Warst Du schon in einem überfüllten Aufzug? Hast Du schon gegen Rollatoren und Krücken gekämpft? Diese Geschichte entstand 2004, während einer Rehamaßnahme in Bad Homburg. Gerne erinnere ich mich an die unterschiedlichen Charaktere der MITINSASSEN der Klinik, an den Humor, der in allem versteckt lag und durch meine RUHRPOTTSCHNAUZE noch ganz andere Züge bekam. Noch viele Jahre hatte ich Kontakt zu einigen wundervollen Menschen, die ich dort kennenlernen durfte. Geblieben
ist Goliath, der mit bürgerlichem Namen Caspar heißt. Ich habe seine ausdrückliche Erlaubnis, diese Geschichte zu veröffentlichen. Die Geschichte entspricht zu 80 % den Tatsachen.. Die einzelnen Charaktere hab ich mir zurecht gestutzt ;-))
Da war es wieder – wenn auch unbewusst. Dieses bekannte, aber verdrängte Phänomen unter Menschen. Wohin man auch ging – in welchen Saal, Kino, Wartehalle, wo auch immer – man ließ einen Platz zum nächsten frei. Man machte sich im Aufzug so klein wie möglich und zuckte pikiert zusammen, sollte man vom Arm des Mitreisenden berührt werden. Weiß der Geier, warum Mensch das macht. Geier sind da doch sehr viel freier und der Mensch ist scheinbar doch kein
Rudeltier. Vorausschickend muss ich erklären.. ich befinde mich momentan in einer Rehamaßnahme, die in einer großen Reha-Klinik in Bad Homburg stattfindet. Bei der Suche nach einem Platz im Speisesaal ergibt sich das angeführte Phänomen eher nicht. Man bekommt einen Tisch zugewiesen und bleibt da für den Rest seines Insassendaseins hocken. Ob einem nun die Gesichter oder auch die Menschen am Tisch gefallen, dass hat man selbst nicht zu bestimmen. Man wird quasi zur Berührung
vergewaltigt. Ich komme also gutgelaunt an meinem Platz an, der mir von einem freundlichen Bediensteten gezeigt wird. Ein Rollator steht vor dem Vierertisch und zwei Paar Krücken tummeln sich an der angrenzenden Wand. „Hallo, ich bin die Neue ab heute. Also macht es mir nicht so schwer, ich bin eine ganz liebe. Wirklich" bringe ich in meiner gewohnt freundlich legeren Ruhrpottmanier hervor und begegne den ganz betretenen Gesichtern zweier älterer Damen. Höflich wie ich bin, schickte ich meinen Namen hinterher und reichte zum Gruße die
Hand. Unhöflich wie ältere Damen leider Gottes manchmal sind – oder vielleicht bildeten sie sich ja auch etwas auf ihre Klunker an den Händen ein – starrten sie in ihren Teller, ohne meine Hand zu ergreifen. Na ja, vielleicht hatten sie ja auch Angst um ihre Klunker. Oder sollten es auch hier Berührungsängste sein? Wollten sie sich die Berührten auch selbst aussuchen, was ja durchaus nachvollziehbar ist? Fühlten sie sich also vergewaltigt durch meinen netten
Gruß? Das Schicksal stellt manchmal grausame Fallen. So musste ich nun den Platz an der Wand einnehmen, an der die Krücken lehnten. Der Abstand zum Nebentisch war denkbar schmal und von vier stark übergewichtigen Krückensprintern bevölkert. Aufstehen, damit ich mich durchschlängeln konnte – kam ja überhaupt nicht in Frage. Die jüngere der alten Damen, die am Tisch neben mir saß, konnte sich nicht erheben, weil sie scheinbar frisch operiert war und wiederum zuwenig Platz zum Nebentisch bestand, um sich schadenfrei zu
bewegen. Hier schien dieses Phänomen sowie die teilweise Bewegungsunfähigkeit der Insassen von der Klinikleitung völlig ignoriert worden zu sein. Hier gab es jede Menge Berührung. Also schmal gemacht und durchgedrängt. Als nächstes die Krücken umgeworfen, die prompt über beide Tische flogen. Nun klein gemacht, um die Krücken aufzuheben. Als ich die Dinger dann nahm und kurzerhand an den Rollator lehnte, keifte die erste Gräfin
auch schon los. „Wie können sie es wagen. Mein Rollator ist doch keine Krückengarderobe." Die andere Gräfin hatte wenigstens den Anstand, beschämt in ihrer Suppe nach der Einlage zu suchen und tat, als hätte sie nichts gehört. Der Kellner trat an den Tisch, stellte meine Suppe auf meinen Platz und wollte gleich wieder verschwinden. „Moment bitte.." hielt ich ihn gleich auf. „Warten sie doch bitte bei meiner nächsten Mahlzeit so lange, bis ich mich setzen konnte. Ich müsste befürchten, dass mein Essen sonst kalt wird" strahlte ich ihn mit meinem
Ich-möchte-doch-nur-daß-ihr-lieb-zu-mir-seid-Grinsen an. Dem blieb dann auch gleich die Spuke weg, und er stammelte: „Ja natürlich. Es ist aber auch sehr eng hier." „Ach wissen Sie, wenn ich mir die anderen Tische im Raum so betrachte, könnten hier die Plätze mal ein bisschen verrückt werden. Jeder Mensch ist nun mal unterschiedlich gebaut und hat unterschiedliche Leiden. Dann hätte auch jeder Krückensprinter den Platz, den er bräuchte und ich würde keine Krücken umwerfen, weil ich nicht zwischen die Stühle zum Nachbartisch
passe." Der Nebentisch war nun aufmerksam geworden und fand es glatt eine Frechheit von mir zu behaupten, sie seien übergewichtig. „Hallooo.. Leute.... Ich hab nichts in der Richtung rausgelassen. Weder habe ich von umfunktionierten Ballsälen gesprochen, noch von Doppelbetten im Einzelzimmer. Aber scheinbar fühlt Ihr Euch angesprochen. Hab ich vielleicht den Punkt getroffen?" Ich erklärte nicht, dass ich mich in einem Fahrstuhl für achtzehn Personen mit vier solcher Schwergewichte nicht wohl fühlen würde. Nicht wegen der Berührungsangst
sondern wegen der Absturzgefahr. Ich sollte bald die Gelegenheit bekommen. Aber dazu später. Ganz ausdrücklich möchte ich hier erwähnen, dass ich absolut nichts gegen Schwergewichte habe - ganz im Gegenteil. Sie sind mir sehr oft als die humorvollsten meiner Spezies begegnet und einige zählen zu meinen liebsten Freunden. Aber wie kann man auch vier schwer übergewichte Menschen an einen Tisch mit den freundlich geschätzten Maßen von Eineinhalb mal Eineinhalb Metern setzen. Da hätte der Speisesaal-Chef – wenn's denn einen gab – ein bisschen mehr Fingerspitzengefühl beweisen müssen. Ich meine, wenn der Tisch von zwei
Schwergewichten genutzt würde, dann wäre er auch schon überfüllt und schließlich mussten die Leute sich ja auch bewegen können. Ist mir wirklich schleierhaft, wie die in Ruhe ihre Mahlzeiten hinter sich bringen. Auf jeden Fall war ich jetzt doch schon deutlich angepickt. Gräfin Eins tat nun ganz kumpelhaft, legte mir die Hand auf den Arm und meinte: „Wissen Sie, Kindchen, dass hab ich auch schon so oft hier angemerkt. Aber auf mich hört ja hier niemand und scheinbar kommen Sie da mit Ihrer Art auch nicht
weiter." Die Weise, in der sie Ihre Art hervorbrachte und der hochmütige Blick, der mich von unten herauf traf, rief natürlich gleich mein streitbares Naturell auf den Plan. „Aber, aber Muttchen. Scheinbar wird hier auf Ihre großartigen Umgangsformen auch keine Rücksicht genommen. Vielleicht sollten wir mal alle Kellner enterben? Na?" Kurz und gut. Ich hatte es mir von vornherein mit den Gräfinnen verscherzt. Besonders, nachdem beim Abendbrot dann tatsächlich die Tische zu einem annehmbaren Abstand verrückt worden waren und der Tisch mit den
Schwergewichten war von der Wand abgezogen, sodass jetzt jeder der Herrschaften eine Tischseite für sich hatte. Das Krückenmikado hatte scheinbar Eindruck hinterlassen. Soviel zu meiner Art Am nächsten Morgen wurde das Phänomen in eine neue Hülle gesteckt - in einen Fahrstuhl. Ich hatte ein Zimmer im zwölften Stock bezogen und die Bäderabteilung befand sich im Untergeschoss. Bereits im zehnten Stock schoben sich zwei Rollatorpilotinnen in die Zwei Meter breite und Drei Meter Fünfzig lange Kabine. Ich wich schon mal sicherheitshalber bis an die Wand zurück.
Egal, wie schmal ich mich machte – und ich habe nur sehr geringes Übergewicht – eine der Damen schaffte es tatsächlich, mir dennoch ihren Rollator über die Füße zu ziehen. Keine Entschuldigung nach meinem schmerzhaften Seufzer. Schließlich konnte ich ja froh sein, dass sie mich berührt hat. Sei es auch nur mit dem Rollator. Der Aufzug hielt scheinbar unaufgefordert auf jeder Station – zuverlässiger als die Bundesbahn. Es wurde mit Krücken gekämpft, Rollatoren wurden an meine Knie gedrückt und die Menschheit hob ein lautes Wehklagen an, als der circa Hundertachtzig Kilo schwere und Einsneunzig große Mann vom Nachbartisch nebst Rollator in den Aufzug trat – der schon
mit Acht Personen, drei Rollatoren und etlichen Krücken voll gestopft war. Das Gehänge der Kabine ächzte beträchtlich und ich war der Panik nah, als ich mit im Wachstum befindlichen blauen Flecken und fliegendem Atem vorzeitig im Fünften Stock den Aufzug verlassen wollte. Das war mir eindeutig zuviel Berührung, aber ich war gefangen. Um aus diesem schaukelnden Ungetüm zu entkommen, hätten alle die Kabine verlassen müssen – und man hatte ja schließlich Termine. Heil und unversehrt im Keller angekommen, setzte man sich in die jeweilige Wartezone. Natürlich mit jeweils einem Platz Abstand. Das heißt, Goliath vom Nachbartisch ließ nur einen
halben Platz frei. Jetzt wurde es eng. Sechs Stühle und sieben Patienten. Davon drei Rollatorenpiloten und Drei Krückensprinter. Natürlich rutschte Goliath zu mir rüber – nicht ohne mir ein hämisches Grinsen zu schenken - und in Sekundenschnelle war ich eingeklemmt.. umzingelt. Die Pilotin neben mir war auch nicht gerade schlank und ich spürte, wie mir die Luft wegblieb. Also aus der Umklammerung gelöst und – mit einem fast hörbaren Plopp - den Platz frei
gemacht. Schließlich war ich weder Pilotin noch Sprinterin, hatte noch junge Beine und keine Schwindelanfälle. Zwischen jeder Anwendung kurz in den zwölften aufs Zimmer, evtl. Badeanzug gegen Sportzeug wechseln, oder einen Relaxversuch starten. Dann wieder in den Aufzug und die Geschichte geht von vorne los. Aber heute war alles anders. Ich hatte die Poleposition von der zwölften abwärts und in der sechsten stiegen Goliath und seine drei Muskeltiere vom Nachbartisch zu, die auch nicht gerade kleinwüchsig waren.
Als Begleitung fungierten ein Rollator und drei Paar Krücken. Automatisch wich ich an die bespiegelte Rückwand des Aufzugs zurück. Es wurde natürlich wieder in jeder Station gehalten, doch als jetzt der Lift aufging, sagte Goliath nur knapp: „Wir sind voll!" Man merke.. der Aufzug ist für achtzehn Personen ausgelegt. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Eine riesige Pranke landet auf meiner Schulter: „Lach Du nur, Du dürres Kohlenkind. Ich würde auch lieber Bobbycar statt Rollator fahren. Das kannst Du mir glauben. Oder traust Du Dich etwa, über
unsere wunderbaren Maße zu lachen?" Jetzt konnte ich mir das Lachen nicht mehr verkneifen: „Ach was. Nicht wegen Eures Gewichts, sondern wegen der entsetzten Blicke der anderen gerade. Schließlich sind wir nur fünf Personen im Aufzug." Goliath nahm es gelassen und sagte nur: „Tja, die meisten bleiben sowieso lieber draußen, wenn sie uns sehen. Man wird nicht so gern von fremden Menschen berührt, aber ich müsste lügen, würde ich sagen, mir ginge es anders. Und bei unserem Umfang bleibt das halt nicht aus. Wohin geht's denn?" „Ich fahre zum Bewegungsbad. Hab in fünf
Minuten meinen Termin." „Oh toll, wir auch. Dann haben wir die Pfütze wieder für uns allein" feixte einer der anderen. „Die anderen wollen nie mit uns planschen" kam es mit einem Grinsen vom Dritten. „Wenn Du brav bist, lassen wir noch ein bisschen Wasser für Dich drin" lachte mich der Vierte jetzt ganz unverhohlen an. „Du hast schließlich noch was gut bei uns, wegen der verbesserten Tischordnung." „Okay Jungs. Dann halte ich Euch dafür die Walschützer vom Hals und sorge beim Hausmeister für eine Ersatz-Wasserpumpe für
das Schwimmbecken. Was haltet ihr davon?" Zunächst herrschte Totenstille im Aufzug und dann brachen die vier in haltloses Gelächter aus. Körpermassen wurden dermaßen geschüttelt, dass ich Angst um die Fahrstuhlseile hatte. Ich wurde von Goliath gleich in den Schwitzkasten genommen – obwohl, genau genommen hat er mir nur den Arm um die Schulter gelegt. Es fühlte sich halt so an. „Du bist richtig, Kohlenkind. Wir werden Dich im Auge behalten. So was wie Du darf nicht ungeschützt auf die Menschheit losgelassen
werden." Ab diesem Tag hatte ich vier riesige Schatten und keine Spur mehr von Berührungsängsten. Es sollte sich allerdings auch eine Situation ergeben, in der Berührungsängste durchaus angebracht waren. Nach einem Besuch auf der Saalburg stieg ich mit meinen vier Schatten spätnachmittags in den Fahrstuhl um den Billardtisch im dreizehnten Stock noch ein bisschen zu quälen. Mittlerweile hatte Goliath es sich abgewöhnt, den Fahrstuhl als voll zu deklarieren. Jeder Mensch sei schließlich selbst für sein Schicksal verantwortlich. So begab es sich, dass im vierten Stock die
Klunkergräfin zustieg die - wie ich - im zwölften Stock wohnte. Sie presste sich – scheinbar unbemerkt – die Hand auf den Bauch und hatte leichte Schweißperlen auf der Stirn. „Geht es Ihnen nicht gut? Möchten Sie sich setzen?" fragte ich hilfsbereit und trat zur Seite, um ihr den Weg zum Klappstuhl an der Wand der Kabine frei zu machen. Das hätte allerdings für sie bedeutet, dass sie sich an meinen schwergewichtigen Schatten vorbeizwängen müsste und auf Grund ihrer Berührungsängste - die in ihrem Fall eher als Etepetete einzustufen waren - ergab das für sie scheinbar überhaupt keinen
Diskussionspunkt. „Nein Danke, Kindchen. Das geht schon." Mittlerweile drängten noch andere Insassen nach und die Gräfin wurde immer weiter zwischen die gutmütigen Riesen gedrängt. Umfallen konnte sie uns so schon mal nicht mehr. Nachdem die Kabine sich wieder unter knirschendem Protest der Fahrzugseile in Bewegung gesetzt hatte, waren zunächst viele kleine Pfiffe und schließlich ein sehr gequältes hohes Pfeifen zu hören. Die Atemluft wurde mit einem durchdringenden, eindeutig menschlichen Geruch durchsetzt und die
Insassen hielten die Luft an. Unsere Gräfin reckte das Kinn und starrte Goliath vorwurfsvoll an. Der ließ sich nicht beirren und starrte solange zurück, bis die Gräfin beschämt ihr kunstvoll onduliertes Lockenhaupt senkte. Schicksal war es, daß ausnahmsweise heute mal der Fahrstuhl direkt durchfuhr, ohne zu halten. Also keine Chance die Flucht zu ergreifen. Wie solch ein kleines Persönchen einen solchen Gestank abgeben konnte, war wahrscheinlich jedem in der Kabine schleierhaft. „Wsst Du Mttschn.. nich schimm..kann ma pssiern..ch hoff die Wndl hälts aus" presste Goliath hinter zusammengepressten Lippen
und zugekniffener Nase hervor und als der Fahrstuhl schließlich in der zwölften hielt, waren wir es, die die Schweißperlen auf der Stirn hatten. Natürlich wollten alle gleichzeitig fliehen. Keine Spur mehr von Berührungsangst. Jeder wollte der erste an der fragwürdig frischen Luft im Treppenhaus sein. Klunkermuttchen wurde an diesem Tag nicht mehr gesehen, was mir dann doch irgendwie Leid tat. In den nächsten Tagen legte sie ihre Gräfinnenmaske fast vollständig ab. Keine Frage - das Phänomen
Berührungsängste hat seit diesem Tag in vielerlei Hinsicht eine vollkommen neue Bedeutung für mich bekommen.
Bleistift "Berührungsängste..." Ha, als Rollifahrer weiß ich natürlich sehr wohl, wovon Dur redest, geht es mir in den Aufzügen und an den Tischen in der Gastronomie doch meistens sehr ähnlich. Auf jeden Fall hab' ich mich beim Lesen köstlich amüsiert und mich in viellerlei Beziehung darin selbst wiedererkannt... ...smile* LG Louis :-) |
Christina_Maverik Wie schön, dass es bei dir angekommen ist ? LG |
Brubeckfan Liebe Christina, ich glaube jedes Wort. Und sehe die Leute klar vor mir. Ja jeder fährt Auto, aber daß man nur den Fahrstuhlknopf der gewünschten Richtung drückt, gehört nicht zum Allgemeinwissen. Viel Grüße, Gerd |