Schreibparty 103
Thema: unheimliche Geschichten
Vorgabewörter:
- Nachtigall
- Nebelkrähe
- Sternschnuppe
- Insel
- Höhle
Leichtigkeit
Ein neuer Tag brach an. Ich saß im weißen Sand, nah am Wasser. Mein Blick ging Richtung Horizont, zum ersten Licht des Tages. Die Sonne glitzerte rötlich auf den seichten Wellen. Meine Hände glitten durch die feinen, warmen Körner. Damals gab es viele solcher Tagesanbrüche. Gemeinsam mit Freunden saß ich nach einer durchzechten Nacht am Strand, habe gelacht und mich am Leben erfreut. Lange her ist diese Leichtigkeit.
Heute sitze ich auch wieder am Wasser, am Rand meiner einsamen Insel. In der einen Hand qualmen die Reste der Zigarette vor sich hin, in der anderen halte ich eine Flasche Vodka. Mein Blick geht ins Leere. Schwach erinnere ich mich an die letzte Sternschnuppe und meinen Wunsch. Leichtigkeit sollte es sein. Habe ich die jetzt? Fröstelnd nehme ich noch einen Zug von meiner Kippe, bevor ich sie weg schnippe.
Im Augenwinkel regt sich etwas, sucht meine Aufmerksamkeit. Im Müllcontainer stochert eine Nebelkrähe nach etwas Essbarem. Innerlich muss ich lachen, denn dasselbe hatte ich vor einigen Minuten getan. Allerdings hatte ich nur irgendeinen billigen Fusel gefunden. Gespannt verfolge ich ihre akribische Suche. Ob sie wohl mehr Erfolg haben würde?, denke ich. Aber etwas ist komisch. Das ist der Gesang einer Nachtigall, geht es mir durch den schon leicht duseligen Kopf. Ich schaue mich um, kann aber keinen weiteren Vogel ausfindig machen. Die Krähe und ich haben wohl mehr gemeinsam – sie täuscht auch falsche Tatsachen vor.
Plötzlich spüre ich wieder den Schmerz. Das Veilchen unter meinem Auge pocht, die Prellung der Rippen sticht, und in meinem Slip brennt es. Die ganzen Bilder sind wieder da. Wie oft habe ich das über mich ergehen lassen?, frage ich mich. Ohne Gegenwehr, unfähig, mich zu regen,
die Scham, die mir die Kehle zuschnürte. Stumme Tränen rinnen über mein Gesicht, hinterlassen eine heiße Spur auf meinen Wangen. Fünf Jahre habe ich aus Liebe geschwiegen. Doch heute war Schluss. All die Wut brach sich eine Bahn aus meiner inneren Höhle.
Während er schnaufend und schwitzend auf mir lag und sein Körper mich tief in die Matratze drückte, war ich dieses Mal vorbereitet. Unter dem Kissen lag das Küchenmesser bereit. Im Laufe der Zeit war er nachlässig geworden, denn meine Hände hielt er schon lange nicht mehr dabei fest. Mit Gegenwehr meinerseits war ja nicht zu rechnen. Kurz vor seinem Höhepunkt glitt meine Hand unter das Polster und umschloss das kalte Metall. Wie von Sinnen stach ich zu, einmal, zweimal, dreimal… Seine Augen starrten mich schreckgeweitet an, bevor er ächzend auf mir zusammenbrach.
Ich weiß nur noch, dass ich gerannt bin. Eine
Ewigkeit bin ich so durch den Lärm der Stadt getrudelt, habe blindlings ahnungslose Passanten angerempelt. Langsamer wurde ich erst, als ich um mich herum das Industriegebiet wahrnahm. Das Mondlicht glitzerte auf dem nahen Fluss. Wie ferngesteuert wankte mein Körper zu der kleinen Halbinsel und sank in den Sand.
Erneut führe ich den Buddel an meinen Mund und lasse die brennende Flüssigkeit meine Kehle hinabgleiten. In meinem Inneren breitet sich eine angenehme Wärme aus. Leichtigkeit, denke ich, ich bin nah dran. Aus meiner Schachtel krame ich die letzte Fluppe und schiebe sie mir zwischen die Lippen. Mit zittrigen Fingern entzünde ich sie, nehme einen tiefen Zug und lasse den Rauch durch meine Nasenlöcher entweichen. Erst jetzt wird mir das ganze Blut an meinen Händen und meiner Kleidung bewusst. Hastig nehme ich den letzten Schluck und werfe die Flasche in den Fluss.
Wasser, ich muss mich waschen. Schwerfällig stehe ich auf und taumel auf das Ufer zu. Ich beuge mich hinunter, und schlagartig ist mir ganz kalt. Ich sehe mich wieder am Strand mit meinen Freunden sitzen und lachen. Leichtigkeit ist mein letzter Gedanke.
© M.Rethorn, 30.06.2024