Drachentanz
Der Grabstein schien sie anzustarren, der eingravierte Name sämtliche Erinnerungen in ihr Denken und Fühlen zu projizieren. ›Maria Peterson‹, eine schlichte Schrift, Geburts- und Todesdatum, sonst nichts. Aber das reichte, um Oma für Fiona so nahe heranzurücken, dass sie meinte, sie zu spüren. Dicht an ihrer Seite. Das war immer so, wenn sie ihr Grab besuchte. Vier Jahre war Maria tot. Für Fiona war sie nicht nur Großmutter, sondern auch Freundin und Beraterin gewesen. Fiona war vierzehn, als ihre Eltern bei einem Unfall starben, und Oma Maria und Opa Hannes hatten sich von da an um sie gekümmert. Fiona konnte damals nicht begreifen, dass das Schicksal so erbarmungslos zugeschlagen hatte. Heute war sie ihren Großeltern zutiefst dankbar für die Jahre, die sie für sie dagewesen waren. Sie vermisste Oma
sehr.
Opa Hannes legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Komm, mien Deern, gehen wir.«
Tief atmete Fiona ein. Die Luft war warm, fast drückend. Seit Tagen diese Trockenheit. Das Grün der Baumblätter wirkte grau, wie mit Staub bedeckt.
Noch war es Sommer, erst Anfang September, aber Fiona wusste, dass sich der Herbst in ihr Leben schleichen und Erinnerungen hervorrufen würde. Doch jetzt hatte sie die Ruhe dieser Umgebung genossen, zufrieden, dass sie das mit ihrem Opa erleben durfte.
»Zum Deich?«, fragte sie nach einem Moment des Schweigens. Hannes nickte, hakte sich bei ihr ein.
Sie verließen Omas Grab, gingen langsam den Kiesweg hinunter, vorbei an vielen Gräbern. Fiona fragte sich, wie ihres ausschauen würde. Schimpfte sich im selben Moment wegen ihrer tristen Gedanken.
»Es ist so schön hier.« Hannes schirmte mit der Hand die Augen gegen die schon tiefstehende Sonne ab, als er seinen Blick über das Watt wandern ließ. Der Weg dorthin war mühsam gewesen, aber er wollte unbedingt ein paar Schritte gehen. Jetzt saßen sie oben auf der Deichkrone auf einer Bank.
Wie schwach Opa geworden ist, dachte Fiona.
»Schau!«, rief sie und deutete hinauf. Zwei Störche flogen über sie hinweg, weit oben im fast wolkenlosen Himmel. Seltsam. Was machten sie hier am Ende des Sommers? Sie sollten eigentlich schon auf der Reise in den Süden sein. Etwas weiter entfernt ließen Kinder ihre Drachen steigen. Nein, eigentlich waren es unbestimmte Flugobjekte, modern, aus Kunststoff gefertigt, und Fiona erinnerte sich, an einen bunten Papierdrachen, den sie als Kind mit Opa Hannes gebaut
hatte.
»Es ist ziemlich lange her, dass wir beide hier gewesen sind. Denkst du an die Drachengeschichte?« Hannes kniff die Augen zusammen. »Du warst erst fünf, glaube ich. Und so begeistert.«
In Fionas Kopf tauchten Bilder auf, plastisch, farbenbunt. Die Erinnerung war so authentisch, dass sie meinte, alles noch einmal zu erleben.
Der Sommer hatte damals abrupt mit einem Temperatursturz geendet und scheinbar über Nacht hatten sich die Blätter der Kastanie verfärbt. Fiona tauchte in das damalige Erleben ein.
»Komm, mien Deer«, sagt Opa, »wir gehen an den Strand, dein Drachen will fliegen.«
Es ist ein sonniger Tag nahe dem Nordseestrand. Fast ist es, als wolle sich der längst vergangene Sommer noch einmal zurückmelden. Aber obwohl das Wetter herrlich
ist, künden sich die Herbststürme bereits an. Ein starker Wind treibt die weißen Wolken scheinbar im Zeitraffer am Himmel entlang und verändert immer wieder das blaue Band, das sich endlos bis zum Horizont hinzieht. Das am Sommerende wehende, goldgelbe Korn, wellengleich in seiner Bewegung, ist lange geerntet. Doch das Goldgelb der Stoppelfelder hebt sich warm vom kühlen Blau des Himmels ab. Krähen suchen nach vergessenen Körnern.
Fiona hüpft aufgeregt um Opa herum, der gerade den Drachen hinauf in dieses Blau schickt. Lustig sieht es aus, wie der seinen bunten Schwanz gleich einer Fahne im Wind tanzen lässt, sich windet, scheinbar herabstürzt, um sich dann wieder im Aufwärtsschwung den weißen Wattewölkchen zu nähern.
Fiona ist begeistert.
»Ich will auch mal!«, ruft sie aufgeregt und tippelt neben Opa her, der Mühe hat, den Drachen zu halten. Der Wind schwingt sich in
Böen auf, ebbt ab. Es ist schwer, die Kontrolle zu behalten. So zögert Hannes zunächst, ihr die Schnur zu überlassen. Doch dann wird es ruhiger, der Wind gönnt sich eine Pause.
»Aber gut festhalten!«, sagt er, als er ihr den Griff in die Hand drückt, an dem die Drachenschnur befestigt ist. Und wie Fiona festhält! Mit beiden Händen umklammert sie die hölzerne Stange. Die Arme gestreckt, den Kopf weit in den Nacken gelegt, schaut sie dem Drachen zu, wie er fröhlich seine Kapriolen schlägt. Manchmal steht er still in der Luft, dann wieder wiegt er sich sanft hin und her.
Plötzlich frischt der Wind erneut auf und zerrt an der Schnur. Fiona beginnt zu laufen, wird von der unsichtbaren Kraft mitgezogen.
»Warte!«, ruft Opa, aber sie hüpft über das Feld. In kleinen Sprüngen, es sieht aus, als wolle sie sich auch in die Luft erheben. Auf wunderbare Weise scheint das Mädchen mit dem Drachen zu tanzen, leichtfüßig, wie von einer
stummen Melodie geführt. Auf einmal schießt der Drachen empor, dreht sich ein paar Mal und steigt höher und höher. Fiona sitzt am Boden, die leeren Hände nach oben gestreckt und schaut ihm hinterher.
»Flieg, flieg!«, ruft sie.
»Warum hast du losgelassen?«, fragt Opa und kniet sich zu ihr hinunter.
Fiona zögert und meint dann: »Ich glaube, er wollte es. Er hat so doll gezogen, da musste ich ihn einfach freilassen. Jetzt besucht er bestimmt die Wolken.«
»Vielleicht hast du recht«, meint Hannes, »aber schade ist es trotzdem.«
Sie schauen dem immer kleiner werdenden Drachen nach, wie er als bunter Punkt den Wolken scheinbar näher kommt.
»Ob er es wohl bis zur Sonne schafft?«, fragt Fiona. Der Großvater schüttelt den Kopf.
»Nein, meine Kleine, der Weg ist zu weit für ihn. Und er würde verbrennen. Du weißt, die
Sonne ist sehr heiß.«
Fiona nickt. »Aber er schafft es bestimmt bis über die Wolken. Und dann kann er die Sonne immer sehen, sogar im Winter.«
Fiona spürte plötzlich, wie Hannes ihre Hand nahm und leicht drückte.
»Weißt du, mien Deern, ich habe es immer bewundert, wie du schon als kleines Kind dir Positives auch aus nicht so schönen Erlebnissen gezogen hast. Ich habe damals, als du den Drachen losgelassen hast, Tränen erwartet. Aber nein, du hast es aus der Perspektive des Drachens betrachtet.«
»Was den Verlust leichter gemacht hat. Heute gelingt es mir leider nicht immer so gut, in allem etwas Positives zu sehen.«
Fiona dachte an die Zeit, die kommen würde. Die Zeit, in der auch Hannes nicht mehr da wäre. Wie einen kleinen Stachel spürte sie den Stich in der Brust. Nein! Nicht diese trüben
Vorahnungen! Heute war sie dankbar für diese Momente, in denen sie ihre Erinnerungen noch mit dem Großvater teilen konnte. Ein schöner Tag, der ein optimistisches Ende gefunden hatte.
© Enya Kummer