Ausgangssperre
Atemlose Stille. Nur der Wind, der durch die leeren Straßen streicht, lässt Fensterläden klappern, weht Staub und abgestorbene Blätter vor sich her. „Herbst, eigentlich wäre es jetzt Herbst“, denkt sie. „Was ist nur aus unserem Leben geworden. Früher haben wir zu dieser Jahreszeit farbenbunte Drachen steigen lassen. Heute sind wir froh, wenn sie uns in Ruhe lassen mit ihren Parolen und den dämlichen Fahnen.“
Obwohl sie sich bemüht keine Geräusche zu machen, sind ihre Schritte deutlich zu hören. Sie blickt sich vorsichtig um. Doch das ist unnötig. Um diese Uhrzeit
ist niemand unterwegs.
„Wie dumm die Leute sind“, denkt sie. „Lassen sich einsperren, hoffen auf ein optimistisches Ende, dabei sind sie allesamt Laborratten.“
Tatsächlich erinnern die Häuser, an denen sie vorbeikommt, an Käfige. Sie unterscheiden sich nicht, sind gleich große, graue Vierecke mit winzigen Fenstern. Hinter den toten Scheiben kein Lichtschimmer.
Sie fragt sich, wann diese Menschen zum letzten Mal den Sternenhimmel betrachtet haben. Sie wird sich das nicht gefallen lassen, will selbst über ihr Leben bestimmen.
Schließlich kommt sie an eine Kreuzung.
Hier flimmert ein Spruchband: “Ausgangssperre ab 20:30 Uhr. Bei Nichteinhaltung droht Deportation.“
Sie schnaubt durch die Nase. „Bullshit! Ihr könnt mich mal.“
Deportation – was soll das überhaupt heißen? Wohin sollte abgeschoben werden? Die Welt, so wie sie einmal war, liegt in Trümmern. Die Stadt ist von Wüste umgeben. Überhaupt hat sie das Schlimmste schon erlebt. Nach ihrem Gefängnisaufenthalt kann ihr nichts mehr Angst machen.
Plötzlich hört sie ein Surren, sieht ein blaues Blinklicht. Ein Auto hält direkt neben ihr. Die Tür öffnet sich, ein Roboter steigt aus. Er erinnert sie an
einen uralten Film mit einer verwirrenden Handlung: Ein vorsintflutlicher Roboter soll die Mutter des künftigen Messias und Retters der Menschheit schützen. Wie hieß der Klassiker noch … Irgendwas mit Abschlussprogramm … jetzt hat sie es wieder: das war der Terminator.
Die Situation ist derart irreal, dass sie kichern muss.
„Name?“
Blitzschnell überlegt sie. Soll sie wegrennen, in der Dunkelheit verschwinden?
„Bei Flucht wirst du eliminiert.“ Plötzlich hält der Roboter eine Art Stachel in der Hand, sie ahnt, dass dieses
Ding den Tod bringen kann. „Name?“
„Sirtet, ich heiße Sirtet“, stammelt sie.
In wenigen Sekunden hat er ihren Lebenslauf gecheckt. „Vorbestraft … Sabotage … Software … vorsätzlich abstürzen lassen …“
„Die Strafe habe ich abgesessen“, sagt sie trotzig.
„Bestätigt. Strafe verbüßt. Neue Straftat: Ausgangssperre missachtet. Wiederholungstäterin.“
„Dieses verdammte Ding hat richtig Spaß“, denkt sie verbittert.
Die hintere Wagentür öffnet sich. „Einsteigen.“
„Ich denke nicht daran!“
Der Roboter zielt kurz, drückt dann ab.
„Ein Taser also“, denkt sie, bevor sie zu Boden geht.
Grauenhafter, vibrierender Schmerz! Sie kann nicht mehr klar denken … driftet ab.
Sie liegt auf dem Rücksitz des Autos, richtet sich mühsam auf. Ihr Mund ist staubtrocken. „Was wird das?“, würgt sie hervor.
Keine Antwort. Sie fahren durch die leeren Straßen, verlassen die Stadt. Dunkelheit um sie herum.
Schließlich, mitten im Nirgendwo stoppt das Auto, die Tür öffnet
sich.
„Aussteigen.“
Zögernd und mit steifen Gliedern klettert sie aus dem Wagen, der sofort wieder losfährt.
Lange schaut sie ihm hinterher. „Das war’s also“, denkt sie, legt sich auf den Boden, spürt den noch warmen Wüstensand. Über ihr breitet sich der Sternenhimmel aus, wie ein samtenes blaues Tuch. Sie ist allein, keine Menschenseele befindet sich an diesem Ort. Endlose Weite - Ruhe und Frieden. Sie lächelt.