Kurzgeschichte
Elf

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"Elf"
Veröffentlicht am 18. Juni 2024, 12 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

1953 wurde ich in Husum geboren. Ich bin an der Nordsee und in Frankfurt aufgewachsen. Meine große Leidenschaft sind die Literatur und das Schreiben. Zahlreiche Gedichte und Geschichten von mir haben in Anthologien und Gemeinschaftsbüchern ihren Platz gefunden. Seit zehn Jahren schreibe ich Romane, von denen bislang sieben veröffentlicht wurden. In meinen Büchern zeichne ich menschliche Grenzsituationen, die immer von einem Funken Hoffnung ...
Elf

Elf


Randbeitrag zur Schreibparty 103
Unheimliche Geschichten

Vorgabewörter:
Höhle, Insel, Nachtigall, Nebelkrähe, Sternschnuppe











Elf Dad musste sich natürlich sofort auf dieses Angebot stürzen. Er zieht sich alles rein, was nach Schnäppchen klingt. Nun hat er also die Insel Thanatos auf dem Planeten MortisX als neuen Ferienort ausgesucht. Diesen Ort, dessen Einwohner sich noch vor dreißig Jahren im Krieg mit uns Menschen befunden haben. Der Ort, an dem angeblich immer wieder Urlauber verschwinden. Vermutlich ist es deshalb so billig. Ich hätte gern vor vierhundert Jahren gelebt, als es auf der Erde noch Wälder gab, Strände, an denen man Ferien machen konnte, Nächte, in denen

Sternschnuppen das Wünschen ermöglichten. Der Flug im Großraum-Shuffle war noch erträglich. Auch die Fahrt im Speedboot zur Insel überstand ich problemlos. Doch schon bei den ersten Schritten auf Thanatos spürte ich Unbehagen. Ein leichter Luftzug füllte die Umgebung mit einem Wispern. Etwas Unheilvolles, nicht Greifbares, ließ mich schaudern. Ein heiseres Krrah tönte durch die Luft, viermal hintereinander. Ich war wohl zusammengezuckt, denn Dad legte mir den Arm um die Schulter. »Das war eine Nebelkrähe. Seltsam, dass sie sich anscheinend hier angesiedelt haben.« Jetzt hocken wir in dem Ferienhaus, in

dessen Innerem sisalartige Pflanzen die Wände emporranken. Das Fenster in meinem Zimmer ist rund und lässt sich nicht schließen. Vom Bett aus blicke ich auf baumartige, lilaschimmernde Gewächse am Rande eines kleinen Hügels. Davor befindet sich ein Halbkreis aus Steinen. Fünf bizarre Felsen, jeder versehen mit einem Zeichen, aus der Entfernung kann ich es nicht genau erkennen, nur ein abwechselndes Aufleuchten in unterschiedlichen Farben zeigt mir, dass sie da sind. Rechts ein schwarzes Loch. Der Eingang einer Höhle? Vielleicht würde das Erforschen Abwechslung im vermutlich langweiligen Urlaubsalltag

bringen. Die Nacht kriecht über den Hügel. Ich schließe die Augen, hoffe auf Schlaf. Gerade als ich wegdämmere, schreckt mich ein Schrei auf. Weitere folgen, scheinen von der Pflanzengruppe zu kommen, werden schwächer, münden in ein Flüstern, das ich neben meinem Bett zu hören glaube. Gänsehaut überzieht meinen Körper. Als ich die Augen öffne, ist da nichts. Mein Vater lacht, als ich am nächsten Morgen von dem nächtlichen Schrecken erzähle. »Ben, deine Fantasie geht mit dir durch. Entspann dich einfach.« Den ganzen Tag spüre ich eine schattengleiche Aura, die über dem

gesamten Planeten zu wabern scheint. Bei unseren Erkundungsgängen begegnen Dad und ich keinem anderen Wesen. »Auf keinen Fall gehst du in diese Höhle«, sagt er, »und auch dieser Wald ist für dich tabu.« Na toll! Ich hätte es wissen müssen. Der Urlaub würde eine langweilige Katastrophe werden. Ich bin froh, als es Schlafenszeit ist. Zum Glück habe ich ein Buch mitgenommen. Es ist uralt, stammt von meinen Urgroßeltern. Das Papier ist brüchig, die Bilder verblasst. Aber ich schaue es mir immer wieder gern an. Fotografien von Tieren, die ich nie in Natur erleben durfte, es gibt sie nicht mehr. Vögel, die angeblich gesungen haben. Eine Lerche, eine

Nachtigall, eine Amsel.

Es ist nahezu dunkel und völlig still, als ich das Buch durchgeblättert habe. Doch dann geschieht es wieder. Flirrende Lichter über den Steinen und Schreie, die von dem Hügel kommen. Ich laufe zum Fenster. Fühle, wie unsichtbare Fäden mich hinausziehen wollen, begleitet von dem unheimlichen Flüstern um mich herum. Ich kann mich nicht wehren. Klettere hinaus. Realisiere, dass ich mich mit steifen Schritten auf die Steine zubewege. Die ganze Zeit wechseln sich die Schreie und das grausige Flüstern ab. Ich erreiche die Pflanzen, sie sind nun nahezu schwarz, auch das Leuchten der Steine hat aufgehört. In fluoreszierenden

Schriftzügen erkenne ich das Wort "Komm". Eine plötzliche Stille umhüllt mich. Die baumartigen Pflanzen scheinen von einem Licht angestrahlt. Das, was ich nun sehe, ist schlimmer als … ja, schlimmer als der Tod es sein muss. An den Ästen, die wie Fangarme von Kraken aussehen, hängen Figuren, zehn an der Zahl, augenlos, mit aufgerissenen Mündern, aus denen stumme Schreie zu kommen scheinen. Sie werden von einem Wind bewegt, den ich nicht spüre. Was von ihnen ausgeht, ist unbändige Angst. Es ist, als flehten sie um Hilfe. Ich kann nicht anders, muss eine von ihnen berühren, obwohl das Grauen so allumfassend ist. Sie fühlt sich lebendig

an, wie ein Mensch. Im selben Moment wachsen aus dem Boden dünne lange Fäden. Ich weiß, sie werden mich umschließen, einspinnen. Jetzt höre ich auch das Flüstern wieder, es schwillt zu einem Crescendo an. Der Schrei, den ich dann vernehme, kommt aus mir heraus. Ich drehe mich um, renne, scheine über den unebenen Boden zu fliegen. Im Rücken einen Luftzug und ein Heulen. Ich erreiche unser Ferienhaus, mein Vater steht vor der Tür, er blickt an mir vorbei, als sei ich Luft. Wie ich ins Haus gelange, weiß ich nicht. Irgendwann schaue ich wieder aus dem Fenster. Fühle mich seltsam körperlos. Starre in das fahle Licht des aufsteigenden Morgens.

Ich sehe es deutlich: Nicht zehn, sondern elf Gestalten bewegen sich zwischen den Pflanzen.












Text: Enya Kummer
Coverbild: KI-generiert

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Hörbuch

Über den Autor

Enya2853
1953 wurde ich in Husum geboren. Ich bin an der Nordsee und in Frankfurt aufgewachsen. Meine große Leidenschaft sind die Literatur und das Schreiben. Zahlreiche Gedichte und Geschichten von mir haben in Anthologien und Gemeinschaftsbüchern ihren Platz gefunden. Seit zehn Jahren schreibe ich Romane, von denen bislang sieben veröffentlicht wurden. In meinen Büchern zeichne ich menschliche Grenzsituationen, die immer von einem Funken Hoffnung begleitet werden. Letztes Jahr wurde mein erstes autobiografisches Werk veröffentlicht: Wenn der Raps blüht.
Zurzeit arbeite ich an der Fortsetzung. Arbeitstitel: Storchenjahre.
Ich habe Mathematik, Psychologie und Pädagogik studiert und war im Bildungsbereich tätig.
Inzwischen genieße ich das Rentendasein und die Beschäftigung mit meinen Enkelkindern. Ich bin außerdem als Lektorin und Korrektorin tätig.

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matzetino Wirklich klasse geschrieben und wie meine Vorredner schon sagten, Stoff für einen Film.

Liebe Grüße
Martina
Vor ein paar Monaten - Antworten
Enya2853 Vielen Dank, liebe Martina. Freut mich.
Komm gut ins Wochenende und hab einen schönen Tag.
Liebe Grüße
Enya
Vor ein paar Monaten - Antworten
Kornblume Eine gruslige Geschcihte, bei der ich beim Lesen Gänsehaut bekommen habe.
Was uns Schreiberlingen doch so einfällt, wenn wir durch Vorgabethemen motiviert werden .Prima und Daumen hoch für die Idee und die Umsetzung
der Vorgaben.
Wünsche der Jury eine spannende Zeit voller Grusel und makaberem Kopfschütteln, die Kornblume
Vor ein paar Monaten - Antworten
Enya2853 Danke dir, liebe Kornblume.
Ja, hier können mal die (verborgenen) dunklen Seiten rausgelassen werden.
Bestimmt haben wir als Jury Freude mit Gruseleffekt.
Schönes Wochenende.
Liebe Grüße
Enya
Vor ein paar Monaten - Antworten
Darkjuls Liebe Enya, Du hast eine rege Fantasie und kannst diese sehr gut wiedergeben. Auch die Vorstellungskraft des Lesers wird angeregt, das gefällt mir. Wer weiß, wie es für uns mal endet, wenn wir mit der Erde so weitermachen.

Liebe Grüße Marina
Vor ein paar Monaten - Antworten
Enya2853 Lieben Dank für alles, Marina, freut mich, wenn ich deine Fantasie anregen konnte.
Hab einen schönen Abend.
Liebe Grüße
Enya
Vor ein paar Monaten - Antworten
FranckSezelli Wirklich ein echter grusliger, unheimlicher SciFi-Thriller. Der bietet Stoff für einen ganzen Roman.

Toll geschrieben!
LG
Franck
Vor ein paar Monaten - Antworten
Enya2853 Herzlichen Dank, lieber Franck. Freut mich, wenn es für dich gruselig war.

Ein Roman? Wäre möglich.
Ist aber nicht so wirklich mein Genre. In meiner virtuellen Schublade liegen noch andere Romanprojekte.

Liebe Grüße
Enya
Vor ein paar Monaten - Antworten
FranckSezelli Liebe Enya,
war nur so eine Idee. Verfolge erst einmal deine anderen Projekte. Viel Freude und Erfolg damit.

Liebe Grüße
Franck
Vor ein paar Monaten - Antworten
Enya2853 Danke dir.
Nein, ich werde kein SciFi schreiben. Aber ein Psychothriller ist schon angefangen.
Liebe Grüße
Enya
Vor ein paar Monaten - Antworten
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