Viktors Marathon
Viktor Orbán stand in dem schwach beleuchteten Raum, der Duft alter Bücher und Ledereinbände erfüllte die Luft. Der ungarische Ministerpräsident warf einen Blick auf seine Armbanduhr, deren Zeiger sich unendlich langsam bewegten. »Friedensmission 3.0«, murmelte er kaum hörbar. Er hätte es fraglos lieber laut ausgerufen, doch es hörte ihm eh niemand zu. Deshalb hatte er auch niemanden in seine Reisepläne eingeweiht, nicht einmal seine engsten Vertrauten. Freunde? Sie hätten ihm das Ganze sicher ausgeredet. Dabei war er
fest davon überzeugt, das Richtige zu tun. Die Zweifel anderer hätten nur seinen Entschluss gestärkt. Er hätte es besser wissen können.
Ein schweres Trommeln hallte plötzlich durch die Hallen des Kremls, sodass Viktor vor Schreck den Blick hob und gleichzeitig den Rücken über seinen dicken Bauch schob. Rechtzeitig beruhigten sich seine Sinne.
Die Tür knarrte auf und gab die Sicht auf die hoch aufragende Gestalt von Wladimir Putin frei. Seine kalten, berechnenden Augen suchten den Raum ab, bevor sie sich fest auf Orbáns Blick richteten.
»Tritt näher. Und entspann dich. Wenn du
diese Schwelle überschreitest, gibt es kein Zurück mehr – Hauptsache, du hast, was ich brauche?« Seine Stimme hallte wie ein leises Knurren von den alten Mauern wider. Mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken forderte er ihn zum Sprechen auf.
Orbán nickte verschüchtert. Er hielt sich aber aufrecht, auch wenn seine Knie zu versagen drohten. Äußerlich war er gefasst, doch in seinem Innern rumorte es. Verräter? Mitnichten!
»Wir fühlen uns nicht sicher. Wir sehen Bilder von Zerstörung und Leid. Dieser Krieg zerstört nicht nur Leben, sondern auch unsere wirtschaftliche Entwicklung und Wettbewerbsfähigkeit. Frieden wird
nicht von selbst kommen; er muss aktiv geschaffen werden, und wir müssen dafür arbeiten. Europa braucht Frieden, Ungarn braucht Frieden. Und ich brauche …«
»Was willst du?« Putins Stimme unterbrach Viktor. In seinem Blick standen Langeweile und Verachtung. »Schweig! Ich habe keine Lust auf deine langatmigen Reden. Mit anderen Worten, Viktor, jede Einigung hier wird zu meinen Bedingungen erfolgen, und es spielt keine Rolle, was du denkst oder womit du aus Kiew kommst.«
Putin trat einen Schritt zurück, drehte sich pirouettenhaft, nur um sich im nächsten Moment auf seinen Sessel zu setzen. Dann wies er auf den daneben
stehenden Sessel: »Setz dich, mein Freund. Wenn du schon mal da bist, darfst du drei Fragen stellen.«
»Danke, Herr Präsident.« Viktor war erleichtert, dass Putin ihn überhaupt empfangen hatte. Dass er mit ihm reden durfte. Zudem schmerzten ihn seine Knie immer mehr. Er brauchte einen Moment, um seine Gedanken zu ordnen. Er sank angestrengt auf die vordere Sitzkante nieder, dann blickte er zu dem Mann, der für ihn wie ein großer Bruder war. Dabei duzte nur Putin ihn, wenn niemand sonst dabei war. Aber ihm hatte er es nie angeboten. So blieb Viktor nicht mehr als Höflichkeit.
»Ich will gleich zur Sache kommen,
Wladimir. In letzter Zeit habe ich kaum noch jemanden gefunden, mit dem ich darüber sprechen konnte. Dies ist auch der Grund, warum ich diese Woche Kiew besucht habe. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Positionen weit auseinander liegen, die Anzahl der Schritte, die erforderlich sind, um den Krieg zu beenden und Frieden zu schaffen, hoch ist, aber wir haben den ersten wichtigen Schritt zur Wiederherstellung des Dialogs getan. Und ich werde diese Arbeit fortsetzen. Es gibt nur sehr wenige Menschen auf der Welt, die mehr über Russland wissen als die Ungarn – ich kenne die Russen. Sie sind anders als wir. Sie haben eine
andere Geschichte, eine andere Kultur, einen anderen Instinkt und eine andere Einstellung. Sie haben unterschiedliche Interpretationen von Freiheit und unterschiedliche Interpretationen der nationalen Souveränität. Es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber Europa hat auch eine Kriegspolitik. Es wird alles schlimmer an der russisch-ukrainischen Front. In Bezug auf Soldaten, Ausrüstung und Technologie. Was kommt, ist völlig unvorhersehbar. Ich streite nicht darüber, wer Recht hat und wer nicht. Mein Ziel ist Frieden und ein Waffenstillstand. Meiner Meinung nach gibt es keine Lösung für diesen Konflikt an der Front. Menschen, wir, die Welt, wollen Frieden,
hört auf, euch gegenseitig zu töten! Beginnen wir mit den Verhandlungen. Oder zumindest verstehen, dass es an der Front keine Lösung gibt! Es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber Europa hat auch eine Kriegspolitik. Meiner Meinung nach sind die Hauptopfer der beiden Kriegsparteien die europäische Wirtschaft und die europäische Bevölkerung. Es gibt nur sehr wenige Menschen auf der Welt, die mehr über Russland wissen als die Ungarn. Sie haben eine andere Geschichte, eine andere Kultur, einen anderen Instinkt und eine andere Einstellung. Sie haben unterschiedliche Interpretationen von Freiheit und unterschiedliche
Interpretationen der nationalen Souveränität. Was haltet Ihr von den Friedensplänen und dem Format der Friedensgespräche? Zweitens: Was denkt Ihr über die Möglichkeiten zu einem Waffenstillstand und folgenden Friedensverhandlungen? Ist es möglich, einen Waffenstillstand früher zu haben als Friedensgespräche? Wie ist Eure Meinung zum europäischen Sicherheitssystem der Nachkriegszeit? Menschen, wir, die Welt, wollen Frieden, hört auf, euch gegenseitig zu töten! Beginnen wir mit den Verhandlungen. Oder zumindest zu verstehen, dass es an der Front keine Lösung gibt!«
Putin wischte die letzten Worte innerlich
verärgert beiseite. »Es besteht keine Notwendigkeit, einen Waffenstillstand im Krieg in der Ukraine zu erreichen. Ich will ein vollständiges und endgültiges Ende … des Konflikts.« Putins Stimme wurde mit jeder Silbe ungeduldiger. »Was hast Du in Kiew erreicht, Viktor?«
»Ich habe einen einseitigen Waffenstillstand vorgeschlagen, der die Bedingungen für längerfristige Gespräche über die Ukraine schaffen könnte. Kiew hofft immer noch auf einen Sieg und glaubt, dass die Unterstützer es weiterhin versuchen würden. Sie benutzen dieses Land und seine Menschen als Rammböcke in der Konfrontation mit Russland. Meiner
Ansicht nach ist die ukrainische Führung auch nicht an einer Einigung interessiert, weil sie nach der Aufhebung des Kriegsrechts fast keine Chance hätte, ihre verlorene Legitimität in freien Wahlen wiederzuerlangen. Es sollte nicht einfach ein Waffenstillstand oder ein vorübergehender Waffenstillstand sein, nicht eine Art Pause, die das Kiewer Regime nutzen könnte, um seine Verluste auszugleichen, sich neu zu gruppieren und aufzurüsten. Ungarn ist für ein vollständiges und endgültiges Ende des Konflikts.«
»Das hätten glatt meine Worte sein können, mein Freund.« Putin erhob sich. Sein Blick verlor sich. »Ich erwarte, dass
die ukrainischen Streitkräfte vollständig aus den Regionen Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson abgezogen werden. Aber es gibt noch andere Bedingungen – die Arbeiten am Erweiterungsprojekt des Kernkraftwerks Paks. Immerhin würde sich mit der Inbetriebnahme der Blöcke fünf und sechs die Kapazität der Anlage mehr als verdoppeln.«
Putin grinste und trat mit der Zuversicht eines Mannes vor, der schon lange jede Vorstellung von Angst aufgegeben hatte. Für ihn hatten die Schatten der Nacht gerade erst zu tanzen begonnen. »Du kannst nur gewinnen, Viktor. Was gibt es noch zu befürchten?«
Die Luft wurde kälter, die Schatten tiefer, als ob der Raum selbst vor der Dunkelheit zurückschreckte. Viktor lief ein Schauer über den Rücken. Er war durch einen Pakt verbunden, und sein Schicksal war mit den finsteren Mächten verflochten, die er selbst beschworen hatte. Er fühlte sich wie eine Marionette, eine Marionette, deren Führungsfäden zu Fesseln geworden waren.
»Ich werde nach Peking und New York fliegen, man erwartet mich dort.«
»Sie werden erfreut sein.«
Putin trat an die Tür, ein Wink, sie öffnete sich und schlug hinter ihm ins Schloss.
Ein ein eisiger Wind fegte Viktor wie
lästigen Staub auf die steinige Gosse. In seinem Kopf schwirrten die drei Fragen haltlos umher, für die er hergekommen war. Ein Blick auf seine Hände – leer wie die hohlen Phrasen, die er seinen Freunden und Feinden präsentieren würde. Das war nix, Viktor, schalt ihn seine eigene Stimme.