Zeitraffer, Quasselstrippe, überwältigt, fassungslos, Variante, Sensation
Die alte Matrone
Mit einem letzten überwältigenden Adieu sank die Sonne wie im Zeitraffer rot glühend auf das grünschwarze Meer. Sanftes Brandungsrauschen mischte sich unter die wirren Schreie der gefiederten Quasselstrippen, die pfeilschnell in die Wellen eintauchten, um sich mit ihrer Beute auf den schwarz glänzenden Felsen niederzulassen. Aus den Wipfeln der Pinienhaine schallte das Sensation heischende Pfeifen unzähliger dem Auge verborgener Vögel. Fischer machten ihre Boote bereit und Frauen in bunten Kittelschürzen rückten über steinerne Bottiche gebeugt ihrer Wäsche mit
Bürsten und Seife zu Leibe. Ein paar Kinder tollten im Hafen herum und ein alter Hund lag im Staub mitten auf der Straße. Vor den niedrigen Häusern saßen in schwarz gekleidete Frauen auf einfachen Stühlen. Sie hielten murmelnd einen Rosenkranz in den Händen und sprachen kein Wort. Man wurde trotzdem das Gefühl nicht los, dass sie um alles wussten, was hier geschah. Die Sonne verlässt mich, um die andere Seite der Welt zu besuchen, dachte ich. Und morgen wird sie aufgehen, als sei nichts geschehen. Ich saß bei der lang gestreckten Sandbank unweit des Hafens auf meinem felsigen Ausguck und
blinzelte in den Sonnenuntergang. Ich suchte nach Antworten, obwohl ich mich schwer tat, überhaupt die Fragen zu formulieren. Plötzlich sah ich sie, eine Matrone, die einer Statue gleich in den Sonnenuntergang blickte. Sie hatte ihre Hände vor der Brust gefaltet. Ihr schneeweißes Haar fiel in ein von Falten zerfurchtes Gesicht. Sie hatte etwas Besonderes. War sie eine Hexe? Sie wirkte nicht wie die Hexe aus den Märchen meiner Kindheit. Doch flößte sie mir kein Urvertrauen ein, das ich jetzt wie nichts anderes nötig hatte. In meinem Kopf flohen die Gedanken hin
und her und mein Körper zitterte, obwohl mir nicht kalt war. Da sah sie zu mir herüber und ich erwiderte ihren stummen Blick. Er strahlte so viel Weisheit aus, wie ich noch nie bei einem Menschen gesehen hatte. Meine Gedanken fuhren Karussell, in meinen Händen sammelte sich Schweiß und meine Zunge klebte am Gaumen. Es verwirrte mich, wie sie mich ansah. Mein anfängliches Befremden verging, als ich die Wärme in ihrem Blick spürte. »Komm mit, Monika.« Mich wunderte, dass sie mich überhaupt ansprach. Woher kannte sie meinen
Namen? Was wollte sie von mir? Ich wollte nicht unhöflich sein, so kam ich fassungslos ihrer Aufforderung nach und ging ihr entgegen. »Wohin? Wohin gehen wir, Donna?« Sie führte mich wortlos die Klippen hinunter an den Strand. Wir bogen in dichtes Gras ein, durch das ein Weg die Anhöhe hinaufführte. Mal säumten Felder unseren Weg, dann tauchten schroffe, schwarze Felsen vor uns auf, an denen sich die Wellen lautstark brachen. Darauf durchquerten wir einen Wald. Mir wurde die Zeit lang, die wir schweigend nebeneinanderher liefen, und mir war
nicht wohl in meiner Haut.
»Hab keine Angst, Monika«, sagt die Matrone, als habe sie meine Gedanken erraten. »Wir sind gleich da.« Da tauchte vor uns ein Häuschen in der Finsternis auf. Im Fenster brannte Licht, die Tür stand offen. »Tritt ein«, meinte sie mit einer einladenden Geste. Wie von Geisterhand schloss sich die Tür hinter mir. War sie doch eine Hexe? Was geschah jetzt? Wo war ich überhaupt? Scheu sah ich mich um. In der Mitte des Raumes stand ein einfacher Tisch mit zwei Stühlen und links direkt unter dem Fenster ein Sofa. An der
gegenüberliegenden Wand befand sich ein Büfett mit Glastüren und daneben eine Küchenhexe, auf dem ein dampfender Wasserkessel stand. Hier war eine Tür. Daneben befand sich ein steinernes Spülbecken, über dem der Wasserhahn gleich einem Metronom tropfte. Im Raum roch es angenehm nach mediterranen Gewürzen. »Komm, setze dich her. Ich habe uns einen Tee gemacht.« Woher wollte sie wissen, ob ich überhaupt Tee trank? »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« »Dann lass es bleiben. Jetzt muss er noch
einen Moment ziehen«, meinte sie und ging zum Herd. »Ich habe nichts dagegen, wenn du rauchst«, sagte sie beiläufig. Was wollte sie bloß von mir? Ich drehte mir mit zitternden Händen eine Zigarette. »Danke, Donna. Das ist alles verwirrend für mich.« »Trinke das, es wird dir gut tun.« Sie stellt mir einen dampfenden Becher hin. Der Tee war nicht süß und nicht bitter. Er erinnert an blühende saftige Wiesen, an tiefgrüne Wälder und an das Meer – an alles, was mit Natur zusammenhängt.
Mit jedem Schluck wurde ich ruhiger. Meine Hände zitterten nicht mehr, als ich die Zigarette anzündete, und mein Herz beruhigte sich. Das konnte kein gewöhnlicher Tee sein!
»Was ist das?«, fragte ich. »Ist das wichtig?«, entgegnete sie. Sie stellte mir ein Brot auf einem Holzteller hin. »Iss, es schmeckt mit Butter am besten.« »Danke, Donna. Ich habe wirklich Hunger.« »Nicht auf eine Scheibe Brot, oder sollte ich mich da täuschen?« In ihren Augen
entdeckte ich ein spitzbübisches Glitzern. Um die Mundwinkel kräuselte sich die pergamentene Haut. »Ich weiß, dass du mehr für Frauen übrig hast, obwohl du mal verheiratet warst.« »Es gibt wohl nichts, was Sie von mir nicht wissen?«, fragte ich schmunzelnd. »Die Probleme sind dieselben, ob ich mit einem Mann oder einer Frau zusammen bin.« Was wusste sie bloß alles von mir? Wieso kam sie gerade zu mir?
Sie setzt sich zu mir. »Gerade jetzt verbaust du dir den Weg zum Glück, das morgen auf dich wartet.« »Ich kann meine Hoffnungen nicht
begraben«, verteidigte ich mich.
»Wenn du an manch anderem so verbissen festhalten würdest. Da bist du viel beweglicher«, entgegnete sie ernst. Das stimmte. In vielen Dingen tat ich mich wesentlich leichter. Andererseits blieb ich, obwohl es mir nicht mehr gut tat, weil ich das Gewohnte und Bekannte nicht aufgeben wollte. Sie fixierte mich mit ihren stahlgrauen Augen. »Wie du richtig bemerkt hast, brauchst du mir nichts zu erzählen. Ich glaube, du siehst manches zu verbissen, als dass du damit glücklich bist. Wenn du zufrieden und stolz auf Erreichtes sein
willst, dann darf dein Brotkorb nicht zu hoch hängen. Wie willst du satt werden, wenn du an das Brot nicht heranreichst?«
Es lag geheimnisvolles Wissen in ihren Worten. »Woher wollen Sie wissen, ob ich glücklich oder unzufrieden bin?« »Ich weiß es, das muss dir genügen. Es liegt an dir, was die Zukunft bringt. Der ewige Rückblick und die Sehnsucht nach Vergangenem machen es nicht leichter, den richtigen Weg zu finden. Man muss loslassen können.« Ich wollte nur ein bisschen Glück – in der einen oder anderen Variante – nicht
viel. Ich wollte lachen können. Und ich wollte zurück in die Arme, in denen ich glücklich gewesen war! »Ich frage nicht, woher Sie das alles wissen. Ich frage Sie, was ich jetzt machen soll. Wenn ich nicht weiß, wohin ich mich wenden soll, wie kann dann mein Leben weitergehen?« »All diese überflüssigen Rückblicke taugen nichts. Das ist vorbei; als einziges zählt, was kommt.« Die Matrone wies auf den leeren Holzteller. »Möchtest du noch ein Brot?« Ich nickte. »Es freut mich, wenn meine Gäste zufrieden sind. Es findet ab und zu jemand den Weg zu mir – oder ich zu
ihm«, fügte sie bedeutungsvoll hinzu. Da hatte ich mir was Feines eingebrockt! Da saß ich in einer Kate, trank Tee, aß ein ebenso befremdlich anmutendes wie köstliches Brot und sprach mit einer Fremden über Intimes. Woher wusste die Alte so viel über mein Leben? »Ich verstehe nicht, was ich hier mache.« »Du bist mein Gast und wir reden. Was ist daran nicht zu verstehen?« antwortete sie, sichtlich amüsiert. »Du kannst meinen Rat brauchen. Wenn du darüber nachdenkst, kann sich dein Denken und Fühlen ändern. Und nichts anderes willst du, oder? Die Vergangenheit ändern
vermag ich nicht«, meinte sie. »Für die Zukunft kann sich einiges ändern. Du suchst einen ebenbürtigen Partner, der mit dir deine Launen und Probleme nimmt. Die anderen haben ihre eigenen Schwierigkeiten, auf die du nicht eingehen kannst oder willst. Da kommt es unweigerlich zu Konflikten, in denen keiner von beiden der Verlierer sein will. Deine Kraft vergeudest du mit dem Festhalten an Unerreichbarem. So hast du keine Geduld, Dinge reifen zu lassen.«
Die Matrone ließ mich meine Gedanken ordnen. Ich fühlte, wie die Anspannung langsam von mir abfiel, und ein tieferes
Verständnis für meine Situation wuchs. »Stell dir vor«, begann sie wieder, »du bist in einem Garten. Die Sonne scheint warm, die Vögel singen und die Blumen blühen in allen Farben. Du fühlst dich leicht und glücklich. Was siehst du?« Ich schloss die Augen und stellte mir den Garten vor, den sie beschrieben hatte. Ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus, als ich die Farben und Düfte förmlich vor mir sah. »Ich sehe einen wunderschönen Garten«, sagte ich leise. »Die Blumen sind so farbenfroh und die Vögel singen so
wunderschön.« »Genau das ist es«, sagte sie sanft. »Dieser Garten ist in dir. Er ist deine Seele. Er braucht Pflege und Geduld, um zu gedeihen. Lass die Liebe und die Freude die Blumen dieses Gartens nähren.« Ich öffnete die Augen und sah sie an. Ihr Lächeln war warm und verständnisvoll, als hätte sie all die Antworten, die ich suchte, schon lange in sich getragen und mir nun Stück für Stück offenbart. »Was soll ich nun tun?«, fragte ich schließlich, meine Stimme leise und
zögernd. Es schien, als hätte sich die Welt um mich herum verändert, obwohl alles gleich geblieben war. »Folge deinem Herzen«, antwortete sie sanft. »Lass die Liebe dich leiten, aber versuche nicht, sie zu kontrollieren. Sei geduldig mit dir selbst und anderen. Und denke daran, dass wahre Liebe Freiheit bedeutet – für dich und für denjenigen, den du liebst.«
Ihre Worte sanken tief in mein Herz. Ich spürte eine neue Kraft in mir aufsteigen, eine Entschlossenheit, die ich lange nicht mehr gefühlt hatte. Ich wusste, dass der Weg vor mir nicht leicht sein würde, aber ich fühlte mich bereit, ihn zu
gehen. Die Matrone erhob sich und trat zur Tür. »Es ist Zeit für dich zu gehen«, sagte sie. »Denke an das, was wir besprochen haben, und nimm die Lektionen der Liebe mit in dein Leben.« Ich nickte und folgte ihr nach draußen. Der Mond war inzwischen aufgegangen und tauchte die Landschaft in silbernes Licht. Die Wellen glitzerten im Mondschein und das Rauschen des Meeres klang wie ein beruhigendes Lied in meinen Ohren. Bevor ich den Pfad zurück zum Dorf
einschlug, wandte ich mich noch einmal zu ihr um. »Danke«, sagte ich schlicht. Sie lächelte und hob die Hand zum Abschied. »Möge die Liebe dich immer begleiten, Monika.« Mit diesen Worten ging ich den Weg zurück, der mir nun vertrauter und weniger bedrohlich erschien. In meinem Herzen trug ich die Weisheit der alten Matrone, bereit, sie in mein Leben zu integrieren und meinen eigenen Weg zu finden.