Die Wiesen und Felder reichten bis zum Horizont. Ein Bachlauf gluckerte friedlich dahin und teilte die Welt in hüben und drüben. Jetzt führte er nur wenig Wasser, aber wenn es im Frühjahr viel geregnet hatte, bewässerte er die Felder bis in den Herbst, sodass auf den Weiden immergrünes, saftiges Gras wuchs. Der Mais und der Weizen formten grüngoldene Rechtecke, die so groß waren, dass man meinte, sie endeten nie. Mitten in dieser Weite stand ein kleines weiß getünchtes Häuschen mit Reetdach, von einer Handvoll Akazien und einer
riesigen Fichte gegen den immerwährenden Wind geschützt. Es war nicht groß – eine Küche, in der ein Holzherd für wohlige Wärme sorgte, eine kleine Schlafkammer, ein winziges Bad. Und davor stand der traditionelle Ziehbrunnen mit seinem hohen Ausleger, der rauf und runter wippte, wenn man den Eimer hinabließ, um frisches Wasser zu holen. In einem Schuppen lagerte das Feuerholz und in einem anderen hatten wohl einmal ein paar Schafe ihr Quartier gehabt. Genauso hatte er sich das hier vorgestellt. Weit ab von menschlicher Gesellschaft, von den Ereignissen der letzten Zeit und nicht zuletzt von sich
selbst, seinem Bild, das in aller Munde und auf jedem Steckbrief des Geheimdienstes zu finden war. Er hatte seine Kontakte genutzt und sich auf dieses kleine Anwesen mitten in der Puszta geradezu geflüchtet. Das Land drum herum gehörte zwar ihm; es war aber verpachtet und wurde bewirtschaftet. Mit seinem früheren Leben wollte er nichts mehr zu tun haben! Nie würde er dorthin zurückkehren! Nach dem erfolglosen Misstrauensvotum hatte er seine Sachen gepackt und sich, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, aus dem Staub gemacht, in dem seine Verantwortung für das Scheitern der gemeinsamen Sache, sein
politisches Kalkül und seine Skrupel zurückblieben. Sein Name würde jedenfalls nicht auf dem Esel stehen, der den Karren aus dem Dreck zöge! Das alles war erst ein paar Monate her, schien ihm aber ein Relikt aus alter Zeit zu sein, ein Quastenflosser in den weiten Ozeanen seiner Erinnerung. Hier wollte er von vorn anfangen und vergessen, was ihn hergeführt hatte. Er saß mit seiner staubigen Jeans und einem Designer-Hemd, das einmal ein kleines Vermögen gekostet hatte, was man ihm nun aber nicht mehr ansah, auf der Bank vor dem Haus und blinzelte in den Sonnenuntergang. In seiner Hand hielt er ein Glas Weinbrand aus dem
reichhaltigen Sortiment an erlesenen Flaschen, die er sich früher aus aller Herren Länder hatte kommen lassen. Das Gute bewahre, das Schlechte vergrabe, hatte sein Großvater immer gesagt. Da ist schon was Wahres dran, dachte er und nahm einen Schluck. Nicht viel mehr hatte er in sein neues Leben mitgenommen. Wenn man ihm noch vor einem halben Jahr gesagt hätte, dass er eines Tages - bar jeden luxuriösen Reichtum - mitten im Nirgendwo aus einem einfachen Wasserglas sündhaft teuren Weinbrand trinken würde, den hätte er für verrückt erklärt. Die Hitze des Tages drückte noch, aber dunkle Wolken am Horizont ließen eine
baldige Abkühlung erwarten. Die untergehende Sonne tauchte alles in ein rötlich schimmerndes Licht, das die Landschaft so unwirklich erscheinen ließ. Er ging hinein und schaltete die Lampe über dem Küchentisch in der Ecke an, der Lichtschein würde auch den Platz vor dem Fenster erhellen und er konnte noch draußen sitzen bleiben. So oft in der letzten Zeit hatte er abends draußen gesessen, dass es ihm zu einer lieben Gewohnheit geworden war. Seine Gedanken schweiften dann in die Zeit zurück, die in ihm gleichermaßen Ekel und Scham schürte. Ekel, vor sich selbst und seinen politischen Freunden, die – wie er – nur an ihren eigenen Vorteil
dachten, ungeachtet ob dabei jemand zu Schaden kam oder ob das alles immer mit rechten Dingen zuging. Scham, weil er keinen Deut besser war als sie. Doch damit ist jetzt Schluss, dachte er, leerte sein Glas und ging hinein. Mit einer Schüssel Suppe setzte er sich wieder auf seine Bank. Früher hätte er einfach einen Tisch in einem Restaurant bestellt oder den Koch seiner Lieblingspizzeria angerufen; der hätte dann den Lehrjungen mit einer Pizza geschickt. Diese Zeiten sind vorbei, aber ich beklage mich nicht; ich habe es so gewollt, erkannte er. Trotzdem befiel ihn manchmal schon so eine Lust auf die Früchte seines alten Lebens, wie er es
nannte. Doch seit er hierhergekommen war, hatte er noch keinen Schritt in die Stadt getan; einzig ins nächste Dorf fuhr er ab und zu einkaufen. Niemand dort wusste, wer er war, und niemand störte sich an ihm. Das war für ihn das größte Geschenk, weit mehr wert als jeder Luxus, den er sich zuvor hatte kaufen können. Als es immer dunkler wurde und er nichts weiter um sich sah als stille schwarze Nacht, nahm er sein Glas und seinen Teller und ging hinein. »Das hat heute wieder nicht geregnet«, sprach er halblaut zu sich selbst. Die Stille der Natur und die menschliche Einsamkeit, sosehr er sie auch gesucht hatte,
bedrückten ihn manchmal schon. Und dann sprach er halt mit den wenigen Möbeln oder seinem Spiegelbild über der Spüle. Plötzlich wurde er von lautem Prasseln, Blitz und Donner geweckt. Dann hörte er die Haustür zuschlagen und menschliche Schritte. Er war mit einem Male hellwach. »Ist da wer?« Er schlüpfte in die Jeans und trat in die Küche. »Verzeih, mein Sohn. Ich habe nur Schutz gesucht vor dem Unwetter.« Ein, in einer einfachen Kutte gekleideter, alter Mönch kam auf ihn zu. »Ich hoffe, ich habe Dich nicht erschreckt.« »Wie, bitte, nein«, stammelte er. »Aber wo kommen Sie um diese Zeit her,
Vater?« »Nun, ja. Ich bin auf der Suche und dabei vom Weg abgekommen und mitten in dieses Unwetter geraten.« Er öffnete seine Kutte, die schon eine kleine Pfütze auf dem Boden hinterließ. »Kann ich hier das Unwetter abwarten?«
»Aber, sicher, Vater. Setzen Sie sich.« Er schaute zur Küchenuhr, gerade fünf nach fünf. »Möchten Sie lieber einen Kaffee oder einen Tee?« »Ein Kaffee, wenn es keine Umstände macht.« Der Mönch saß am Tisch und rieb sich die Hände. »So warm es gestern war, aber mit dem Regen zieht die Kälte herauf. Andererseits, ohne Regen keine Ernte. Richtig? Wie heißt Du, mein
Sohn?«
Das hatte gerade noch gefehlt! Wenn er seinen richtigen Namen sagte, wären weitere Fragen unausweichlich. Doch log er, dann käme er vielleicht später in Konflikt, und schlussendlich käme es auf dasselbe heraus. Er schluckte. »Viktor.« »Gut, dass Du es mit der Wahrheit hältst, Viktor.« »Dann brauche ich Ihnen nichts erzählen, stimmt’s?« Sie saßen sich beim Kaffee gegenüber und Viktor betrachtete jetzt den Mönch eingehender. Der Lichtschein zeichnete die Konturen des faltigen Gesichts nach, dass sie noch deutlicher wurden. Die
Augen steckten tief in ihren Höhlen, aber der klare Blick und das feine Leuchten machten sie sehr offen. Die Nase trug eine Brille, die Viktor erst jetzt bemerkte. Um den Mund hatten sich die gleichen feinen Fältchen eingegraben wie um die Augen. Die Hände waren alt und knochig, aber früher sicher mal feingliedrig und schön gewesen. »Wo kommen Sie her, Vater?« »Ich bin aus einem Kloster im Norden. Dort habe ich Dich schon einmal gesehen, Viktor. Du warst da, als die Unruhen waren.« »Ja, ich erinnere mich. Eine schreckliche Sache.« Viktor lehnte sich zurück. Er erinnerte sich an das Desaster nur zu gut.
Und dass dort ein Kloster in der Nähe war, daran natürlich auch. Ihm war nicht wohl dabei, dass der Alte gerade darauf zu sprechen kam. Diese Unruhen waren doch der Auslöser für seine Flucht gewesen, zumindest zum Teil. Das andere waren die Kontenprüfungen bei der Partei gewesen, bei denen Unregelmäßigkeiten aufgefallen waren, für die er den Kopf hinhalten sollte. Und noch so manch andere Geschichte, über die er jetzt nicht nachdenken konnte und wollte. Doch der Alte zwang ihm dieses Gespräch förmlich auf. »Mein Sohn«, fuhr der Mönch fort und Viktor kam sich plötzlich ganz klein vor. »Du hast viel falsch gemacht – und
manches richtig. Doch bei den Unruhen hättest Du Dir selbst ein Denkmal setzen können. Wenn Du nur Rückgrat bewiesen und diese Farce beendet hättest. Die Umsiedlung der Roma und Sinti der Öffentlichkeit als Urlaubsreise zu verkaufen, das war schon ein Husarenstück. Das war grobes Unrecht, was dort passiert ist, und Du weißt es.« »Ja, aber«, fiel Viktor dem Mönch ins Wort. »Wenn ich das zugegeben hätte, was dann? Dann hätten alle aufgeschrieen und gesagt, ich wäre nicht anders als –« »Die Nazis, wolltest Du sagen, stimmt’s?« Der Mönch ließ seine Faust hart auf den Tisch fallen. Die Zornesröte
flammte in seinem Gesicht auf. »Es ist doch immer dasselbe. Was nicht passt, wird passend gemacht. Was nicht der Norm entspricht, wird entsorgt, so oder so. Was dem eigenen Machtstreben im Weg ist, wird ohne Rechtfertigung ins Gefängnis gesteckt, damit Ruhe ist. Was heute versprochen wird, wird morgen widerrufen. Wer nicht ins Bild passt, wird gelöscht. Und so weiter. Soll ich noch mehr aufzählen, mein Sohn?« Viktor war wie vor den Kopf geschlagen und stammelte: »Vater. Ich glaube, Sie missverstehen meine Gastfreundschaft. Ich glaube, Sie gehen jetzt besser. Es hat auch aufgehört zu regnen.«
»Viktor«, beschwichtigend legte der Mönch seine Hand auf die seine. »Ich möchte doch nur, dass Du zu Verstand kommst – und Deine Verantwortung übernimmst.« »Das kann und will ich nicht. Ich bin jetzt hier und bleibe, egal was da draußen los ist. Niemand kann mich zwingen, mich zu stellen. Dann könnte ich –« Er stockte. So deutlich hatte er es nicht wissen wollen, welche Alternative ihm blieb. Hier hatte er sein bescheidenes Glück gefunden, er hatte alles, was er brauchte. Und war für den Geheimdienst offiziell nicht greifbar und somit auch nicht für die Justiz. Sein Leben im Gefängnis zu fristen, denn
darauf lief es hinaus, das war keine Alternative. Nicht für ihn! Viktor! »Ach so, Viktor hebt sich über das Gesetz – und keiner kann ihm was?!« Der Mönch war jetzt aufgestanden und sah zornig auf ihn herab. »Zu behaupten, es sei ein Gottesbefehl, diese Unruhen zu unterstützen – auf beiden Seiten, wohl gemerkt – und andererseits diejenigen zu schützen, die den sogenannten Sinti und Roma ihre Heimat, ihr Zuhause, ihr Leben nehmen. Wie falsch ist das denn, Viktor?« »Ich konnte doch nicht anders handeln«, versuchte Viktor einzuwenden. »Die Partei erwartete das von mir. Ich konnte nichts machen, ich musste so handeln.«
»Ach, so.« Der Mönch ging zur Tür. »Du wirst wohl noch eine ganze Weile nachdenken müssen. Ich lasse Dich jetzt allein, vielleicht hast Du Recht, und Du brauchst die Zeit hier in der Puszta. Nutze sie zur Schafzucht, die Weiden sind gut.« Er sah Viktor aufmunternd an, und sein Gesicht strahlte dabei im ersten Morgenlicht. »Es hat aufgehört zu regnen. Mein Weg ist noch weit. Auf Wiedersehen, mein Sohn.« »Auf Wiedersehen, Vater.« Er sah dem alten Mann nach, der dem sandigen Weg am Bach entlang folgte. Die Sonne stand schon eine Hand breit über dem Horizont und die Gewitterwolken hatten einem strahlend blauen Himmel Platz gemacht.
Der Bach war durch den Regen so angeschwollen, dass sich das Wasser fast gewaltsam seinen Weg durch den engen Lauf bahnte. Der Pegelstand ließ aber nichts Schlimmes befürchten. In ein paar Tagen wird er wieder friedlich dahinplätschern, dachte Viktor, wie auch mein Leben. Er goss sich noch einen Kaffee ein und setzte sich auf die Bank. Der Mönch war nur noch als kleiner Punkt zu sehen; bald schon würde er am Horizont verschwunden sein. Diese Begegnung hatte ihn aufgewühlt, war er doch gerade hierher gekommen, um seine Ruhe zu haben – und vergessen zu können. Sicher, er hatte viel falsch gemacht, er hatte
Menschen auf dem Gewissen und einstige Weggefährten, Widersacher und Konkurrenten kraft seines Amtes ausgeschaltet. Er hatte bei der Zerschlagung des Aufstandes sogar in Kauf genommen, dass unschuldige Kinder zu Tode kamen. Es wäre ja gar nicht eskaliert, hätten sie sich widerstandslos mit den Bussen fortschaffen lassen, dachte er, aber sie haben die Zeitung informiert, die wiederum Kamerateams in das Dorf entsandten, um das Geschehen zu dokumentieren. Er hatte letztlich die Verantwortung zu tragen, war aber untätig geblieben und hatte es geschehen lassen. Und später dann hatte er die
Hintergründe nach seinem Belieben ausgelegt und sich damit gerechtfertigt, dass er die militanten Banden nicht habe aufhalten können, weil sonst noch mehr passiert wäre. Die Roma und Sinti waren halt das Bauernopfer. Plötzlich sah er eine Katze aus der Scheune kommen. Die hatte er hier noch nie gesehen. Sie kam auf ihn zu, setzte sich in einiger Entfernung hin und putzte sich ausgiebig. »Wer bist Du denn? Hast wohl Durst.« Viktor erhob sich und holte aus der Küche eine Schale mit Milch. Die Katze saß immer noch dort und sah ihm aufmerksam zu, wie er die Schüssel auf den Boden neben der Bank hinstellte. Als
er wieder saß, kam sie furchtlos, doch freundlich auf ihn zu, schnupperte an der Milch und begann, sie dann gierig mit der Katzenzunge aufzunehmen. Viktor sah ihr zu und das erste Mal, seit er hier angekommen war, fühlte er sich rundum wohl. Im Radio, das durch das offene Küchenfenster zu hören war, hörte er gerade: Manchmal bin ich traurig, wenn ich sehe, was wir tun, doch ich hoffe, gegen Hoffnung ist kein Menschenherz immun.
Bleistift "Der Einsiedler (1)..." Nee, kommt mir nicht bekannt vor, aber sich in die Einsiedelei zu flüchten, um ungeschoren vom Saulus zum Paulus zu mutieren, ist vielleicht ein geheimer Wunsch, zugleich aber auch ein Unding, also etwas, was so nicht klappen wird... Diese Erfahrungen werden auch andere Autokraten noch machen, wenn denn ihr Stündlein dereinst gekommen sein wird... Dreist wenn auch das Gedächtnis der Menscheit nur kurz und ihre Vergesslichkeit sprichwörtlich ist... LG Louis :-) Schön erzählt, besonders die Figur des Paters hat mit gefallen... L. |