Kurzgeschichte
Drachentanz

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"Drachentanz"
Veröffentlicht am 25. September 2024, 14 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

1953 wurde ich in Husum geboren. Ich bin an der Nordsee und in Frankfurt aufgewachsen. Meine große Leidenschaft sind die Literatur und das Schreiben. Zahlreiche Gedichte und Geschichten von mir haben in Anthologien und Gemeinschaftsbüchern ihren Platz gefunden. Seit zehn Jahren schreibe ich Romane, von denen bislang sieben veröffentlicht wurden. In meinen Büchern zeichne ich menschliche Grenzsituationen, die immer von einem Funken Hoffnung ...
Drachentanz

Drachentanz


Beitrag zur Schreibparty 105
Thema: September
Vorgabewörter:
Drachen
Fahne
farbenbunt
Ruhe
Stachel
Wind
optimistisches Ende

Drachentanz Der Grabstein schien sie anzustarren, der eingravierte Name sämtliche Erinnerungen in ihr Denken und Fühlen zu projizieren. ›Maria Peterson‹, eine schlichte Schrift, Geburts- und Todesdatum, sonst nichts. Aber das reichte, um Oma für Fiona so nahe heranzurücken, dass sie meinte, sie zu spüren. Dicht an ihrer Seite. Das war immer so, wenn sie ihr Grab besuchte. Vier Jahre war Maria tot. Für Fiona war sie nicht nur Großmutter, sondern auch Freundin und Beraterin gewesen. Fiona war vierzehn, als ihre Eltern bei einem Unfall starben, und Oma Maria und Opa Hannes hatten sich von da an um sie gekümmert. Fiona konnte damals nicht begreifen, dass das Schicksal so erbarmungslos zugeschlagen hatte. Heute war sie ihren Großeltern zutiefst dankbar für die Jahre, die sie für sie dagewesen waren. Sie vermisste Oma

sehr. Opa Hannes legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Komm, mien Deern, gehen wir.« Tief atmete Fiona ein. Die Luft war warm, fast drückend. Seit Tagen diese Trockenheit. Das Grün der Baumblätter wirkte grau, wie mit Staub bedeckt. Noch war es Sommer, erst Anfang September, aber Fiona wusste, dass sich der Herbst in ihr Leben schleichen und Erinnerungen hervorrufen würde. Doch jetzt hatte sie die Ruhe dieser Umgebung genossen, zufrieden, dass sie das mit ihrem Opa erleben durfte. »Zum Deich?«, fragte sie nach einem Moment des Schweigens. Hannes nickte, hakte sich bei ihr ein. Sie verließen Omas Grab, gingen langsam den Kiesweg hinunter, vorbei an vielen Gräbern. Fiona fragte sich, wie ihres ausschauen würde. Schimpfte sich im selben Moment wegen ihrer tristen Gedanken.

»Es ist so schön hier.« Hannes schirmte mit der Hand die Augen gegen die schon tiefstehende Sonne ab, als er seinen Blick über das Watt wandern ließ. Der Weg dorthin war mühsam gewesen, aber er wollte unbedingt ein paar Schritte gehen. Jetzt saßen sie oben auf der Deichkrone auf einer Bank.

Wie schwach Opa geworden ist, dachte Fiona. »Schau!«, rief sie und deutete hinauf. Zwei Störche flogen über sie hinweg, weit oben im fast wolkenlosen Himmel. Seltsam. Was machten sie hier am Ende des Sommers? Sie sollten eigentlich schon auf der Reise in den Süden sein. Etwas weiter entfernt ließen Kinder ihre Drachen steigen. Nein, eigentlich waren es unbestimmte Flugobjekte, modern, aus Kunststoff gefertigt, und Fiona erinnerte sich, an einen bunten Papierdrachen, den sie als Kind mit Opa Hannes gebaut

hatte. »Es ist ziemlich lange her, dass wir beide hier gewesen sind. Denkst du an die Drachengeschichte?« Hannes kniff die Augen zusammen. »Du warst erst fünf, glaube ich. Und so begeistert.« In Fionas Kopf tauchten Bilder auf, plastisch, farbenbunt. Die Erinnerung war so authentisch, dass sie meinte, alles noch einmal zu erleben. Der Sommer hatte damals abrupt mit einem Temperatursturz geendet und scheinbar über Nacht hatten sich die Blätter der Kastanie verfärbt. Fiona tauchte in das damalige Erleben ein. »Komm, mien Deer«, sagt Opa, »wir gehen an den Strand, dein Drachen will fliegen.« Es ist ein sonniger Tag nahe dem Nordseestrand. Fast ist es, als wolle sich der längst vergangene Sommer noch einmal zurückmelden. Aber obwohl das Wetter herrlich

ist, künden sich die Herbststürme bereits an. Ein starker Wind treibt die weißen Wolken scheinbar im Zeitraffer am Himmel entlang und verändert immer wieder das blaue Band, das sich endlos bis zum Horizont hinzieht. Das am Sommerende wehende, goldgelbe Korn, wellengleich in seiner Bewegung, ist lange geerntet. Doch das Goldgelb der Stoppelfelder hebt sich warm vom kühlen Blau des Himmels ab. Krähen suchen nach vergessenen Körnern. Fiona hüpft aufgeregt um Opa herum, der gerade den Drachen hinauf in dieses Blau schickt. Lustig sieht es aus, wie der seinen bunten Schwanz gleich einer Fahne im Wind tanzen lässt, sich windet, scheinbar herabstürzt, um sich dann wieder im Aufwärtsschwung den weißen Wattewölkchen zu nähern. Fiona ist begeistert. »Ich will auch mal!«, ruft sie aufgeregt und tippelt neben Opa her, der Mühe hat, den Drachen zu halten. Der Wind schwingt sich in

Böen auf, ebbt ab. Es ist schwer, die Kontrolle zu behalten. So zögert Hannes zunächst, ihr die Schnur zu überlassen. Doch dann wird es ruhiger, der Wind gönnt sich eine Pause. »Aber gut festhalten!«, sagt er, als er ihr den Griff in die Hand drückt, an dem die Drachenschnur befestigt ist. Und wie Fiona festhält! Mit beiden Händen umklammert sie die hölzerne Stange. Die Arme gestreckt, den Kopf weit in den Nacken gelegt, schaut sie dem Drachen zu, wie er fröhlich seine Kapriolen schlägt. Manchmal steht er still in der Luft, dann wieder wiegt er sich sanft hin und her. Plötzlich frischt der Wind erneut auf und zerrt an der Schnur. Fiona beginnt zu laufen, wird von der unsichtbaren Kraft mitgezogen. »Warte!«, ruft Opa, aber sie hüpft über das Feld. In kleinen Sprüngen, es sieht aus, als wolle sie sich auch in die Luft erheben. Auf wunderbare Weise scheint das Mädchen mit dem Drachen zu tanzen, leichtfüßig, wie von einer

stummen Melodie geführt. Auf einmal schießt der Drachen empor, dreht sich ein paar Mal und steigt höher und höher. Fiona sitzt am Boden, die leeren Hände nach oben gestreckt und schaut ihm hinterher. »Flieg, flieg!«, ruft sie. »Warum hast du losgelassen?«, fragt Opa und kniet sich zu ihr hinunter. Fiona zögert und meint dann: »Ich glaube, er wollte es. Er hat so doll gezogen, da musste ich ihn einfach freilassen. Jetzt besucht er bestimmt die Wolken.« »Vielleicht hast du recht«, meint Hannes, »aber schade ist es trotzdem.« Sie schauen dem immer kleiner werdenden Drachen nach, wie er als bunter Punkt den Wolken scheinbar näher kommt. »Ob er es wohl bis zur Sonne schafft?«, fragt Fiona. Der Großvater schüttelt den Kopf. »Nein, meine Kleine, der Weg ist zu weit für ihn. Und er würde verbrennen. Du weißt, die

Sonne ist sehr heiß.« Fiona nickt. »Aber er schafft es bestimmt bis über die Wolken. Und dann kann er die Sonne immer sehen, sogar im Winter.« Fiona spürte plötzlich, wie Hannes ihre Hand nahm und leicht drückte. »Weißt du, mien Deern, ich habe es immer bewundert, wie du schon als kleines Kind dir Positives auch aus nicht so schönen Erlebnissen gezogen hast. Ich habe damals, als du den Drachen losgelassen hast, Tränen erwartet. Aber nein, du hast es aus der Perspektive des Drachens betrachtet.« »Was den Verlust leichter gemacht hat. Heute gelingt es mir leider nicht immer so gut, in allem etwas Positives zu sehen.« Fiona dachte an die Zeit, die kommen würde. Die Zeit, in der auch Hannes nicht mehr da wäre. Wie einen kleinen Stachel spürte sie den Stich in der Brust. Nein! Nicht diese trüben

Vorahnungen! Heute war sie dankbar für diese Momente, in denen sie ihre Erinnerungen noch mit dem Großvater teilen konnte. Ein schöner Tag, der ein optimistisches Ende gefunden hatte. © Enya Kummer

Text: Enya Kummer
Coverbild und Covergestaltung: Enya Kummer

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Hörbuch

Über den Autor

Enya2853
1953 wurde ich in Husum geboren. Ich bin an der Nordsee und in Frankfurt aufgewachsen. Meine große Leidenschaft sind die Literatur und das Schreiben. Zahlreiche Gedichte und Geschichten von mir haben in Anthologien und Gemeinschaftsbüchern ihren Platz gefunden. Seit zehn Jahren schreibe ich Romane, von denen bislang sieben veröffentlicht wurden. In meinen Büchern zeichne ich menschliche Grenzsituationen, die immer von einem Funken Hoffnung begleitet werden. Letztes Jahr wurde mein erstes autobiografisches Werk veröffentlicht: Wenn der Raps blüht.
Zurzeit arbeite ich an der Fortsetzung. Arbeitstitel: Storchenjahre.
Ich habe Mathematik, Psychologie und Pädagogik studiert und war im Bildungsbereich tätig.
Inzwischen genieße ich das Rentendasein und die Beschäftigung mit meinen Enkelkindern. Ich bin außerdem als Lektorin und Korrektorin tätig.

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Lagadere 

Auf Seite 7 drängte sich das berühmte Bild von van Gogh auf - aber das geht wohl jedem so.
Und Mann, war ich froh, dass auf Seite 10 NICHT von Ikarus die Rede war!
Aber das wärest auch nicht DU gewesen.

Die Geschichte selbst - kann mir nicht vorstellen, dass man das Thema besser, subtiler, gefühlvoller, pointierter umsetzen kann. Diese Verknüpfung von Mensch und Natur.
Lach, stelle mir gerade vor, wenn das in der Schule ein Aufsatzthema wäre, wie der Lehrer langsam vom Stuhl rutscht und sich verwundert die Augen reibt :-)
Ich hatte in einem Aufsatz mal geschrieben: "xxx hält mit dieser Geschichte der Gesellschaft einen Spiegel vor....", und da hatte der Pauker schon Pippi in den Augen! lach. War wohl nicht sehr anspruchsvoll - oder schlicht demoralisiert, nachdem die Jahre im Schulalltag seine Ideale abgeschliffen hatten.


Well done, Enya!

LG Uli

Vor ein paar Monaten - Antworten
Enya2853 Hallo Uli,
in meinen Gedanken schweife ich immer mal wieder in die Vergangenheit ab, ans Meer, wo ich eben einen Teil meiner Kindheit bei den Großeltern verbracht habe. Muss am Alter liegen ...
Dann passiert es, dass ich autofiktional schreibe, Realität mit Fantasie mische.

In meiner Schulzeit waren meine Aufsätze wohl eher "sperrig".
Erörterungen baute ich in ein Schachspiel (das ich mit meinem Großvater spielte) ein, wobei die beiden Spieler sich die Argumente zuwarfen. Ich müsste mich noch heute bei meinen Lehrern entschuldigen, sie haben das tatsächlich toleriert.

Ich danke dir sehr für alles, freut mich halt, wenn ich meine Leser ein wenig einfangen kann.

Schönen Tag und liebe Grüße
Enya
Vor ein paar Monaten - Antworten
Darkjuls Liebe Enya, danke für diese schöne Geschichte, die uns lehrt, den Moment zu genießen und wenn es an der Zeit ist, loszulassen. Ich habe den alten Herren mit seiner Enkelin direkt vor mir gesehen. Du hast das Geschehen wunderbar bildhaft beschrieben. Es grüßt Marina
Vor ein paar Monaten - Antworten
Enya2853 Das freut mich, liebe Marina. Hab herzlichen Dank.
Einen guten Start in die neue Woche.
Liebe Grüße
Enya
Vor ein paar Monaten - Antworten
Bleistift 
"Drachentanz..."
Ha, was für eine wunderbare Herbst-Geschichte, die Du uns hier offerierst.
Und ich bin wieder einmal mehr so richtig verzaubert von dem menschlichen Inhalt,
wie auch von dieser subtilen Wortwahl,
mit der Du diese faszienierende Geschichte für uns Leser ausgestattet hast... ...smile*
LG
Louis :-)
Vor ein paar Monaten - Antworten
Enya2853 Ahhh, lieber Louis, das freut mich, dass dir der Drachentanz gefällt. Hab ganz herzlichen Dank, auch für die Geschenke.

Hier scheint heute eine wunderbare Herbstsonne bei moderaten Temperaturen.
Ganz liebe Grüße zu dir nach Berlin.
Enya
Vor ein paar Monaten - Antworten
FranckSezelli Liebe Enya,
das ist eine sehr schöne, berührende Geschichte, die du uns hier bietest. Vielen Dank!
Herzliche Grüße
Franck
Vor ein paar Monaten - Antworten
Enya2853 Ganz lieben Dank, Franck. Freut mich, wenn dir die Geschichte gefällt.
Liebe Grüße und einen schönen Abend
Enya
Vor ein paar Monaten - Antworten
matzetino Was für eine schöne und berührende Geschichte. Sehr gerne gelesen.

Liebe Grüße
Martina
Vor ein paar Monaten - Antworten
Enya2853 Herzlichen Dank, liebe Martina.
Einen schönen Tag dir und liebe Grüße
Enya
Vor ein paar Monaten - Antworten
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