen, nach und nach wurde uns klar, wie sehr wir alle unter diesem Typen gelitten hatten. Die Atmosphäre schien sich komplett zu wandeln, auf einmal spürte man etwas wie Zusammenhalt,
Gemeinsamkeit.
Als meine Grippe endgültig ausgestanden war, ging ich los und kaufte mir Material für die Schule: Stifte, Hefte, Geodreieck, Zirkel und Lineal, eine Federtasche, einen Ranzen. Ich hatte beschlossen, es auf dem KBZ noch einmal zu versuchen. Zum ersten Mal in meinem Leben nahm ich mir etwas vor, setzte mir ein Ziel. Bisher hatte ich immer alles einfach laufen lassen. Am ersten Schultag wunderten sich alle, dass ich überhaupt noch auftauchte. Mein katastrophales Zeugnis hatte sich rumgesprochen, und es hieß, ich wäre
von der Schule geflogen. Na, das fing ja gut an! Aber ich durfte mich jetzt nicht verunsichern lassen. 'Bleib bei der Sache, zieh das Ding jetzt durch!', sagte ich mir und musste es in der nächsten Zeit verdammt oft wiederholen. In meiner neuen Klasse war es wie in der Fünften und Sechsten: Alle konzentrierten sich im Unterricht und machten brav ihre Hausaufgaben. Es gab kaum Zwischenrufe, niemand kasperte rum. Erst dachte ich: Was für ein Haufen Weicheier! Aber bald kapierte ich, dass es das Beste war, was mir passieren konnte. Es gab nichts mehr, das mich ablenkte, von meinem Plan abbrachte, zu
retten, was noch zu retten war. Auch die Nachmittage verliefen nun anders. Statt wie früher mit den Kumpels in der Nordstadt oder auf der Bahnschiene abzuhängen saß ich am Schreibtisch und machte Hausaufgaben, paukte Vokabeln, bereitete mich auf Klassenarbeiten vor. Es war hart, ich musste mich ganz schön zusammenreißen. Immer wieder war ich drauf und dran, alles hinzuschmeißen und die Biege zu machen. Muttern kam jetzt immer sehr früh von der Arbeit. Jeden Abend ließ sie sich von mir die Hefte zeigen und prüfte
genauestens, ob ich meinen Schulkrams erledigt hatte. Auch Vokabeln fragte sie mich ab, obwohl sie bloß ein bisschen Englisch und kein Französisch konnte. Sie gab mir immer das deutsche Wort vor, ich musste die Übersetzung nennen. Ihre Taktik ging auf – der bloße Gedanke an die bevorstehende Abfrage-Prozedur genügte, um mich zum Pauken zu bringen. Und jeden Abend um zehn hieß es: ab in die Koje. Kein Zetern und Schimpfen konnte sie erweichen. Die Schulbücher musste ich tatsächlich von meinem Taschengeld ersetzen. Sie waren so teuer, dass bloß ein paar lausige Kröten übrigblieben. Sie reichten
kaum für Tabak, und ich schraubte das Rauchen notgedrungen fast auf Null runter. Qualmte bloß abends ein, zwei Stück vor der Haustür, blieb tagsüber clean. Bald fuhr ich die ersten guten Zensuren ein. Erst dachte ich noch, es wäre Zufall. Aber dann kam die nächste gute Note. Und wieder eine. War ich vielleicht doch nicht so dumm wie angenommen? Etwas geleistet haben, etwas vorweisen können – das kannte ich überhaupt nicht. Sofort fühlte man sich sicherer, unangreifbarer. Man war den Lehrern nicht mehr hilflos ausgeliefert, hatte ihnen etwas entgegenzusetzen, konnte sie
beeindrucken – eine ganz neue Erfahrung. Je weiter das Jahr voranschritt, desto mehr verbesserte sich mein Zensurenspiegel. Schließlich zeichnete sich sogar ganz schwach die Aussicht am Horizont ab, die Versetzung zu schaffen. Aber ich wollte es zu dieser Zeit noch nicht laut aussprechen, aus Angst, die guten Geister wieder zu vertreiben. So viel war klar: Ohne Mutterns Druck hätte ich diese Tretmühle niemals durchgehalten. Sie war unerbittlich, trieb mich gnadenlos an. Zuerst hasste ich sie dafür, aber nach und nach wurde meine
Wut abgelöst durch ein anderes Gefühl: Dankbarkeit. Ich rechnete es ihr hoch an, dass sie sich so um mich kümmerte. Sie hatte sich in der letzten Zeit ziemlich verändert. Zu Hause trug sie jetzt immer Joggingklamotten statt ihres alten, braungrünen Kittels. Die langen Haare mit dem biederen Pony waren vor einiger Zeit einem flotten Kurzhaarschnitt gewichen. Selbst ihre Sprache war anders als früher: Sie drückte sich gewählter aus, nicht mehr so rau und flapsig. Wahrscheinlich kam das von ihrer Arbeit in der Nordstadt-Klinik. Man merkte, dass sie es dort mittlerweile nur noch mit Büroleuten, Bossen und so zu tun
hatte. Die ganze Zeit hatte ich Mutterns allmähliche Verwandlung nicht bemerkt. Vielleicht hatte ich sie auch nicht sehen wollen, hatte sie ignoriert, wie alles, was mit zu Hause zu tun hatte. Aber nun war ich aufgewacht. Der Groschen war gefallen. *** Freitag, der letzte Schultag vor den Osterferien. Muttern und ich fuhren wie geplant nach Eckhorst, an meine neue
Penne. „Wilhelm-Gymnasium“ hieß die, und so altbacken wie der Name wirkte auch das Gebäude: Mauern aus dunklem, verwittertem Backstein, Fenster mit Spitzbögen, der Pausenhof mit Stacheldraht eingezäunt. Im Innern lange Flure mit geweißten Wänden und blitzblanken Linoleumböden. Das alles erinnerte weniger an eine Penne als eher an die Schilderungen von Knästen, die in der Nordstadt kursierten. Als Erstes mussten wir zum Direx. Beim Reinkommen in sein Zimmer erhob sich der Typ und machte eine Verbeugung.
„Doktor Busch“, stellte er sich vor. „Doktor“ – so einem hätten wir am KBZ glatt die Reifen zerstochen. Nachdem er und Muttern irgendwelches Zeugs besprochen hatten, gingen wir zum Lehrerzimmer. Unterwegs klingelte es zur Pause. Kein Gong aus Lautsprechern, wie ich es kannte, sondern ein mechanisches, nervtötendes Schrillen. Überall öffneten sich die Türen der Klassenzimmer, und Schüler strömten raus. „Hofgang!“, dachte ich. Im Knast lief es wahrscheinlich nicht viel anders als hier. Zum Glück trug ich saubere Klamotten.
Muttern hatte mich vorm Losfahren gezwungen, etwas „Ordentliches“ anzuziehen. Eine intakte Hose statt meiner zerrissenen, fleckigen Jeans, einen sauberen Blouson statt der ausgefransten Wrangler-Jacke, auf der hinten ein fettes „Anarchie“-Logo prangte. Erst hatte ich innerlich tausend Verwünschungen ausgestoßen, aber jetzt war ich doch froh:In diesen Plünnen fiel man zwischen den ganzen proper gekleideten Jungs und Mädels ringsherum nicht groß auf. Vorm Lehrerzimmer ließ uns der Direx warten. „Zutritt nur für Personal“ stand groß auf einem Blechschild neben dem
Eingang. Am KBZ wäre so ein Ding spätestens nach drei Tagen weg gewesen, heimlich abgeschraubt von irgendwelchen Trophäenjägern. Überhaupt: Dass Schüler nicht ins Lehrerzimmer durften, wäre dort undenkbar gewesen. Ein alter Mann mit Brille und Ziegenbart trat vor die Tür. „Doktor Wahlstedt.“, schnarrte es unangenehm aus ihm heraus, als er Muttern die Hand reichte. „Ich bin Haukes Klassenlehrer und unterrichte Englisch und Sport.“ „Noch ein Doktor“, dachte ich, mittlerweile ziemlich
genervt. Dann musste ich mitgehen, in meine neue Klasse. Muttern wollte derweil im Auto warten. Ich schlich hinter diesem Wahlstedt her wie ein Gefangener auf dem Weg in die Zelle. Die Pause war vorbei, niemand trieb sich mehr auf den Fluren herum. Schließlich machten wir vor einem Klassenzimmer halt. Wahlstedt wollte, dass ich vorging – und drinnen traf mich fast der Schlag: Die sahen alle wie Babys aus, niemand älter als dreizehn! Einige Jungen spielten Fangen oder irgendwas in der Art. Mädchen und Jungs schienen
sich voreinander zu fürchten: Alle Grüppchen im Raum waren säuberlich getrennt nach Männlein und Weiblein. Das Beste aber kam jetzt: Als Wahlstedt den Raum betrat, rannten alle an ihren Platz und standen stramm. Urplötzlich war es still, man hätte eine Stecknadel fallen hören. Ich musste in einen alten Film geraten sein: knisternder Ton, altmodische Sprache, komische Sitten… „Ich darf euch einen neuen Klassenkameraden vorstellen“, verkündete Wahlstedt in seinem schnarrenden Tonfall, der mir schon jetzt seltsam vertraut vorkam. „Das ist
Hauke.“ Alle glotzten, ich wäre am liebsten in Grund und Boden versunken. Dann packte mich die blanke Wut. Was führte der Kerl mich hier vor? Wollte er mich gleich zu Anfang kleinkriegen? Ich hätte ihm am liebsten einen saftigen Tritt in die Eier verpasst. Aber das ließ ich dann doch – bei Sportlehrern konnte man nie wissen. Auch wenn dieser schon einige Jahre auf dem Buckel hatte. Endlich war es überstanden und ich saß wieder neben Muttern im Auto. Sie wollte natürlich wissen, wie es gewesen war. „Ganz gut“, brachte ich nur heraus.
Ich war einfach noch zu geschockt von meinen Erlebnissen. Der Direx mit seiner Verbeugung, dieser Wahlstedt, die ganzen Babys in der Klasse, ihr Strammstehen zu Stundenbeginn – das konnte doch alles nicht wahr sein! „Du packst das schon.“ Muttern wollte mich anscheinend aufmuntern. Fehlte nur noch, dass sie mir auf die Schulter klopfte! In beiläufigem Tonfall erzählte sie, dass der Direx vorhin, als ich mit Wahlstedt weggegangen war, noch irgendwas von „unsolider Familiensituation“ gefaselt hatte. Auch ein „zweifelhaft, ob der Junge das Jahr schafft“ wäre ihm wohl rausgerutscht.
Na, wenn das keine Ermutigung war! Ganz klar: Der Typ hatte auf mein letztes Zeugnis angespielt, auf die vielen Fünfen und Sechsen. Kein Wort davon, dass ich mich inzwischen verbessert hatte, dass meine Zensuren wieder stimmten. So was interessierte den Herrn Doktor natürlich nicht. Der hätte mich doch am liebsten gar nicht aufgenommen. Bestimmt suchte er schon nach einem Grund, mich so schnell wie möglich wieder loszuwerden. In seine tolle Penne gingen natürlich bloß Kinder aus „ordentlichen“ Familien. Wir kamen nur schleppend voran: Immer wieder fuhren Traktoren im
Schneckentempo vor uns her, eine Autoschlange bildete sich. Sobald die Strecke frei war, überholte ein Fahrzeug nach dem anderen. Bis beim nächsten Trecker das Spielchen von vorn anfing. Ungeduldig zählte ich die Kilometer. Je weiter wir dieses Eckhorst hinter uns ließen, desto besser! *** Abends beim Essen erzählte Muttern noch mal lang und breit von meiner neuen Schule, dem Direx mit seiner Verbeugung und Wahlstedt, meinem zukünftigen Klassenpauker. Henri und
Klaus lachten sich natürlich halb schlapp.Zu guter Letzt kramte sie auch noch dieStory vom Vortag raus, nach dem Einkaufen. Sie meinte, die Nachbarstochter hätte mich die ganze Zeit angeglotzt. Und ich wäre hinterher völlig durcheinander gewesen. „Stimmt ja gar nicht!“, rief ich ärgerlich. „Mach dich doch an sie ran“, schlug Klaus vor. So langsam wurde ich wirklich sauer. Was quatschten die da eigentlich? Mal ein Weib anzugucken hieß doch nicht gleich, dass man was von ihr
wollte. Aber was, wenn sich die Süße tatsächlich für mich interessierte? Darüber hatte ich noch gar nicht nachgedacht. Ich merkte, wie ich gegen meinen Willen rot wurde. „Und wie sollte das laufen?“, fragte ich, krampfhaft auf meinen Teller stierend. „Ich kenn die doch gar nicht.“ „Das ergibt sich schon“, meinte Klaus, „die Chance musst du nutzen, Hauke! Die Frauen warten nicht, da muss man zupacken.“ „Ach was!“, zischte ich, jetzt ernsthaft wütend. Immer glaubte Klaus, mir Mut
machen zu müssen, wenn es um Mädchen ging. Sah ich etwa so aus, als hätte ich das nötig? Hatte ich in der Nordstadt nicht bewiesen, dass ich mithalten konnte, wenn es um Weiber ging, dass ich keine klugen Ratschläge brauchte? Als ich in meinem Zimmer saß, dachte ich noch lange über die Unterhaltung nach. Womöglich war ich selbst schuld daran, wie es immer lief… Irgendwas passierte mit mir, sobald Klaus das Thema Mädchen anschnitt. Jedes Mal fühlte ich mich dann merkwürdig unsicher und ängstlich. Mädchen – das schienen fremdartige, fast unheimliche Wesen zu sein. Und Klaus kam mir vor
wie die Rettung. Er hatte Erfahrung, von ihm konnte man bestimmt Antworten auf die vielen Fragen bekommen, vielleicht auch Tipps, Ratschläge, wie man vorgehen musste. Er merkte das natürlich, wollte mir unter die Arme greifen, mich unterstützen. Oder mich vielleicht auch aufs Korn nehmen, keine Ahnung. Aber wie peinlich war das denn, bitteschön? Auf reif und erfahren machen, sich in Wahrheit aber vor Angst in die Hose scheißen wie ein Knirps? Das konnte nicht sein, das stimmte einfach
nicht! Und doch war es so – irgendwie. *** Klaus war im Januar zu uns gekommen, also kurz nach der Sache mit Vaddern. Er arbeitete ebenfalls in der Nordstadt-Klinik, als Krankenpfleger. Henri behauptete, dass Muttern schon seit längerem ein Verhältnis mit ihm hatte. Vaddern wäre überhaupt bloß deswegen so durchgedreht und hätte neben Alk auch noch Pillen eingeworfen und an sich rumgeritzt, meinte er. Keine Ahnung, ob's stimmte, aber Henri bekam
so einiges mit, was an mir vorbeiging. Eigentlich hätte ich gut auf einen neuen Kerl im Haus verzichten können. Ohne Vaddern war es auf einmal richtig nett geworden, gar nicht zu vergleichen mit vorher. Und nun hieß es plötzlich, dieser Klaus würde bei uns wohnen, jedenfalls an drei Tagen pro Woche. Das war mir nicht geheuer. Ich machte mich auf neuen Ärger gefasst. Aber der kam nicht. Klaus war anders, nicht so beschränkt wie die anderen. Er hatte eine Weile als Entwicklungshelfer in Algerien gearbeitet. Abends trug er manchmal einen komischen Kaftan, den
er sich dort zugelegt hatte. Er meinte, der wäre gemütlicher als jeder Bademantel. Mit mir wollte er immer quatschen. Fragte mich, was so lief, in der Schule, mit den Kumpels und so weiter. Nach und nach ließ ich mich auf seine Annäherungsversuche ein. Wir setzten uns ins Wohnzimmer oder in die Küche, machten uns ein Bierchen auf und laberten. Er verstand, wovon ich sprach, hatte früher selbst einiges erlebt. Schlägereien auf Jahrmärkten, bei Konzerten und Festivals, und er immer mittendrin. Die zahlreichen Tattoos und Narben auf seinen sehnigen Unterarmen zeugten noch davon. Bald merkte ich, dass ich mich ganz gut fühlte, wenn er da
war. Er brachte etwas mit, das die ganze Zeit gefehlt hatte. Früher hätte ich dieses Etwas nicht genau beschreiben können, aber jetzt dachte ich manchmal wieder an unseren richtigen Vater. Ich wollte das eigentlich nicht, der Typ war für mich gestorben, ich hatte ihn längst aus dem Gedächtnis gestrichen. Und auf einmal geisterten wieder die alten Fragen in meinem Kopf herum: Wo er jetzt wohl stecken mochte, ob er überhaupt noch lebte und so weiter. Ich hatte nie richtig verstanden, was damals eigentlich passiert war. Eines Tages war er einfach weg gewesen, wie vom Erdboden verschluckt. Als hätte es ihn nie gegeben. Wir zogen in die Nordstadt,
Muttern fing den Job in der Klinik an, Henri und ich wurden am KBZ eingeschult. Dann war auf einmal Vaddern da, wie selbstverständlich. Alles ging Knall auf Fall, als hätte jemand das Programm umgeschaltet. Zuerst hatte ich noch versucht, mit Muttern über das Thema zu quatschen. Aber sie wurde dann immer ganz komisch, so… fremd und abweisend. Ich bekam es jedes Mal mit der Angst und machte einen Rückzieher. Irgendwann gab ich es ganz auf. Ändern konnte man ja eh nichts mehr. Ich nahm einfach alles wie es war und Schluss. Damit war ich immer gut gefahren. Aber nun war Klaus da. Mit ihm hatte sich viel verändert. Ob Muttern
die ganze Sache jetzt etwas entspannter sah? Vielleicht sollte ich noch mal einen Versuch machen, mit ihr über alles zu reden? Der Gedanke war ziemlich verlockend, aber dann wagte ich es doch nie, die alten Geschichten wieder aufzurollen.
Die Schultage am KBZ verliefen nun immer nach dem gleichen Muster: morgens Unterricht, mittags in der Kantine essen, danach Hausaufgaben oder – an ganzen Tagen – wieder Unterricht, abends ein bisschen fernsehen und um 22 Uhr ins Bett. Die Wochenenden waren auch nicht viel abwechslungsreicher. Aber eigentlich fehlte mir nichts. Im Gegenteil: Ich hatte das Gefühl, endlich mal zur Ruhe zu kommen. Währenddessen ging das Leben in der Nordstadt komplett an mir vorbei. Hätte
nicht Hartmann ab und zu reingeschaut und mich mit Neuigkeiten versorgt, wäre ich völlig abgemeldet gewesen. Er berichtete, dass sich inzwischen alle Welt bei Tom traf. Auch viele aus unserer alten Clique gingen jetzt dort hin. Bei Tom war es warn und trocken, außerdem hatte man seine Ruhe vor den Solterbeck-Leuten. An der Haustür war rein gar nichts mehr los. Tom – ich kannte ihn bloß vom Sehen. Ein komischer Kerl: Wohnte noch immer bei den Eltern, obwohl längst volljährig, angeblich schon über zwanzig. Seine Bude galt in der Nordstadt als Umschlagplatz für Diebesgut. Wenn man
etwas brauchte oder anzubieten hatte, war er die erste Adresse. Irgendwann würden ihn sicher die Bullen hochnehmen. Schon schräg, dass jetzt alle dort rumhingen. Im Laufe des Februar fing das Stubenhocken allmählich an zu nerven. Eine Zeitlang mochte es okay gewesen sein, aber jetzt hatte ich da keinen Bock mehr drauf. Man merkte, dass der Frühling in der Luft lag, trotz der hartnäckigen Kälte. Es wurde längst nicht mehr so früh dunkel, gleichzeitig schaffte ich meine Hausaufgaben nun viel schneller als früher. Was sprach dagegen, mal rauszugehen, wenn ich die
Paukerei erledigt war? Ich konnte mich nicht ewig zu Hause verstecken, scheiß auf die Solterbeck-Leute! Eines Nachmittags hielt ich es nicht mehr aus und rief Hartmann an. Es dauerte keine zehn Minuten, da klingelte er bei mir, um mich abzuholen. Er war völlig aufgekratzt, redete den ganzen Weg über wie ein Wasserfall. Schmiedete Pläne, was wir in der neuen Clique alles zusammen anstellen würden. Bei Tom herrschte tatsächlich der Trubel, den Hartmann beschrieben hatte. Ich sicherte mir ein freies Plätzchen auf einem der speckigen Sofas und nahm die
Sache in Augenschein. Der Raum war proppenvoll, viele Gesichter sah ich zum ersten Mal. Tom machte total auf wichtig, rannte ständig mit dem Telefonhörer am Ohr herum und bequatschte lautstark irgendwelche Deals. Es hieß, die Weiber würden ihm zu Füßen liegen, weil er so viel Kohle hatte. Als ich ihn vor mir sah mit seiner Plauze, den fettigen Haaren und der Kassenbrille, konnte ich mir das nur schwer vorstellen. Die ganze Zeit über blieb ich merkwürdig teilnahmslos und still. Ganz ehrlich: Ich fühlte mich fremd. Die Kerle mit ihrem Gesaufe und Machogehabe, die
Mädels, die mit großkotzigem Gezeter Kontra gaben – passte das ernsthaft noch zu mir? „Alter, reiß dich zusammen!“, mahnte eine innere Stimme. „Wenn du es hier nicht packst, dann nirgends. Und wo willst Du dann hin?“ Bestimmt hatte ich zu lange in meinem Kabuff gehockt, nichts mehr von der Welt draußen mitbekommen. Ich war völlig verweichlicht, ganz klar. Und jetzt musste ich halt zusehen, dass ich mich wieder an die raue Wirklichkeit gewöhnte. Von nun an raffte ich mich jeden
Nachmittag auf und ging zu Toms Clique. Klopfte Sprüche und hoffte, dass sie echt rüberkamen. Schluckte meine Abneigung gegen die Mädchen runter, schäkerte wieder mit ihnen. Tatsächlich schien es zu funktionieren: Ich merkte, dass Toms kleine Schwester, Gabi, angebissen hatte. Sie war 15, also ein Jahr jünger als ich. Besonders dolle sah sie nicht aus, aber sie hatte Super-Möpse. Alles in allem wäre sie kein schlechter Deal gewesen. Und doch tat ich nichts. Es war alles anders als früher. Irgendwas an mir stimmte nicht mehr, war Lüge, Täuschung, Fassade. Interessierte Gabi sich wirklich für mich? Also für den
echten Hauke, so wie er wirklich war? Aber halt: Wer oder was sollte das sein, der „echte“ Hauke? Wo fand ich den? *** Anruf von Hartmann: Er hatte heute seinen Lehrvertrag per Post bekommen. Nun war es also amtlich, dass er im Sommer mit seiner Ausbildung zum KFZ-Elektriker starten würde.In der Nordstadt quatschten mittlerweile alle vom Arbeiten. Die Haupt- und Realschüler hatten Anfang des Jahres ihre Betriebspraktika absolviert. Hartmann war in derselben Firma gewesen, die ihn
nun einstellte. Wenn er und Piet von ihren „Kollegen“ erzählten, vom „Meister“ und „Feierabend machen“, war ich immer hin- und hergerissen. Einerseits beneidete ich die beiden, weil sie bald Kohle verdienten und ihren Eltern nicht mehr auf der Tasche lagen. Andererseits fand ich die Vorstellung, den ganzen Tag in einem Betrieb zu sein, ziemlich gruselig. Schule konnte man zur Not schwänzen, aber den Job? Außerdem: den ganzen Tag nichts als eintönige Knüppelei – stumpfte man da nicht völlig ab? Ich konnte mir nicht helfen: Arbeiten hatte für mich was von moderner Sklaverei.Auch über meinen geplanten Besuch in der Nordstadt quatschten wir.
Ich wollte Donnerstag vor Ostern kommen und bis Montag bleiben. Eine Mitfahrgelegenheit hatte ich schon: Klaus, der über die Feiertage Dienst in der Klinik schob, würde mich mitnehmen. Bloß zurück musste ich mit dem Bus fahren, aber da konnte man halt nichts machen. Kaum hatten wir aufgelegt, fing ich fieberhaft an zu rechnen: Am Samstag vor genau einer Woche waren wir hierhergezogen, und bis Ostern waren es noch immer fast zwei Wochen – ich hatte also noch nicht mal die Hälfte der Zeit in dieser Einöde hinter mir. Aber selbst wenn die Fahrt schon morgen
losgegangen wäre – früher oder später musste ich doch wieder hierher zurück. Es war einfach zum Verzweifeln. Dieser beschissene Umzug – gab's wirklich keine Möglichkeit, ihn irgendwie rückgängig zu machen? *** Als Erster hatte Henri von Mutterns Plänen Wind bekommen. Irgendwann im Februar erzählte er, dass er angeblich ein Gespräch zwischen ihr und Klaus belauscht hatte, über einen Hauskauf irgendwo auf dem Land. Ich hörte gar nicht richtig zu. Bestimmt hatte er
wieder irgendwas falsch verstanden und in seinem Schädel durcheinandergequirlt. An einem Samstag Anfang März gab es das nächste gemeinsame Frühstück. Aber diesmal war die Stimmung anders als an jenem besonderen Morgen vor Weihnachten. Muttern wirkte die ganze Zeit angespannt und nervös. Als ob sie uns was Schlimmes gestehen müsste. Und dann kam es: Wir würden aus der Nordstadt wegziehen! Sie hätte ein Reihenhaus gekauft, erzählte sie, irgendwo an der Küste, in einem Kaff namens Schönhagen. Dieselbe Gegend, in der auch Klaus wohnte. Henri und ich
mussten nach den Osterferien die Schule wechseln, die Wohnung war bereits gekündigt. Im ersten Moment dachte ich an einen verfrühten Aprilscherz. Aus der Nordstadt wegziehen? Unsere Wohnung gekündigt? Schule wechseln? Und dann aufs Land, in ein Dorf – waren wir Bauern, oder was? Da wohnte doch kein normaler Mensch! Das war zu verrückt, das konnte einfach nicht stimmen! Nur sehr langsam wurde mir klar, dass sie es ernst meinte. Es war, als würde eine Bombe platzen. Ein donnernder Knall, eine heftige Druckwelle… und mit
einem Mal war ich wie taub. Benommen versuchte ich die Fakten zusammenzuklauben: Haus, Umzug, Schulwechsel… aber es ging nicht, alles zerrann mir sofort wieder zwischen den Fingern. Wie bei einem Schock. Als ich mich wieder beruhigte und der bitteren Wahrheit ins Auge sehen konnte, packte mich eine Höllenwut. Wenigstens nach unserer Meinung hätte Muttern fragen können. Gerade sah ich in der Schule wieder ein bisschen Land. Auch die Panik, wenn ich draußen unterwegs war, hatte deutlich abgenommen. Okay, mit den Kumpels lief es gerade nicht besonders, aber das konnte alles noch
werden. Und jetzt das. Aber es war typisch für Muttern. Was sie sich in den Kopf gesetzt hatte, zog sie durch, ohne Rücksicht auf Verluste, knallhart. Von nun an fuhren sie, Klaus und Henri jeden Nachmittag in dieses ominöse „Haus“, um dort zu arbeiten. Sie tapezierten, strichen Wände, verlegten Teppichböden und so weiter. Immer wieder wollten sie, dass ich mithalf, aber das konnten sie vergessen. Ich schaltete einfach auf Durchzug, fuhr nicht ein einziges Mal mit raus. Die ganze Nummer lief komplett an mir vorbei, ich machte einfach weiter wie
bisher. Die schlechten Nachrichten rissen nicht ab: Eines Nachmittags erzählte mir Hartmann, dass er bei den Renovierungsarbeiten helfen würde. Klaus hatte ihn engagiert, er sollte die Elektrik im „Haus“ auf Vordermann bringen. Ich war platt. Klar konnte ich verstehen, wenn Hartmann sich ein paar Groschen dazuverdienen wollte, aber warum ausgerechnet beim Gegner? Warum half er diesen Verrätern, die sich aus der Nordstadt verpissen wollten? Trotzdem sagte ich nichts. Hartmann hätte es sowieso nicht kapiert. Geld war für ihn Geld, scheißegal wo es
herkam. Von nun an fiel mir der Gang zu Tom noch schwerer. Was konnte ich dort noch gewinnen? In ein paar Wochen waren wir eh weg. Außerdem verarschten sie mich jetzt bei jeder Gelegenheit: Aufs Dorf musste er, zu den Landeiern – gröl! Schließlich hatte ich genug und blieb nachmittags einfach wieder zu Hause. Hartmann verhielt sich in dieser Zeit wie ein echter Kumpel. Vielleicht plagte ihn auch ein bisschen das schlechte Gewissen. Jedenfalls schaute er, wenn er abends mit den anderen aus dem „Haus“ zurückkam, oft noch auf ein Stündchen
bei mir rein, ehe er zu Tom weiterzog. Wir tranken Bier und schwelgten in Erinnerungen. An die Clique, die Sitzecke hinter der Bahnschiene, den Bunker, die vielen Sachen, die wir zusammen erlebt hatten. Illusionen machte er mir keine. Dieses Dorf, Schönhagen, war anscheinend ein totales Kaff am hintersten Arsch der Welt. Es würde hart werden. Man merkte, dass er Mitleid mit mir hatte. Manchmal trafen wir uns abends auch bei ihm. Seine Familie hatte sich total verändert. Hartmanns Vater arbeitete wieder auf der Werft, wie früher.
Allerdings lag er nicht mehr schwitzend und keuchend mit dem Schweißgerät unter dem Rumpf eines 300-Meter-Tankers, sondern saß gemütlich an seinem Schreibtisch im Konstruktionsbüro – er hatte in Abendseminaren seinen Ingenieur gemacht. Eine krassere Kehrtwende konnte man sich kaum vorstellen – wie mochte der Typ das wohl hingekriegt haben? Alki war absolut das Letzte, woran man dachte, wenn man ihn jetzt sah. Frau Hartmann hatte ihren Putzjob längst an den Nagel gehängt, kümmerte sich nur noch um die Familie. Und Bettina, die früher als schwachsinnig gegolten hatte, war von der Sonderschule
erst auf die Haupt- und dann sogar auf die Realschule gewechselt. Dort gehörte sie wohl zu den Klassenbesten. Nach der Mittleren Reife plante sie noch Abi zu machen. Es kam der letzte Samstag in der Nordstadt. Hartmann wollte, dass ich abends noch mal mit ihm und den anderen loszog. Die Leute um Tom gingen seit einiger Zeit am Wochenende immer auf Piste. Ihr Lieblingsladen war ein Schuppen in der Jahn-Siedlung, die „Teestube“. Eigentlich war Disse das letzte, worauf ich Bock hatte, aber nachdem Hartmann sich in der letzten Zeit so rührend um mich gekümmert
hatte, mochte ich jetzt nicht nein sagen. Also raffte ich mich auf und kam mit. Zu Fuß war der Weg zu weit, man musste mit dem Bus fahren. Die Teestube, unter der ich mir wunder was Tolles vorgestellt hatte, war einfach bloß ein leerer Kellerraum mit nacktem Betonboden. An den Seiten standen simple Schultische, die Wände waren über und über mit Edding vollgekritzelt. Der Lärm in dem Bau war ohrenbetäubend, Quatschen konnte man vergessen. Aber Hartmann und die anderen hotteten sowieso meistens auf der Tanzfläche ab. Ich saß also auf einem der Tische in der Ecke, trank Flens in Serie und wartete, dass die
Zeit verging. Irgendwann sah ich Dominik und ein paar andere aus meiner ehemaligen Chaos-Klasse am KBZ hereinkommen – die Rettung! Großes Hallo, Schulterklopfen, Anstoßen. Jetzt wurde es doch noch lustig. Wir leerten erst drinnen einige Biere, dann meinte Köpke, wir sollten rausgehen, er hätte in den Büschen mehrere Paletten Karlsquell gebunkert. Wir becherten also im Freien weiter. Bald kamen Hartmann, Tom und Piet dazu. Alle verstanden sich prima, es herrschte Partystimmung. An diesem Abend war die Luft total feucht. Obwohl es nicht regnete, fielen dicke Tropfen von den Bäumen.
Gleichzeitig war es fast unwirklich warm. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten erstarrten meine Füße nicht zu Eisblöcken. Ich konnte die Jacke offenlassen, brauchte nicht mal mehr einen Schal – es war wie eine große Befreiung. Schwaddi kam angetorkelt, unter der Jacke eine Ladung Außenspiegel. „Frisch gepflückt“, lallte er, ob wir Interesse hätten. Alle grölten los. Er stolperte die Treppe zur Disse runter. Bestimmt würde er drinnen aufs Maul kriegen, spätestens sobald jemand seine eigenen Außenspiegel von ihm kaufen sollte. Aber das war nicht unser Problem.
Mittlerweile waren wir alle ziemlich blau. Die Stimmung wurde immer besser. Ich merkte, dass ich keine Angst mehr hatte. Dieses permanente Gefühl von Bedrohung, dieser Zwang, immer die Umgebung im Auge zu behalten, jederzeit auf Ärger vorbereitet zu sein – das war plötzlich alles weg. Ich fühlte mich einfach nur frei, konnte völlig sorglos hier draußen stehen und mit den anderen feiern. Die Rückfahrt in einem gestopft vollen Bus. Überall müde, aber zufriedene Gesichter. Mädels, die bei ihren Typen auf dem Schoß saßen. Leute, die in
Grüppchen zusammenstanden und eine letzte Flasche kreisen ließen. Nirgends gab es Stress. Mir war kein Stück schlecht, obwohl ich so viel getrunken hatte.
Als ich aufwachte, lag ich in Hartmanns Zimmer auf dem Gästebett. Hinter dem Vorhang hellster Sonnenschein; man hatte den Eindruck, es wäre schon Mittag. Aber die Uhr zeigte gerade mal halb neun. Aus Hartmanns Ecke kam regelmäßiges Schnarchen, auch vom Flur war kein Geräusch zu hören. Außer mir schien hier alles noch friedlich zu schlummern. Ich konnte mich nicht erinnern, nach einer durchzechten Nacht mal früher aufgewacht zu sein als Hartmann. Wir waren erst gegen vier zurückgekommen,
aber ich fühlte mich so frisch, als hätte ich zehn Stunden geratzt. Und trotz der vielen Biere spürte ich keinen Kater. Ungläubig stand ich auf. Nein – tatsächlich kein Schwindel, keine Übelkeit. Ich ging zum Fenster, zog den Vorhang ein Stück zurück. Die Sonne stand genau zwischen den beiden Hochhäusern gegenüber. Die Gebäude warfen langgezogene Schatten auf die große Edeka-Wiese, die um diese Zeit am Sonntag noch vollkommen leer war. Auch auf den Wegen ringsherum und dem Spielplatz sah man keine
Menschenseele. Und wieder stieg dieses Gefühl von Freude und Hoffnung in mir auf, wie an jenem besonderen Morgen vor Weihnachten. Es hatte mit der Helligkeit zu tun, dem sonnigen Tag, der sich gerade ankündigte, auch mit dem ungewohnt friedlichen Bild da draußen… Normalerweise legte ich mich wieder hin, wenn ich so früh wach wurde. Gammelte rum, wartete, dass der Schlaf wiederkam, was er meistens tat. Aber heute hatte das keinen Zweck, so munter wie ich war. Ich beschloss, aufzustehen und zu duschen. Als ich ins Zimmer
zurückkam, saß Hartmann auf dem Bett und starrte auf den geschlossenen Vorhang. „Geiles Wetter heute.“ Er kratzte sich am Hinterkopf. Ich nickte und rubbelte weiter mein Haar trocken. „Fahren Klaus und deine Mutter heute nach Schönhagen?“ „Glaub schon.“ „Was ist eigentlich mit euren
Rädern?“ „Räder?“ Ich kapierte nicht, worauf er hinauswollte. „Eure Fahrräder – sind die schon weg?“ „Keine Ahnung.“ Ich hatte mein Rad seit Jahren nicht angerührt. Aber dass es bereits ins „Haus“ abtransportiert worden war, davon hatte ich nichts mitbekommen. „Ich denke mal, die Mühlen stehen noch drüben im Keller und rosten vor sich hin“, meinte ich. „Lust auf ne Radtour?“ Er grinste mich
an. Radtour? Was sollte das jetzt? Radtour – so was hatten wir noch nie gemacht. Nur sehr langsam kapierte ich, worauf er hinaus wollte. Aber ich konnte oder wollte es noch nicht recht glauben… „Wir bringen eure Räder nach Schönhagen!“, platzte es aus ihm heraus. „Du deins, ich nehm Henris. Was meinst du?“ Er guckte mich mit diesem typischen Hartmann-Blick an, der nichts als Zustimmung erlaubte. „Wie weit ist denn das?“ Ich versuchte, möglichst ruhig zu bleiben, er sollte mir
den Schock nicht gleich anmerken. „Na, so 60 Kilometer.“ 60 Kilometer Rad fahren? Übers Land, durch die Wildnis? Und er sagte das so lässig, als sollte es mal in die Jahn-Siedlung und zurück gehen – hatte er noch alle Tassen im Schrank? „Was ist los, Mann?“ Er wurde ungeduldig. „Lass uns das machen, okay?“ Ich fand die Idee eigentlich komplett idiotisch. Wir hatten beide keine Kondition. Was, wenn wir irgendwo in
der Pampa schlappmachten? Aber Hartmanns Begeisterung war irgendwie auf mich übergesprungen. Warum eigentlich nicht?, dachte ich plötzlich. Draußen konnte ich im ersten Moment fast nicht glauben, wie mild es war. Die Eiseskälte, die monatelang wie mit Rasierklingen durch die dicksten Winterklamotten geschnitten hatte, war nur noch ein böser Traum. Über uns leuchtete ein weiter, blass-blauer Himmel, man hörte Kindergeschrei, Vogelgezwitscher. Dazu dieser Geruch nach feuchter Erde, wachsenden Pflanzen, beginnendem Leben. Plötzlich war Frühling, als hätte jemand einen
Schalter umgelegt – einen Moment lang fühlte ich mich wie betäubt. Drüben war niemand. Wahrscheinlich hatten sie sich längst nach Schönhagen aufgemacht. „Auch egal“, meinte Hartmann. „Los, guck mal nach den Rädern. Die werden Augen machen, wenn wir da plötzlich aufkreuzen.“ Wie schon geahnt standen die Räder alle noch im Keller. Ich schleppte Henris und meins die Außentreppe hoch und schloss beide am nächsten Laternenpfahl fest. Als ich wieder nach oben in die Wohnung kam, duftete es nach Kaffee und Aufbackbrötchen – Hartmann hatte in der
Zwischenzeit Frühstück gemacht. Wir setzten uns an den Küchentisch und fingen an zu futtern. Irgendwann entstand auf seinem Gesicht ein sehr breites Grinsen. „Würdest du echt bis Schönhagen fahren?“, fragte er, und man hörte den leisen Anflug von Spott in seiner Stimme. „Das war doch deine Idee“, meinte ich perplex. Hartmanns Grinsen wurde noch breiter. Ich schüttelte den Kopf, verstand gar nix mehr. Nur sehr langsam dämmerte es mir, dass sein Vorschlag nie ernst gemeint
war. Er hatte mich aufs Glatteis führen, austesten wollen, wann bei mir endlich der Groschen fiel. „Mann, du bist vielleicht 'n Trottel!“ Er gab mir einen freundschaftlichen Klaps auf den Hinterkopf. „Hast du echt geglaubt, ich will da mit dem Rad hinfahren?“ „Ist auch völlig bekloppt, das Ganze“, murmelte ich bedröppelt. Gleichzeitig war ich erleichtert. 60 Kilometer – was für ein Wahnsinn! Das hätte ein schönes Debakel gegeben… Nach dem Frühstück gingen wir wieder
nach unten. „Was jetzt?“, fragte ich. „Lass uns 'n bisschen rumfahren“, schlug Hartmann vor. Eigentlich keine schlechte Idee, wo die Räder eh schon draußen waren. Mein Stahlross schnurrte wie eine Eins, obwohl es so lange im Keller gestanden hatte. Gute Arbeit, Henri! Das Teil war sein Werk; er betrieb einen schwunghaften Handel mit Fahrrädern aus dem Sperrmüll, von Schrottplätzen oder sonst woher, die er aufmotzte und wieder
verkaufte. Kurze Zeit später standen wir auf der Fußgängerbrücke zwischen Nordstadt und Jahn-Siedlung. Unter uns verlief die Stadtautobahn; der Verkehr brauste und toste endlos. „Da geht 's nach Schönhagen!“, brüllte Hartmann gegen den Krach an. „Auf der neuen Brücke über den Kanal und dann ab in die Walachei. Bis Eckhorst, dann kommt ne Bundesstraße.“ Wie oft ich schon hier gestanden und auf die lärmende Schneise runtergeuckt hatte… sie war immer dagewesen,
gehörte zur Nordstadt wie das Einkaufszentrum, das KBZ und alles andere. Wenn man dort entlangfuhr, dann ins Zentrum zum Shoppen. Dass es auch die andere Richtung gab, aus der Stadt raus, in einen ganz anderen Ort, darüber hatte ich mir nie ernsthaft Gedanken gemacht. Eigentlich war das Autobahnstück zur Stadtgrenze immer eine Art Fremdkörper gewesen, sozusagen exterritoriales Gelände inmitten der vertrauten Gegend. Und das garantiert nicht bloß für mich. Überhaupt – wie eng das Gebiet war, auf dem sich bei uns alles abspielte! Man kannte das eigene Viertel plus die
benachbarten Stadtteile, zum Beispiel die Jahn-Siedlung. Und man wusste vielleicht noch, welche Bus- und Bahnlinien es gab und wohin sie fuhren. Aber das war 's auch schon. Jenseits dieser Grenzen fing schnell die weiße Landkarte an. Und was außerhalb der Stadt kam, hätte ich erst recht nicht sagen können. Die Stadt verlassen, aufs Land fahren – der Gedanke fühlte sich fremd an, sinnlos. Wozu sollte das gut sein? „Mann, und du hast vorhin echt nichts gemerkt!“ Hartmann boxte mich in die Seite. Ging das schon wieder los?
Wahrscheinlich würde er mich noch in drei Jahren damit aufziehen. Aber es stimmte ja, ich hatte nichts gerafft, mich immer weiter mitziehen lassen… Wie es da draußen wohl sein mochte? Was hätte einen erwartet? Und wie musste man eigentlich fahren, um per Rad in dieses Schönhagen zu kommen? Ging das überhaupt? Gab es außer der Autobahn noch eine andere Strecke? „Über den Kanal, dann ab in die Walachei“ hatte Hartmann gesagt… die alte Brücke fiel mir ein: Sie lag ein Stück außerhalb der Nordstadt, ihr gewaltiger Stahlbogen spannte sich in 40 Metern Höhe übers Wasser. Als Pökse
waren wir oft dort oben gewesen. Wir hatten immer die Treppe direkt am Ufer benutzt, aber es gab natürlich auch eine Auffahrt, für die Bundesstraße und die alte Bahnstrecke, die längst außer Betrieb war. Und ich meinte mich zu erinnern, dass dort ein Radweg war. „Lass uns mal zur alten Brücke fahren“, schlug ich vor. „Okay“, meinte Hartmann bloß. Er schien sich nicht zu wundern über meine Idee. Wir mussten ein gutes Stück radeln, bis endlich die Auffahrt zwischen den Hochhäusern auftauchte: ein langsam
ansteigender Wall, mit Gras und Sträuchern bewachsen. Je näher wir herankamen, desto mächtiger türmte er sich vor uns auf. Ob ich so eine Steigung schaffen würde, bei meiner miesen Kondition? Ich hatte mich richtig erinnert: Die Straße hatte tatsächlich einen Radweg, und er war sogar noch einigermaßen in Schuss. Was jetzt? Wirklich da hochfahren? Oder lieber irgendwas anderes vorschlagen, mich rausreden? Nee, jetzt konnte ich nicht mehr zurück, sonst hätte ich vor Hartmann richtig dämlich dagestanden. Es ging also los. Ich machte mich innerlich auf die Hölle
gefasst – aber komisch: Es war ganz leicht, ich spürte so gut wie keinen Widerstand. Irgendwann kapierte ich, dass wir starken Rückenwind hatten, der uns regelrecht hinaufschob. In kürzester Zeit kamen wir oben an, und ich war kein Stück aus der Puste – kaum zu fassen! Am Übergang von der Rampe zur eigentlichen Brücke gab es eine Art Balkon zum Runtergucken. Er war aus Backsteinen gemauert und erinnerte ein bisschen an die Zinnen eines alten Burgturms. Wir setzten uns auf die Brüstung, ließen wie früher die Beine in die Tiefe baumeln, steckten uns eine Kippe an. Es war ziemlich still hier
oben; nur selten kamen Fahrzeuge vorbei, die alten Bahngleise rosteten friedlich vor sich hin. Der Verkehr strömte fast komplett über die besagte Autobahnbrücke. Man konnte sie in einigen Kilometern Entfernung sehen: vier turmhohe Betonpfeiler, je zwei auf jeder Kanalseite, auf denen die beiden Fahrbahnen lagen. Hinter dem Konstrukt ragte das Kraftwerk auf, ein wuchtiger Block mit hohem Kamin, aus dem weißer Rauch quoll. Eine surrende Hochspannungsleitung kam von dort heran, überquerte die Autobahn und unsere Stahlbrücke, dann machte sie einen abrupten Schwenk zum
Stadtgebiet. Gerade tauchte ein gigantischer Pott unter der Autobahnbrücke durch und schwamm auf uns zu. Er schien viel zu hoch für die alte Brücke, jeden Augenblick erwarteten wir, dass es krachte. Aber nichts passierte. Lautlos verschwand der Kahn unter uns, kam auf der anderen Seite wieder zum Vorschein und zog gemächlich weiter Richtung Schleuse. Am Heck hing eine Flagge schlaff herab, es musste die finnische sein. Die Nordstadt mit ihrer Front aus Hochhäusern wirkte von hier aus wie ein
einziges, zusammenhängendes Gebäude: endlose Fensterreihen, die das Sonnenlicht fast brutal reflektierten, Balkone wie Bienenwaben, dazwischen überall grauer Beton – es erinnerte es an eine gewaltige Festung. Wie Wachtürme ragten die Weißen Riesen daraus hervor – sie waren mit ihrem mehr als 30 Etagen die höchsten Gebäude des Viertels. Am Fuß dieser Trutzburg verlief die Bahnlinie zum Kraftwerk, dahinter begann das Schienengelände, unser altes Revier. Es zog sich bis runter zum Kanal und ließ an ein Niemandsland denken, einen vorgelagerten Todesstreifen. Schwärme von Krähen und Möwen kreisten dort an verschiedenen Stellen
herum, manchmal erkannte man inmitten des Dickichts die Felsen der gesprengten Bunker.
Jenseits des Kanals ein völlig anderes Bild: Felder, Wiesen und Knicks, so weit das Auge reichte. Ab und zu ein Teich oder ein kleines Wäldchen. Und ganz hinten verschmolz alles miteinander zu einem einzigen, schmalen Band am Horizont, blassgrün und unerreichbar fern… Die andere Seite. Sie war mir bisher immer egal gewesen. Klar, wie alle in der Nordstadt kannte ich die Abzweigung gleich hinter der Brücke, die zum anderen Ufer runterführte. Einige von uns trieben sich manchmal dort herum,
zum Angeln oder Zelten. Aber wussten sie, wie es dahinter weiterging? Hatten sie jemals die Umgebung erkundet? Bestimmt nicht! Hartmann zeigte auf einen gelben Wegweiser an der Straße: „Eckhorst 38 km“ war dort zu lesen. Sicher hatte das Schild schon immer dort gestanden, aber mir fiel es heute zum ersten Mal auf. In meinem Hirn begannen die Rädchen zu klicken. Nach Eckhorst, hatte Hartmann vorhin gesagt, dann weiter auf der Bundesstraße. Eine Bundesstraße hatte meistens einen Radweg, oder? Dasselbe galt für die
Strecke hier oben auf der Brücke. Hieß: Es gab wahrscheinlich eine durchgehende, fahrradtaugliche Verbindung zwischen der Nordstadt und dem Kaff, in das ich bald zog. Ich hätte also lostreten können und wäre irgendwann dort angekommen. Schönhagen – bisher war das bloß ein Name für mich gewesen, sonst nichts. Aber auf einmal wurde dieser Ort sehr real, er schob sich für einen kurzen Moment ganz nah heran. Unangenehm nah. Die Nordstadt dagegen wirkte plötzlich wie ein Bild, das allmählich davonzog. Sie strahlte Traurigkeit aus, Wehmut, als würde sie spüren, dass bald
der Abschied kam und nichts mehr den Gang der Dinge aufhalten konnte. Auf der Rückfahrt steuerten wir den Imbiss am Einkaufszentrum an, um Bier zu kaufen. Dann machten wir es uns auf einer Bank in der Nähe der Bahnschiene bequem. Manchmal kamen Bekannte vorbei, setzten sich dazu. Einmal sahen wir Ramos, aber er war allein, vom Rest der Solterbeck-Clique keine Spur. Die hockten wahrscheinlich sogar bei diesem Wetter irgendwo drinnen und gossen sich die Schädel zu. Abgesehen davon wären wir mit unseren Rädern eh im Nullkommanichts weg
gewesen. Immer wieder musste ich an das Bild denken, das sich von der Kanalbrücke aus geboten hatte. Den grünen Flickenteppich, das schmale, ferne Band am Horizont. Wie mochte es wohl dort drüben sein, auf der anderen Seite? Ein bisschen schade war's ja schon, dass wir nicht doch ein Stückchen gefahren waren, um uns die Sache mal anzuschauen. Überhaupt fragte ich mich jetzt, weshalb wir in den ganzen Jahren die Räder nicht angerührt hatten. Ewigkeiten hockten wir auf unserer Bank und laberten. Genossen die Wärme, das
Licht, die gute Stimmung, die Leichtigkeit. Erst als es dunkel wurde und langsam die Kälte herauskroch, machten wir uns auf den Rückweg. Aber wir schoben die Räder neben uns her und latschten gemütlich, wollten diesen großartigen Tag bis zuletzt auskosten, keine einzige Minute verschwenden. Der Himmel hatte sich rot gefärbt, die Straßen waren inzwischen verwaist und still. Aber in der Luft lag noch immer dieser besondere Geruch nach aufgewärmten Asphalt, der wie eine Verheißung schien, ein Versprechen: Der Winter war endlich vorbei, jetzt kam der
Frühling. Am nächsten Tag war es wieder regnerisch und so arschkalt wie die ganzen letzten Monate – so viel zum Thema Frühling. Der hatte anscheinend bloß mal reingegrinst, falsche Hoffnungen geweckt und zeigte jetzt allen die Lange Nase. In den folgenden Wochen wurde unsere Wohnung leerer und leerer. Klaus, Hartmann und Henri schleppten alles Mögliche weg und fuhren es ins neue „Haus“. Ich versuchte, das nahende Ende zu verdrängen. Klammerte mich an die wenigen Tage, die mir noch blieben. Saß
abends mit Hartmann zusammen, schwärmte von den alten Zeiten. Wie toll früher alles gewesen war, wie perfekt. Schließlich fuhr der große Möbelwagen vor. Jimmy steuerte ihn, Hausmeister in der Nordstadt-Klinik und bester Kumpel von Klaus. Vor der Abfahrt warf ich einen letzten Blick in die kahlen, auf einmal sehr fremd wirkenden Räume. Dann zog Muttern die Haustür hinter sich zu – es gab keine Wohnung in der Nordstadt mehr. Hartmann und Henri fuhren bei Jimmy mit, für mich blieb nur ein Plätzchen im Kombi von Klaus, auf der Ladefläche.
Als ich dort kauerte, eingeklemmt zwischen Kartons, Stühlen, Wäschebündel und sonstigen Sachen, die nicht mehr in den Möbelwagen passten, fühlte ich mich wie ein Sträfling, der ins Lager abtransportiert wird. Im Magen hatte ich einen schweren Klumpen – Angst. Die Fahrt auf der Autobahn, im Windschatten des Möbelwagens. Durch die Heckscheibe sah ich, wie die Nordstadt langsam hinter uns zurückblieb. Wir überquerten den Kanal, dann ging es über Land. Das Wetter war grau und diesig, man erkannte kaum etwas. Irgendwann fuhren wir von der
Autobahn ab auf eine normale Straße. Kurven, Holpern, einmal überholten wir einen Trecker. Nach etwas über einer Stunde erreichten wir einen Ort. Nervige Kurverei durch die Straßen, dann wieder freies Feld. Einfahrt in eine weitere Siedlung, diesmal mit Reihenhäusern, so viel erkannte ich. Auch die Straßenschilder konnte man jetzt lesen: „Bahnhofstraße“, „Kleiststraße“ und schließlich, hinter einer letzten Kurve, „Eichendorffstraße“. Wir hielten. Die Heckklappe wurde geöffnet, Klaus ließ mich frei. Mit steifen Knochen
kletterte ich von der Ladefläche, reckte und streckte mich, um wieder Blut in die Glieder zu bekommen. Vor uns stand der Möbelwagen mit geöffneter Rücktür; Jimmy, Hartmann und Henri waren längst am Ausladen. Sie schleppten die Sachen durch einen ziemlich verwahrlosten Vorgarten. Das zugehörige Haus, Endstück eines langgezogenen Reihenhausblocks, war völlig mit Efeu zugewachsen, nur um die Fenster und die Tür hatte irgendwer Löcher freigeschnitten. Das blaue Schildchen mit der Hausnummer war ebenfalls sichtbar: „16“. Der Blätterdschungel reichte exakt bis zum Nachbarhaus, wo er schnurgerade abrasiert war. Statt Efeu
leuchtete hier die ockergelb gestrichene Mauer. So ging es weiter bis zur anderen Straßenecke, jede Hausnummer in einer anderen Farbe. Nur unser Haus hatte diesen wild wuchernden Efeu. Es passte kein Stück in die sterile Spießigkeit ringsherum, war ein kompletter Außenseiter, eine Art Rebell – fast sympathisch. Im Vorflur roch es nach Putzmitteln und flüchtig nach Essen. Wahrscheinlich hatte sich der Geruch längst festgesetzt, hing wie eine Patina in den Wänden. Aus irgendeinem Grund ahnte ich schon jetzt, dass ich ihn nicht mehr vergessen
würde… Eine Treppe führte nach oben. Der erste Blick in mein Zimmer: Die neuen Möbel waren schon aufgebaut – der Schreibtisch, das Bett, die Schränke, die Sessel und das Rauchtischchen. Ein rascher Blick aus dem Fenster, aber ich erkannte nicht viel. Dann musste ich mit anpacken. Aber ich half nur so lange, bis meine eigenen Sachen oben waren. Klamotten, Bücher, Anlage und so weiter. Schließlich klappte ich die Zimmertür hinter mir zu – meine Einzelhaft
begann…
***
Eine Woche war inzwischen seit dem Umzug ins Land gegangen. Und noch immer saß ich, umwölkt von blauen Schwaden, in meinem Zimmer auf dem Sessel neben dem Rauchtischchen, dessen Aschenbecher überquoll.
Dass ich nicht ewig hier hocken und in Untätigkeit verharren konnte, war klar. Aber was sonst? Wie sollte es jetzt weitergehen?
Ich hatte nicht den Hauch einer Idee.
Das Frühstück war für mich heute kurz ausgefallen: Henri und Muttern hatten sich total in die Haare gekriegt, wegen irgendeiner Kleinigkeit. Schließlich war ich nach oben geflüchtet. Jetzt saß ich hier, rauchte den ersten Glimmstängel des Tages und glotzte aus dem Fenster. Das Sturmwetter der letzten Tage hatte sich gelegt: keine zerfetzten Wolkengebirge mehr, die über den Himmel jagten, keine peitschenden Böen, keine abrupten Schnee- oder Hagelschauer. Da oben war es nur gleichmäßig grau und still – so konnte es
von mir aus bleiben. Ob sich das Fenster auch richtig öffnen ließ, nicht bloß auf Klappe? Ich versuchte es, aber der Hebel an der Seite des Rahmens klemmte – anscheinend war er lange nicht benutzt worden. Endlich gab er seinen Widerstand auf, und der große Fensterflügel schwenkte zitternd nach innen. Dahinter strömte frische Luft in den Raum. Erst jetzt hörte man das Vogelgezwitscher: laut, vielstimmig, alles andere übertönend – und zugleich merkwürdig sanft, fast harmonisch. Neugierig beugte ich mich nach draußen,
zum allerersten Mal. Der Anblick war – fremd. Wenn man in der Nordstadt irgendwo aus dem Fenster guckte, waren da weite, leere Flächen und Häuserwände; Grau hieß die beherrschende Farbe. Dagegen sah man hier vor allem Grün. Büsche, Hecken, Sträucher, Zierrasen, Bäume der unterschiedlichsten Arten und Formen, teils frisch gepflanzt und noch klein, teils hoch aufgeschossen, mit mächtigen Stämmen. Einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl, in ein kleines Paradies zu schauen. Ein noch fast kahles Paradies, um genau zu sein, aber man konnte deutlich das
Leben in den Pflanzen spüren. Sie wollten endlich wachsen, nachdem sie so lange im Winterschlaf gelegen hatten, wollten ausschlagen, sprießen und gedeihen, grünen und blühen. Dazu die Geräusche der Tierwelt: das aufgeregte Zwitschern der Vögel, das Gurren einer Taube, die gegenüber auf dem Dachfirst hockte, ein Krähenpulk, der durch den Himmel zog, bellende Hunde in der Nachbarschaft – ein Durcheinander von Lauten, das aber seltsam anrührte. Die Regsamkeit der Natur schien auch auf die Menschen auszustrahlen. In vielen Gärten waren Leute am Arbeiten; sie gruben Beete um, jäteten Unkraut,
rechten altes Laub zusammen. Eine Frau schrubbte Gartenmöbel sauber, während ihr Nachbar in Arbeitskleidung auf der Leiter stand und den Mechanismus seiner Markise ölte. Es wurden Fenster geputzt, Terrassen gefegt, Räder geflickt und auf Vordermann gebracht. Ein großes Werkeln hatte eingesetzt, das wie Aufbruch wirkte. Irgendwo quietschte jetzt eine Fahrradbremse. Kurz darauf sah man zwischen den hiesigen Gärten und dem Nachbarblock den Postboten auf dem Plattenweg herankommen. Er verteilte seine Briefe und grüßte die Leute mit lautem „Moin“, hielt Klönschnack mit
ihnen. Alle duzten sich. Und da oben hing dieser beruhigte Himmel. Wurde die Wolkendecke nicht allmählich dünner? Wenn das so weiterging, würde bald die Sonne scheinen… Mir grauste bei dem Gedanken. Sonne, Frühling – normalerweise hieß das rausgehen, Wärme tanken, den Winter austreiben. All das tun, was mir versperrt war. Ich konnte nur hier in meiner Einzelzelle sitzen, aus dem Fenster starren und mich wegträumen. Sonst nichts. Ich war von der Außenwelt
abgeschnitten. *** Zum Mittagessen hatten sich die Gemüter von Henri und Muttern wieder beruhigt, alles war ohne nennenswerten Stress abgegangen. Pappsatt und hundemüde lag ich auf dem Bett. Das Fenster stand wieder auf Klappe; draußen zwitscherten die Vogel lauter denn je. Ein nerviges Rumoren gesellte sich bald dazu – wahrscheinlich von Muttern. Sie hatte vorhin beim Essen angekündigt, die Gartenmöbel schrubben zu wollen. Ob ich ihr helfen sollte? Die
Sachen mussten über den Winter im Keller ziemlichen Dreck angesetzt haben. Aber ich war einfach zu schlapp, konnte mich nicht aufraffen. Irgendwann fielen mir die Augen endgültig zu. Als ich wieder aufwachte, lag alles im Halbdunkel. Der Raum war so ausgekühlt, dass ich zitterte – es mussten Stunden vergangen sein. Von der Terrasse war kein Geräusch mehr zu hören. Schlaftrunken richtete ich mich auf. Wie spät mochte es sein? Der Wecker war neulich stehengeblieben, und meine Armbanduhr hatte ich
verbummelt. Durchs Fenster sah man den Nachbarblock in der Abendsonne leuchten, darüber spannte sich ein makellos blauer Himmel. Nur sehr langsam begriff ich: Es war passiert. Der Vorhang aus Wolken und Dunst war tatsächlich verschwunden, wir hatten schönes Wetter. Der Frühling war endgültig da. Verzweifelt malte ich mir aus, was jetzt in der Nordstadt los war. Die Straßen mussten rappelvoll sein, keinen hielt es bei diesem Wetter noch in den vier Wänden. Auch Hartmann und ich wären
in diesem Moment garantiert auf Achse gewesen. Wir hätten Bekannte im Viertel getroffen, mit ihnen gelabert, wären vielleicht mal zur Bahnschiene runtergegangen, um zu gucken, wer sich dort so rumtrieb. An Tagen wie diesen konnte in der Nordstadt alles passieren, alles war möglich… Aber ich war nicht in der Nordstadt. Ich war hier. Eine Welle aus Frust und Bitterkeit durchlief mich. Wütend zog ich mir Schuhe an und wankte zur Tür. Im Flur traf die Sonne mich mit voller Wucht: Gleißend hell schien sie durchs
Dachfenster herein, ich war regelrecht geblendet. Zum Glück wurde es auf der Treppe ins Erdgeschoss wieder angenehm dämmrig. Vorsichtig tastete ich mich die Stufen hinab, wie in Zeitlupe. Meine Benommenheit wollte einfach nicht verschwinden. Auf halber Treppe blieb ich wieder stehen, als wüsste ich nicht weiter. In diesem Augenblick kam Henri von draußen hereingestürmt, einen Stapel Kartons vor sich hertragend. Ich zog mich so weit wie möglich in die Ecke zurück, wollte nicht, dass er mich in meinem zerknautschten Zustand sah. Zu spät, er hatte mich bereits entdeckt: „Da
bist du ja“, rief er ungeduldig. „Los, komm mal raus. Da sind ein paar Mädchen, die wollen dich kennenlernen.“ Mein Gehirn hatte Ladehemmung. Was für Mädchen? Und was wollten die von mir? Mich „kennen lernen“? Was bedeutete das denn? Dass sie mit mir quatschen wollten? Eigentlich hätte ich Henri gern noch ein bisschen ausgefragt, aber der war schon wieder nach draußen verschwunden. Meine Müdigkeit hatte sich mit einem Schlag verflüchtigt. Ich nahm die letzten Stufen im Laufschritt, stapfte durch die offenstehende Haustür hinaus ins pralle
Sonnenlicht. Hier vorn war es so heiß, dass die Luft flimmerte – kaum zu glauben, dass ich eben noch vor Kälte geschlottert hatte! Überall tobten Kinder herum, Erwachsene standen in Grüppchen zusammen und plauschten. Klaus und Henri luden gerade Sachen aus dem Auto. Sie hatten Gartengeräte eingekauft: Harken, Schaufeln, Spaten und so weiter. Sogar ein Reisigbesen war dabei, wie ihn Hexen in Kinderfilmen hatten. „Wo sind die denn?“, fragte ich Henri, der gerade zur Hälfte in der Heckklappe verschwunden war. Er kam hoch und zeigte zur Straßenecke, wo ein Grüppchen Leute versammelt war. Alle
glotzten zu uns herüber. „Die da“, meinte er. Verdammt, weshalb winkte er ihnen nicht gleich zu? Das war mal wieder typisch! Mit so einem Idioten von Bruder konnte man sich nur blamieren! Und jetzt? Wieder auf die Bude verdünnisieren? Ich wollte mit den Dorftrotteln hier ja eh nichts zu tun haben. Andererseits: Wenn ich jetzt einen Rückzieher machte, hätte das feige ausgesehen. Es half nichts, ich musste da hin, wenigstens auf ein paar Minuten. Mal „hallo“ zu denen sagen. So ein
Mist! Ich holte meine Jacke aus dem Flur. Eigentlich war es warm genug, aber ohne meine Jacke ging ich niemals los. Ich fühlte mich einfach wohler, wenn sie über meiner Schulter hing. „Na, jetzt aber ran, Casanova“, meinte Klaus grinsend und ließ eine große Gartenschere vor mir auf- und zuschnappen. In seinem Mundwinkel steckte eine qualmende Filterlose. „Maul halten“, raunte ich leise. Es kam eine Spur zu hart rüber, aber Klaus nahm es mir nicht übel, im Gegenteil: Sein Grinsen wurde noch breiter. Wahrscheinlich konnte er sich denken,
wie ich mich gerade fühlte. So lässig wie möglich ging ich auf die kleine Gruppe zu. Ich durfte nicht zu schnell werden, nicht zu zielstrebig. Es musste so aussehen, als wäre ich bloß zufällig hier unterwegs. Sie waren zu viert: Zwei Mädchen saßen auf dem Kantstein, eine blond, die andere dunkelhaarig; an der Gartenhecke, ein Stück hinter ihnen, stand noch ein Typ mit seiner Freundin im Arm. Erst jetzt erkannte ich die Dunkelhaarige: Es war die Süße von neulich. Prompt wurde ich noch nervöser. 'Mach dir nicht wegen ein paar Landeiern
ins Hemd!', sagte ich mir. Leider nützte es nicht viel. Die beiden Mädchen ließen mich keinen Moment aus den Augen. In der Nordstadt wäre das ein schlechtes Zeichen gewesen. Wenn die Weiber einen dort auf diese Weise anglotzten, war das pure Verachtung, sie wollten zeigen, dass sie dich komplett scheiße fanden. Aber Verachtung konnte ich in den Blicken der beiden hier nicht entdecken. Nur Neugier, unverhohlene Neugier. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Was sollte ich gleich sagen? Wie waren die Leute hier gestrickt? Was kam gut an,
was war tabu? Ich hatte absolut keinen Plan, fühlte mich plötzlich, als sei ich auf einem fremden Planeten gelandet und sollte mit Aliens Kontakt aufnehmen. Dann war ich bei ihnen angekommen. „Hi.“, brachte ich krächzend hervor. Sonst nichts. Wahrscheinlich klang es unglaublich dämlich. „Hallo“, kam es von den beiden zurück, ziemlich freundlich, fast herzlich. Wenn meine Begrüßung danebengegangen war, hatten sie es jedenfalls nicht gemerkt. Ohne es zu wollen spürte ich
Erleichterung. Stille kehrte ein, und sofort wurde die Fremdheit stärker denn je. Irgendetwas musste jetzt gesagt werden, unbedingt, egal was… Die Süße rettete die Situation: „Und ihr seid gerade hierher gezogen?“, fragte sie. „Ihr Ärmsten!“ Ich atmete auf, war geradezu dankbar für ihren Einsatz. Dann dachte ich: Wieso wir Ärmsten? Das klang ja fast, als wollte sie sich einschmeicheln. „Wie meinst du das?“, fragte ich und schaffte es nicht, mein Misstrauen zu
verbergen. „Na ja, kannst nicht viel machen hier“, kam prompt ihre Antwort. Es klang null nach Verstellung oder Einschleimerei. „Hier ist voll tote Hose“, meinte die Blonde. Jetzt war ich etwas überrumpelt. Eigentlich hatte ich erwartet, dass die beiden alles schönredeten, was mit diesem Nest zusammenhing. Ich wollte es genauer wissen. „Seid ihr auch aus der Stadt hergezogen?“ Das hätte erklärt, warum sie es hier so langweilig
fanden. „Nee, wir sind von hier“, sagte die Blonde und lächelte vorsichtig. „Vom Dörfli.“ Ich wurde immer konfuser. Sie versuchten anscheinend gar nicht erst, sich zu verteidigen, sondern nannten die Dinge beim Namen und Schluss. Wo gab's denn so was? Erneut herrschte ratloses Schweigen. Und wieder war es die Süße, der etwas einfiel: „Auf welche Schule kommst du denn? Auch nach
Schmölln?“ Ich schüttelte den Kopf. „Nach Eckhorst. Auf eine Penne, die sich ‚Wilhelm-Gymnasium’ schimpft.“ Für mich klang der Name noch immer schräg, aber von den anderen lachte niemand. Wahrscheinlich kannte hier jeder diese Schule. „Und ihr seid in Schmölln?“, fragte ich, heilfroh, dass wir nun ein Thema hatten. Beide Mädchen nickten. „Wieso kommst du denn nach Eckhorst?“
Die Blonde ließ nicht locker. Sie sprach leise, aber ihre Stimme hatte einen tiefen, durchdringenden Klang. Ich erläuterte den beiden Mutterns Idee, mich morgens mitzunehmen, um mir die Schulbusfahrt nach Schmölln zu ersparen. „Der soll ja ewig brauchen“, meinte ich. Jetzt nickten beide sehr lebhaft. „Hör bloß auf!“, rief die Süße und winkte ab. „Der nimmt echt jede Milchkanne mit“, meinte die Blonde. Noch immer brachte mich die freundliche Art der beiden ziemlich durcheinander,
dieses Offene, Ehrliche. Ob das gespielt war? Versuchten sie mich mit dieser Taktik einzulullen? Ließen sie demnächst die Masken fallen und legten mit ihrer Verarsche los? Zu den Mädchen in der Nordstadt hätte das gepasst. Ich musste wachsam bleiben, durfte nicht zu sehr auf diese Tour einsteigen… Beide waren 15 und gingen in die Neunte am Gymnasium, wie ich. Nur nannten sie es „Obertertia“. Die Blonde hätte glatt aus meiner neuen Klasse in Eckhorst sein können, wo alle wie Kinder aussahen. Sie war ziemlich mager und hatte noch kaum Oberweite. Die Süße machte da schon einen reiferen Eindruck. Aber das
lag vor allem an ihren großen Möpsen.
Trotz meiner Bedenken laberte ich bald einfach, wie mir der Schnabel gewachsen war, ohne auf Show zu machen, ohne groß zu überlegen, ob ich cool genug rüberkam. Aber es schien zu funktionieren: Nie erntete ich Gelächter, Hohn oder Spott. Sie hörten mir tatsächlich zu und wollten immer noch mehr wissen. Trotzdem blieb ein letztes inneres Misstrauen zurück: Meinten sie es wirklich ernst? Oder lief ich gerade in die Falle? Kam demnächst das böse Erwachen?
Mittlerweile stand die Sonne schon ziemlich tief. Wenn die beiden von ihrem Kantstein zu mir hochschauten, mussten sie immer mit der Hand die Augen abschirmen. Das sah anstrengend aus, und eigentlich wäre es besser gewesen, wenn ich mich zu ihnen gesetzt hätte. Aber dazu konnte ich mich nicht überwinden. Noch vor einer Stunde hatte ich mit den Deppen hier im Ort nichts zu tun haben wollen, und jetzt sollte ich Seite an Seite mit ihnen hocken und auf netter Junge machen? Ich überlegte: Eigentlich war meine
Pflicht längst erfüllt. Ich hatte mit ihnen gequatscht, und sie wussten nun, wer ich war. Alle konnten zufrieden sein. Am besten, ich zog jetzt Leine. Was hatte ich hier noch verloren? Aber irgendetwas hielt mich. Etwas Neues, Ungewohntes. Es fühlte sich gut an, leicht. Noch ein bisschen sollte es weitergehen, bloß ein kleines bisschen. Danach würde ich abhauen und ganz bestimmt nie wiederkommen… Endlich gab ich mir einen Ruck und setzte mich, natürlich neben die Süße. Aber ich ließ eine Lücke zwischen uns frei, um keine Missverständnisse
aufkommen zu lassen. Sofort tat mir das wieder leid. Nach einer Weile sagte sie: „Ich heiß übrigens Kristina.“ Die Blonde beugte sich vor: „Ich bin Maren.“ Ich atmete innerlich auf – anscheinend hatten sie mir meine Aktion nicht übelgenommen. Trotzdem fand ich es komisch, dass sie sich einzeln und mit Namen vorstellten, als wären wir in der Schule. In der Nordstadt hätte das keine Sau gemacht. Dort musste man schon selbst rauskriegen, wie die anderen
hießen. Niemand sprach weiter. Bis ich kapierte, dass ich jetzt am Zug war. Fast hätte meine Stimme versagt, aber endlich bekam ich ein heiseres „Hauke“ rausgewürgt. Ich fand es total peinlich. „Und womit verbringt man hier so seinen Tag, auf dem Dörfli?“ fragte ich schnell, um das blöde Gefühl loszuwerden, wieder locker zu werden. „Och, Leute besuchen. Alte Mühle“, meinte die Blonde. „Im Sommer zum Strand. Oder auf Gut
Neudorf arbeiten“, fügte die Süße hinzu. „Die Jungs sind alle bei der Feuerwehr.“ Wieder die Blonde. Ich verstand bloß Bahnhof und musste nachfragen. Strand? Mühle? Und wieso waren die Jungs alle bei der Feuerwehr? Konnte man da Geld verdienen? Und was war dieses „Neudorf“, von dem sie redeten? Die beiden lachten los. „Gut Neudorf!“, rief die Blonde. „Das ist ein Öko-Bauernhof. Man kann da mithelfen. Oder einfach hingehen, die Leute besuchen, Tiere
angucken.“ Wieder kapierte ich rein gar nichts. Wozu hätte ich auf einem Bauernhof Leute besuchen oder mir dort Tiere angucken sollen? Und sogar mithelfen? Freiwillig? Das klang alles reichlich schräg. „Was ist das für eine Mühle?“, fragte ich, in der Hoffnung, damit auf etwas Harmloseres auszuweichen. „Die ‚Alte Mühle’ “, erklärte die Süße, „unser Jugendtreff. Der Name kommt vom Gebäude. Da war wirklich mal ne Mühle drin, ne Wassermühle. Hast du
bestimmt schon gesehen, im Dorf.“ Ich wusste zwar nicht, was sie meinten, nickte aber trotzdem. Sie brauchten nicht zu wissen, dass ich hier noch rein gar nichts kannte. Aha! Die Alte Mühle war also ein Treff, wie das AWO-Jugendheim in der Nordstadt, wo es immer wieder Kloppereien und Randale gab. Aber die beiden Mädchen schienen mir für solche Sachen zu brav. Irgendwas passte da nicht zusammen. „Wo du herkommst, war bestimmt mehr los als hier, oder?“, fragte die Blonde, oder besser:
Maren. Jetzt sahen sie mich mit großen Augen an, als erwarteten sie eine spannende Story aus der aufregenden Stadt. Also gut, dachte ich, dann wollen wir diese Landeier mal ein bisschen beeindrucken. Aber plötzlich sträubte sich etwas in mir: Sollte ich ihnen wirklich einen vom Pferd erzählen, nachdem sie die ganze Zeit so ehrlich zu mir gewesen waren? Schließlich konnte ich der Versuchung nicht widerstehen. Klar war in der Nordstadt alles anders als hier, da herrschte das pralle Leben, irgendwo ging immer was ab, eine Party folgte auf
die nächste. Nur eins gab's dort nie: Langeweile. Ich kam immer mehr in Schwung, fabulierte von wilden Bandenkriegen, Kameradschaft und Zusammenhalt, Freiheit und Abenteuer. Zwischendurch schossen mir immer wieder Bilder der echten Nordstadt durchs Hirn. Wie uns die Solterbeck-Leute gejagt hatten. Wie ich vermöbelt wurde und mich danach nicht mehr auf die Straße traute, langsam zum Stubenhocker wurde. Aber davon brauchten die Leute hier nix zu wissen. Lieber alles in den schönsten, grellsten Farben ausmalen, Seemannsgarn spinnen, Nordstadtgarn. Das kam einfach
besser. Die ganze Zeit prüfte ich genauestens die Reaktionen meiner beiden Zuhörerinnen, suchte nach ungläubigen Blicken, spöttisch zuckenden Mundwinkeln. Aber ich entdeckte nichts. Anscheinend nahmen sie mir alles ab, was ich ihnen da erzählte. Mehr noch: Sie waren sichtlich beeindruckt, hingen mir geradezu an den Lippen. Während meine Märchenstunde langsam ihrem Höhepunkt entgegenging, gesellte sich auch das Pärchen zu uns. Obwohl ich wie wild am Schwafeln und Gestikulieren war, konnte ich die beiden
aus den Augenwinkeln beobachten. Der Typ schien schon etwas älter zu sein. Er erinnerte ein bisschen an den Versicherungsvertreter aus der Fernsehwerbung: sorgfältig frisierte Locken, adrette Plünnen, dazu ein pausbäckiges, leicht schleimiges Lächeln. Seine Freundin war das perfekte Gegenstück: ein rotwangiges Puppengesicht, in dem etwas Verträumtes und zugleich Hochmütiges, Spöttisches lag. Die Prinzessin und ihr Märchenprinz, dachte ich verächtlich. Gleichzeitig schrillten sämtliche Alarmglocken in mir. Ich hatte das sichere Gefühl, dass vor allem die
Prinzessin misstrauisch war. Sie schien mir meine Story nicht abzukaufen, bloß auf die nächstbeste Gelegenheit zu warten, mich zu blamieren, als Aufschneider zu entlarven. Spätestens jetzt hätte ich eine Pause einlegen und die Lage peilen sollen. Aber es ging nicht. Ich lief mittlerweile auf Hochtouren und konnte nicht mehr aufhören. Und so erzählte ich meinen ahnungslosen Gegenübern, wie wir in der Nordstadt Mofas frisierten. Einige Leute hätten es regelrecht darauf angelegt, neue Rekorde aufzustellen. Schwaddis Karre machte angeblich über 100 Sachen. Es hieß, er hätte den Bullen eine wilde
Verfolgungsjagd geliefert und sie am Ende mit seiner Möhre abgehängt. In der Nordstadt glaubte keine Sau diese Geschichte wirklich. Trotzdem wurde sie ständig herumerzählt und war immer wieder ein Kracher. So lief das halt bei uns: Man haute auf den Putz, je doller, desto besser. Nun schaltete sich der Versicherungsvertreter ein: „Hast du eigentlich selbst ein Mofa oder irgendein anderes Zweirad?“ Er sprach ganz ruhig und besonnen – und doch war es mit meinem Höhenflug schlagartig vorbei. Ich dachte noch: „Irgendein anderes 'Zweirad', wie klingt das denn?“, dann
spürte ich, wie ich abschmierte, jämmerlich zu Boden ging. Der Kerl hatte mich kalt erwischt. Denn außer meiner Krücke von Fahrrad hatte ich nie ein anderes ‚Zweirad’ besessen, schon gar kein motorisiertes. Noch schlimmer: Wenn in der Nordstadt die Schrauber unter uns angefangen hatten, über Ritzel, Krümmer, Kolben, Kupplungen und Pleuel zu palavern, war ich immer abgehauen. Schöner Mist! Der Versicherungsvertreter hatte austesten wollen, ob ich wirklich Bescheid wusste oder bloß auf Dicke Hose machte. Und jetzt hatten wir den Salat, jetzt saß ich richtig in der Scheiße. Verdammt,
welcher Teufel hatte mich geritten, mit diesem Thema anzufangen? Meine beiden Sitzgenossinnen hatten anscheinend nichts mitbekommen, sie warteten gebannt, dass ich weitererzählte. Ob ich versuchen sollte, die Sache zu retten? Ich konnte mir irgendwas aus der Nase ziehen, von wegen, ich hätte meine Karre gerade verkauft, oder so ähnlich. Aber wahrscheinlich machte ich damit alles nur noch schlimmer. Der Versicherungsvertreter würde nachhaken, Details wissen wollen, und dann war ich endgültig geliefert. Es half nichts, ich musste jetzt mit der Wahrheit
rausrücken, wohl oder übel. Ende der Veranstaltung. „Ich hab' keine Karre“, murmelte ich. Zerknirscht glotzte ich den Boden an. Es war völlig still, niemand sprach ein Wort. Nur die Vögel sangen ungerührt ihre Lieder weiter. Ich hätte wetten mögen, dass die Prinzessin jetzt überglücklich war. Sie hatte bekommen, was sie wollte: Ich lag im Dreck, war bis auf die Knochen blamiert. „Ich frag nur, weil“, hörte ich jetzt wieder die Stimme des Versicherungsvertreters, „ich nämlich 'nen Roller hab'. Dachte, man könnte
zusammen ein bisschen rumfahren.“ Wieder dieser ruhige Tonfall. Tat es ihm jetzt Leid, mich bloßgestellt zu haben? Sollte das ein Versuch werden, die Wogen wieder zu glätten? „Äh, mein Name ist übrigens Jürgen.“ Vorsichtig schaute ich nach oben. Er lächelte noch immer sein Vertreterlächeln. „Und das ist Silke.“ Er wies auf seine Prinzessin. Sie lächelte ebenfalls, in ihrem Gesicht keine Spur von Häme. Auch die Mädels auf dem Kantstein sahen mich nach wie vor freundlich und
aufmunternd an, als gäbe es nichts, dessen ich mich schämen musste. Hatte ich mich getäuscht, mir alles bloß eingeredet? Ein Stein fiel mir plötzlich vom Herzen, ein wahrer Koloss. Donnernd und polternd stürzte er in die Tiefe, ich konnte förmlich spüren, wie die Erde unter mir zitterte und bebte… Nach und nach kam die Unterhaltung wieder in Gang. Ich erfuhr, dass Kristina und Silke Geschwister waren. Silke war ein Jahr jünger. Und tatsächlich – die beiden sahen sich ein bisschen
ähnlich. In der Zwischenzeit hatte die Wiese gegenüber sich fast komplett geleert. Nur zwei einsame Gestalten waren übriggeblieben, die jetzt aufstanden und in unsere Richtung latschten. Seltsame Vögel waren das: Der eine sah völlig abgerissen aus, wie ein Penner aus der Nordstadt, nur dass er dafür eigentlich zu jung war. Der andere machte auf Rocker, trug Motorradkleidung mit Nieten und Ketten, war aber ein totaler Hänfling. Beim Näherkommen sah ich außerdem, dass seine Jacke aus Plastik war anstatt aus Leder. Total peinlich! Als ob ein Revolverheld im Wilden Westen
mit Spielzeugpistole rumlaufen würde. „Ey Micha“, rief Kristina und schaute zu dem Dreckigen hoch. „Habt ihr zu Hause eigentlich keine Badewanne?“ „Was soll ich mit ner Badewanne? Fische drin schwimmen lassen oder was?“ Dieser Micha war sichtlich genervt, wirkte aber trotzdem nicht aggressiv. Ein bisschen erinnerte er mich an die Kifferfraktion im Bunker. „Kristina, du bist ganz schön vorlaut mit deinen fünfzehn Jahren“, schaltete sich der Möchtegern-Rocker
ein. Maren konterte: „Und wie alt bist du, Alex, wenn ich fragen darf?“ Der Babyrocker in der Plastikjacke stemmte die Hände in seine schmalen Hüften, als hoffte er, uns damit Respekt einzuflößen. „Siebzehn!“, verkündete er laut. Uns blieb die Spucke weg. Mit seinem Kindergesicht wirkte er höchstens wie zwölf. Kurzes, überraschtes Schweigen, dann schrien alle gleichzeitig:
„Siebzehn?“ „Zeig mal deinen Perso, Alex!“ Kristina streckte die Hand aus und schnippte mit dem Finger. Dieser Alex zeigte ihr einen Vogel. Eine hitzige Diskussion über Alter und Aussehen entbrannte. Kristina meinte, sie und Silke würden oft für Zwillinge gehalten, manche dachten auch, Silke wäre die Ältere der beiden. Ich erzählte von einem Typen aus der Nordstadt, Thomas Zeter, den viele auf 18 schätzten, obwohl er erst 14 war. Auf einmal war ich mittendrin in ihrem Gespräch, als hätte ich immer
dazugehört. Die Abendsonne stand inzwischen mit uns auf einer Höhe; ihr rötliches Licht ließ Kristinas Pupillen aufleuchten wie Bernstein. Ich merkte, dass ich ständig hinguckte, aber ich konnte nichts dagegen machen, immer wieder wurde mein Blick in ihre Richtung gezogen… Als die Sonnen endgültig hinter den Büschen am Ende des Rasens verschwand, wurde es schnell kalt. Alex und der dreckige Michael verabschiedeten sich. Auch wir machten uns auf den kurzen Rückweg, bei den Mädchen gab es gleich
Abendbrot. „Na, dann bis morgen!“, rief Silke in die Runde, als wir zum Haus der Rönnfelds kamen. „Wieso bis morgen?“, fragte ich. „Kommt ihr nach dem Essen nicht mehr raus?“ Alle drei Mädchen schüttelten den Kopf. „So ist das hier auf dem Dörfli“, lachte Kristina, als sie mein belämmertes Gesicht sah. „Wenn's dunkel wird, müssen die Mädels
rein.“ Noch immer dachte ich, die drei wollten mich verschaukeln. Von wegen: Kristina sagte „Tschüss“ und ging ins Haus Nummer 12. Maren war bereits auf der Brentanostraße, sie winkte ein letztes Mal, bevor sie hinter einer Hecke verschwand. Das konnte ja wohl nicht wahr sein! Wir hatten es gerade mal halb acht Uhr! Was waren das denn für altmodische Sitten? Silke und Jürgen betraten ebenfalls den Vorgarten von Nummer 12, blieben dann aber stehen. Was kam jetzt? Anscheinend zelebrieren sie eine Art Abschiedsritual
oder so: Sie sahen sich tief in die Augen, dann legte er den Arm um ihre Hüfte, zog sie leicht an sich… Auf einmal merkte ich, dass ich störte. Ich schlich mich von dannen, linste aber auf dem Sims unserer Haustür noch einmal nach drüben. Leider verdeckte ein hoher Busch die Sicht. Ich spitzte die Ohren, aber absolut nichts war zu hören. Schließlich gab ich es auf und ging hinein. In meinem Zimmer stank es heute nicht nach Rauch und kalter Asche, wie sonst immer: Ich hatte beim Weggehen vergessen, das Fenster zuzumachen, und
jetzt lag ein intensiver Geruch nach frischem Grün und Natur in der Luft. Er schien das Gefühl des heutigen Tages widerzuspiegeln.
Wann und wo würde ich die Leute von eben wiedersehen? „Bis morgen“, hatte Silke gesagt – das konnte viel bedeuten. Und ob sie sich wieder an der Straßenecke trafen?
Aber verdammt – war das nicht vollkommen schnuppe?
Am nächsten Tag hockte ich wieder untätig auf meiner Bude. Der Himmel war genauso blau wie gestern – dieses verdammte Frühlingswetter wollte sich anscheinend festsetzen. Mist, ich hatte ewig darauf gehofft, dass es wärmer wird, und jetzt, wo es endlich soweit war, konnte ich nichts damit anfangen. Hoffentlich gab es bald wieder Regen! Stunde um Stunde verging. Ich saß einfach bloß da, rauchte eine nach der anderen. Zwischendurch glotzte ich immer wieder auf meine Armbanduhr, die ich mittlerweile wiedergefunden hatte.
Die Zeit schien mir wie Sand zwischen den Fingern zu zerrinnen. Einmal kam Muttern ins Zimmer. „Falls du es noch nicht gemerkt hast: Wir haben Frühling! Lass mal frische Luft rein.“ Sie ging zum Fenster und stellte es auf Klappe. „Wie kannst du bloß in dieser verqualmten Bude sitzen?“ Kaum war sie draußen, machte ich das Fenster wieder zu. Unten sah ich den Garten im hellsten Sonnenschein leuchten. Insekten schwirrten umher, der große Busch neben der Terrasse hatte rosafarbene Blüten bekommen. Der Aschenbecher wurde immer voller,
der Nebel im Raum immer dichter. Die Sonne wanderte langsam ums Haus herum und verschwand schließlich ganz. Es wurde wieder dämmrig und kalt, ähnlich wie gestern, als ich aufgewacht war. Irgendwas musste jetzt passieren, unbedingt! Fieberhaft suchte ich nach einer Idee, einem Ausweg. Vielleicht Radfahren? Eigentlich hatte ich dazu überhaupt keine Lust. Außerdem musste ich das Rad erst aus der Garage holen. Trotzdem – besser als hier drinnen zu hocken war es allemal. Und eine leise Stimme sagte mir, dass ich an Straßenecke vorbeikommen würde, wenn
ich zur Garage ging… In der Küche war Muttern gerade am Putzen, das Radio dudelte irgendwelche Schlager. „Den Garagenschlüssel hat Henri“, rief sie mir über den Lärm zu, während sie mit Topfschwamm und Scheuermilch den Herd bearbeitete, „er wollte irgendwas reparieren. Vielleicht ist er ja noch zugange.“ Ja, vielleicht. Und falls nicht – auch egal. Wenigstens hatte ich jetzt etwas vor, hatte einen Plan. Beim Gang durch den Vorgarten zwang ich mich, nur nach vorn zu schauen, nicht zur Straßenecke. Aber als ich zum Gehweg kam, konnte
ich mir einen schnellen Blick doch nicht verkneifen. Da hinten stand niemand. Ich war enttäuscht. Und zugleich erleichtert. Bestimmt war es besser so. Ich ging auf die Straße hinaus, schlug den Weg zu den Garagen ein. Ringsum das gleiche Bild wie gestern: spielende Kinder, schlendernde Leute, Wärme, Helligkeit. Als ich mich der Straßenecke näherte, hörte ich lautes Reden und Lachen von Stimmen, die mir bekannt vorkamen. In meinen Schläfen setzte starkes Pochen ein. Noch konnte ich umkehren, noch war es nicht zu spät…
aber meine Füße bewegten sich wie von allein weiter. Ich erreichte die Ecke, ging herum… … da waren sie. Maren saß auf dem Telefonkasten vor der Gartenhecke des letzten Hauses, bei ihr standen Kristina und Jürgen. Nur Silke, die Prinzessin, fehlte heute. Irgendwie schaffte ich es, cool zu bleiben. „Hi“, sagte ich, ohne eine Miene zu verziehen. Sie begrüßten mich verhalten, fast schüchtern. Dabei blieb es. Ich war wohl am Zug. „Tja, wollte
eigentlich gerade 'n bisschen Rad fahren.“, sagte ich, eher aus Ratlosigkeit. „Aber jetzt kann ich ebenso gut mit euch hier in der Gegend rumstehen“, lief der Satz bei mir in Gedanken weiter. Mist, das war schon mal ein verdammt schlechter Anfang gewesen! Vor der Eckgarage sah ich Henri und den dreckigen Michael an einem Mofa herumschrauben. Es war eine Peugeot, eine absolut peinliche Marke. In der Nordstadt hätte sich keiner freiwillig auf so ein Teil gesetzt. Jürgen und die Mädchen fingen wieder an zu quatschen. Es ging um die Schule und
den Jugendtreff, die „Alte Mühle“, dann um irgendeine Eisdiele, die bald wieder öffnen sollte. Ich konnte nichts beisteuern, war völlig ausgeschlossen. Ob sie das extra machten? Hatte ich gestern zu doll auf den Putz gehauen? Hielten sie mich jetzt für einen Aufschneider und wollten mich loswerden? Mann, dann war es eben so! Ich nahm das hier alles viel zu wichtig! „Ist das Bernd da hinten?“, fragte die Blonde, Maren, die noch immer auf ihrem Telefonkasten saß. Eine
langbeinige Gestalt kam die Kleiststraße entlanggelatscht. Von weitem sah der Typ aus wie ein Nordstädter: lange Haare, dunkle Bartstoppeln, hautenge Lederhose. Die Motorradjacke stand offen, man sah den Nierengurt. Unter dem Arm trug er einen Helm. Ein Biker. Aber wo war seine Karre? Als er näherkam, grinste er plötzlich los wie ein Honigkuchenpferd. Von wegen Nordstädter, dachte ich und konnte ein verächtliches Schnauben nicht unterdrücken. Es gab eine lebhafte Begrüßung mit Umarmungen und Schulterklopfen. Aus
der Unterhaltung bekam ich mit, dass der Typ anscheinend zwei Wochen im Urlaub gewesen und erst vorhin zurückgekommen war. Und deshalb machten die alle so einen Aufstand? In der Nordstadt hätte es ein knappes Hallo gegeben, wenn überhaupt. „Wollte Werkzeug aus der Garage holen“, erklärte der Biker. „Mir ist die Maschine verreckt, musste sie hinten an der Tanke stehen lassen.“ Jetzt kam die Unterhaltung der anderen erst richtig in Fahrt. Ich kapierte rein gar nichts mehr von ihrem Gequatsche, war regelrecht abgemeldet. Irgendwann
wurde es mir zu bunt. Noch fünf Minuten, sagte ich mir, dann ist finito. Ich warf einen Blick zur Garage, sah mein Rad hinten an der Rückwand stehen, tastete nach dem Fahrradschlüssel in den Hosentasche. Bald hörte ich kaum noch zu, schweifte mit den Gedanken immer weiter ab. Als Jürgen mich plötzlich direkt ansprach, zuckte ich vor Schreck regelrecht zusammen. Er musste seine Frage wiederholen: „Kennt ihr beiden euch eigentlich schon?“ Er blickte erst den Biker an, dann mich. Wir schüttelten beide den
Kopf. Jürgen wies auf den Typen in Leder. „Darf ich vorstellen: Bernd Stützer, unser Schrauber vom Dienst“, sagte er in feierlichem Ton. „Bernd, das ist Hauke, dein neuer Nachbar.“ „Hi“, meinte Bernd und grinste mich an. „Dein Bruder ist schon mein bester Kumpel.“ Er zeigte mit dem Daumen hinter sich, zu den Garagen. Ich konnte mir ein kurzes Auflachen nicht verkneifen. Natürlich hatte Henri sich längst eingeschleimt! Wer ein Fahrzeug mit Motor besaß, egal ob Auto oder Karre, war für ihn ein
Gott. Und schon war ich wieder in die Unterhaltung einbezogen. Ich quatschte mit Bernd, fragte ihn dies und das. Insgeheim aber wunderte ich mich noch lange über Jürgens seltsame Vorstellungszeremonie. Das war nun endgültig Fernsehen gewesen, in echt hatte ich so was noch nie erlebt. Aber es hatte geholfen. Ich war wieder dabei. In der Nordstadt hätte mir niemand unter die Arme gegriffen. Wer dort raus war, blieb auch draußen. „Ich komm übrigens auch aus der
Nordstadt“, meinte Bernd irgendwann. Ich glotzte ihn an. Glotzte noch mal, um sicher zu gehen, dass er nicht flunkerte. Dann hakte ich nach. Wo in der Nordstadt hatte er gewohnt? War er auch aufs KBZ gegangen? Welche Lehrer hatte er gehabt? Und wie lange war er schon in diesem Kuhdorf? Bernd hatte im Anklam-Ring gewohnt. Und ja, er war aufs KBZ gegangen. An seine Lehrer konnte er sich nicht mehr erinnern, das war alles schon zu lange her, sechs Jahre oder mehr, genau wusste er es nicht. Er klang ziemlich gelangweilt, als würde ihn die Nordstadt
nichts mehr angehen. In meinen Augen war das wie Verrat, Verrat durch Vergessen. Mir würde das niemals passieren, das schwor ich mir insgeheim. Trotzdem schien noch ein Rest Nordstadt in Bernd zu stecken: Mit ihm ließ sich viel besser quatschen als mit den anderen. Seine Art war mir vertrauter, es gab deutlich weniger peinliche Situationen. Und wir hatten einen ähnlichen Musikgeschmack. Nach allem, was er erzählte, besaß er einen Riesenberg Platten. Ich müsse unbedingt mal vorbeikommen, meinte er. Dazu fuhr er Krad, also Kleinkraftrad, das war in der Nordstadt das Größte. Vielleicht weil
die meisten bloß davon träumen konnten: Allein der Lappen kostete Unsummen, von der Karre ganz zu schweigen. Bernd erzählte, dass er nächstes Jahr sogar den Motorradführerschein machen wolle, um sich dann „was Richtiges“ zu kaufen. Irgendwann merkte ich, dass wir beide die einzigen waren, die quatschten. Jürgen, Kristina und Maren standen bloß da und hörten mit großen Augen zu – es war fast wie gestern, als ich meine Storys erzählt hatte. Aber komisch: Heute störte es mich, die ganze Zeit über die Nordstadt zu reden und dabei so im Mittelpunkt zu
stehen. Bernd schaute auf seine Armbanduhr. „Die Tanke macht demnächst dicht. Ich muss meine Karre da wegholen. Bin gleich zurück“, rief er und stapfte über die Kleiststraße davon. Mittlerweile war die Sonne weg, unangenehme Kälte kroch hervor, wie gestern. Außer uns war niemand mehr draußen. Auch Henri und Micha hatten längst die Biege gemacht, das Garagentor war verschlossen. Wir fingen an zu frösteln. Lange konnten wir nicht mehr hier
stehenbleiben. Endlich kam Bernd, seine Karre neben sich herschiebend. Ich sah sofort, dass es eine KS50 tt war. In der Nordstadt kannte man die verschiedenen Marken, musste sie einfach kennen, ob man nun Bock auf „Zweiräder“ hatte oder nicht. Er stellte die Maschine in der Nachbargarage unter, ließ das Tor herab und kam zufrieden angeschlendert. „Wie sieht's aus?“, fragte er in die Runde. „Gehen wir noch zu mir?“ Jürgen zuckte die Schultern und signalisierte gleichzeitig mit dem Gesicht ein 'warum nicht?'. „Dürft ihr
denn?“ Er schaute die Mädchen an, die ja eigentlich rein mussten. „Zu Bernd vielleicht“, meinte Kristina. „Ich frag beim Abendbrot mal.“ „Und du?“ Er wandte sich an Maren. „Ich glaub‘ eher nicht.“ Sie schüttelte den Kopf. „Aber ich werd's versuchen.“ Wir gingen zurück. Jürgen, Bernd und ich betraten den Vorgarten des Hauses Nr. 14, während Kristina und Maren sich vorsorglich verabschiedeten. Wieder einmal schüttelte ich insgeheim den Kopf über den schnurgerade abrasierten Efeu
an der Grenze zu unserem Haus. Unterm Küchenfenster der Stützers stand eine Gartenbank aus dunklem Holz. Im Flur sah es fast so aus wie bei uns, nur die Tapeten waren etwas dunkler, wodurch alles enger und niedriger wirkte, außerdem standen hier weniger Schuhe auf dem Boden. Neben der Treppe ragte eine mächtige Topfpflanze auf. Bernds Zimmer war unterm Dach, wo bei uns Muttern ihr Schlafzimmer hatte. Er bewohnte die komplette Etage, hatte sogar ein eigenes kleines Bad hier oben, das es bei uns im Haus gar nicht gab. Wenn er auszog, wollten seine Eltern das Ganze als Ferienunterkunft vermieten.
Im Zimmer selbst fiel mir als erstes die Matratzenecke ins Auge: Sie erinnerte verdammt an den guten, alten Bunker. Die Plattensammlung erstreckte sich meterlang über diverse Regale. Und seine Stereoanlage war einfach der Hammer. Derart teure Geräte hatte ich bisher nur in Hifi-Geschäften gesehen, aber nicht bei irgendwem zu Hause. Wir setzten uns, Bernd machte Musik an. Ich fragte, ob Rauchen erlaubt sei. „Klar“, meinte er und stellte mir einen Aschenbecher hin – obwohl er selbst Nichtraucher war. Es klingelte an der Haustür, jemand kam
mit polternden Schritten die Treppe hoch. Gespannt wartete ich, aber dann war es bloß Maren, die ins Zimmer trat. „Was für ein Kampf“, stöhnte sie. „Ich musste hoch und heilig schwören, dass ich nur zu Bernd geh. Meine Güte!“ Kurze Zeit später klingelte es wieder. Ein regelrechter Hoffnungsblitz durchfuhr mich. Vielleicht diesmal? Die Tür ging auf – und Kristina stand im Raum. „Alle wieder fröhlich vereint!“, rief sie und drehte sich zu mir: „Meine Mutter wollte wissen, ob du auch hier bist“, sagte sie und imitierte eine keifende
Stimme: „Ich weiß nicht, ob das der richtige Umgang für dich ist, Kristina. Frau Jansen ist ja schon zweimal geschieden und lebt jetzt in wilder Ehe mit diesem tätowierten Kerl.“ Alle mussten lachen, ich auch. Es war fast wie in der Nordstadt: Wir lümmelten auf Matratzen herum, quatschten, hörten Musik. Ich saß neben Jürgen. Eigentlich hätte ich den Typen bescheuert finden müssen – dieses immer freundliche Lächeln, der Lockenkopf, die sauberen Klamotten. Er war viel zu brav, zu angepasst, trotzdem unterhielt ich mich fast die ganze Zeit mit
ihm. Kristina und Maren hatten überall Teelichter angezündet, die den Raum in geheimnisvollen Glanz tauchten. Immer wieder schaute ich unauffällig in Kristinas Richtung, betrachtete fasziniert ihre braune Haut, die dunklen Augen, die den Kerzenschein reflektierten. Mittlerweile hatte ich aus den Gesprächen herausgehört, dass sie mit Bernd zusammen gewesen war. Aber er hatte vor kurzem Schluss gemacht… Es kam mir fast so vor, als würde sie sich auch für mich interessieren. Schaute sie nicht immer wieder
herüber?
Und was wäre, wenn? Wollte ich das überhaupt? Wie würden die Leute in der Nordstadt reagieren, wenn ich mit ihr ankäme? Was würde Hartmann sagen?
Es blieb sonnig und warm, also traf ich mich weiterhin mit den Dorfleuten. Besser als Stubenhocken war das allemal. Aber ich hielt mich in der zweiten Reihe – hier lief alles so komplett anders als in der Nordstadt, da war es einfach schlauer, denjenigen den Vortritt zu lassen, die sich auskannten. Einiges fand ich richtig schräg. Zum Beispiel machten alle Jungs aus dem Dorf bei der Freiwilligen Feuerwehr mit, das war wie ein ungeschriebenes Gesetz. Einmal pro Woche war Schulung auf der Feuerwache. Erst gab es Theorie, danach
praktische Übungen. Leitern wurden bestiegen, Wasserschläuche ausgerollt und in Betrieb genommen. Alle waren voll bei der Sache, als würde es im Ernstfall wirklich auf sie ankommen. Einmal ließ ich mich von Jürgen breitschlagen, an einer dieser Schulungen teilzunehmen. Er hatte wohl die Hoffnung, mich für das Ganze begeistern zu können, aber das konnte er vergessen. Der Typ war wirklich eine ganz komische Marke. Seinen Feuerwehr-Job nahm er superwichtig, er sprach immer von „Dienst“ und meinte das tatsächlich so. Vor ein paar Wochen war er rangmäßig aufgestiegen, durfte jetzt
Übungen leiten, andere herumkommandieren und ähnliches. Seine dunkelblaue Uniform mit den vielen Streifen und Abzeichen liebte er über alles. In der Nordstadt wäre man eher gestorben, als mit so was gesehen zu werden. Nicht so Jürgen: Er fühlte sich darin wie der Kaiser persönlich. Seine größte Bewunderin hieß natürlich Silke. Ihre Augen klebten geradezu verzückt an ihm und seiner Uniform. Dass Jürgen sie und keine andere gewählt hatte, erfüllte sie sichtlich mit Stolz. Überhaupt Jürgen und Silke – ein seltsameres Paar war mir noch nicht
untergekommen. Seit sage und schreibe zwei Jahren waren sie schon zusammen, und angeblich hatten sie sofort von Heiraten gesprochen – dabei war Silke gerade mal 14! Nach außen versuchten die beiden zu wirken wie die Königspaare auf den Hochglanzzeitschriften, perfekt, makellos und vor allem eines: besonders. Jürgen wohnte im Nachbarblock, und wie der Zufall es wollte, lagen sein Zimmer und das von Silke genau gegenüber. Jeden Abend stellte er eine Lampe mit roter Glühbirne ins Fenster. Sie war von überall zu sehen, auch ich hatte mich schon gefragt, was es damit wohl auf sich hatte. Mittlerweile wusste ich, dass
er Silke damit „Ich liebe Dich“ sagen wollte. Und das war wirklich ernst gemeint. Dass Kristina und Silke manchmal für Zwillinge gehalten wurden, hatte ich anfangs nicht verstanden. Es gab so viele Unterschiede zwischen ihnen. Silke war ein eher heller Typ, im Gegensatz zu Kristina, deren braune Haut tatsächlich leicht südländisch anmutete. Und während Silkes Augen eine undefinierbare, langweilige Farbe irgendwo zwischen Grau und Blau hatten, glühten die von Kristina oft nahezu
schwarz. Auch von ihrer Art her hätten die beiden Schwestern kaum verschiedener sein können. Kristina war ziemlich selbstbewusst, wenn ihr etwas nicht passte, sagte sie es laut und deutlich. Manchmal wurde sie sogar ziemlich ruppig, fast wie die Mädchen in der Nordstadt. Silke dagegen hatte etwas Heimtückisches, Hinterhältiges an sich. Ihre spitzen Bemerkungen konnten immer so oder so ausgelegt werden. Sie verschoss ihre giftigen Pfeile und versteckte sich schnell wieder hinter Jürgens breitem
Rücken. Aber wenn man genau hinsah, entdeckte man doch viele Ähnlichkeiten zwischen den beiden: Sie waren einander fast wie aus dem Gesicht geschnitten, und trotz ihrer üppigen Staturen bewegten sie sich beide sehr weich, fast geziert. Maren blieb mir so fremd wie am ersten Tag. Bei ihr lag es vor allem daran, dass sie kaum den Mund aufmachte, nur still vor sich hinlächelte. Vielleicht dachte sie sich ja ihren Teil, keine Ahnung. Ich jedenfalls konnte in ihr nichts anderes sehen als ein schüchternes, zurückgebliebenes Landei. In der
Nordstadt wäre sie total abgemeldet gewesen. Oft gingen wir ins „Dorf“. So wurde der Kern von Schönhagen genannt, der deutlich älter war als die umliegenden Wohnsiedlungen. Die Häuser strahlten dort etwas Ursprüngliches, fast Gemütliches aus, viele Dächer waren mit Reet gedeckt. Die Straßen hießen „Lütt Dörp“, „Papenwisch“ oder „Twiete“. Eine Gasse, der „Knüll“, war so eng, dass kaum zwei Leute aneinander vorbeikamen. Für Autos war das Dorf gesperrt. Und gerade wurde überall die Teerdecke durch altmodisches Kopfsteinpflaster ersetzt, damit
endgültig alles wieder aussah wie früher. In der Dorfmitte liefen mehrere Straßen und Gassen zur „Grünen Insel“ zusammen, einer mit Bäumen bewachsenen Wiese. Am Rand waren Bänke aufgestellt, von denen aus man über den Mühlenteich blickte. Er war bereits jetzt, im April, arg mit Seerosen zugewachsen. Ein Spazierweg führte einmal ganz um ihn herum. Auf der anderen Seite sah man eine Holzbrücke aus dem Schilf ragen, dahinter lag die historische Wassermühle. Das große Mühlrad drehte sich allerdings nicht
mehr. Die Eisdiele, von der ich die anderen schon so oft hatte reden hören, befand sich ebenfalls an der Grünen Insel. Sie war so etwas wie der Treffpunkt des Dorfes, vor allem abends gab es hier großes „Hallo“ und „Wie geht's“. Man holte sich Eis, setzte sich auf eine der Bänke oder an die niedrige Ufermauer und ließ es sich schmecken. Jeder schien hier jeden zu kennen. Ich selbst hatte immer das Gefühl, von allen Seiten misstrauisch beäugt zu werden. An den Klamotten konnte es nicht liegen. Meine ausgefranste Wrangler-Jacke ließ
ich jetzt lieber im Schrank, rannte stattdessen mit einer neuen, sauberen Jeansjacke und ebenso properen Hosen herum. Vielleicht waren es die langen Haare? Dann hätte Bernd erst recht auffallen müssen, vom dreckigen Michael ganz zu schweigen. Auf Dauer nervte das permanente Geglotze, aber was sollte ich machen? Micha wohnte in einem der fetten Kästen am Ende unserer Straße, von denen ich anfangs gedacht hatte, sie würden leerstehen. Seine Alten hatten anscheinend richtig Kohle, gleichzeitig waren sie völlig durchgeknallt. Micha durfte sie anbrüllen, wie er Lust hatte,
nannte sie „Arschlöcher“, „Schweine“, „Wichser“ und ähnliches. In der Nordstadt wäre er dafür grün und blau geprügelt worden. Und er bekam alles, wirklich alles in den Arsch geschoben. „Ey Papa, ich will 'n Schlagzeug“, brauchte er bloß zu sagen, und schon stand da die fetteste Schießbude. „Ey Papa, ich brauch 'n Mischpult“ genügte, und ihm wurde prompt das absolute Profi-Mischpult herbeigezaubert. Sein Zimmer war im Keller. Er benutzte es gleichzeitig als Übungsraum. Alex sägte auf der Gitarre herum, Micha
schwang die Sticks. Es klang alles ziemlich stümperhaft, was die beiden da produzierten, und es war vor allem eines: laut. So laut, dass seine Eltern, die eine Etage höher in ihrer Halle von Wohnzimmer saßen, wahrscheinlich ihr eigenes Wort nicht verstanden. Trotzdem ließen sie den Lärm klaglos über sich ergehen, taten keinen Muckser. Ob sie sich nicht trauten, etwas zu sagen, oder ob ihnen alles egal war, hatte ich noch nicht herausgefunden. Jedenfalls wunderte es mich bei diesen komischen Eltern nicht mehr, dass Micha immer so dreckverkrustet rumlief. Sein neuestes Steckenpferd war eine
Super8-Projektionsanlage, mit der er seinen Keller zum Kino machen konnte. Den Ton ließ er in Dolby-Stereo über den Verstärker laufen. Jeder Streifen kostete mal eben einen Tausender, und er hatte bereits ein ganzes Regal voll davon – wirklich unglaublich! Ich besuchte ihn manchmal in seinem Keller, wenn er und Alex am Üben waren. Lauschte ihrem Geplärre und Gelärme und baute uns derweil einen Joint. Micha hatte immer irgendwo Dope rumliegen. Wenn die beiden fertig waren, zogen wir das Teil gemeinsam durch. Einmal kam noch jemand dazu, Schohl.
So einen wie den hatte ich noch nie erlebt. Er war unheimlich, irgendwie psycho. Dem traute ich alles zu. Wenn jemand mir erzählt hätte, dass der Typ ab und zu Leuten die Kehle aufschlitzte, einfach weil's ihm Bock brachte, hätte ich das sofort geglaubt. Dieser Schohl kramte einen Riegel Pillen aus der Jackentasche, schmiss sie in die Mitte und meinte, die seien total geil. Alex und Micha drückten sich sofort welche aus der Packung und warfen sie ein. Ich zögerte, hatte plötzlich Muffe. Alk und Joints kannte ich, aber diese Dinger? Was machten die mit einem? Schließlich lehnte ich ab, mit irgendeiner
billigen Ausrede, und erntete prompt von allen Seiten verächtliche, fast bemitleidende Blicke. Mit einem Schlag waren die Rollen komplett vertauscht: Ich, der Großstädter, sah vor diesen Landeiern ganz klein aus. Und genauso fühlte mich auch. Plötzlich hatte ich es sehr eilig, aus Michas Keller herauszukommen. *** Hartmann war am Telefon. Über eine Woche war es inzwischen her, da wir zuletzt gequatscht hatten. Ich berichtete ihm von den neuesten
Ereignissen. „Mensch Hauke!“, rief er, als ich fertig war. „Sieh bloß zu, dass du da ganz schnell wegkommst! Such dir Arbeit, mach ‘ne Lehre, was auch immer. Verdien Geld und nimm dir hier ‘ne billige Bude. Da draußen wirst du bekloppt, Mann!“ Mit einem Schlag wurde mir klar, wie abgefahren meine Story für jemanden klingen musste, der warm und trocken in der Nordstadt saß. Dabei hatte ich schon eine entschärfte Fassung geliefert, in der zum Beispiel Jürgens rote Lampe fehlte oder sein Bock auf
Uniformen. Nach dem Gespräch wurde mir auf einmal ziemlich mulmig. Verdammt, was war los? So lange hatte ich mich darauf gefreut, wieder in die Nordstadt zu fahren. Und jetzt, da es endlich losgehen sollte, bekam ich plötzlich Schiss! Ich versuchte mir Mut zu machen. Endlich wieder mit den Kumpels labern, wie ich es gewohnt war, sagte ich mir, ohne Missverständnisse und Peinlichkeiten. Wieder richtige Mädels treffen, nicht solche Dorftussen wie hier. Durch die altbekannten Straßen laufen. Aber es half nicht
viel. Zu allem Unglück hatte Klaus gestern im Suff seinen Wagen gegen die Leitplanke gesetzt – Totalschaden. Jetzt durfte ich mit dem Bus fahren. Drei Stunden Gezockel über die Dörfer – es war wirklich zum Verzweifeln! *** Am Mittwoch vor Ostern wurde es mit einem Mal wieder bewölkt und saukalt. Das gute Wetter hatte sich genau eine Woche gehalten. Als ich vormittags zum Treffpunkt an der
Straßenecke kam, waren alle schon dort versammelt: Maren, Bernd, Kristina, Jürgen und Silke. Die Mädchen planten einen Besuch auf dem Öko-Bauernhof, von dem sie mal gequatscht hatten. Und sie wollten ernsthaft zu Fuß latschen, quer durch die Walachei! Mir blieb vor Schreck glatt die Spucke weg. „Fünf Kilometer sind doch wohl nicht weit!“, stichelte Silke, als ich protestierte. Pikiert zog sie die Augenbraue hoch und bedachte mich mit einer Miene tiefster Verachtung. Natürlich mal wieder sie! Inzwischen war ich mir sicher, dass sie mich nicht leiden konnte. Aber so viel war klar: Das
beruhte auf Gegenseitigkeit! Die anderen gingen sich „umziehen“, wie sie meinten. Als sie zurückkamen, hatten sie Bundeswehrparkas, Arbeitshosen und ähnliches an. Das Beste aber war: Alle trugen Gummistiefel! Jürgen riet mir, ebenfalls welche anzuziehen. Er hätte zu Hause noch ein altes Paar rumliegen, die könne ich haben, meinte er allen Ernstes. Ich lehnte dankend ab. Gummistiefel – so was kam mir nicht an die Füße! Draußen in den Feldern musste ich einsehen, dass das ein Fehler gewesen war. Der Weg war total aufgeweicht, an manchen Stellen versackte man
regelrecht. Meine Turnschuhe standen bald vor Dreck und Schmodder. Und andauernd fuhren Trecker vorbei, die noch mehr Matsch von den Feldern mitbrachten. Als wir in einen Wald kamen, wurde der Weg sauberer. Ich wischte mir den Matsch von den Schuhen, so gut es ging. Aber die Erleichterung währte bloß kurz: Der Wald war kleiner als erhofft, und dahinter fing das Elend natürlich von vorn an. Zum Glück hatten wir nicht mehr weit zu laufen, bis wir zum Gut kamen. Schon nach fünf Minuten wusste ich,
dass dies der letzte Ort war, an dem ich sein wollte. Überall wieselten Ökos mit ihren Felljacken und Stirnbändern rum. Typen wie die hatte ich schon immer inbrünstig gehasst. Schwebten mindestens zehn Zentimeter über dem Boden, taten ständig, als hätten sie den totalen Durchblick. Und wer anderer Meinung war als sie, kriegte natürlich sofort den Nazi-Stempel aufgedrückt. Andauernd kamen riesige Hunde angerannt, die laut kläfften und uns beschnüffelten. Die anderen hatten keine Angst vor den Bestien, sie kannten ihre Namen und streichelten sie sogar. Ich war ziemlich baff, als ich hörte, wie
einige der Körnerfresser mit Jürgen Termine der Freiwilligen Feuerwehr abstimmten. Offenbar waren sie dort ebenfalls Mitglieder. Bernd fachsimpelte derweil mit einem langmähnigen Jesustypen im beschmierten Blaumann über irgendwelche Traktoren, die sie fürs Gut anschaffen wollten. Die Mädchen erkundigten sich bei einem Oberguru mit Glatze und Rauschebart, ob die Lämmer schon geboren waren. 'Lämmer'?, dachte ich, haben sie wirklich gerade 'Lämmer' gesagt? „Lasst uns mal einen Rundgang machen“, schlug Kristina vor. „Hauke kennt das hier ja alles noch gar
nicht.“
Super, antwortete ich in Gedanken, einen Bauernhof wollte ich schon immer besichtigen!
Der Guru schaute an mir herab: „Am besten, du ziehst dir Gummistiefel an.“
Ich war drauf und dran, dem Arschloch eine zu semmeln. Das einzige, was mich zurückhielt, waren die Riesenköter. Die flößten mir einen Heidenrespekt ein.
Mitgefangen, mitgehangen, dachte ich und latschte resigniert hinter den anderen her. Im Haupthaus durfte ich mir ein Paar Gummistiefel für Gäste aussuchen. Dann begann eine endlose Wanderung durch Ställe, Gehege, Scheunen und Remisen. Immer wieder waren wir von Federvieh umgeben, das frei zwischen den Gebäuden herumlief. Einmal rollte eine Meute dreckverkrusteter Schweine auf uns zu. Ihr Hirte, kaum älter als wir, maß höchstens 1,60. Er trug eine seltsam gemusterte Wollmütze, in der Hand hielt er einen Holzstecken. Ungefähr so stellte
ich mir einen Gnom vor. Es ging in die Bäckerei, wo uns dunkles, warmes Brot in die Hand gedrückt wurde. Dann in die Molkerei, wo in gekachelten Verschlägen Kühe an den Schläuchen der Melkmaschine hingen. Schließlich in die Metzgerei, wo gerade Hartwürste hergestellt wurden. Bis dahin hatte ich immer geglaubt, alle Ökos wären Vegetarier. Die ganze Zeit über vermied ich krampfhaft, an mir runterzugucken, um meine Füße nicht sehen zu müssen, die in olivgrünen Gummistiefeln steckten. Das dämliche Bild hätte sich mir für alle
Zeiten ins Hirn eingebrannt, ganz sicher. Zum Glück hing nirgends ein Spiegel. Wir kamen in den Schafstall, wo die Mädchen endlich ihre heißersehnten Lämmer bestaunen konnten. Tatsächlich sah es rührend aus, wie die kleinen Wesen auf ihren dünnen Beinchen durchs Stroh tapsten. Ihr Fell war noch nass und dampfte in der kühlen Luft. Immer wieder kam es vor, dass eines der Tiere sein Gleichgewicht verlor und einfach umkippte. Schließlich fragte der Typ, der uns herumgeführt hatte, ob wir noch zum Mittagessen bleiben wollten. Von
irgendwoher war lautes Tellerklappern zu hören, als ob gerade aufgedeckt würde. Die anderen sagten sofort zu. Sie mussten das Essen von vornherein eingeplant und sich von zu Hause das Okay geholt haben. Ich überlegte, ob ich allein zurückgehen sollte. Aber dann blieb ich doch – das Rumgerenne war verflucht anstrengend gewesen, außerdem hatte ich mittlerweile ziemlichen Kohldampf. Wir latschten also zurück zum Haupthaus. Es wäre das ehemalige „Herrenhaus“, erklärte mir der Öko-Pax. Die Kommune hätte es in jahrelanger Arbeit komplett saniert. Okay, aber
weshalb erzählte er mir den ganzen Kram? Sah ich etwa so aus, als würde mich das interessieren? Der Flur war jetzt voller Leute. Gerade hatte ich die Gummistiefel zurückgestellt und wollte wieder in meine Turnschuhe steigen, als ich sah, wie die anderen sich jeder ein Paar Filzschlappen aus dem Nachbarregal griffen. Anscheinend trug man die hier drinnen: Sämtliche Füße, die ich entdecken konnte, steckten in solchen Latschen. Beim Gedanken, selbst in so was zu steigen, regte sich neuer Widerstand in mir – aber am Ende war der Hunger
stärker. Wir kamen in eine Art Gemeinschaftssaal mit langen Tischen und Holzbänken. Obwohl bereits reger Andrang herrschte, fanden wir noch zusammenhängende Plätze. Irgendwann öffnete sich die Flügeltür zur Küche, und Leute in weißen Arbeitsklamotten rollten Essenswagen herein. Die Töpfe wurden über die Tische verteilt, dann tat man sich auf. Es erinnerte mich an die Klassenfahrt in der Vierten. Wobei das Essen hier eindeutig besser schmeckte, um nicht zu sagen: verdammt lecker. Und es gab reichlich. Trotzdem wäre ich gestorben, wenn jemand aus der
Nordstadt mich zwischen den ganzen Hippies gesehen hätte, noch dazu in diesen komischen Filztretern. Nach ziemlich genau einer halben Stunde leerte sich der Saal ebenso rasch, wie er sich gefüllt hatte – diese Öko-Typen konnten es anscheinend kaum abwarten, wieder an ihre Arbeit zu kommen. Ich sah mich ebenfalls schon wieder in Gummistiefeln, dachte, wir würden noch stundenlang hier rumlaufen, aber die anderen quatschten von Zurückgehen. Anscheinend hatten sie genug gesehen – ein Glück! Wir waren schon halb vom Hof runter,
als einer der Ökos uns hinterherrief: „Helft ihr dieses Jahr wieder mit?“ „Klar!“, grölte Bernd zurück. Mir blieb keine Zeit, darüber nachzudenken, wovon die Rede sein mochte, denn ich kämpfte bereits wieder mit dem Schmodder auf dem Feldweg. Hinter der Hofeinfahrt nahmen wir diesmal die entgegengesetzte Richtung. Erst dachte ich, wir wollten noch irgendwo anders hin, aber dann führte der Pfad doch wieder auf den Wald zu. Wir liefen anscheinend einen Rundweg. Auf einmal entdeckte ich am Horizont
eine Gruppe Hochhäuser. Der Anblick dieser Nordstadt-artigen Kästen inmitten der Felder war so unwirklich und absurd, dass ich einen Moment lang nicht mehr wusste, wo ich mich befand. „Das Ferienzentrum“, erklärte Jürgen, als er meinen Blick bemerkte. „Hotels, Schwimmbäder, Läden, Discos und so weiter. Ist total was los, jedenfalls in der Saison.“ „Und wann ist die Saison?“, wollte ich wissen, noch immer reichlich durcheinander. „Fängt demnächst an“, meinte
er. Gerade hatte ich es noch bereut, überhaupt mitgegangen zu sein, aber nun schienen sich völlig neue Aussichten zu eröffnen. Ich überlegte ernsthaft, die Biege zu machen und diesem Ferienzentrum einen Besuch abzustatten. Bernd schien meine Gedanken zu erraten: „Hey, lasst uns noch zum Ferienzentrum gehen!“, schlug er vor. Erst gab es unwilliges Gemurre, aber dann waren doch alle einverstanden. Allerdings hatte er sich wohl mit der Länge des Weges verschätzt: Wir latschten und latschten, aber die
Betontürme wollten nicht näherkommen. „So dauert das ewig“, stöhnte er. „Lasst uns einfach über die Koppeln laufen.“ Erst dachte ich, er würde einen Witz machen: Das Gelände schien ziemlich aufgeweicht, an einigen Stellen sah man große Wasserflächen. Außerdem trieb sich in einiger Entfernung ein Pulk Kühe herum. Aber die anderen fingen tatsächlich an, über den Weidenzaun zu klettern. Klar, sie waren fein raus mit ihren ihren Gummistiefeln. So ein Mist! Notgedrungen stieg ich hinterher. Die Nässe war sogar noch schlimmer als befürchtet, bei jedem Schritt schmatzte es laut unter meinen Sohlen. Irgendwann
spürte ich kaltes Wasser in meinen Schuh laufen. Zu allem Unglück hatten sich in der Zwischenzeit auch noch die Kühe in Bewegung gesetzt. Zielstrebig kamen sie in unsere Richtung getrabt. „Die gehören bestimmt zum Gut“, meinte Silke. „Wahrscheinlich wollen sie was zu fressen haben“, überlegte Maren. Die Herde kam näher und näher. Und jetzt? Auch den anderen wurde die Sache offenbar unheimlich, wir begannen zu laufen. Die Kühe taten es uns gleich und liefen ebenfalls. Währenddessen wurde
der Grund immer weicher. Meine Schuhe saugten sich permanent fest und drohten im Morast stecken zu bleiben. Ich überlegte ernsthaft, sie mitsamt der Socken auszuziehen und barfuß weiterzulaufen, scheiß auf die Peinlichkeit! Endlich wurde es wieder trockener, und ich begann zu wetzen, was das Zeug hielt. Die Viecher waren mittlerweile schon ziemlich nahe. Ich erreichte den Zaun, kletterte hektisch drauf los. Fast war ich schon drüber, als ich abrutschte und am Stacheldraht hängenblieb. Aber ich achtete nicht darauf, wollte nur auf die andere, sichere
Seite… Geschafft! Die Kühe standen hinter dem Zaun und muhten laut, aber sie kamen nicht mehr weiter. Erst jetzt sah ich, was bei meiner verunglückten Kletteraktion passiert war: Der Stacheldraht hatte meinen Handballen sozusagen geteilt. Zwei helle Hautlappen waren entstanden, die sich jetzt dunkelrot einfärbten. Dann schoss das Blut hervor und lief in Bächen die Hand hinab – mir kamen glatt die Tränen, eher vor Schreck als vor Schmerzen. Die anderen standen besorgt um mich herum, die Mädchen verarzteten mich mit Taschentüchern. Ich fühlte mich wie der totale Volltrottel. „Bist du gegen
Tetanus geimpft?“, fragte Jürgen. Das war in diesem Moment wirklich das letzte, was mich interessierte. Endlich hörte das Bluten auf, und wir liefen zwischen den Koppeln weiter. Vom Ferienzentrum sprach niemand mehr. Nach einer Weile passierten wir die Stelle, wo wir vorhin über den Zaun geklettert waren, kurz darauf kamen wir wieder in den Wald. In der Hand spürte ich mittlerweile nur noch ein dumpfes Pochen. Auf einmal wurde mir die Gegenwart der anderen zu viel. Ich drosselte das Tempo, ließ sie vorausgehen, bis sie schließlich
aus meinem Blickfeld verschwanden. Es wurde sehr still, auch der kalte, böige Wind legte sich. Die Bäume zu beiden Seiten, gerade noch von unserem Lärm zurückgedrängt, schienen wieder näher an den Weg heranzurücken. Mein Blick tastete sich durch das Wirrwarr aus Stämmen, Geäst und Buschwerk. Alles war noch kahl, über einer mit Wasser gefüllten Senke lagen Nebelschwaden. Die wenigen Vogelstimmen, die man hörte, klangen verloren. Nein, hier war nichts zu spüren von Frühling und beginnendem Leben, hier herrschte noch immer Winter. Gerade war ich noch erleichtert gewesen,
allein zu sein, aber in dieser trostlosen Atmosphäre fühlte ich mich auf einmal völlig verlassen, von aller Welt abgeschnitten. Ich dachte an die Kumpels in der Nordstadt, das baldige Wiedersehen, aber das half auch nicht. Zu meiner Linken tauchte jetzt etwas zwischen den Bäumen auf, das gut und gern ein Dach sein konnte. Ein Haus? Gab es dort ein einzelnes Haus mitten im Wald? Aber auf einmal konnte ich es nicht mehr finden. Ich kniff die Augen zusammen, suchte alles ab. Nein, ich musste mich getäuscht haben – da hinten war nur ein dichtes Knäuel unbelaubter Bäume und Sträucher, sonst gar
nichts. Ich ging schneller, wollte die Clique einholen. Da sah ich es wieder auf: ein rotes Ziegeldach. Trotz der Entfernung stand es gestochen scharf vor mir, ich konnte Erker und Kamine ausmachen. Zugleich schien der Anblick unwirklich, wie eine Fata Morgana. Hinter einer Wegbiegung verschwand das Haus endgültig in den Tiefen des Waldes. Mehrmals schaute ich noch zurück – vergebens. Ich riss mich los und fing an zu laufen. Als ich die anderen wieder einholte, drehten sie sich kaum nach mir um – als hätten sie gar nicht gemerkt,
dass ich kurz weg gewesen war. Wir passierten eine Abzweigung mit einem hölzernen Wegweiser: „Neuschönhagen“. Dort wohnte Klaus. Erst hatte ich gedacht, es sei ein Teil von Schönhagen, aber mittlerweile wusste ich, dass es ein eigenständiger Ort war, mehrere Kilometer entfernt. Hinter dem Wald ging es wieder mit dem Matsch los, der Weg bis zum Dorf zog sich noch ewig. Als wir endlich das gelbe Ortsschild von Schönhagen erreichten, stöhnte ich vor Erleichterung laut auf. Ich schwor mir innerlich, niemals mehr auch bloß in die Nähe dieses dämlichen Bauernhofs zu
kommen. Beim Abschied hörte ich, wie die anderen sich für den Ostersonntag verabredeten. Es klang fast, als würden sie sich bis dahin nicht mehr sehen. Maren und Kristina erklärten mir, dass über Ostern auf Familie gemacht wurde. Verwandte kamen zu Besuch, es gab großes Essen, sonntags ging es sogar zum Gottesdienst. Auch Geschenke gab es, wie zu Weihnachten, immerhin. Der ganze Trubel endete erst am Sonntagabend. In der Nordstadt hieß Ostern vor allem Ferien und ein paar gute Filme im
Fernsehen. Als Kinder hatten Henri und ich noch Nester gesucht, aber aus diesem Alter waren wir lange raus. Reichlich schräg, dass sie hier noch so ein Brimborium um dieses Fest machten. Zu Hause reinigte ich die blöde Wunde und klebte ein Heftpflaster drauf. Meine arg lädierten Turnschuhe schmiss ich einfach in die Tonne. Hatten ihre besten Tage eh längst gesehen, die ollen Dinger, sie sauberzumachen lohnte nicht mehr. Mittlerweile war ich heilfroh, endlich hier wegzukommen. Hartmann hatte ganz recht: Ich durfte nicht in diesem Nest versauern. Nur ärgerte ich mich jetzt
ziemlich, auf Bernds Angebot eingestiegen zu sein: Er wollte am Donnerstag zum Shopping in die Innenstadt fahren und meinte, ein Abstecher in die Nordstadt wäre überhaupt kein Problem. Schließlich hatte ich mich breitschlagen lassen, bei ihm mitzufahren. Ein bisschen war wohl auch die Gegenwart der Mädchen an meiner Zusage schuld gewesen: So oft hatte ich vor ihnen mit den Nordstadt-Bikern geprahlt, dass ich jetzt ungut kneifen konnte. Mit Bernd also. Schönhagen traf auf Nordstadt. Am liebsten hätte ich diese beiden Welten auf ewig getrennt gehalten, aber der Deal ließ sich jetzt nicht mehr
zurückdrehen.
Ach, Schluss mit dem Gejammer! Wenigstens blieb mir so die stundenlange Busfahrt erspart. Und ich würde endlich hier rauskommen, was wollte ich mehr? Würde endlich erfahren, wie es den Leuten in der Nordstadt inzwischen so ging. Ob es bei Tom neue Gesichter gab? Und was mochte wohl aus der Solterbeck-Gang geworden sein?
Stärker denn je spürte ich nun, dass ich in die Nordstadt und sonst nirgends hingehörte. Am besten kam ich gar nicht wieder hierher nach Schönhagen zurück.
Die Krad-Tour brachte richtig Spaß. Bernd fuhr einen heißen Reifen, trotzdem hatte er die Sache jederzeit im Griff. Wenn es bloß nicht so eiskalt durch meine Jeans gezogen hätte! Ich verfluchte mich innerlich, keine Lederhose zu besitzen. Außerdem hing mir bei Tempo 100 der Rucksack wie ein Stein auf dem Rücken. Im Nu legten wir 60 Kilometer lange Strecke zurück. Als wir in die Nordstadt einfuhren, bekam ich Herzklopfen: endlich wieder zu Hause! Man merkte, dass Bernd sich auskannte: Sicher
steuerte er durch die Straßen, nie zögerte er. Auch den Weg zum Einkaufszentrum fand er problemlos. Es war noch ziemlich früh am Tag. Auf dem Parkplatz standen kaum Autos, die Betonfläche vorm Eingangsportal war so gut wie menschenleer. Beim Absteigen spürte ich erst richtig, wie durchgefroren ich war. Bernd verstaute meinen Nierengurt unter der Sitzbank, klemmte den Helm am Gepäckträger fest. Wie mochte es sich für ihn anfühlen, wieder hier zu sein? In seinem Gesicht war keinerlei Regung zu erkennen. Wortlos schwang er sich wieder auf seine Karre, trat den Kickstarter durch. Lautes
Röhren, eine blaue Wolke stieg auf. Er fuhr an, schaltete hoch, wurde schneller. Ein letztes Winken, als er abbog, dann verschwand er hinter der Straßenecke. Einen Moment lang stand ich bloß dort und glotzte, konnte es kaum fassen, dass ich tatsächlich zurück war. Schließlich nahm ich den Rucksack auf die Schultern und ging los. Meine Schritte waren unsicher, alles wirkte fremd auf mich, als wäre ich Ewigkeiten weggewesen. Als ich zur großen Wiese kam, stoppte ich wieder. Auf der anderen Seite der gewaltigen Rasenfläche konnte ich zwei winzige Gestalten ausmachen, die verdammt nach Britta und Gabi aussahen.
Sicher waren sie gerade auf dem Weg zu Tom. Dort wollten Hartmann und ich nachher auch hin. Endlich tauchte Hartmanns Block vor mir auf. Das Klingelbrett war riesig, aber ich hätte den richtigen Knopf im Schlaf gefunden. Als der Summer kam, stemmte ich mich mit aller Kraft gegen die Tür. Sie hakte beim Aufmachen – wenn man zu zimperlich war, musste man noch mal klingeln. Den Fahrstuhl ließ ich links liegen, weil er meistens vollgepisst war. Ich hatte mir angewöhnt, lieber die Treppe zu nehmen. Obwohl Hartmann im siebten Stock
wohnte. Mit jeder zurückgelegten Etage wurde ich aufgeregter. Als ich auf den Laubengang kam, stand Hartmann bereits vor der Tür und wartete. Fast hätte ich gelächelt, aber im letzten Moment riss ich mich zusammen: Das hier war die Nordstadt, nicht irgendein Nest auf den Lande. Hier grinste man sein Gegenüber nicht an wie ein Honigkuchenpferd. Wenn man sich freute, behielt man das schön für sich. „Hi, Mann“, sagte ich, als wir einander gegenüber
standen. „Hi, alles klar?“, kam es von ihm zurück. *** Bei Tom herrschte Partystimmung, alle freuten sich einen Wolf über die letzten Neuigkeiten. Zunächst mal hatte Mark Solterbeck den Löffel abgegeben. Der Vollidiot war stockbesoffenen vom Butterdampfer gesprungen, um nach Dänemark zu schwimmen. Prompt hatte ihn die Schiffsschraube erfasst und zu Hackfleisch verarbeitet. Wolfgang, sein Bruder, war wegen Sachbeschädigung und schwerer Körperverletzung
eingefahren: Bei einer der diversen Schlägereien im AWO-Jugendheim hatte er dem Betreuer einen Schädelbasis-Bruch verpasst. Kongo saß ebenfalls im Knast. Er war mit einem geklauten Alfa Spider bei Tempo 80 in die Frontscheibe des Penny-Marktes gerauscht – großes Chaos, viele Verletzte. Und während ringsherum Leute in ihrem Blut lagen, hatten angeblich ein paar ganz Dreiste die Gelegenheit genutzt und tonnenweise Sachen aus dem Laden rausgeschleppt. Die Solterbeck-Clique hatte also ihre gefährlichsten Leute verloren. Der jämmerliche Rest bedeutete keine ernstliche Gefahr mehr, mit denen wurde
man locker fertig. Wenn das keine guten Nachrichten waren! „Ey, Tappert!“, brüllte Köpke quer über die Menge. „Du siehst ja noch immer aus wie Frankenstein!“ Er spielte auf die dicke, nur halb verheilte Narbe an, die eine zerschlagene Flasche in Tapperts Gesicht hinterlassen hatte – ein Andenken der Solterbeck-Leute. „Und du siehst noch immer aus wie Godzilla!“, rief Tappert zurück. Dabei hatte Köpke gar nichts. Er war einfach nur total hässlich, der Vergleich mit Godzilla traf die Sache verdammt gut. Man fragte sich, wie der Typ jemals eine
Freundin finden sollte. Ich fühlte mich prima, topfit.Bei den Mädels ging ich sofort auf Angriff. Alberte mit ihnen rum, nahm sie auf die Schippe. Und baggerte mit Gabi, was das Zeug hielt. Eigentlich wollte ich nichts von ihr, aber es machte Spaß, sie zu locken. Sobald sie anbiss, würde ich sie eiskalt ins Leere laufen lassen. In Wirklichkeit war ich auf Britta scharf. Ihr herrlicher Knackarsch – am liebsten hätte ich sofort reingelangt. Aber Hartmann riet mir, besser die Finger von ihr zu lassen. Sie sei Beneckes Freundin, warnte er mich, und der konnte
unangenehm werden, besonders wenn er schon einiges intus hatte. Leider war das gerade der Fall. Aber ich wollte mir meinen Spaß nicht verderben lassen, auch nicht von Benecke. Notfalls mussten wir die Sache eben auf der Straße klären. Als Britta das nächste Mal hüftschwingend an mir vorbeiging, konnte ich mich nicht mehr zurückhalten. Ich fuhr die Hand aus, wollte ihr an die Arschbacke greifen. Leider war ich selbst schon etwas angeschickert und rutschte zu weit nach vorn, in ihren Schritt. Das hatte ich eindeutig nicht gewollt. Aber für Peinlichkeit blieb
keine Zeit: Britta drehte sich blitzschnell um und verplättete mir eine, dass ich die Engel singen hörte. Ich rauschte ins Sofa zurück, schmeckte Blut auf der Lippe. Wir schauten uns an, beide völlig verdattert. Dann mussten wir lachen, immer lauter. Wir bekamen einen regelrechten Lachkoller. Mehr und mehr Leute wurden angesteckt, und schließlich lachte die ganze Hütte. Selbst Benecke, der alles gesehen hatte, wollte sich ausschütten vor Lachen. Jemand schmiss eine Kiste Holsten Export, und bald machten anstelle der Dosen dickbauchige Bierknollen die
Runde. Später kamen auch harte Getränke dazu. Irgendwann waren alle völlig breit, und es wurden die dämlichsten Sauflieder gesungen. Fast wie im Urlaub, dachte ich. Man kann total die Sau rauslassen, muss keine Hemmungen haben, weil man eh bald wieder abhaut. Im nächsten Moment zuckte ich innerlich zusammen: Ich war doch nicht auf Urlaub! Das hier war mein Zuhause! *** Am nächsten Tag hatte ich einen üblen
Kater. Sämtliche Glieder taten mir weh, mein Schädel brummte wie ein Langstreckenbomber beim Angriff. Nachmittags saßen wir wieder bei Tom. In der verqualmten Luft wurden meine Kopfschmerzen noch schlimmer. Als ich an einem Bier nippte, das Hartmann mir hinhielt, kotzte ich beinahe los. Der Trubel, das Gelaber, die allgemeine Wichtigtuerei – was ich gestern noch klasse gefunden hatte, nervte mich heute nur an. Tom war wieder fleißig am Telefonieren, Organisieren, Verticken. Was, wenn die Bullen hier aufkreuzten? Hingen wir dann mit drin? Wie dämlich war es eigentlich, so ein Risiko
einzugehen, bloß um dazuzugehören? Schließlich platzte mir der Kragen. Ich nahm meine Jacke, wollte nur hier raus. Hartmann hatte erst keinen Bock, aber dann konnte ich ihn doch überreden, Toms Bude einer Weile den Rücken zu kehren, mit mir einen Gang durchs Viertel machen. Auf den Straßen war kaum ein Mensch zu sehen. Kalte Böen fegten zwischen den Häuserschluchten hindurch. Obwohl wir erst frühen Nachmittag hatten, schien es bereits dunkel zu werden. War neulich nicht schon fast Sommer gewesen? Jetzt hatte man das Gefühl, als würde jeden
Moment ein Schneesturm losbrechen. Ich schlang mir die Arme um den Bauch, fror wie ein Straßenköter. Und die seltsame Traurigkeit in der Magengegend war ebenfalls zurück. Ich versuchte mir klarzumachen, dass dies die Nordstadt war, mein angestammtes Revier. Aber es half nicht viel. Die steilen Hauswände mit ihren zahllosen Balkonen, die weiten, eintönigen Rasenflächen, das Netz aus betongrauen Gehwegen – all das erschien mir einfach nur trostlos. Hinzu kam die Erinnerung an den letzten Winter, die bedrohliche Stimmung, die permanente Angst, wenn man draußen unterwegs war… auf einmal
merkte ich, dass mir die Zähne klapperten. „Ist was?“, fragte Hartmann. Rasch nahm ich die Arme vom Körper weg, schwang sie hin und her, als machte ich Lockerungsübungen. „Nö, alles bestens“, versicherte ich. Er musterte mich, verwundert und auch ein bisschen misstrauisch. Als wir wieder zu Tom kamen, war es noch voller geworden. Die Luft stand, es müffelte nach Zigaretten, Alk, Dope, Schweiß, auch nach Parfüm – sicher von Gabi oder Britta, die eng eingequetscht zwischen anderen Leuten auf den Sofas
hockten. Hartmann, Benecke und ein paar weitere fingen an, über eine befreundete Gang zu quatschen, die „Hawks“. Sie würden morgen abend in die Nordstadt kommen, um ein paar alte Rechnungen zu begleichen. Danach sollten noch die letzten Reste der Solterbeck-Bande „aufgemischt“ werden. Alle laberten sich total in Rage. Ich fragte mich, was ihnen wohl wichtiger war: die Schlägerei oder das Besäufnis, das anschließend hier bei Tom abgehen sollte. Für Hartmann war es ausgemachte Sache, dass ich mitkam. Er wollte mir eine Baseballkeule leihen, die er noch zu Hause rumliegen hatte. Diesmal würde es
richtig zur Sache gehen, meinte er, kein Kindergeburtstag wie bei den Solterbeck-Leuten, ohne Waffe bräuchte man da gar nicht aufzulaufen. Seine Zunge war bereits schwer vom Alkohol, sein Blick vernebelt. Vorsichtig erinnerte ich ihn daran, dass wir morgens seiner Mutter versprochen hatten, pünktlich zum Abendessen zurück zu sein. Sie wollte heute groß aufkochen. „Scheiß drauf!“, rief er, aber schließlich hatte er doch ein Einsehen. Obwohl ihm die Genervtheit deutlich ins Gesicht geschrieben stand. Kurze Zeit später saßen wir mit dem Rest
seiner Familie am Küchentisch. Ich staunte wieder einmal, wie sehr sich hier alles verändert hatte. Aufgeräumt und mit klarem Kopf erzählte Hartmanns Vater Witze, über die man sogar lachen konnte. Frau Hartmann freute sich königlich, dass uns ihr Essen so gut schmeckte. Und Bettina wirkte mittlerweile richtig erwachsen. Ich fühlte mich einfach nur wohl. So wohl, dass ich nach dem Essen gar nicht mehr rausgehen mochte. Eigentlich hatten wir noch mal bei Tom vorbeischauen wollen, aber ich konnte Hartmann zu einem Fernsehabend überreden. Es gab einen alten
Monumentalfilm, einen Jesus-Schinken, passend zum Karfreitag. Selbst als ich vorschlug, den Streifen bei seinen Eltern im Wohnzimmer auf dem großen Apparat zu gucken, willigte er ein. Der Film ging los. Am oberen und unteren Rand tauchten schwarze Balken auf, der Rest des Bildschirms erstrahlte in Technicolor. Feierliche Orchestermusik setzte ein, klirrte und schepperte im Sound der Fünfziger… Als ich uns so um die Glotze herumsitzen sah, musste ich an eine längst vergangene Zeit zurückdenken. Damals hatten wir bereits in der Nordstadt
gewohnt, aber Henri und ich waren noch ziemlich klein gewesen. An den Samstagabenden hatten wir uns immer gemeinsam vorm Fernseher versammelt, Muttern, Vaddern und wir Kids. Erst gab es Nachrichten, anschließend die große Show oder den Spielfilm. Und während wir alle gebannt auf die flimmernde Mattscheibe starrten, breitete sich allmählich ein Gefühl von Heimeligkeit und Verbundenheit aus, das man bei uns sonst vergeblich suchte. Das Fernsehereignis ließ uns für kurze Zeit tatsächlich zu etwas wie einer Familie werden… Der Jesus-Film hatte deutliche
Überlänge, aber wir schauten ihn dennoch zusammen bis zum Schluss. Niemand ging vorher raus. *** „Die Hawks sind schon in der Nordstadt!“, brüllte Tom. „Mussten gerade vor den Bullen flüchten. Haben einen Linienbus auseinandergenommen.“ „Geil!“, jubelte Hartmann und rieb sich die Hände, als gäbe es gleich Arbeit. „Sie kommen erst mal hierher“, verkündete Tom, schob die Antenne ins Telefon und warf das Gerät hinter sich
aufs ungemachte Bett., „Lagebesprechung.“ „Kann nicht schaden“, knurrte Benecke. Er riss den Verschluss von einer Halbliterdose Faxe, setzte an und ließ das Bier ohne zu schlucken in sich hineinlaufen. Als nichts mehr kam, drückte er die Dose mit einer knappen Handbewegung zusammen, warf sie weg und griff nach der nächsten Hülse. Zwischendurch gab er einen langen, befreienden Rülpser von sich, bei dem sein T-Shirt hochrutschte. Bauchspeck und ein behaarter Nabel quollen hervor – ekliger ging es eigentlich nicht. Aber Britta setzte sich wie selbstverständlich
auf seinen Oberschenkel, ließ sich klaglos von ihm begrapschen. Verwirrt schaute ich weg, nahm stattdessen die beiden Typen ins Visier, die vorhin reingekommen waren. Zwielichtige Gestalten, mindestens schon zwanzig oder noch älter. Trugen enge Lederjacken und darunter glänzende, weit aufgeknöpfte Hemden, rochen nach Rasierwasser. Sie wollten mit Tom etwas „klären“, wie sie sagten. Hatten es eilig, weil ihr Wagen angeblich im Halteverbot stand. Verstohlen reichte Tom ihnen in der hinteren Zimmerecke ein in Packpapier
gewickeltes Bündel. Er war jetzt nicht mehr der Big Boss, wie noch eine Minute vorher. Auf einmal katzbuckelte er, schleimte sich total ein. Die beiden ließen sich davon allerdings nicht beeindrucken, sie blieben kühl und distanziert. Leute wie Tom waren für sie wahrscheinlich bloß kleine Fische, armselige Amateure. Die Situation mutete ein bisschen unheimlich an, wie im Krimi. Aber es wurde noch besser: Als nächstes wollten sie wissen, wie man – ich glaubte meinen Ohren nicht zu trauen – nach Schönhagen kam! Tom musste natürlich passen. Niemand in der
Nordstadt kannte den Weg nach Schönhagen. Da schaltete ich mich ein: Sie müssten die Autobahn nach Eckhorst nehmen, und dahinter auf die Bundesstraße abfahren. Ich schaffte es, ganz cool zu bleiben, obwohl die beiden mir nicht geheuer waren. Sie fragten, ob ich das Ferienzentrum kennen würde. „Logisch“, antwortete ich prompt, als würde ich dort täglich ein- und ausgehen. Ringsherum bekam keiner etwas mit von diesem kurzen Zwiegespräch. Alle laberten noch immer großspurig vom Treffen mit den Hawks, der „Lagebesprechung“, die gleich stattfinden sollte. Mir aber wurde in
diesem Moment klar, dass ich daran nicht mehr teilnehmen würde.
Hastig stopfte ich meine Sachen in den Rucksack. Ich war allein in der Wohnung, Hartmann hatte mir seinen Schlüssel gegeben. Er war lieber bei Tom und den anderen geblieben, um die Ankunft der Hawks auf keinen Fall zu verpassen. Seine Eltern würden Augen machen, wenn ich plötzlich weg war. Eigentlich hatte ich ja bis Ostermontag bleiben wollen, aber so eine günstige Mitfahrgelegenheit musste man unbedingt ausnutzen. Mit dem Bus dauerte die Fahrt dreimal so lange; ich
wäre bekloppt gewesen, das Angebot auszuschlagen. Sagte ich mir immer wieder, und glaubte es selbst nicht recht. Auf dem Rückweg wurden die Bedenken immer drängender. Weshalb plötzlich diese Eile? Wochenlang hatte ich dem Besuch in der Nordstadt entgegengefiebert, und nun fuhr ich volle zwei Tage früher wieder weg. Haute Knall auf Fall ab, ohne mich bei Hartmanns Eltern zu bedanken, ohne ihnen wenigstens Tschüss zu sagen. Aber vor allem: Was waren das eigentlich für halbseidene Kerle, denen ich mich da anvertrauen wollte? Hatte ich mir das wirklich gut
überlegt? Als ich wieder zu Tom kam, war es zu spät – jetzt mussten die Dinge halt ihren Lauf nehmen. Ich drückte Hartmann den Schlüssel in die Hand, bat ihn, seine Eltern zu grüßen. Er nickte, aber ich wusste schon jetzt, dass er es vergessen würde. Dann folgte ich meinen beiden Chauffeuren und wurde dieses ungute Gefühl einfach nicht los. Diese Vorahnung, etwas zu tun, das schwere Folgen haben würde… Ihr Wagen, ein schwarzer Golf GTI, stand tatsächlich im Halteverbot. Genauer gesagt parkte er mitten auf dem
Fußweg. Der Fahrer öffnete die Tür und ließ mich auf die Rückbank klettern. Dann stieg er selbst ein und zog die Ware von Tom aus der Jackentasche. Als er das Handschuhfach öffnete, um das Päckchen hineinzulegen, sah ich die Knarre. Ziemlich großes Kaliber, keine Spielzeugpistole, wie die von Hartmann und mir. Schnell schloss der Typ das Fach wieder, knallte die Wagentür zu und stellte den Rückspiegel ein. Für einen kurzen Moment musterten mich seine Augen kalt und misstrauisch – als versuchte er abzuschätzen, wie viel ich mitbekommen hatte. Und auf einmal verstand ich: Das waren
Drogenkuriere! Wahrscheinlich brachten sie eine Lieferung ins Ferienzentrum. Auch da draußen war eben keine heile Welt. Ich musste so schnell wie möglich wieder aussteigen! Zu spät – der Motor jaulte, der Wagen fuhr mit quietschenden Reifen an. In einem Affenzahn jagten wir durch die Nordstadt, es presste mich regelrecht in den Sitz. Schon hatten wir die Autobahn erreicht, rasten die Auffahrt zur Kanalbrücke hoch – es war, als würden wir abheben. Das Wasser des Kanals huschte unter uns hinweg. Als ich zurückblickte, verschwand die Nordstadt gerade hinter der
Brücke. Meine Gedanken überschlugen sich: Was wartete am Ferienzentrum? Trafen die beiden dort irgendwelche anderen Kriminellen, die die Ware entgegennahmen? So viel schien sicher: Die würden mich nicht einfach davonziehen lassen. Ich hatte gesehen, was hier lief, wusste einfach zu viel. Sie würden mich zwingen, mitzumachen, selbst mit Stoff zu dealen oder etwas in der Art. Und falls ich mich weigerte – mit ihrer Wumme ballerten die sicher nicht bloß auf Flaschen und Dosen, wie Hartmann, Piet und ich… verdammt, ich war am Arsch, aber
richtig! Der Beifahrer zündete sich eine Kippe an. Dann drehte er sich nach hinten, hielt mir die Schachtel hin. Ich schüttelte den Kopf, zuckte zurück, als würde ich mich vor den Glimmstängeln ekeln. Hinter Eckhorst fuhren wir von der Autobahn ab auf die Bundesstraße. Obwohl die Strecke jetzt zweispurig war, ging der Fahrer nicht vom Gas. Wir überholten ganze Kolonnen von Autos, Lastern, Treckern. Die Fahrzeuge schienen fast zu stehen, so schnell schossen wir an ihnen vorbei. Oft konnten wir nur im letzten Augenblick
wieder einscheren, wenn uns jemand entgegenkam. Ich hatte eine neue Idee: War vielleicht jemand hinter uns her? Versuchten wir gerade, einen Verfolger loszuwerden? Womöglich die Bullen? Der Gedanke erschien mir immer einleuchtender. Die beiden wurden sicher längst observiert, genauso Tom und sein verdammter Hehlerladen. Und jetzt saß uns die Zivilfahndung im Nacken! Wenn die uns hochnahmen, hing ich mit drin, ganz klar. Ich hatte bis vorhin bei Tom auf der Bude gehockt, war früher sogar regelmäßig dort ein- und ausgegangen. Alles passte zusammen. Die Bullen
würden mir im Leben nicht abkaufen, dass ich bloß ein Mitfahrer war, der mit der ganzen Sache nichts zu tun hatte. Pures Entsetzen stieg in mir hoch, immer deutlicher glaubte ich meine Situation zu erkennen: Ich saß im Auto von Kriminellen und konnte nicht weg. Und hinter uns waren die Bullen. Wenn sie uns erwischten, ging ich in den Bau. Wenn nicht, war das auch nicht besser: Dann musste ich machen, was die beiden Typen verlangten: Drogen verticken, Brüche machen, Sachen schmuggeln. All das Zeugs, über das man in der Nordstadt permanent reden hörte – und das doch immer weit weg gewesen
war. Wie bitter eigentlich, dass es mich ausgerechnet jetzt traf, da ich nicht mal mehr dort wohnte. Die verdammte Vergangenheit – sie holte einen immer wieder ein. Mensch, wieso hatte ich mich von Hartmann wieder zu Tom mitschleppen lassen? Wozu war ich überhaupt noch in die Nordstadt gefahren? Ich wollte eigentlich nur raus aus der ständigen Bedrohung und Enge, wollte endlich keine Angst mehr haben. Und die Chance war dagewesen. Aber ich hatte sie nicht genutzt, hatte sie im Gegenteil verächtlich von mir gewiesen. Warum nur, warum? Jetzt war mein
Leben endgültig kaputt. Ich merkte, dass ich auf einmal einen Kloß im Hals hatte… Wieder tauchte das Augenpaar im Rückspiegel auf. „Ist dir schlecht?“, fragte der Fahrer. „Wenn du kotzen musst, sag Bescheid. Ich will keine Sauerei im Wagen, kapiert?“Ein Hinweisschild zog an uns vorüber: „Rastplatz 2km“.In meinem Kopf formte sich schemenhaft eine Idee. „Können wir kurz mal halten?“, hörte ich mich fragen.Der Fahrer stöhnte genervt, aber er bremste ab, lenkte den Wagen nach rechts in die Ausfahrt. Abrupt wurde das Motorengeräusch sehr
leise. Der Rastplatz bestand aus zwei langgezogenen Parkstreifen. Wir passierten eine Gruppe Tische und Bänke, dann ein Toilettenhäuschen. Endlich fanden wir Platz zum Halten. Als der Beifahrer ausstieg und den Sitz nach vorn klappte, um mich durchzulassen, konnte ich es im ersten Moment nicht glauben. Dann griff ich hastig nach meinem Rucksack und sprang aus dem Wagen. „Geh kurz auf Klo“, murmelte ich und hoffte, dass sie sich nicht wunderten, weshalb ich den Rucksack
mitnahm. „Aber zack zack“, rief der Fahrer hinter mir her. „Wir haben‘s eilig.“ Ich winkte, als ob ich verstanden hätte, und marschierte Richtung Toilettenhäuschen. Der Straßenlärm hier draußen klang wie bei einem Formel-1-Rennen. In meinem Kopf herrschte totale Konfusion, aber so viel kapierte ich doch: Das mit der Verfolgung durch die Bullen konnte nicht stimmen. Hätten die beiden dann angehalten, bloß weil ich mal musste? Trotzdem – da waren immer noch dieses Päckchen und die Knarre im Handschuhfach. Ich musste irgendwie aus dieser ganzen Sache
rauskommen! Jetzt bloß nicht die Nerven verlieren. Möglichst zielstrebig gehen, um die Typen zufriedenzustellen, und trotzdem nicht laufen, sonst schöpften sie Verdacht. Als ich zurückschaute, hatte sich eine Reihe Sträucher zwischen mich und das Auto geschoben. Hieß: Ich war außer Sichtweite! Auf einmal bewegte ich mich wie ferngesteuert. Statt ins Herrenklo ging ich geradeaus weiter, am Toilettenhäuschen vorbei. Dahinter führte ein Trampelpfad ins Gelände. Ohne noch lange zu überlegen, schlug ich mich in die
Büsche. Weg, nur weg von diesem verdammten Rastplatz! Blöderweise war der Boden total aufgeweicht und matschig. Wenn ich zu schnell lief, drohte ich auszurutschen und im Dreck zu landen. Und immer wieder waren große Pfützen im Weg, an denen ich irgendwie vorbei musste. Es war wie in einem Albtraum: Ich wollte fliehen, schnellstmöglich abhauen, kam aber nur wie in Zeitlupe voran. Etwas lähmte meine Kräfte, hielt mich fest. Es gelang mir einfach nicht, das Böse hinter mir abzuschütteln. Und allmählich schwanden mir die
Kräfte… Irgendwann konnte ich keinen Schritt mehr weiterlaufen. Ich stolperte zu einem Baumstumpf, ließ mich vor Erschöpfung fallen. Dann kriegten sie mich eben! Mir war jetzt alles egal. Ich resignierte, ergab mich in mein Schicksal. So viel war sicher: Wenn sie mich hier draußen aufstöberten, machten sie kurzen Prozess. Wozu sich noch lange mit mir herumärgern? Hier gab es keine Zeugen. Aufmerksam lauschte ich auf knackende Zweige, Stimmen… aber man hörte nur das leise Heulen der
Bundesstraße. Nach und nach legte sich die Panik, auch das Schwindelgefühl hörte langsam auf. Je klarer die Gedanken flossen, desto unwahrscheinlicher erschien mir, dass die beiden Gauner wirklich noch auftauchten. Dass sie ernsthaft durch den Schlamm liefen mit ihren teuren Lederschuhen, bloß wegen mir. Auf einmal kam mir das völlig absurd vor. Die würden sicher demnächst schulterzuckend weiterfahren. Was sollte ich jetzt machen? Das Beste wäre wohl gewesen, noch ein paar Minuten hier auszuharren, um
sicherzugehen, dass sie wirklich weg waren. Dann konnte ich zum Rastplatz zurückgehen und Muttern anrufen, damit sie mich abholte. Aber aus irgendeinem Grund wollte ich das nicht. Auf gar keinen Fall. Alles, bloß das nicht. Und komisch: Es lag nicht an den beiden Halbwelttypen in ihrem schwarzen Golf… Ich wollte den Weg weiterlaufen, auf dem ich gekommen war. Vielleicht führte er in ein Dorf, und ich konnte von dort mit dem Bus weiterfahren. Oder per Anhalter, obwohl ich das noch nie gemacht hatte. Schlimmstenfalls musste ich am Ende doch zu Hause anrufen und
Muttern bitten, mich einzusammeln, wo immer ich dann sein mochte. Aber was machte mich so sicher, dass dieser vergessene Pfad wirklich irgendwo hinführte? Dass er nicht einfach aufhörte, sich im Gestrüpp verlor, mitten in tiefster Wildnis? Ich konnte es nicht sagen, wusste einfach, dass es so war. Endlich fühlte ich mich ganz wieder hergestellt. Ich stand auf, schulterte den Rucksack und marschierte los. Allmählich verschwand der Straßenlärm; an seine Stelle traten die Geräusche der Natur: das Rauschen des Windes, Vogelgezwitscher, das Klopfen eines Spechtes. Höher und höher wurden die
Bäume ringsherum, bis ich durch ausgewachsenen Wald lief. Frieren tat ich überhaupt nicht mehr – die winterlichen Temperaturen der letzten Tage schienen vorbei zu sein. Und der Himmel, obwohl noch immer bedeckt, sah nicht mehr nach Regen aus. Als mein Trampelpfad schließlich in einen Forstweg mündete, machte mein Herz einen Sprung vor Freude. Wie gut, dass ich auf meine innere Stimme gehört hatte! Sofort war mir klar, dass ich nach links gehen musste. Überhaupt wirkte die Umgebung seltsam vertraut auf mich, dabei war ich bestimmt noch nie hier gewesen. Der Eindruck verstärkte sich
noch, als nach einer Weile etwas Blaues zwischen den Bäumen hindurchschimmerte – die See. Bald führte der Weg aus dem Wald heraus auf freies Feld. Ich musste wieder an die Typen im schwarzen Golf denken. Weshalb hatte Tom ihnen wohl dieses Päckchen gegeben? Und wozu brauchten sie den Ballermann im Handschuhfach? Etwas gruselig war das ja schon gewesen. Ob die beiden sich jetzt ärgerten, dass sie mich einfach hatten gehen lassen? Vielleicht war ihnen in der Zwischenzeit klar geworden, was ich während der Fahrt selbst überlegt hatte: dass ich sie theoretisch jederzeit bei den
Bullen verpfeifen konnte… Das Pochen in den Schläfen kehrte zurück; ich sah wieder dieses Paar Augen im Rückspiegel, musternd, taxierend, hörte das verrückte Lachen des Beifahrers. Waren das nicht zwei Irre gewesen, zwei Besessene? Die schreckten garantiert vor nichts zurück. Das Geheize, dieser eiskalte Blick, das irre Gegröle – die würden keine Ruhe geben, ehe sie mich nicht aufgestöbert hatten! Was, wenn sie längst in der Nähe waren, gleich mit quietschenden Reifen um die Ecke kamen? Hier lief ich wie auf dem Präsentierteller, sie würden mich sofort
sehen! Mir brach endgültig der Schweiß aus, Panik kam hoch, wie vorhin im Wald. Auf einmal hatte ich wieder das Gefühl, gelähmt zu sein, völlig machtlos. Wenn sie tatsächlich gleich auftauchten, war ich sichere Beute, die nur noch eingesammelt werden musste – und am Ende hatten sie mich doch noch erwischt! Ich lauschte angestrengt in die Ferne, versuchte verdächtige Geräusche zu erkennen, wartete förmlich darauf, jeden Augenblick das Motorengeräusch des schwarzen Golfs zu hören, die Reifen auf dem Asphalt, das Knirschen der Steine am
Wegrand… Aber da war nur das Rauschen des Windes und das Knistern des alten, vertrockneten Laubes in den Büschen. Einmal wehte leises Glockengeläut heran, aber es verklang bald wieder. Weshalb hätten sie auch hier draußen nach mir suchen sollen? Die kannten ja nicht mal die Bundesstraße von Eckhorst nach Schönhagen, auf Feldwegen wie diesen wären sie erst recht verloren gewesen. Und selbst wenn sie plötzlich aufkreuzten: Die Knicks an der Seite waren hochgewachsen und, obwohl noch kahl, so gut wie undurchsichtig. Da
wurde man nicht so schnell entdeckt.
Allmählich dämmerte es mir, dass ich aus der Sache raus war; die würden mich im Leben nicht mehr finden. Ich war in Sicherheit – jedenfalls, solange ich nicht in die Nordstadt zurückkehrte. Und kein Mensch zwang mich, jemals dorthin zurückzukehren. Niemand zwang mich noch zu irgendwas. Von nun an konnte ich meinen eigenen Weg gehen.
Ich war endlich frei!
Das Waldgebiet hatte ich inzwischen weit hinter mir gelassen, bis zum Horizont umgaben mich jetzt Felder und Knicks. In den Senken entdeckte ich manchmal kleine Teiche, die das umliegende Grün widerspiegelten. Und zur Rechten tauchte immer wieder die See zwischen den Hügeln auf. Über mir schwirrte eine Handvoll Spatzen unermüdlich herum, am Wegrand hockten zahlreiche Kaninchen. Sobald ich mich näherte, hoppelten sie davon und formierten sich ein Stück weiter vorn neu. Ansonsten war ich allein. Die Natur schien endlos, und doch wies mir der
Weg die Richtung, gab mir Halt inmitten der Weite. Mechanisch setzte ich einen Fuß vor den anderen. Stieg die Hügel hoch und ließ mich, wenn es wieder bergab ging, nach vorn fallen, sodass die Füße automatisch nachzogen, um den Sturz zu verhindern. Es war, als würde ich auf unsichtbaren Schienen gleiten anstatt zu laufen. Längst hatte ich auch jegliches Zeitgefühl verloren. Wie lange mochte ich inzwischen hier draußen unterwegs sein? Zwei Stunden? Vier? Aber anhalten und auf die Uhr schauen wollte ich nicht, das hätte mich aus dem Tritt gebracht. Es war hell, das genügte mir. Und noch
immer hatte ich diese innere Gewissheit, auf dem richtigen Weg zu sein. Nach einer schieren Ewigkeit erreichte ich eine Gruppe alter, windschiefer Häuser an einer verlassenen Straße. Die Gebäude waren kaum höher als ich, so flach duckten sie sich ins Land. Nirgends waren Menschen zu sehen, kein einziges Auto wollte vorbeikommen. Alles wirkte wie vergessen. Weiter hinten sah ich einen kleinen Teich mit Bäumen, ähnlich wie in Schönhagen an der Grünen Insel. Auch Bänke waren dort – und eine Bushaltestelle! Ich lief hin, überflog den Fahrplan. Die Linie
führte tatsächlich nach Schönhagen! Dann die Ernüchterung: Samstags ging der letzte Bus um sechs, und jetzt war es halb acht. Scheiße!, dachte ich und ließ mich auf eine der Bänke fallen. Alles war so gut gelaufen, und jetzt das. Mein Kopf war auf einmal völlig leer, die Füße taten mir höllisch weh, meine Kehle war wie ausgedörrt. Auch meldete sich jetzt der Magen mit lautem Knurren – meine letzte Mahlzeit lag Stunden zurück. Ich musste dringend etwas einwerfen, sonst klappte ich demnächst zusammen. Zu blöd, dass ich keine Verpflegung mitgenommen hatte. Bei meinem fluchtartigen
Aufbruch hatte ich an so was natürlich nicht gedacht. An einem der Häuser auf der anderen Straßenseite hing eine Langnese-Fahne. Konnte das vielleicht ein Kiosk sein? Mit letzter Kraft schleppte ich mich hin. Aber die Tür neben der Fahne war eine normale Haustür, von einem Kiosk keine Spur. Ich drückte trotzdem den Klingelknopf – wahrscheinlich aus purer Verzweiflung. Einige Sekunden vergingen, dann hörte man schlurfende Schritte. Die Tür öffnete sich und eine ältere, stämmige Frau im Kittel stand vor mir. Sie
zwinkerte kurz hinter ihren dicken Brillengläsern und stieß ein knappes „Moin!“ aus. „Äh, ich hätte gerne eine Cola“, stotterte ich. „ Und eine Tafel Schogetten. Vollmilch.“ Bestimmt würde es nun eine Standpauke setzen, von wegen Ruhestörung, Betteln und so. Vielleicht ließ sie sogar ihren Köter auf mich los. Nein, nichts von alledem: Sie drehte sich wortlos um und wackelte ins Haus zurück. Ich sah, wie sie den Eisschrank öffnete und eine Literflasche Cola herausfischte. Dann nahm sie eine Tafel Schokolade aus einem Regal und kam mit den Sachen zurück. Mit ihren
Wurstfingern machte sie eine Zwei. Ich drückte ihr das Geld in die Hand. „Man dankt“, sagte sie, dann fiel die Haustür wieder ins Schloss. Verdattert kratzte ich mich am Kopf. Hatte sie mir gerade Zeugs aus ihren Privatvorräten verkauft? Oder war dieses Haustürgeschäft das, was man hier draußen unter „Kiosk“ verstand? Dann spürte ich die kalte Flasche in der Hand, und alles andere war vergessen. Ich stolperte zurück zu meiner Bank. Wie herrlich es zischte beim Öffnen des Drehverschlusses! Welch ein Genuss, die kalte, sprudelnde Flüssigkeit in sich hineinlaufen zu lassen! Dazu die
Schokolade – es war das pure Schlaraffenland. Hinterher saß ich mit kugelrundem Bauch dort und war einfach nur glücklich. Ich fühlte mich wie ein König nach dem großen Festmahl. Blieb nur noch ein Problem: Wie kam ich von hier weg? Das Thema Bus hatte sich ja leider erledigt. Vielleicht trampen? Aber das hatte ich noch nie gemacht, außerdem kam noch immer kein einziges Auto vorbei. Also doch bei Muttern anrufen? Aber das erschien mir wie eine Kapitulation. Ich spürte, dass ich diesen Marsch aus eigener Kraft zu Ende bringen wollte, selbst auf die Gefahr hin, dass es zwischenzeitlich dunkel
wurde. Ich verließ den Ort, blieb aber auf der Straße. Das Land jetzt wurde ziemlich flach, und fortwährend hörte man leises Rauschen, wie bei Wellengang. Näherte ich mich der Küste? Gedankenverloren ließ ich den Blick über die Felder schweifen. Weit voraus, fast am Horizont, leuchtete etwas Helles, das ich erst nicht beachtete. Dann machte es ‚klick’: Das Ferienzentrum! Schneeweiß ragten die Türme aus dem Grün der Felder auf; hinter ihnen sah man das schmale, graublaue Band der See. Jetzt wurde ich sehr schnell. Wo das
Ferienzentrum war, konnte das Dorf nicht mehr weit sein. Und wirklich tauchte es wenig später auf, jenseits einer weitläufigen Niederung, in der ein Bach floss. Die Perspektive war ungewohnt: Die roten Backsteinhäuser und der zwiebelförmige Kirchturm in ihrer Mitte wirkten von hier wie ein kompaktes Nest, das in der Landschaft lag. Und alles schien zum Greifen nahe. Hinter einer langgezogenen Kurve wurde ein gelbes Ortsschild sichtbar: „Schönhagen“. Der schwarze Schriftzug war deutlich zu erkennen, trotzdem rieb ich mir beim Vorbeigehen immer wieder ungläubig die Augen: Ich war da, hatte
es tatsächlich geschafft! *** Der Ort begann, winzige Häuschen reihten sich eins an das andere. Ich kannte den Weg von einem Spaziergang, den ich mit der Clique gemacht hatte, und wusste deshalb, dass ich in der Nähe des alten Kerns war, dem „Dorf“. Weiter vorn würde der Asphalt in holpriges Kopfsteinpflaster übergehen. Die Dorfstraße machte dort einen Bogen nach links und überquerte den Mühlenbach. Gleich neben der Brücke lag die historische Wassermühle. Dann ging es bergauf, vorbei an der Kirche und dem
reetgedeckten Pfarrhaus mit der alten Glaslaterne neben der Eingangstür. Hinter dem Bahnübergang zweigte eine Straße in unsere Siedlung ab, der Eichkamp. Aber inzwischen wusste ich auch, dass es ein Umweg war, so zu laufen. Wer sich auskannte, nahm von hier die Abkürzung durch die so genannte „Schwedenhaus-Siedlung“.Bald war ich ausschließlich von roten Holzhäusern in schwedischem Baustil umgeben. Sie waren nach dem Krieg eilig hochgezogen worden, um Flüchtlinge aus den Ostgebieten unterzubringen. Aus dem Provisorium war über die Jahre ein Dauerzustand
geworden. Inzwischen hatte man sogar die ersten Häuser renoviert. Die Straße wurde zu einer Allee. Die Kastanien, die auf beiden Seiten wuchsen, blühten bereits. In den Kronen tummelten sich wahre Heerscharen von Vögeln, deren Gezwitscher die abendliche Luft erfüllte. Ohne Probleme fand ich den Trampelpfad, der hinter den Garagen entlanglief und direkt zur Straßenecke mit dem Telefonkasten führte. Man sparte sich dadurch den unnötigen Bogen über Achterkamp und Kleiststraße. Wieder ein kurzer Moment des
Unglaubens, als ich am blauen Schild mit dem Schriftzug „Eichendorffstraße“ vorbeiging. Ich kam zur Hausnummer 12, wo Kristina und Silke wohnten. Vor dem Eingang Nr. 14 war Bernds Karre aufgebockt. Also war er am Donnerstag wohlbehalten nach Schönhagen zurückgekommen. Dann öffnete ich das Gartentor unseres Grundstückes. Ich ging durch den Vorgarten, schloss die Haustür auf. Im Flur empfing mich der vertraute Geruch nach Essen und Putzmitteln. Die Küche sah aus wie unberührt. Nirgends stand schmutziges Geschirr herum, die Arbeitsflächen waren gewienert, die
Herdplatten erstrahlten in frischem Glanz. Und auf dem Küchentisch prunkte ein großer Strauß Blumen. Erstaunt und verwirrt blickte ich mich um. Ich hatte das Gefühl, als würde ich hier alles zum ersten Mal sehen. Die Wohnzimmertür öffnete sich, Muttern kam heraus. „Schon wieder hier?“ Sie schien verwundert, bohrte aber nicht weiter nach. Ich hatte gesagt, dass ich wahrscheinlich am Montag zurückkommen würde, vielleicht aber auch früher. „Hast du Hunger?“, fragte sie. „Soll ich irgendwas
machen?“ Das hatte sie mir noch nie angeboten. Träumte ich vielleicht? Passierte das alles hier gar nicht wirklich? Es war ähnlich wie an jenem Morgen kurz vor Weihnachten. Hunger hatte ich keinen, noch immer lag mir die Schokolade wie ein Wackerstein im Magen. Aber ich war durchgefroren und sehnte mich nach etwas heißem zu trinken. Ganz vorsichtig, eher fragend als bittend, brachte ich heraus: „Vielleicht einen Caro-Kaffee?“ „Ja, gut“, sagte sie und legte tatsächlich
los. Ich stand bloß da, konnte es nicht glauben. „Bring schon mal deine Sachen hoch“, meinte sie, während sie herumhantierte. Mein Zimmer war ausgelüftet, der penetrante Geruch nach kaltem Zigarettenrauch vertrieben. Die Klamotten, die normalerweise überall rumlagen, waren weggeräumt. Ich schmiss den Rucksack aufs Bett und ging wieder nach unten. In der Küche duftete es mittlerweile nach Kaffee. Auf der Arbeitsfläche unterm Fenster standen zwei Becher, aus denen
es dampfte. „Hab' mir auch einen gemacht“, meinte Muttern. „Wie war's in der Nordstadt?“ „Ganz gut.“ Ich trank in kleinen Schlucken, blies zwischendurch immer wieder den Dampf weg, der mir in die Augen stieg. Angenehm warm breitete sich die Flüssigkeit in der Magengegend aus. Draußen im Vorgarten sah man die ersten Blumen sprießen. Die Wiese auf der anderen Straßenseite war verwaist. An den warmen Tagen hatten dort Scharen von Kindern gespielt. Links an der Ecke waren die Einfamilienhäuser. In einem
von ihnen wohnte der dreckige Michael. Seit meiner Rückkehr hatte ich noch nicht eine Menschenseele auf den Straßen gesehen. Und dennoch wirkte nicht mehr alles tot auf mich, wie noch vor wenigen Tagen, sondern irgendwie… friedvoll. Wie schlafend. *** Am nächsten Tag wollten Muttern und Henri nach dem Mittagessen eine Radfahrt machen. Es sollte zum Ferienzentrum gehen, dann durch die Salzwiesen weiter zum Strand, schließlich durch den Wald zurück. Sie
boten mir an, mitzukommen. Das Ferienzentrum… was, wenn mir dort die beiden Kerle vom Vortag über den Weg liefen? Aber der Gedanke ließ mich inzwischen kalt. Die konnten mir gar nichts. Warum ich nicht vom Klo zurückgekommen war? Das war ja wohl mein Problem! Hatten sie den Weg nicht auch ohne mich gefunden? Na also! Dass sie Drogenkuriere gewesen waren, glaubte ich auch nicht mehr. Toms Paket konnte sonst was enthalten haben. Und die Knarre im Handschuhfach war garantiert bloß Aufschneiderei gewesen. Mittlerweile wurmte mich etwas ganz
anderes: dass ich solche Panik bekommen hatte. Zum Glück war kein Bekannter in dem Auto gewesen, der mich hätte sehen können. So viel war klar: Niemand durfte jemals von dieser Sache erfahren! Am Ende ließ ich mich überreden, auf die Radtour mitzukommen. Und stellte unterwegs fest, dass ich die Strecke bereits kannte: Es war dieselbe, die ich mit der Clique gelaufen war, beim Ausflug zum Gutshof. Allerdings war der Matsch auf den Feldwegen mittlerweile abgetrocknet und plattgewalzt, es ließ sich prima darauf fahren. Das Wetter war ähnlich wie gestern: kühl, aber nicht kalt, bedeckter Himmel, aber keine
Regengefahr. Hinter dem Wäldchen, in dem ich mir neulich die Schuhe notdürftig saubergemacht hatte, kam bald der Abzweig zum Gut, dann tauchte am Horizont das Ferienzentrum auf. Selbst per Fahrrad dauerte es noch eine ganze Weile, ehe wir uns den weißen Betontürmen näherten – kein Wunder, dass Bernd neulich die Geduld verloren hatte. Irgendwann erreichten wir eine Siedlung, wie man sie auch in der Nordstadt hätte finden können: Neubaublöcke, alle zwischen fünf und zehn Etagen hoch, gleichmäßig auf einer weiten Grasfläche verteilt. Über den
Haustüren hingen große Plastikschilder mit Aufschriften wie „Kombüse“, „Brücke“ oder „Krähennest“. Erst wunderte ich mich, aber irgendwann fiel der Groschen: Man hatte den Häusern Namen verpasst, um sie auseinanderhalten zu können. „Ist alles schon Ferienzentrum“, erklärte Muttern. Schutzdächer aus Beton verbanden benachbarte Blöcke miteinander. Darunter sah man Strandkörbe, ganze Batterien, die mit Planen abgedeckt waren. Offenbar wurden sie den Winter über hier gebunkert. „Kommen demnächst raus“, wusste Henri zu berichten. „Macht die
Freiwillige Feuerwehr.“ Die Feuerwehr? Seit wann war die für Strandkörbe zuständig? Eine weitere Merkwürdigkeit neben den vielen anderen, die mir hier bereits untergekommen waren. Ich stellte mir Jürgen in seiner schnieken Uniform vor, wie er eine Horde Pökse herumkommandierte, die sich mit den Körben abschleppen mussten. Schließlich kamen wir an einen zentralen Platz. Die vier Türme ragten jetzt unmittelbar vor uns auf. Sie wirkten gigantisch, hatten bestimmt so viele Stockwerke wie die Weißen Riesen. Laut Muttern beherbergten sie eine Kurklinik und ein Hotel. Der Platz war rappelvoll,
Trauben von Ausflüglern schoben sich über das rote Klinkerpflaster. Ringsherum gab es Supermärkte, Ramschboutiquen, Fressbuden. Alle Läden hatten geöffnet, trotz des Feiertages. Wir folgten einfach dem Menschenstrom, der sich auf das Hauptportal zubewegte. Drinnen empfing uns eine Galerie mit weiteren Läden und Cafés, in der Tiefe war eine tropische Gartenlandschaft angelegt. Palmen und andere, fremdartige Gewächse schossen in die Höhe, reichten mit ihren riesigen, knallgrünen Blättern manchmal bis zur Brüstung. Inmitten der Pflanzenpracht
glänzten die Wasserspiegel zahlreicher Teiche. Sie waren an ihrem Grund beleuchtet, einige hatten kleine Fontänen. „Ich spendier ein Stück Ostertorte“, verkündete Muttern großmütig. Henri fand ein freies Tischchen etwas abseits des Trubels für uns. Während er und Muttern die Kuchenkarte durchblätterten, fuhr ich fort,die Leute auf der Galerie zu beobachten. Viele beugten sich übers Geländer, blickten fasziniert auf den künstlichen Dschungel dort unten. Ob die Mädchen aus dem Dorf auch manchmal herkamen? Vielleicht waren sie just in diesem Augenblick auf der Galerie
unterwegs, zusammen mit irgendwelchen Verwandten. Kaum hatte ich diesen Gedanken, stieg in mir wieder dieses eigenartige Gefühl hoch, die gespannte Erwartung…
„Suchst du was?“, hörte ich plötzlich Muttern fragen.
„Äh, wieso?“, stammelte ich, leicht verwirrt.
„Du hast gerade so angestrengt geguckt.“
„Quatsch“, murmelte ich ärgerlich und drehte mich rasch woanders hin.
Als der Kuchen verdrückt war, latschten wir zu den Rädern zurück. Auf dem Platz hatte sich mittlerweile eine Blaskapelle aufgebaut und sorgte für Stimmung. Die Leute klatschten begeistert mit, einige Opas bearbeiteten mit ihren Gehstöcken das Pflaster. Fluchtartig suchten wir das Weite. Ein Wegweiser zeigte uns, wo es zu den Salzwiesen ging, und bald hatten wir den Menschenauflauf hinter uns gelassen. Das flache, von Gräben und Sielen durchzogene Land ließ sich weit überblicken. Außer dem Krächzen einiger
Wasservögel war jetzt kein Geräusch mehr zu hören. Am Horizont verlief die grüne Linie des Seedeichs. Eine ganze Weile schien es, als würden wir uns kaum vom Fleck bewegen. Wir fuhren und fuhren, aber der Deich blieb wie eingefroren am Horizont, ließ uns einfach nicht herankommen. Allerdings täuschte das; nach einiger Zeit standen wir doch vor dem steilen Graswall. Erst aus nächster Nähe konnte man sehen, wie zerzaust und mitgenommen er war; wahrscheinlich hatte er schon unzählige schwere Wetter überstehen müssen. Weiter hinten verlief die Bundesstraße. Die Wiesen zwischen
ihr und dem Deich waren durchzogen von Fahrspuren, allerdings parkten nirgends Autos. Ein Café gegenüber der Deichtreppe war geschlossen, im dunklen Innenraum sah man die Stühle auf den Tischen stehen. Auch einen Kiosk gab es, dessen Rollläden aber herabgelassen waren. Alles lag noch im tiefsten Winterschlaf, trotzdem glaubte man bereits die Atmosphäre von Urlaub, Sommerfrische und Menschentrubel zu spüren, die demnächst hier Einzug halten würde. Wir bräuchten die Räder nicht abzuschließen, meinte Henri, hier würde keiner klauen. Im ersten Moment kam
mir diese Behauptung völlig naiv und dämlich vor. Dann fragte ich mich, ob es vielleicht doch stimmte. Jedenfalls ließen er und Muttern ihre Fahrräder einfach stehen und gingen die Treppe hoch. Ich gab mir einen Ruck und folgte ihnen. Langsam tauchte hinter der Deichkrone die See auf. Der Wind war inzwischen abgeflaut, das Wasser lag fast unbewegt da. Als wir den schmalen Dünengürtel am Deichfuß durchquert hatten und den Strand erreichten, blieb Muttern stehen. Sie wolle einen Moment für sich sein und die Ruhe genießen, meinte sie. Henri und ich gingen runter ans Wasser und
spielten unser altes Wettspiel: Steine springen lassen. Wessen Stein machte mehr Hüpfer? Natürlich gewann er, wie immer. Er war bei solchen Sachen einfach der Geschicktere. Bald hatte er keine Lust mehr und ging zurück zu den Dünen. Ich wollte die Schmach nicht auf mir sitzen lassen, suchte konzentriert den Sand nach geeigneten Steinen ab. Ganz flach mussten sie sein und möglichst glatt… Unterdessen zog von der See her langsam die Dämmerung auf. Alles begann sich tiefblau einzufärben, bald war die Trennlinie zwischen Himmel und Wasserspiegel kaum noch auszumachen.
Das Geräusch eines Bootsmotors ertönte, ein gleichförmiges Tuckern, das über die blanke, leere See geisterte. Sicher ein Fischkutter, der gerade hinausfuhr. Und wieder spürte ich diese gespannte, prickelnde Vorfreude, so stark, dass ich es kaum noch aushielt. Etwas würde passieren, sehr bald. Etwas, das ich mir schon so lange wünschte, das ich geradezu herbeisehnte. Vor meinem inneren Auge begannen sich Bilder zu formen, Szenen, Ankündigungen dessen, was mich erwartete. Aber wenn ich sie fassen wollte, verschwammen sie wieder, zerliefen, und nur rätselhaftes Flimmern blieb
zurück… „Wir wollen los, Hauke!“, hörte ich Muttern rufen. Seufzend drehte ich mich vom Wasser weg und lief hinter den beiden her. Unsere Räder standen tatsächlich noch wohlbehalten an der Treppe, wie Henri gesagt hatte. Und weiter ging die Fahrt. Landeinwärts war von Dämmerung noch nichts zu erahnen, im Gegenteil: Gerade lösten sich die letzten Wolkenschleier auf, die Sonne kam heraus. Man spürte deutlich die Wärme, die von ihr ausging. Hinter den Salzwiesen fuhren wir nicht wieder Richtung Ferienzentrum, von wo
wir gekommen waren, sondern direkt in den Wald hinein. Bald merkte ich, dass es dieselbe Strecke war wie nach dem Besuch auf Gut Neudorf. Allerdings war es da noch winterlich kalt gewesen, während jetzt die Frühlingssonne ihre Strahlen durchs Geäst schickte. Ein zauberhaftes Lichtspiel entstand, ein Funkeln und Flirren wie von tausend Diamanten. Irgendwo auf dieser Höhe hatte ich neulich das Haus zwischen den Bäumen gesehen. Als ich erneut danach suchte, fiel mir plötzlich der grüne Schleier auf, der sich über die Baumkronen ausgebreitet hatte. Überall sah man ihn,
vom Wegrand bis tief hinein in die Waldwildnis. Auch am Boden zeigte sich an vielen Stellen erstes, zaghaftes Grün. War das beim Start heute Mittag auch schon so gewesen? Das Wäldchen vorm Abzweig zum Gut – ich hätte schwören können, dass dort alles noch kahl und tot gewesen war. Hatte die Natur plötzlich zu sprießen angefangen? War das möglich, in so kurzer Zeit? Konnte man den Pflanzen sozusagen beim Wachsen zuschauen? Der Wegweiser nach Neuschönhagen zog an uns vorüber. Das war schon zu weit, von hier aus ließ sich das geheimnisvolle Haus ganz sicher nicht mehr entdecken.
Aber ich nahm mir vor, irgendwann zurückzukommen und von neuem zu suchen. Dann endete der Wald, wir fuhren in den abendlichen Sonnenschein hinaus. Zurück im Dorf hatten sich die Straßen sehr belebt, vermutlich wegen des guten Wetters. Mittlerweile schien die Luft sogar noch milder geworden zu sein. Wir kamen an der Kirche vorbei, durchquerten den kleinen Brook hinter dem Friedhof. Am Mühlenteich konnten wir nur noch Schritttempo fahren, weil so viele Spaziergänger unterwegs waren. Die schmale Holzbrücke über den Mühlenbach zwang uns endgültig zum
Absteigen und Schieben. Ständig wurden wir nun gegrüßt. Muttern grüßte jedes Mal freundlich zurück, Henri und ich glotzten bloß und sagten nichts. Erst an der Grünen Insel war wieder genug Platz zum Fahren. Vor der Eisdiele hatte sich eine Schlange gebildet. Ein paar der Wartenden kannte ich vom Sehen, aber aus der Clique war niemand dabei… Je näher wir unserer Siedlung kamen, desto angespannter wurde ich. Etwas zog mich regelrecht vorwärts, das Rätsel schien kurz vor seiner Auflösung zu stehen. Muttern und Henri konnten mir
bald kaum noch folgen. Ich erreichte den Achterkamp, bog in die Kleiststraße, schaute sofort zum Telefonkasten… und fand alles vor wie insgeheim erhofft: Silke, Jürgen, Kristina, Bernd und Maren – sie waren komplett versammelt. Wie sie es bei unserem letzten Treffen verabredet hatten. Eine Art Blitz leuchtete plötzlich in mir auf; einen winzigen Augenblick meinte ich zu erkennen, wie alles zusammenhing: dieser besondere Morgen kurz vor Weihnachten, die erste Begegnung hier in Schönhagen, dann mein gestriger Marsch, schließlich die wirren Bilder eben am Strand, bei denen
irgendwie der Schluss fehlte… und jetzt stand dort diese kleine Gruppe. Ich bremste und machte bei ihnen halt, ließ Muttern und Henri allein zu den Garagen weiterfahren. Vorsichtig grüßte ich in die Runde, brachte sogar ein zaghaftes Lächeln zustande. Als mir klar wurde, dass ich von meinem Fahrradsattel quasi auf sie herunterschaute, stieg ich schnell ab. Sie waren überrascht, hatten erst morgen mit mir gerechnet, aber sie schienen sich doch zu freuen. Bernd patschte mir auf die Schulter, Jürgen drückte mir die Hand. Ich musste erklären, warum ich bereits wieder hier war, und gab meine
Story von der günstigen Mitfahrgelegenheit zum Besten. Bernd berichtete von der Shopping-Tour am letzten Donnerstag, als er mich unterwegs in der Nordstadt abgesetzt hatte. „Die üblichen Ostergeschenke halt“, meinte er. Aber er hatte wohl auch ein paar Scheiben zu richtig guten Preisen erstanden. Dann erzählte Jürgen von einem Umtrunk, den es am Karfreitag auf der Feuerwache gegeben hatte. Am Schluss sei die komplette Mannschaft besoffen gewesen, behauptete er, bei Feueralarm hätte niemand mehr löschen können. Alle
lachten. Wieder fragte ich mich, was ich eigentlich an Jürgen fand. In der Nordstadt wäre er die totale Hassfigur gewesen, man hätte sich dort mit ihm nicht blicken lassen dürfen. Stand auf Uniformen und Dienstgrade, lächelte die ganze Zeit wie ein Verkäufer. Aber ich konnte mir nicht helfen – irgendwas hatte er. Wie er mich beim zweiten Treffen wieder in die Runde geholt hatte – in der Nordstadt wäre das nie und nimmer so gelaufen, dort musste jeder selbst sehen, wie er klarkam. Aber Jürgen achtete darauf, dass keiner zurückblieb, er fühlte sich in gewisser
Weise verantwortlich für die Gruppe. Verantwortungsgefühl – in der Nordstadt war das ein Schimpfwort, man dachte dabei an Streber und Schleimer. Wobei ich gerade nicht mehr recht wusste, weshalb eigentlich. Ob ich während der Kradfahrt sehr gelitten hätte, fragte Kristina besorgt. Dann bedachte sie Bernd, der neben ihr stand, mit einem hämisches Grinsen. Natürlich kapierte ich, worauf sie hinauswollte – Bernds Fahrstil war berüchtigt. Aber aus irgendeinem Grund wollte ich das Spiel nicht mitspielen: „Ja, unter der Kälte“, meinte ich. Froh über diesen Einfall erzählte ich, wie
derbe ich in meiner dünnen Jeans auf dem Sozius geschlottert hatte. Daraufhin schimpften wir einmütig über das miese Wetter der letzten Tage. Und freuten uns, dass nun endlich wieder die Sonne schien. Erst jetzt sah ich, dass Bernd seinen Arm um Kristinas Hüfte gelegt hatte. Nanu, waren die beiden wieder zusammen? Als wollte sie alle Unklarheiten endgültig ausräumen, schmiegte sich Kristina nun an seine Schulter. Guck einer an, dachte ich. Aber es machte mir nichts aus, komischerweise. Silke war ganz anders als bisher, keine
Spur mehr von Hochnäsigkeit oder Heimtücke. Sie verwickelte mich andauernd in Gespräche, fragte Sachen, scherzte mit mir herum. Und merkwürdig: Statt zu Kristina, wie sonst, wurden meine Blicke nun permanent zu ihr gezogen. Die roten Wangen, ihre Sommersprossen, die langen Wimpern – all das hatte auf einmal so gar nichts Künstliches, Puppenhaftes mehr, ganz im Gegenteil: Ich mochte Silke leiden, fand sie richtig hübsch. Dazu kam ihre Figur, die üppigen Formen, der volle Busen, der sich, ob gewollt oder nicht, beim Reden immer wieder leicht an mich drückte. Sie machte mich gerade ziemlich kirre, diese Silke – ich merkte es und ließ es dennoch
geschehen, genoss es sogar ein bisschen… Derweil waren Jürgen und Maren in eine Diskussion vertieft. Es ging darum, ob Frauen bei der Feuerwehr und in der Armee die Chance haben sollten, rangmäßig aufzusteigen und möglicherweise sogar Männer zu kommandieren. Für Jürgen war so etwas völlig ausgeschlossen, Maren sah das anders. Das Thema schien ihr wichtig zu sein, sie wirkte ziemlich aufgewühlt. Trotzdem versuchte sie fair zu bleiben, ließ Jürgen immer ausreden, fragte sogar nach, als ihr einmal etwas unklar war. Sie wirkte neugierig auf seine Argumente
und ging, obwohl komplett anderer Meinung, immer darauf ein. Was für eine komische Art, sich zu streiten! Diskutieren – das war doch fast wie Prügeln, bloß mit Worten. Aufs Gewinnen kam es an, dafür waren alle Mittel recht. Umgekehrt musste man mit sämtlichen Gemeinheiten rechnen, durfte den Gegner nicht so naiv und gutherzig anglotzen, wie Maren es die ganze Zeit machte. In der Nordstadt hätte man sie einfach plattgelabert, gnadenlos niedergemacht. Oder nicht? Irgendetwas Überlegenes, Souveränes war an ihr. Sie ließ sich
partout nicht beirren, nicht von ihren Gedanken abbringen. Und obwohl sie nie laut wurde, schaffte sie es, ihren Worten Nachdruck zu verleihen. Vielleicht lag es an diesem Blick: angstfrei, klar – jedes rechthaberische Gelaber musste daran abperlen. Am KBZ hatten einige Mädchen beim Streiten auch so geguckt. Manchmal war ein Hauch von Verachtung dabei gewesen, nach dem Motto: Dein großkotziges Getue kannst du dir sparen, das zieht bei mir nicht. Und tatsächlich hatten sie sich nie einschüchtern lassen, mochten sie auch körperlich unterlegen gewesen sein. Für Hartmann und mich waren solche
Mädchen immer eingebildete Schnallen gewesen. Tussis, die sich bloß wichtig machten, die glaubten, sie wären was Besseres. Aber so kam es mir auf einmal nicht mehr vor. Jetzt wirkte eher wie… eine Art innerer Gewissheit, die klügeren Argumente zu haben. Ja, das war es: Maren wusste, dass ihre Sichtweise schlauer war, zu Ende gedacht. Frauen mochten ja häufig nicht athletisch genug sein, um bestimmte Jobs bei der Freiwilligen Feuerwehr zu erledigen. Aber immer stimmte das halt nicht. Auch mir wären einige Mädels mit ausreichend Knööf eingefallen, um eine Feuerspritze zu halten. Man merkte, dass Jürgen vor allem nichts verändern wollte, die jetzige
Ordnung mit Klauen und Zähnen verteidigte. Wie cool Maren das alles durchblickte – es war imponierend, fast ein bisschen respekteinflößend. Und das ausgerechnet bei Maren! Maren, die ich nie für voll genommen, immer für das dämliche Provinzmädel schlechthin gehalten hatte. Auf einmal kam sie mir völlig verwandelt vor. Sie und überhaupt alles hier. Schon verrückt… Abrupte Aufbruchstimmung riss mich aus meinen Gedanken. Die Mädchen mussten los. Ein großes Durcheinanderreden und Verabschieden begann – kurz darauf
waren sie weg. Bernd, Jürgen und ich standen zunächst etwas ratlos herum. Unsere Stimmung war jetzt deutlich gedämpft. Ich rechnete damit, dass die zwei ebenfalls demnächst abhauen würden. Aber irgendwie schaffte ich es, sie zum Bleiben zu Bewegen. Das Gespräch kam wieder in Gang, wir quatschten und laberten noch endlos, wurden es einfach nicht müde. Ich war den beiden regelrecht dankbar, dass sie nicht gingen, sondern mit mir zusammen hier ausharrten. So blieb ein Stück der guten Stimmung erhalten, die vorhin mit den Mädchen geherrscht hatte. Am liebsten
hätte ich das Ende des Abends noch ewig hinausgezögert. Schließlich mussten wir doch kapitulieren vor Dunkelheit und Kälte. Ich holte von drinnen den Garagenschlüssel. Als ich mein Rad untergestellt hatte und zurückging, war ich definitiv der Letzte auf der Straße. Im Haus Nr. 12 war das Küchenfenster erleuchtet, aber ich sah weder Silke noch Kristina. Da war nur die Mutter, Frau Rönnfeld, die Geschirr in den Schrank räumte. Nebenan, bei den Stützers, war bereits alles dunkel. Noch sehr lange saß ich in meinem
Zimmer und ließ die Bilder des Abends an mir vorüberziehen. Die Leute, wie sie am Telefonkasten zusammenstanden, ihre nette Begrüßung. Bernd und Kristina, Arm in Arm. Silkes unerwartete Herzlichkeit. Marens offener, selbstbewusster Blick während ihres kleinen Streits mit Jürgen. Dann fiel mir ein, dass ich gar nicht bei Hartmann angerufen hatte, anders als versprochen. Mittlerweile hatte ich doch ein schlechtes Gewissen, so Hals über Kopf aus der Nordstadt getürmt zu sein. Hatte ich Tom und die anderen nicht sitzen gelassen, als es losgehen sollte mit der Schlägerei? Waren sie jetzt sauer
auf mich? Ich musste das klären, und zwar so schnell wie möglich!
Und doch hatte ich nicht den geringsten Bock, mit Hartmann über die Hawks zu quatschen. Dieses ständige Gerede über Kloppereien und Saufgelage – ich wollte es einfach nicht mehr hören.
Ich schreckte hoch – ringsherum war es stockfinster. Nur sehr langsam begriff ich, dass ich nicht abgestürzt, nicht in bodenlose Tiefen gefallen war, sondern schlicht in meinem Bett lag. Ich hatte einen üblen Albtraum gehabt. Dann fiel es mir siedend heiß ein: Der erste Schultag in Eckhorst stand bevor! Bis zum Weckerklingeln war es nicht mehr lang. Nervös drehte ich mich auf die andere Seite, um noch ein bisschen Schlaf zu kriegen, nachher nicht völlig erschlagen zu
sein. Von draußen hörte man gleichmäßiges Rauschen – anscheinend regnete es wieder. Schade, gestern hatte es noch nach gutem Wetter ausgesehen. So konnte man sich täuschen… langsam kehrte der Schlaf zurück, und mit ihm der Malstrom aus Phantasien, Gedanken, wirren Traumbildern, Erinnerungen. Eine wurde abgesondert und nach oben gespült, eine sehr alte… Ausgerechnet! Schlagartig war ich wieder wach. Diese dämliche, uralte Geschichte – weshalb musste ich gerade jetzt daran
denken? Meine Treffen mit Hartmann, unser Herumziehen in der Nordstadt – das war immer bloß eine Seite von mir gewesen, die, die jeder kannte. Daneben hatte es eine zweite, unsichtbare gegeben. Ich nannte sie insgeheim immer meine „Traumwelt“. Begonnen hatte es in der Grundschule, als ich nachmittags manchmal, statt mit Hartmann loszuziehen, einfach zu Hause geblieben war. Muttern arbeitete, Henri machte das Viertel unsicher, die Wohnung war leer und still. Ich wusste nicht genau, was mit mir los war. Irgendwie fühlte ich mich – schwach, hilflos, wollte mich
verstecken, verkriechen, am liebsten unsichtbar werden. Der Fernseher war mein einziger Freund, das Fenster in eine andere Welt. Eine, die schöner war als die wirkliche. Bunter, geheimnisvoller, tiefer. Zeichentrickfiguren flitzten dort herum und stellten verrückte Sachen an. Marionetten, an schimmernden Fäden hängend, staksten durch Kulissen aus Papier. Ältliche Frauen priesen Waschpulver und Reinigungsmittel an. Ein Sprecher mit dicker Brille und Schnauzbart verlas ernsten Blickes Nachrichten, hinter sich Landkarten und Fotos von Politikern. Am liebsten
mochte ich die Spielfilme: monumentale Kulissen, bombastische Musik, Dramatik… Dann entdeckte ich das Lesen, erst Comics, später auch Heftromane. Hartmann versorgte mich zuverlässig mit neuem Material. Er klaute in den Supermärkten wahllos alles zusammen, was nicht niet- und nagelfest war, und lud es, wenn er damit durch war, bei mir ab. Im Gegensatz zu ihm und allen anderen, die ich kannte, hakte ich das Gelesene und Gesehene hinterher nicht einfach ab. Die Filme und Geschichten entwickelten
bei mir eine Art Eigenleben, ich fing an, sie im Geiste nachzuspielen und auszufeilen. Der Held und ich verschmolzen, wurden eins. Plötzlich war ich es, der den mysteriösen Fall aufzuklären hatte, dem Bösewicht das Handwerk legen musste. Nur auf mich kam es an, wenn ich versagte, war die Menschheit verloren. Natürlich passierte das nie, ich lieferte stets. Als ich anfing, mich für Mädchen zu interessieren, veränderte sich der Charakter meiner Tagträume: Neben Gangsterbossen und Weltverschwörern gab es jetzt auch immer einen Konkurrenten, einen Rivalen. Wem
würde die Angebetete ihr Herz schenken? Ihm, dem Blender und Aufschneider, der in Wahrheit ein feiger Egoist war? Oder mir, dem unauffälligen, bescheidenen Jungen, der mindestens einmal pro Woche die Welt rettete? Selbstredend, dass sie sich am Ende für den Richtigen entschied. Meine Heldinnen hatten immer eine Entsprechung im wirklichen Leben – der Pausenhof des KBZ war hier eine unerschöpfliche Quelle. Ich pickte mir aus der Masse der Mädchen eine geeignete heraus und verpasste ihr eine zweite Biografie. Natürlich bekam die Auserwählte nie etwas davon mit. Sie
hatte nicht die geringste Ahnung von den tollen und gefährlichen Abenteuern, die sie an meiner Seite bestehen musste. Meistens wusste sie nicht einmal, dass es mich gab. Echte, lebendige Mädchen waren für mich Wesen von einem anderen Stern. Ich verstand sie nicht, sie sprachen eine Sprache, die mir vollkommen fremd war. Aber das war mir gleichgültig. Hauptsache ich konnte sie anschauen und bewundern. Und wenn ich eine besonders schön fand, formte ich mir aus ihr einfach eine Figur, die so war, wie ich es mir wünschte. Die keine Fragen stellte und vor allem: die nichts von mir
verlangte, das ich sowieso nicht erfüllen konnte. Wie vollkommen anders die Realität aussah, als es tatsächlich mit den Mädchen losging! Nun war endgültig Schluss mit meiner „Traumwelt“. Sehnsucht, Gefühle, Romantik – den Weibern im Bunker hätte man mit so was nicht kommen dürfen, die hätten einen lebendig gegrillt. Das Wichtigste bei denen war, sich nicht auf der Nase rumtanzen zu lassen, die Oberhand zu behalten. Wenn man das akzeptiert hatte, konnte man seinen Spaß haben. Der Kitzel, den das Knutschen und Fummeln auslöste, war überhaupt nur so zu
genießen. Aber stimmte das wirklich? Gab es nicht doch noch etwas anderes? Eine Verbindung zwischen dem Schönen und Romantischen, das ich mir in meinen Phantasien so oft ausgemalt hatte und diesen spielerischen Kämpfen im Bunker? Irgendwie ahnte ich, dass es so sein musste. Oder wünschte ich mir das bloß? *** Die Alte Mühle war zweigeteilt. Im Erdgeschoss des historischen Gebäudes
hatte man das Schönhagener Heimatmuseum untergebracht. Das hölzerne Mühlrad, das ich nun schon so oft gesehen hatte, gehörte zur Freiluftausstellung. Unterm Dach, im ehemaligen Kornspeicher, befand sich der Jugendtreff. Sessel und Sofas standen herum, es gab einen Kicker, eine Dartecke und ein DJ-Pult. Über uns wölbte sich ein imposanter Dachstuhl, der von wuchtigen, frei im Raum stehenden Holzpfeilern getragen wurde. Es waren bereits eine Menge Leute hier, trotz der frühen Nachmittagsstunde. Viele Gesichter kannte ich bereits, von Spaziergängen mit der Clique in den Ferien, unseren Treffen an der Eisdiele.
Schon komisch, wie schnell das gegangen war. Hinterm Tresen wusch der Lange Udo Gläser ab. „Alt-Revoluzzer“ hatten wir Typen wie ihn am KBZ immer genannt. Langes, von grauen Strähnen durchsetztes Haar, verwarzte Jeans-Klamotten, in der Brusttasche immer ein zerknülltes Päckchen Gauloises oder Gitanes ohne Filter. Neulich auf Mutterns Einweihungsparty bei uns zu Hause hatte ich lange mit ihm gequatscht. Seine Sprücheklopferei nervte auf Dauer zwar etwas, aber es imponierte mir, wie er auf die Menschen zuging. Ob arm oder reich, klug oder
dumm – er interessierte sich für sie, ließ sie von ihren Problemen erzählen, hörte zu. Dass er hier in der Alten Mühle als ehrenamtlicher Helfer arbeitete, passte ins Bild. Dabei kam er aus einer völlig anderen Welt: Er war Ingenieur, irgendwas mit Elektronik. Mein erster Schultag lag hinter mir. Im strömenden Regen war ich heute morgen mit Muttern nach Eckhorst gefahren. Sie hatte mich am Wilhelm-Gymnasium abgesetzt und war Richtung Nordstadt weitergebraust, zur Arbeit. Problemlos hatte ich den Weg zu meinem Klassenzimmer wiedergefunden, trotz meiner Nervosität. Als ich hineinging,
nahm kaum jemand Notiz von mir. Nur einige Mädchen kicherten leise und drehten sich schnell wieder weg. Die Jungen tauschten gerade eifrig Fußball-Sammelbilder oder so.Ich stand ratlos neben der Tür und überlegte einen Moment ernsthaft, wieder abzuhauen. Dann riss ich mich zusammen und steuerte den nächstbesten leeren Platz an. „Ist hier noch frei?“, fragte ich den Typen nebenan, einen Hänfling, der nicht älter als zehn aussah. Er nickte eilig, zog sogar den Stuhl unterm Tisch hervor. „Ronald“, stellte er sich vor, kaum dass ich mich gesetzt hatte. Dann legte er los, erzählte mir alles haarklein: Welche
Lehrer wir hatten, wie lang die Pausen waren, wie es mit dem Sportunterricht lief und so weiter. Er war kaum zu bremsen in seinem Redefluss, schien superglücklich, endlich mal jemandem was erklären zu dürfen. Normalerweise hätte ich einen wie den mit dem Arsch nicht angeguckt, aber jetzt blieb mir keine andere Wahl. Außerdem war ich froh, den ersten Schritt getan zu haben. Erst als ich wissen wollte, wo die Raucherecke war, verschlug es diesem Ronald die Sprache. Er starrte mich bloß mit entsetzter Miene an, bekam keinen Ton mehr raus. Ich wechselte lieber schnell das
Thema. Etwas Komisches passierte mir dann noch in der Erdkunde-Stunde: Frau Geuke, die Lehrerin, wollte uns auf der Wandkarte zeigen, wo Kiruna liegt. Leider war der Zeigestock unauffindbar. „Na, ein Lineal tut's auch“, meinte sie. „Hat jemand eins dabei?“ Suchend blickte sie sich in der Klasse um, aber niemand meldete sich. Mein Blick wanderte unauffällig runter zur fabrikneuen Schultasche, die eine perfekte Ausstattung enthielt:
Geodreieck, Zirkel, Normalparabel und natürlich das übliche Lineal von 30 cm Länge – alles war dabei. Aber ich wollte nicht sofort als Streber und Schleimer dastehen, deshalb hielt ich schön den Mund. Gleichzeitig tat mir diese Frau Geuke leid. Sie war eine ältere, etwas peinliche Tante mit einem verschnörkelten Monstrum von Brille, aber man musste zugeben, dass sie sich da vorn ziemliche Mühe gab. Schließlich hatte ich ein Einsehen und zog das Lineal aus der Tasche. Seit dem Kauf hatte ich es nicht mehr angerührt, deshalb sah ich erst jetzt, dass noch das Preisschild dran
klebte – in Signalfarbe, irgendein Sonderangebot. Gelächter machte sich breit, aber Frau Geuke war begeistert: Wie gut der Neue sich einführte! Und dann diese Ausstattung – sogar noch mit Preisen! Das Bekloppteste aber war, dass ich mich über ihr Lob freute. Wie ein kleiner Junge, der am Kopf getätschelt wird. Endlich hatte ich es geschafft und durfte zurückfahren. Der Bus war zuerst proppenvoll, aber nach und nach stiegen alle aus. Schließlich blieben außer mir nur noch ein paar Rentner übrig – ich war wohl tatsächlich der einzige Schönhagener, der nach Eckhorst zur
Schule fuhr. Noch immer kübelte es wie aus Eimern. Im Dorf traf ich Bernd, Jürgen und Micha. Sie waren auf dem Weg zur Alten Mühle und wollten, dass ich mitkam. Ich überlegte: Hausaufgaben hatten uns die Pauker noch nicht aufgebrummt – am ersten Tag wär das auch noch schöner gewesen. Essen wiederum würde es erst abends geben, wenn Muttern von der Arbeit kam. Massig Zeit also. Falls es in diesem Jugendtreff tatsächlich Randale gab, womit man rechnen musste, konnte ich mich ja verdünnisieren. Zu Hause schleuderte ich meine Tasche
aufs Bett, mampfte in der Küche eine Stulle und latschte wieder los. Und nun saß ich also hier, unter dem riesigen Dach des alten Kornspeichers, auf einem gammeligen Cord-Sofa, das genauso gut im Bunker oder in unserer ehemaligen Sitzecke hinter der Bahnschiene hätte stehen können. Lautes Gepolter vom Kicker – dort ging es hoch her. Irgendwelche Könner waren am Werk, eine Traube von Zuschauern hatte sich gebildet. Immer wieder brach Applaus los, es gab Buhrufe, Diskussionen. Einmal musste ein Streit zwischen den Spielern geschlichtet
werden. Währenddessen waren Bernd und ein paar andere eifrig am Darten. Ich überlegte gerade, ob ich zu ihnen gehen und eine Runde mitspielen sollte, da kamen ein paar Typen in Lederjacken und Jeanskutten herein. Als sie an meinem Sofa vorbeigingen, sah ich hinten auf ihren Jacken die Embleme. Also doch! Ich hatte es ja geahnt: Wo ein Treffpunkt war, konnten solche Schläger nicht weit sein. Aufs Dart-Spielen verzichtete ich jetzt lieber, dort hinten war man viel zu weit vom Ausgang weg. Wenn es losging mit dem Halligalli, hatte man hier auf dem Sofa deutlich bessere Karten.
Schnell prüfte ich, ob der Weg zum Ausgang mit Möbeln verstellt war. Nein, alles frei. Die Schläger kamen jetzt am Tresen an, machten sich dort breit. Der Lange Udo begann auf sie einzureden. Schätzungsweise verklickerte er ihnen gerade, dass es hier keinen Alk gab, nur Softdrinks und Wasser. Er hätte besser irgendwo Bier und Korn auftreiben sollen, und zwar so schnell wie möglich. Kein Alk – so was war für die der ideale Grund, um Streit anzufangen. Komischerweise schien außer mir kein Mensch die drohende Gefahr zu
bemerken. Der Saal wurde voller und voller, aber niemand roch Lunte. Typisch Landeier, dachte ich. Mittlerweile hatte Udo Verstärkung am Tresen bekommen, von Doris. Auch sie arbeitete hier ehrenamtlich. Als ich sah, wie sie den Kuttenträgern zulächelte, bekam ich fast Mitleid: Wollte sie die Typen auf diese Weise milde stimmen? Das brachte doch eh nichts! „Ich übernehm dann mal“, hörte ich sie sagen. „Alles klar.“ Udo legte das Handtuch weg und kam hinterm Tresen hervor. Im ersten Moment dachte ich, das wäre
Taktik: Doris blieb hier vorn, um die Randalierer in Sicherheit zu wiegen, während er hinten vom Büro aus die Bullen rief. Pustekuchen: Er schlug die Gegenrichtung ein, kam völlig entspannt zu uns gelatscht. Dieses gutmütige Schaf kapierte anscheinend noch immer nicht, was abging – völlig arglos überließ er Doris am Tresen ihrem Schicksal! „Na Hauke, auch mal hier?“, grüßte er mich, bestens gelaunt. Er fragte nach Muttern, wollte wissen, wie der erste Schultag gewesen war. Dann fing er an, mir groß und breit zu erklären, wie es in der Alten Mühle lief. Dass es außer der „Kneipe“, wie sie den großen Saal hier
nannten, noch diverse andere Räume für Aktivitäten gab, jeder mal Tresendienst schieben musste und so weiter. Richtig zuhören konnte ich nicht. Immer wieder musste ich nach vorn linsen, wo Doris mit den Schlägertypen allein dastand. Ich war anscheinend der Einzige, der hier den Durchblick hatte. Jetzt erzählte Udo irgendwas von einer Tombola. Ob ich schon davon gehört hätte? Nervös schüttelte ich den Kopf, immer darauf bedacht, den Überblick zu behalten, bereit zu sein, wenn der Tumult losbrach. „Jedes Jahr versuchen wir von den
Unternehmen hier in der Region Sachen zu organisieren“, erklärte Udo. „Und Anfang Juli, beim Sommerfest am Ferienzentrum, steigt sie dann: unsere große Ramba-Zamba-Tombola! Die Kohle, die wir damit verdienen, stecken wir in die Alte Mühle. Neue Möbel, Platten und so weiter. Na, und soeben haben wir beschlossen, dass du mitmachst bei der Aktion 'Drohne sammelt Nektar'. Kein angenehmer Job, zugegeben, aber die Alte Mühle kann's brauchen. Wie sieht's aus? Bist du dabei?“ Viele Umstände machte der ja nicht gerade! Das fehlte mir noch, dass ich
mithelfen sollte, Geschenke zusammenzubetteln. Aber der Laden hier würde sowieso gleich Kleinholz sein. Schade eigentlich, dass Udo die traurige Wahrheit nicht raffen wollte. „Lass es dir durch den Kopf gehen“, meinte er und latschte wieder nach vorn zu Doris. Werd' ich bestimmt nicht machen, dachte ich. Noch mehr Kutten-Typen kamen herein. Am Tresen war jetzt alles voller Embleme. Also deshalb hatten sie nicht längst losgelegt: Sie waren noch nicht
vollzählig gewesen. Viele der Schläger trugen Motorrad-Kluft, hielten Helme unterm Arm. Klar, sobald sie hier alles zerlegt hatten, würden sie sich auf ihre Feuerstühle schwingen und abdampfen. Die Bullen konnten dann bloß noch die Verletzten zählen. Das übliche Spiel. Wieder schielte ich zum Ausgang rüber, zog vorsichtshalber schon mal die Jacke an. Bernd kam vom Darten zurück und steuerte den Tresen an, wollte sich ernsthaft was zu trinken kaufen. Kapierte dieser Trottel denn nicht, was uns demnächst blühte? Jeden Augenblick brach hier die Hölle
los! Ich hielt es endgültig nicht mehr aus, sprang hoch, checkte den Weg; gleichzeitig sah ich aus den Augenwinkeln, wie Bernd eine ausholende Bewegung machte, als wolle er einem der Kerle eine verplätten… aber statt in der Fresse landete die Hand auf der Schulter seines Gegenübers. Bernd knuffte ihn nur leicht, und der Typ patschte zu meinem allergrößten Erstaunen zurück! Am Ende fielen die beiden sich unter lautstarkem „Hallo“ in die Arme. Der Rest der Truppe stand tatenlos da. Niemand schlug
zu. Sehr, sehr langsam kapierte ich, dass Bernd und der Kerl sich einfach bloß begrüßt hatten. Die vermeintlichen Radau-Brüder waren Biker, nichts anderes! Sie wollten hier wahrscheinlich bloß das Ende des Regens abwarten. Plötzlich erschien mir ihr Verhalten in einem völlig anderen Licht: Statt gegenseitigem Hochschaukeln und Triezen sah ich jetzt übermütiges Herumalbern, was gerade noch wie der Beginn eines Streits gewirkt hatte, war auf einmal kumpelhaftes Geplänkel. Da drüben gab es nichts als Ausgelassenheit und gute Laune. Und niemand trank
Alkohol. Ein Typ hielt eine Colaflasche in der Hand, ein anderer nuckelte an seiner Capri-Sonne. Auf einmal fühlte ich mich völlig kraftlos. Was für ein Idiot war ich eigentlich? Welche Gespenster hatte ich da schon wieder gesehen? So langsam drehte ich wohl komplett durch. Ich war froh über die schummrige Beleuchtung, die mein belämmertes Gesicht verbarg. Trotzdem – ein letztes Misstrauen blieb. Ich konnte mir definitiv nicht vorstellen, dass in einem öffentlichen Treff und bei so vielen Leuten alles friedlich ablief. Irgendwas musste da noch kommen, das
ging gar nicht anders, das war einfach der normale Lauf der Dinge…
Mittlerweile waren auch Alex und Micha da. Die beiden hatten sich hinter dem DJ-Pult postiert und sorgten für Stimmung. Ihre Köpfe nickten im Takt, ab und zu hielten sie sich den Kopfhörer ans Ohr. Es sah richtig professionell aus, was sie da trieben, und es hörte sich auch so an. Das Auflegen von Musik beherrschten sie um Längen besser als das Selbstmachen. „Wo habt ihr eure Mädels gelassen?“, rief Udo vom Tresen zu uns herüber. „Sind die noch beim Training?“ Die Mädchen spielten Volleyball im örtlichen Verein, dem TSV Schönhagen. Sie waren
gerade Tabellenletzte und mussten ordentlich rackern. „Jepp!“, brüllte Bernd über den Lärm zurück. „Kommen aber gleich!“ Ein Schauer zog bei diesen Worten über mich hinweg und hinterließ angenehmes Prickeln. Auf einmal war diese gespannte Erwartung wieder da, als würde demnächst etwas Besonderes passieren, etwas, das alles änderte… Kurz darauf erkannte ich im Halbdunkel zwei Gestalten, die sich ihren Weg durch die Menge bahnten: Kristina und Maren. Sie stoppten am Tresen, um Doris und
Udo zu begrüßen, dann schlängelten sie sich weiter zwischen sitzenden und stehenden Leibern hindurch in unsere Richtung. Komisch, weshalb war Silke nicht bei ihnen? „Na, fertig?“, fragte Bernd, als die beiden bei uns angekommen waren. „Kann man wohl sagen“, stöhnte Kristina mit Leidensmiene. „War voll anstrengend – Konditionstraining! Unser Trainer meinte, wir müssten endlich mal wieder gewinnen.“ Bernd zog sie zu sich aufs Sofa, nahm sie in den Arm. Mittlerweile wusste ich,
dass er vor einem Monat Schluss mit ihr gemacht hatte, wegen ihrer ständigen Fremdgeherei. Kürzlich hatte er sich eines Besseren besonnen, seitdem waren die beiden wieder fest zusammen. „Silke hatte Streit mit Mama“, meinte Kristina zu Jürgen, „sie darf nicht mehr raus.“ Jürgen verdrehte die Augen. Offenbar kannte er das schon. Ich zwang mich, mal hierhin, mal dorthin zu schauen, desinteressiert zu wirken. Und doch wurde mein Blick immer wieder magisch von den Mädchen angezogen. Als ich mich dagegen wehrte, wanderten meine Augen nur umso
hektischer hin und her. Bei einem Irren konnte es nicht viel anders aussehen. „Der Regen hat aufgehört“, sagte Maren. „Wollen wir nicht rausgehen, zur Eisdiele zum Beispiel?“ Sie sprach sehr ruhig, fast leise, trotzdem schien ihre Stimme den Lärm im Saal mühelos zu übertönen. Alle waren einverstanden. Bernd verabschiedete sich von seinen Kumpels am Tresen, dann gingen wir los. Draußen war es erstaunlich warm, fast schwül, wie im Sommer. Eine Brise war aufgekommen und hatte die Straßen trockengepustet, aber noch immer zogen
dunkle, schwere Regenwolken über den Himmel. Ich bummelte, irgendetwas in mir hatte es auf einmal nicht eilig. Unter den Bäumen auf der Grünen Insel machte ich halt. Wie grün und voll die Baumkronen geworden waren – die Natur schien in den letzten Tagen regelrecht explodiert zu sein. Es roch nass und frisch. Nun ging ein Windstoß durch das Blätterwerk und schickte einen Schwung kalter Tropfen herab. Als ich zur Eisdiele kam, teilten die anderen sich gerade auf. Jürgen, Kristina und Bernd würden drinnen Eis kaufen, derweil sollten Maren und ich am Mühlenteich einen Platz für uns
besetzen. Eigentlich passte mir das nicht. Lieber wäre ich mit reingegangen. Als wir zum Teich kamen, wurde tatsächlich gerade eine Bank frei. Wir setzten uns – maximal weit auseinander, so kam es mir vor. Zäh verronnen die Minuten. Ich sehnte die Rückkehr der anderen regelrecht herbei. Endlich kamen sie mit dem Eis. Bernd tat einen theatralischen Seufzer der Erschöpfung und ließ sich zwischen Maren und mich auf die Bank fallen, sehr nahe bei ihr, eigentlich fast auf ihren Schoß. Sie blickte ihn mit gespielter Verwunderung an, schmunzelte, begann zu
lächeln. Aus irgendeinem Grund fiel mir auf, dass ihre Mundwinkel sich dabei nach unten zogen, nicht nach oben. Auf den Wangen bildeten sich Grübchen. Die etwas zu große Nase trat noch deutlicher hervor, was irgendwie kindlich wirkte, niedlich. Es passte überhaupt nicht zum Rest des Gesichts mit seinen feingliedrigen Zügen: der schmalen Stirn, den kleinen Ohren und vor allem den tropfenförmig geschnittenen Augen. Komisch, dass ich das alles so deutlich erkannte. Normalerweise hatte ich für solche Sachen überhaupt keinen
Blick. Sie trug wieder diesen roten Rock, wie am Ostersonntag. Nur sah man jetzt, dass es kein Rock war, sondern ein Kleid. Beim letzten Mal hatte sie ein Sweatshirt darübergezogen. Wie schmal ihr Nacken war und wie schlank der Hals. Ihr Mund hatte eine ganz seltsame Form: Zu den Winkeln hin machte er einen Knick nach unten. Die Unterlippe war dicker als die Oberlippe, was an ein schmollendes Kind erinnerte. Ich ging davon aus, dass sie blaue Augen hatte, aber als das Licht einen kurzen Moment günstig auf ihr Gesicht fiel, sah
ich, dass sie grün waren. Es gab keinen Zweifel: Sie waren leuchtend grün. Blondes Haar und grüne Augen – was für eine Kombination! Ich hatte das bisher noch nie gesehen. Die Welt schien unmerklich in eine Art Zeitlupe übergetreten zu sein – wie ein Bild stand Marens Profil vor mir. Und obwohl ich sie nur betrachtete, schien ich sie doch zu betasten und zu befühlen. Jede dieser vermeintlichen Berührungen ging mir durch und durch. Und die ganze Zeit war mir, als würde eine heiße, süße Flüssigkeit meine Kehle hinabrinnen und sich langsam ausbreiten, wie ein berauschender
Likör… Leider blieben wir nicht mehr lange auf unserer Bank am See. Viel zu schnell rückte die Abendbrotzeit heran, und wir mussten in die Siedlung zurückgehen. Zu Hause saß ich noch lange in meinem Sessel. Marens Bild stand so intensiv und klar vor mir, als wäre sie nach wie vor anwesend. Das blonde, volle Haar. Der Schmollmund. Und vor allem diese grünen Augen… War das gut, was da gerade mit mir passierte? Weshalb ausgerechnet Maren? Durfte ich
das? Aber kaum stellte ich mir diese Frage, durchlief mich jedes Mal ein Schauer. Etwas in mir lachte auf, verwirrt und zugleich befreit. *** Ich saß beim dreckigen Michael im Keller, wie so oft in letzter Zeit. Gerade baute Schohl einen Joint zusammen. Alex und Micha glotzten ihn mit Telleraugen an, schienen es kaum abwarten zu können, bis das Ding endlich die Runde
machte. Ich war mit den Gedanken noch in der Schule. Heute war irgendwie der Wurm drin gewesen, nichts hatte geklappt… Als erstes hatte ich morgens den Bus nach Eckhorst verpasst. Ich musste eine geschlagene Dreiviertelstunde auf den nächsten warten. Mit Muttern zu fahren war leider nicht mehr möglich – sie kloppte ihre Überstunden seit neustem in der Früh anstatt abends und brach immer schon um halb fünf auf. Als ich endlich in der Schule ankam, war die erste Stunde so gut wie vorbei. Englisch, bei Wahlstedt, ausgerechnet! Prompt gab es
den ersten Anraunzer. Aber es sollte noch dicker kommen: Nach Englisch hatten wir Sport, ebenfalls bei Wahlstedt. In der Umkleide stellte sich heraus, dass ich meine Sportklamotten vergessen hatte. Jetzt war die Wurst endgültig warm: Das berüchtigte rote Büchlein wurde gezückt und ein Vermerk eingetragen. Warum lieferte ich dem Kerl andauernd neue Munition? Er hatte mich eh auf dem Kieker. Nahm mich ständig dran, prüfte meine Hausaufgaben jedes Mal haarklein, ließ mir keine Ruhe. Wahrscheinlich wollte er mir Zucht und Ordnung
beibringen. Er war früher Zeitsoldat gewesen, bei der Marine. Das merkte man noch immer deutlich. Im Sportunterricht ließ er so richtig den Nazi raus. Zum Beispiel mussten wir Völkerball immer mit einem Medizinball spielen. Auch für das heutige Kastenturnen hatte er sich was Nettes überlegt: Nur wer die jeweilige Übung schaffte, durfte drüben stehen bleiben, der Rest musste immer wieder anrennen. Es gab üble Stürze mit Prellungen, Nasenbluten und so weiter. Das Heftigste aber war, dass niemand aufmuckte. Alle spielten das miese Spiel mit, auch die, die es bis zum Schluss nicht schafften
und total blamiert dastanden. Zum Glück zählte ich nicht zu dieser Gruppe, obwohl an mir wahrlich kein Sportass verloren gegangen war. Am KBZ wäre das komplett anders gelaufen. Wir hätten uns extra dämlich angestellt, wären vor dem Kasten stehengeblieben oder daran vorbeigestolpert. Ein Pauker wie Wahlstedt hätte bei uns keine Sonne gesehen, den hätten wir mürbe gemacht. Das konnte man am Wilhelm-Gymnasium leider vergessen, so kindisch und zurückgeblieben, wie hier alle waren. In meiner Klasse gab es eine einzige
Person, die man ernst nehmen konnte: Juliane, eine Sitzenbleiberin. Sie und ich waren die auch einzigen Raucher bei uns. Obwohl wir beide schon 16 waren, durften wir nicht in den Raucherraum – der war ausnahmslos der Oberstufe vorbehalten. Wir mussten uns wie Minderjährige illegal vom Schulgelände verdrücken, um eine durchzuziehen. Inzwischen hatte ich endlich bei Hartmann angerufen. Er würde Pfingsten nach Schönhagen kommen. Die Klopperei am Ostersamstag war ziemlich schnell wieder vorbei gewesen. Die verschiedenen Fraktionen hatten sich verbrüdert und bei Tom das große
Besäufnis abgehalten, auf das Hartmann so scharf gewesen war. Je länger ich in diesem finsteren Keller hockte, desto trübsinniger wurde ich. Ich spürte, dass ich nicht hier sein sollte. Aber wo hätte ich sonst hingehen können? Immer wieder versuchte ich mir einzureden, dass es in Michas Keller doch wie früher im Bunker war oder wie in der Sitzecke hinter der Bahnschiene. Wir saßen auf alten Matratzen, hatten die Musik aufgerissen und gleich würde ein Joint zwischen uns kreisen. Aber eigentlich war es völlig anders. Überall blitzte der Reichtum hervor.
Michas Stereoanlage war noch fetter, noch teurer als die von Bernd. Daneben stand seine neue PA mitsamt Mischpult. Weiter hinten nahm das Schlagzeug einen großen Teil des Raumes ein. Und so weiter und so fort. Allein dieser riesige Keller wäre in der Nordstadt, wo alle in Wohnungen lebten, undenkbar gewesen. Alex, Micha und Schohl nahmen den ganzen Luxus wie selbstverständlich hin. Mittlerweile hatte ich kapiert, dass Dinge wie dieser siffige Keller, ihr Outfit oder das Dope rauchen für sie nur Oberfläche waren, Firnis. In ein paar Jahren würden sie in die Fußstapfen ihrer Alten treten: Abi machen, studieren,
anschließend ein toller Job mit viel Kohle und so. Ich dagegen würde immer der abgerissene Loser bleiben, der ich jetzt schon war. Abgerissen – das traf es. Der Monat war gerade mal zur Hälfte rum, und mir drohte bereits die Kohle auszugehen. Aber bei Micha gab's ja alles gratis: Kippen, Bier und Dope. Wahrscheinlich war das der Hauptgrund, weshalb ich jeden Tag wieder hier angetrottet kam wie ein Esel. Wann raffte ich mich endlich auf und verdiente mir selbst was dazu? Die Leute aus der Alten Mühle zum Beispiel
schufteten jetzt jeden Tag auf Gut Neudorf. Sie pflückten Unkraut auf den Gemüseäckern, halfen beim Spargelstechen und solches Zeugs. Das lief hier angeblich jedes Jahr so, war eine Art Tradition. Ursprünglich hatte alles mal mit einem von Doris und Udo initiierten Projekt begonnen: „Arbeiten auf einem Bauernhof in der Region“. Die beiden hatten früher selbst auf dem Gut gewohnt. Aber nach und nach war daraus etwas Regelmäßiges geworden. Inzwischen gehörte das alljährliche Helfen für viele einfach dazu, vergleichbar mit der Freiwilligen
Feuerwehr. Ich hatte tatsächlich überlegt, mir die Sache mal anzuschauen. Zum Aufbessern meines Taschengelds wäre es vielleicht okay gewesen. Aber dann hatte ich es lieber bleiben lassen. Die Aussicht, auf einem Acker unter sengender Sonne knüppeln zu müssen, war nicht gerade toll. Außerdem hatte ich unseren Ausflug zum Gut noch in lebhafter Erinnerung. Ich wollte mich von den Ökotypen dort nicht rumkommandieren lassen. Endlich war es soweit: Der Joint wurde feierlich angezündet. Schwerer, süßlicher Qualm zog durch die Luft, breitete sich
langsam aus. Und oben in der Küche arbeitete Michas Mutter. Merkte sie nicht, was ihr Sohn hier unten trieb? Oder hatte sie es längst gerafft, aber kapituliert? Auch Jürgen, Bernd und die Mädchen ackerten jetzt jeden Nachmittag auf dem Gut. Abends waren sie wohl zu müde, um noch etwas zu unternehmen: Ich sah sie kaum noch, der Kontakt zu ihnen war fast abgerissen. Und Maren? Das Treffen am Mühlenteich schien unendlich lange her, ich konnte mich kaum noch daran erinnern. Längst hatte sich das schöne Gefühl jenes
Abends wieder verflüchtigt, ein schaler Nachgeschmack war alles, was davon übrig geblieben war – wie der Kater nach einer Druckbetankung. Inzwischen war mir Maren wieder so fremd wie ganz zu Anfang. Ein Glück! Wie hätte das wohl funktionieren sollen? Maren und ich – da wären Welten aufeinandergeprallt. Ich stellte sie mir zwischen den Nordstadt-Leuten vor: das schüchterne Dummchen vom Lande neben Sandra, Gabi und Britta, die eine Pulle Wodka-O-Saft kreisen ließen… am besten dachte ich gar nicht weiter darüber nach. Hartmann und die anderen hätten mich für verrückt
erklärt.Wahrscheinlich sollte es so sein, dass ich in diesem dunklen Keller hockte und mir mit Micha und den anderen die Birne zukiffte.
Wochenlang hatte Klaus angekündigt, den Efeu zu schneiden, der das Haus langsam aber sicher unter sich begrub. Heute ging es los, und ich musste mithelfen. Bisher hatte ich mich vor solchen Arbeiten immer erfolgreich gedrückt, aber damit war es leider vorbei. Ich stand also mit Arbeitsklamotten im Garten und glotzte nach oben. Henri kletterte irgendwo auf dem Dach herum, der Dschungel hatte ihn völlig verschluckt. Ab und zu hörte man seine Gartenschere klacken, und das nächste
Büschel Efeu rauschte herab. Dann trat ich in Aktion – ich musste die abgeschnittenen Zweige einsammeln und in möglichst kleine Stücke zerlegen. Klaus sammelte alles ein und stopfte es in den Häcksler. Das Konfetti, das unten rauskam, füllte er in große Müllsäcke. Die wollte er am nächsten Tag auf dem Komposthaufen der Nordstadt-Klinik entsorgen. „Unsere Hausgärtner kriegen ne Flasche Doppelkorn“, meinte er, „dann nehmen sie mir das Zeug schon ab.“ Na hoffentlich. Ich fragte mich, wie wir den Urwald sonst loswerden wollten.
Mittlerweile hatten wir schon drei Säcke davon, und wir waren noch nicht annähernd fertig. Mittags gab es Eintopf, den Muttern aus der Klinikkantine mitgebracht hatte. Schweigend saßen wir am Gartentisch, über die Teller gebeugt, und löffelten die kräftige Suppe in uns hinein. Klaus und ich tranken Dosenbier dazu. Und weiter ging es. Henri ließ wahre Efeu-Fluten vom Dach herabregnen. Ich zerkleinerte, was das Zeug hielt, und kam trotzdem kaum hinterher. Der Häcksler knatterte wie ein Maschinengewehr und drohte heiß zu
laufen. Aber langsam trugen unsere Bemühungen Früchte: Das Haus sah nicht mehr so aufgeplustert aus, es wirkte zurechtgestutzt, ordentlicher. Als wäre der Friseur am Werke gewesen. Insgeheim musste ich mir eingestehen, dass das Arbeiten gar nicht so schlecht war. Ich mochte es hier draußen, es brachte Spaß, zusammen mit den anderen etwas wegzuschaffen. Schließlich rief Klaus: „Komm runter, Henri, das genügt erst mal!“ Henri tauchte hinter dem Dachfirst auf. Flink kletterte er durch den Efeu zur
Leiter, sich nur mit einer Hand festhaltend, in der anderen trug er die große Gartenschere. Beim Hinabsteigen begann die Leiter tüchtig zu schwingen, aber er blieb völlig cool. Unten angekommen verriegelte er die Schere an den Griffen, als täte er das jeden Tag, legte sie zum anderen Werkzeug und ging auf dem Pfad an der Seite zur vorderen Haustür. Die Terrassentür war für uns Arbeiter tabu – zu viel Dreck, fand Muttern. „Mach auch Feierabend, Hauke“, sagte Klaus, „den Rest schaffen wir morgen weg.“ Er stellte den Häcksler ab und verschwand ebenfalls nach
vorn. Nach dem stundenlangen Geknatter war die Ruhe wie befreiend. Ich stand einen Moment einfach da und lauschte. Auf den Wind, die Stimmen aus den geöffneten Fenstern der Nachbarhäuser, das Geschirrklappern von den Abendbrottischen. Nun mischten sich Klaviertöne unter die Geräusche. Zuerst war es bloß Geklimper, dann aber wurde das Spiel sicherer und flüssiger. Schließlich entstand eine Melodie, und man konnte erkennen, dass dort ein geübter Musiker am Werke war. Es war ein wolkenverhangener, kühler
Maiabend, in der Luft lag ein intensiver Geruch nach Pflanzen, Gras, feuchter Erde. Ich war kein Stück müde, trotz der ungewohnten körperlichen Arbeit. Und noch immer türmte sich vor mir ein großer Berg Efeu. Also blieb ich einfach draußen und fuhr mit dem Zerkleinern fort, zerschnitt und zerbrach, was das Zeug hielt. Der schöne Abend, der Geruch nach Natur, das Klavierspiel – noch ewig hätte ich so weitermachen können. Leider verklangen irgendwann die letzten Töne, außerdem wurde es allmählich dunkel und verdammt kalt. Und nicht zuletzt taten mir jetzt doch die Knochen weh.
Schweren Herzens legte ich die Schere weg, nicht ohne sie vorher an den Griffen zu verriegeln, wie bei Henri gesehen, dann schlurfte ich müde nach vorn zur Haustür – sicher anderthalb Stunden später als der Rest unserer Truppe. Beim Reingehen stieg mir der Duft nach brennendem Holz in die Nase. Seit wir hier draußen wohnten, geschah das immer wieder. Ich hatte erst gedacht, die Leute würden Sachen in ihren Gärten verbrennen, Schnittholz, Gartenabfälle und so weiter. Inzwischen wusste ich es besser: Manche Häuser hier hatten Kamine, zum Beispiel der skurrile
Kasten von Michas Eltern. Kamine – in der Nordstadt war das etwas gewesen, das in amerikanischen Filmen existierte, aber ganz bestimmt nicht im wirklichen Leben. *** Stand ich ernsthaft auf diesem Acker und rupfte Unkraut aus dem Boden? Oder träumte ich das alles bloß? Nein, es passierte wirklich. Ich war hier draußen, und der Südwest blies mir unablässig ins Gesicht. Auf dem benachbarten Feld leuchtete der Raps so
knallgelb, dass man dachte, die Sonne würde scheinen. Aber das täuschte – der Himmel war grau und dunkel, ab und zu kamen Tropfen herab. Meine Füße steckten in nagelneuen Gummistiefeln, was bei dem Dreck hier draußen leider unvermeidlich war. Ich hatte mir die Treter heimlich im Dorf gekauft, bei Flenker, dem örtlichen „Fachgeschäft für die Landwirtschaft“. Ansonsten trug ich dieselben Plünnen wie eine Woche zuvor, bei der Efeu-Aktion. Mittlerweile hatte ich derbe Rückenschmerzen – kein Wunder bei
dieser permanent gebückten Arbeitshaltung. Meine Hände waren übersät mit Kratzern und dicken Pusteln, weil man immer wieder in Brennnesseln, Disteln und anderes fieses Gewächs griff. Und die Dreckkruste auf den Fingern schien mit jedem Tag tiefer einzusickern, ich bekam sie abends kaum noch weg. Ganz zu schweigen von den schwarzen Rändern unter den Nägeln. Ein Glück, dass die Sonne nicht schien. Neulich war sie kurz herausgekommen, und sofort hatte das Land regelrecht zu kochen angefangen. Ringsum hatten sich die Leute große Strohhüte aufgesetzt und plötzlich stark an Feldsklaven
erinnert.Mir war dringend geraten worden, auch so ein Teil zu benutzen, aber ich hatte dankend abgelehnt. Mit dem Ergebnis, dass für den Rest des Tages mein Schädel dröhnte wie ein Presslufthammer. Innerlich war ich nur am Fluchen. Warum saß ich jetzt nicht gemütlich in Michas Keller? Warum war ich hier draußen und tat mir diese Plackerei an? Ja, warum? Bei Micha war es zuletzt mit meiner Stimmung immer weiter bergab gegangen. Die Rumhängerei in dem
finsteren, verqualmten Keller hatte mich fertiggemacht. Das, was ich suchte, war dort einfach nicht zu finden. Dann kam die Efeu-Aktion mit Klaus und Henri. Das Arbeiten fiel mir unerwartet leicht, so leicht, dass ich anschließend das Gefühl hatte, auch den Job auf dem Gut schaffen zu können. Eines Abends ging ich rüber zu Jürgen und bequatschte das Ganze mit ihm. Es sei alles halb so schlimm, versicherte er mir hoch und heilig. Warum ich es nicht einfach mal ausprobiere? Die erste Fahrt hierher würde ich nie vergessen. Die Riesenmuffe, die ich gehabt hatte! Was, wenn ich es nicht
brachte? Wenn ich zu wenig wegschaffte oder zu blöd war für den Job oder ihn schlicht nicht durchhielt? Wurde ich dann mit Schimpf und Schande weggejagt? Sollte ich so eine krasse Blamage wirklich riskieren? Und doch hatte ich mich insgeheim wie ein Kind darauf gefreut, die Leute aus der Clique wiederzusehen. Durch meinen Entschluss schien die abgerissene Verbindung plötzlich wieder intakt zu sein. Etwas war ins Gleichgewicht gekommen, an seinen Platz gerückt… Und jetzt stand ich also hier. Verflucht, wuchs auf diesem Feld
eigentlich auch noch was anderes außer Unkraut? Ich pflückte und pflückte, und hinterher blieb kaum noch was übrig. Jede Reihe, mit der ich fertig war, wirkte völlig ausgedünnt, fast kahl. Dabei hielt ich mich bloß an das, was die Leute vom Gut gesagt hatten: Unkraut weg, Nutzpflanze in Ruhe lassen. Riss ich zu viel raus? Aber in den benachbarten Reihen sah es genauso aus wie bei mir. Dabei war der Unkraut-Job noch nicht mal das Schlimmste. Spätnachmittags wurden wir immer zum Spargelstechen eingeteilt. Der Spargel wuchs momentan so schnell, dass zweimal täglich geerntet werden musste. Morgens erledigten die
Gutsbewohner das selbst, nachmittags waren wir dran. Das Erdreich des Spargelfeldes war zu parallelen Wällen aufgehäuft, zwischen denen man entlanglief. Wo sich Risse zeigten, kam der Spargel gerade ans Tageslicht. Man musste die Stange freilegen und dann mit einem Spezialmesser abschneiden. Klang einfach, war aber in der Praxis verdammt knifflig. Die Stangen brachen beim Ausbuddeln oft ab. Und wenn nicht, kam man beim Abschneiden schnell an die Nachbartriebe und machte sie kaputt. Ich stellte mich wohl etwas zu dämlich an. Jedenfalls wurde ich nach ein paar Tagen von der Arbeit abgezogen und
einem anderen Trupp zugeteilt. Dort befreiten wir zunächst eine Weide von Unkraut, damit die Schafe wieder darauf grasen konnten, ohne sich den Magen zu verderben. Und gerade waren wir dabei, ein altes, halb verfallenes Stallgebäude auszumisten. Es sollte im Herbst wieder aufgebaut und als Gästehaus hergerichtet werden. Obwohl ich diese Arbeiten ganz ordentlich erledigte, nagte es gehörig an mir, auf dem Spargelfeld versagt zu haben. Überhaupt kam ich mir insgesamt wie eine ziemliche Null vor. Was brachte ich für diesen Job eigentlich mit? Klamotten, cooles Gehabe, Saufen,
Kiffen, Prügeln – solche Sachen mochten in der Nordstadt wichtig sein, hier draußen bedeuteten sie rein gar nichts. Ganz anders Maren – plötzlich zeigte sie Eigenschaften, die man nie an ihr vermutet hätte: ein Arbeitstempo, das selbst manchen Gutsbewohner ins Schwitzen brachte, eine beachtliche Ausdauer und ein Geschick, das faszinierend anzuschauen war. Sie schien hier draußen geradezu in ihrem Element zu sein. Während der Zeit bei Micha im Keller hatte ich überhaupt nicht mehr an sie gedacht. Der Abend an der Eisdiele,
dieses ungewohnte, prickelnde Gefühl – auf einmal war es mir nur noch wie ein Ausrutscher vorgekommen, eine Spinnerei, ein Spleen, nichts weiter. Ich hatte versucht, das zu vergessen, es war mir regelrecht peinlich gewesen. Dann hatte ich Jürgen zugesagt, auf Gut Neudorf mitzumachen, und prompt war die alte Spannung zurückgekehrt. Als hätte sie die ganze Zeit irgendwo in einem Winkel gehockt und nur den geeigneten Augenblick abgepasst, um sich wieder zu zeigen. Und jetzt war Maren tatsächlich neben mir im Gemüse und rupfte Unkraut, wie ich. Gleichzeitig schien sie weit weg zu
sein. Sie achtete auf nichts und niemanden in ihrer Nähe, war völlig in ihre Arbeit vertieft. Die Pausen verbrachte sie immer unter den Gutsleuten. Sie passte perfekt hierher – man hätte glatt denken können, sie wohne ebenfalls auf Gut Neudorf und nicht in einem Schönhagener Reihenhaus. Wieder einmal stellte sich die Wirklichkeit als völlig enttäuschend heraus. Ich war Maren so nahe, und doch trennten mich Lichtjahre von ihr. Wie bei meinen heimlichen Heldinnen früherer Zeiten, die lebendige Menschen und zugleich Fantasiegestalten gewesen
waren. *** Trotzdem – ich musste sie immer wieder anstarren, es war wie ein Sog. Die tropfenförmig geschnittenen Augen, deren Grün ich zwar nicht erkennen konnte, aber trotzdem lebhaft vor mir sah. Die nach unten abknickenden Mundwinkel und die schmollende Unterlippe. Schließlich ihre Hände, die geschickt zwischen den Pflanzen herumhantierten, der konzentrierte Blick auf die Arbeit – all das faszinierte mich dermaßen, dass ich regelrecht wegtrat, in eine Art Dämmerzustand
glitt. Ich versuchte zu verstehen, was genau es war, das ihr Anblick in mir auslöste. Es fühlte sich an wie eine tiefe Rührung über die Verletzlichkeit, die sie ausstrahlte. Ich wollte sie beschützen, alles Unheil von ihr fernhalten. Und war völlig verzweifelt darüber, dass das unmöglich war. Aber genau dieser Widerspruch, diese Spannung war das Faszinierendste. Gleichzeitig hatte ich Angst. Wohin sollte das alles führen? Was war mit den Leuten in der Nordstadt? Konnte ich mich jemals wieder bei ihnen blicken
lassen, wenn… ja, wenn was?
Der nächste Arbeitstag, der sich zog wie Gummi. Es wollte einfach nicht weniger werden, so sehr wir auch rackerten. Und noch geschlagene zwei Stunden bis Feierabend. Dabei konnte ich schon jetzt nicht mehr, schleppte mich nur noch mit allerletzter Kraft voran. Pausenlos geisterten mir die Stimmen der Kumpels aus der Nordstadt durch den Schädel: Wozu macht der Idiot das? Reißt sich den Arsch auf für lau! Soll lieber gemütlich ein Bierchen trinken, dieser Hirni! Mehr als einmal war ich versucht, tatsächlich alles
hinzuschmeißen und mich vom Acker zu machen. Und doch wusste ich, dass ich bleiben würde, mochte dieser verfluchte Job auch bis Mitternacht dauern. Sie sollte es mitbekommen! Eigentlich war es absolut dämlich, aber ich wollte, dass sie auf mich aufmerksam wurde. Sie sollte sehen, dass ich nicht schlappmachte, dass ich durchhielt. *** Gerade arbeitete sie mal wieder ganz in der Nähe. Emsig griffen ihre Finger in die Pflanzen, drehten und prüften, rissen aus oder ließen stehen. Woher nahm sie
nur diese Ruhe und Ausdauer? Von Müdigkeit war bei ihr nichts zu erahnen. Ich wollte mich schon wieder wegdrehen und weiterarbeiten, als sie unvermittelt in ihrer Bewegung stoppte. Sekundenlang geschah nichts. Auf einmal hob sie den Kopf und sah mir genau in die Augen. Ihre Pupillen funkelten, in ihrer Miene lag etwas Verwundertes, Fragendes. Mein Herz stand einen Moment still. Dann schoss mir das Blut in den Kopf, meine Wangen fingen an zu glühen. Hastig beugte ich mich wieder nach unten und nestelte im Gemüse
herum. Ertappt. Wahrscheinlich hatte ich sie wieder minutenlang angeglotzt, ohne es zu merken, wie schon unzählige Male zuvor. Ich musste endlich damit aufhören, musste mich zusammenreißen. Langsam wurde es peinlich, was ich hier trieb. Trotzdem konnte ich für den Rest des Tages nur noch an diese kurze Szene denken: Marens Innehalten, ihr abruptes Aufschauen, die grünen Augen, die endlich, endlich auf mich gerichtet waren, schließlich dieser Blick, verwundert und gleichzeitig
fragend. Und noch etwas anderes ging mir durch den Kopf, immer wieder: Sie hatte nicht erst lange suchen müssen, wer sie beobachtete. Sofort hatte sie in meine Richtung geschaut… *** Jeder Tag verlief nach dem gleichen Schema: vormittags Schule, zu Hause einen Happen essen, dann aufs Fahrrad und ab zum Hof. Name und Uhrzeit in die Liste eintragen, wegen der späteren Abrechnung, und los ging es. Samstags und Sonntags fuhren wir sogar schon
morgens zum Arbeiten und blieben den ganzen Tag. Mittags aßen wir zusammen mit den Leuten vom Gut im Speisesaal. Wenn wir abends im großen Pulk nach Schönhagen zurückfuhren, waren wir völlig erledigt. Sämtliche Knochen taten uns weh, wir waren verdreckt und durchgeschwitzt. Trotzdem herrschte immer eine seltsame Ausgelassenheit. Wir flachsten rum, machten dumme Sprüche. Manchmal sangen wir sogar, irgendwelche Trinklieder mit albernen Texten. Mittlerweile fiel mir die Arbeit deutlich leichter als zu Anfang. Ich schaffte mehr
weg, gleichzeitig arbeitete ich ordentlicher, weil ich jetzt wusste, worauf ich achten musste. Auch meinen Widerstand gegen Strohhüte hatte ich mittlerweile aufgegeben, die rasenden Kopfschmerzen zu Anfang waren mir eine Warnung gewesen. Man riskierte ernsthaft einen Sonnenstich, wenn man sich nicht schützte. Es waren deswegen schon Leute auf dem Acker zusammengeklappt. Das musste ich nicht haben. *** Komisch: Immer öfter hatte ich nun das
Gefühl, als würde auch Maren schauen. Aber genau wusste ich es nicht – nach der peinlichen Nummer neulich mochte ich nicht mehr selbst gucken, aus Angst, mich endgültig zum Deppen zu machen. Oder wollte ich mir bloß die Illusion nicht kaputtmachen? „Sie schaut nicht“, raunte eine Stimme in mir. „Warum sollte sie?“ Ja, warum? Mir fiel kein Grund ein, und die Ernüchterung traf mich wie ein Schmerz. „Doch, sie sieht dich“, entgegnete eine andere Stimme. „Sie mustert dich, ist
neugierig.“ Und die Hoffnung flammte wieder auf. *** Ein weiterer Arbeitstag lag hinter uns. Wir hatten uns aus der Liste ausgetragen und stiegen gerade auf unsere Räder, die vor der Hofeinfahrt abgestellt waren. Da sah ich Maren den Weg herabkommen. Ihr Rad stand ein Stück weiter vorn, sie würde an mir vorbeigehen müssen. Auf einmal fühlte ich mich wie in einer Falle. Ich war ihr zuletzt immer so fern geblieben wie möglich, um mich nicht wieder zum Deppen zu machen – aber
jetzt konnte ich nicht mehr abhauen. Sie kam immer dichter heran. Die ganze Zeit schaute sie zu Boden, wie in Gedanken versunken. Ich hoffte schon, sie würde vorbeigehen, aber als sie fast mit mir auf gleicher Höhe war, hob sie unvermittelt den Kopf und sah mich mit einem sehr intensiven Blick an. Ihre Augen schienen regelrecht aufzuleuchten. Da war es wieder, dieses Gefühl, als würde etwas heiß und brennend meine Kehle hinablaufen. In diesem Moment hätte sie alles mit mir machen können. Ich war bloß eine Marionette, deren
Fäden sie in den Händen hielt. Fast hatte ich das Gefühl, ein Stück über dem Boden zu schweben, mit schwankendem Kopf, rollenden Augen, die Arme kraftlos herabbaumelnd… dann war sie vorbeigegangen. Ich sah nur noch das hochgesteckte, blonde Haar, den schmalen Nacken. Die Situation konnte höchstens Bruchteile von Sekunden gedauert haben, aber ich blieb danach wie benebelt. Dieser Blick – es hatte ernsthaft so ausgesehen, als
ob… *** Jetzt wollte ich es genau wissen. Als ich wieder das Gefühl hatte, Maren würde rüberschauen, nahm ich allen Mut zusammen und linste ebenfalls. Und – sie guckte! Blitzschnell ging mein Blick wieder abwärts. Das war Zufall gewesen, garantiert, was sonst? Wie peinlich! Und doch spähte ich jetzt alle paar Minuten in ihre Richtung. Irgendwann trafen sich unsere Blicke wieder, und auch diesmal war der automatische Reflex: nach unten
gucken, wegschauen. Aber ich widerstand ihm, wollte einfach nicht an einen Zufall glauben. Ich hielt durch, wich ihrem Blick nicht aus – und auch sie blieb hartnäckig. Also, wie Zufall wirkte das nicht, kein Stück… Allmählich wurde mir klar, dass sie öfters guckte. Beim Arbeiten. Während der Mittagspause. Auf dem Rückweg ins Dorf. Als ob sie sich versichern wollte, dass ich in ihrer Nähe war. Einmal bohrten sich ihre Augen regelrecht in mich hinein, es war wie ein Ansprechen ohne Worte, fast eine Aufforderung. Bis ich es nicht mehr aushielt und mich schnell nach unten beugte. Mein Herz
schlug nicht, es hämmerte wie eine Dampframme. Was ging hier ab? Was passierte hier? Und ich hatte immer geglaubt, sie würde mich total verachten. Berechtigt wäre es ja gewesen. Und nun… Aber war es wirklich wahr? Es konnte eigentlich nicht sein. Steckte nicht doch etwas anderes dahinter? Es war schlicht unmöglich. Schließlich glaubte ich es. Wir hatten gerade Feierabend gemacht und fuhren zurück nach Schönhagen, da merkte ich, wie sich etwas in mir löste. Die Freude wurde so stark, so überwältigend, dass
ich ernstliche Mühe hatte, mit dem Rad auf dem Weg zu bleiben, nicht zu schlingern und seitwärts in die Büsche zu rauschen. *** Manchmal fuhr ich allein zum Arbeiten, manchmal zusammen mit anderen aus dem Dorf. Kaum war ich auf dem Gut angekommen, suchte ich alles mit den Augen ab, bis ich sie gefunden hatte. Ihr Anblick versetzte mir jedes Mal einen Stich. Danach ging alles ganz leicht. Einmal konnte ich sie nirgends entdecken. Ungeduldig wartete ich, aber
sie wollte und wollte nicht auftauchen. Irgendwann war klar, dass sie nicht mehr kommen würde. Vor Enttäuschung verging mir sämtliche Lust. Wo war sie? Ich fragte die anderen in der Clique, aber niemand wusste es. Welche Erleichterung, als sie am nächsten Tag wieder da war! Ihre Oma hatte einen Schwächeanfall erlitten, als Maren gerade bei ihr gewesen war. Sie hatte den Arzt angerufen, ein Krankenwagen war gekommen. Jetzt lag ihre Oma in der Klinik. Das Ganze hatte Maren so mitgenommen, dass sie nachmittags nicht mehr zum Gut gefahren
war. Ich hatte das Gefühl, als würde auch sie sofort nach mir suchen. Mittlerweile war zwischen uns fast etwas wie Vertrautheit entstanden, obwohl wir nach wie vor nur über die Augen miteinander sprachen. *** Erdbeeren ernten – endlich mal was Einfaches. Kein Abbrechen irgendwelcher zarten Triebe, wie beim Spargelstechen. Und auch kein versehentliches Ausreißen von Nutzpflanzen, wie auf den Gemüse- und Kartoffelfeldern. Man musste bloß die
großen, roten Früchte abpflücken und in einen Korb werfen. Oder sie gleich verdrücken. Es war ein sommerlich warmer Samstag. Mittags trugen wir die Tische und Bänke aus dem Speisesaal auf die Terrasse, um unter freiem Himmel zu essen. Von überall kamen die Leute heran: aus den Wirtschaftsgebäuden, der Schlachterei, der Bäckerei, den Ställen. Einige hatten Wäschedienst im Haupthaus gehabt, andere reparierten Maschinen in der Werkstatt. Nur ein kleiner Teil der Gutsbewohner arbeitete mit uns auf den
Feldern. Ich erwischte einen Platz neben Micha und Bernd. Die Mädchen saßen an einem anderen Tisch, ein gutes Stück entfernt. Meistens war die Sicht versperrt, aber hin und wieder konnte ich einen kurzen Blick auf Maren werfen. Und sie schaute zurück. Nachmittags zog der Himmel sich allmählich zu. Irgendwann setzte leichter Regen ein, aber den ignorierten wir. Gerade hatten wir einen Lauf, außerdem hielt der warme Wind die Kleidung trocken. Bloß stärker durfte es nicht werden. Leider passierte genau das, oder
vielmehr: Es fing an, wie aus Eimern zu kübeln. Wir flüchteten unter einen großen Baum am Feldrand und waren erst mal ratlos. Was jetzt? Morgen weitermachen? Oder warten und hoffen, dass der Regen sich irgendwann verzog? Wir wollten bereits zusammenpacken und gehen, da sah man am Horizont einen Lichtstreif auftauchen. Gespannt warteten wir – sollte uns das Glück hold sein? Und wirklich: Bald wurde das Gepladder weniger, hörte schließlich ganz auf. Wir waren wieder an die Arbeit gegangen. Die Luft hatte sich nach dem
Schauer deutlich abgekühlt, auch der Wind war aufgefrischt. Mehr und mehr trieb er die Wolken auseinander, bis schließlich die Abendsonne herauskam. Die Landschaft begann zu glänzen wie Kristall und weitete sich noch mehr, dehnte sich ins schier Unendliche. Wir waren nur noch kleine, verlorene Punkte in einem Meer von Grün. Die Arbeit fiel mir leicht wie nie zuvor – noch ewig hätte ich so weitermachen können. Viele waren es nicht mehr, die außer mir noch hier draußen ausharrten. Ganz in meiner Nähe sah ich Bernd und Kristina. Ein Stückchen vor ihnen waren Jürgen und Silke emsig am Pflücken.
Und weit hinten, wo das Feld schon den Hügel hinaufstieg, leuchtete Marens blonder Haarschopf in der Abendsonne. Obwohl unsere Gruppe so weit über das Feld verteilt war, schienen wir alle nahe beieinander zu sein. Als würde ein unsichtbares Band uns miteinander verknüpfen. Alle Entfernung war aufgehoben. *** Marens Blick war inzwischen sehr ernst, sehr intensiv. Oft verdunkelten sich ihre Augen merkwürdig, wurde das Auffordernde in ihnen zu etwas
Bittendem, fast Flehendem. Es durchlief mich jedes Mal heiß und kalt, wenn sie mich so anschaute.
Bisher war alles ein Spiel gewesen, das jetzt aber zu Ende ging. Ich wusste, dass bald etwas geschehen würde, geschehen musste.
Und plötzlich fragte ich mich wieder, ob ich das wirklich wollte.