Schreibparty 104
Thema
"WUNDER/ÜBERRASCHENDES"
Frei nach dem Spruch: "Das Leben ist jeden Tag anders, aber immer voller Wunder!"
Wortvogaben:
Zeitraffer, überwältigend
Quasselstrippe, fassunglos, Variante
Sensation
Text und Bilder: Martina Wiemers
Die Hitze zwingt mich heute in der Wohnung zu bleiben. Sitze auf dem Sofa und blättere im Fotoalbum. Betrachte alte Bilder, erinnere mich, lächle,
lasse im Zeitraffer mein Leben Revue passieren
Ich, im weißen Hochzeitskleid mit Schleier, mein Mann im Anzug mit weißer Fliege.Wir haben jung geheiratet, hatten wenig Geld.
Unsere 1 Raum-Wohnung in Halle Neustadt nannte man im Volksmund „Wohnklosett mit Küche“. Wir waren stolz auf unser kleines eigenes zu Hause
und neugierig auf die Wunder des Lebens, die nicht lange auf sich warten ließen.
Auf dem nächsten Foto mein Mann. Völlig überwältigt und fassungslos hält er unseren Sohn in den Händen.
Das 1. Enkelkind für meine Eltern und Schwiegereltern, die Sensation in der weitläufigen Verwandtschaft.
Einschulungsfotos in schwarz/weiß.
Unser Sohn mit Zuckertüte, die so schwer war, dass sein Opa sie tragen musste. Er hat sie zu Hause ohne viel Federlesen geöffnet, den Inhalt auf das Bett geschüttet, begutachtet und die
Schokolade mit den Bildern vom Sandmännchen sofort aufgegessen. Anfangs fiel ihm das Lernen schwer. In der Schule zurückhaltend und schüchtern, entpuppte er sich zu Hause manchmal als neugierig, nervige Quasselstrippe, die uns Löcher in den Bauch fragte.
Das Leben meinte es gut mit unserer kleinen Familie. Es verschonte uns mit schweren Krankheiten und unlösbaren Konflikten. Unsere jährlichen Urlaubstage verbrachten wir als Familie im Harz, Thüringen und manchmal sogar an der Ostsee. Auf den Fotos essen wir Bockwurst, räkeln uns faul im
Liegestuhl, erklimmen mit Wanderstöcken Berggipfel, picknicken auf der Wiese, liegen am Stand, genießen unsere unbeschwerten Urlaubstage.
Bilder aus der Wendezeit (in bunt) mit Verwandten aus dem „Westen“, die man nun besser kennenlernte aber nicht immer schätzte.
Fotos aus unserem Berufsalltag, von unserem 1. „West“ Auto, einen gebrauchten Audi, vom Studium unseres Sohnes in Köln, seiner Freundin und heutigen Frau, von unserem Schrebergarten, mit selbstgebauten Bungalow, unseren Reisen nach
Österreich, Italien, Frankreich, Dänemark, dem 1. Flug, nachKorsika (meiner Trauminsel), füllen die Seiten des Fotoalbums bis zum letzten Blatt.
Voller Freude greife ich zu einer großen Kiste, mit ausgewählten Bildern, aufgenommen mit dem Smartphon und ausgeduckt am Fotoshop.
Vom 11. Juni 2015, dem Geburtstag unseres einzigen Enkels Fabian, von den stolzen Eltern und uns, den Großeltern.
Bilder aus der Kinderkrippe, dem Kindergarten, der Einschulung mit Riesenzuckertüte, die der Opa tragen musste. Fotos vom gemeinsamen Urlaub auf dem Bauernhof, vom 1. Zeugnis, dem
Seepferdchenabzeichen,von seiner Freundin Paula, die ihn angeblich hinter der Hecke auf dem Schulhof geküsst hat.
Ich schaue auf die Uhr, 2 Stunden sind vergangen wie Flug.
Mein Smartphon fängt an zu vibrieren. Höre sofort meinen Enkel rufen: „Oma, Oma, schalte schnell den Fernseher ein. Unsere Klasse ist im Fernsehen. Wir wurden heute vom ZDF beim Wandertag im Zoo interviewt. Die wollten wissen, ob wir an Wunder und Gespenster glauben.
Ich habe gesagt, dass ich euer Wunder
bin, weil ich doch rote Haare habe und sonst keiner in der Familie und dass es Gespenster heutzutage schwer haben beim Spuken, wegen der Lichtverschmutzung und den hohen Windrädern.
„Da hast Du recht“, sagte ich schmunzelnd und schalte den Fernseher ein.
Das letzte Foto vor dem Wegräumen betrachte ich lange.
Mein Enkel Fabian, die kleineVariante seines Papas.
Die Haare kupferrotleuchtend, lachend, mit Zahnlücke, Nase, Gesicht voller
Sommersprossen, Zahn und Zange in der Hand.
„Welch Wunder der Natur“, denke ich glücklich, schmiere mir gut gelaunt zwei Leberwurststullen und werfe einen Blick auf den Kalender.
Der Spruch des heutigen Tages lautet:
„Entwicklungsgeschichtlich ist der Mensch das Zierrasensaatgutkörnchen aus der Wundertüte der Natur“