Jungen sind taff, Mädchen taffer
„Du traust dich nichts, weil du nur ein Mädchen bist“, sagt mein Bruder.
Wie ich es hasse, wenn er so drauf ist, deshalb fixiere ich ihn mit meinem Todesblick. Leider wirkt es nicht, er grinst. „Jungen sind mutig und stolz, sie machen alles, was sie wollen.“
„Mädchen sind auch mutig und stolz und auch noch klug und zäh“, kontere ich. „Machen wir eine Mutprobe. Stell mir eine Aufgabe.“
Kaya überlegt. Das sieht man ihm deutlich an. Schließlich zeigt er auf Babas Auto, das in der Einfahrt steht. Dann zieht er eine große Schraube aus
seiner Hosentasche. „Du traust dich niemals, auch nur einen kleinen Strich auf das Auto zu machen.“
„Damit?“
„Genau, damit.“ Er hält mir die Schraube auffordernd hin.
„Wenn Baba das merkt, dann bin ich tot.“ Das Auto mit dem Stern vorne ist nämlich sein ganzer Stolz.
„Du bist eben nur ein Mädchen. Die können nichts.“ Jetzt triumphiert mein Bruder total und das kann ich nicht auf mir sitzen lassen. Ich strecke die Hand aus. „Gib schon her.“
„Ein kleiner Strich reicht.“ Mit einem dreckigen Grinsen drückt er mir die Schraube in die Hand. Das ist zu viel.
Ich werde ihm beweisen, dass ich total cool drauf bin, dann wird er nicht mehr grinsen. Also beschließe ich nicht nur einen Strich auf das Auto zu machen. Oh nein, ich werde ein Kunstwerk erschaffen. Mitten auf der Fahrertür setzte ich an und kratze mein Lieblingstier in den Lack. Ein schönes, großes Pferd. Als ich fertig bin, drehe ich mich stolz um. „Na? Jetzt sagst du nichts mehr, was?“
Kaya glotzt mich an. Sein Mund steht offen und ich muss kichern, weil er ein bisschen dumm aussieht. „Wenn … Baba … das … sieht …“, stammelt er.
Daran werde ich erstmal nicht denken, weil ich mich noch ein bisschen in
meinem Ruhm sonnen will. Wie eine Prinzessin stolziere ich zu unserer Haustür und setzte mich auf die Treppe.
Die Tür geht auf. Baba … Plötzlich habe ich einen ganz trockenen, kratzigen Hals. Ich schlucke, rutsche zur Seite, mache mich ganz klein. Die Prinzessin hat sich in ein kleines Kaninchen verwandelt.
Unser Vater stutzt, guckt von einem zum anderen. „Was ist hier los? Kaya, was hast du wieder angestellt?“
Mein doofer Bruder sagt zwar nichts, schielt aber zur Autotür. Baba folgt seinem Blick, schüttelt einmal – zweimal verwundert den Kopf. Tritt näher, fährt mit der Hand über mein Kunstwerk.
Dann bricht ein Tsunami los.
„WASHASTDUDIRDABEIGEDACHT, du Teufel von einem Sohn. In der Hölle sollst du schmoren.“ Er greift nach Kaya, der ihm geschickt ausweicht, sich aber nicht traut, ganz zu verschwinden.
Dieser Ausbruch ruft unsere Mutter auf den Plan. „Was ist hier los? Was schreist du so, Mann?“
Zu allem Überfluss kommt mein Onkel um die Ecke geschlurft, unter dem Arm trägt er die Zeitung, die er meinem Vater sonntags immer vorbeibringt. Mit einem Blick erfasst er die Situation, was kein Wunder ist, denn ich habe vergessen die Schraube wegzuwerfen. Sie befindet sich noch immer in meiner Hand.
Locker deutet er mit der Zeitung erst auf
das Auto, dann auf mich. „Das war die da, sie hat das Tatwerkzeug immer noch bei sich.“
Jetzt stehe ich voll im Fokus, obwohl ich versuche noch mehr zu schrumpfen.
Was soll ich sagen, ehe ich weggeschrumpft bin, hat Baba meinem Onkel die dicke Zeitung aus der Hand gerissen und haut sie mir um die Ohren. Aber nur einmal, dann ist er sie los, weil meine Mutter wie ein Rachengel vor ihm steht und die Zeitung gesichert hat. „Das machst du nicht“, sagt sie völlig ruhig.
„Ich geh dann mal …“, das ist mein Onkel und weg ist er.
„Aber mein schönes Auto!“ Irre ich, oder hat Baba Tränen in den Augen? Aus
Solidarität muss ich auch weinen und weil mir alles schrecklich leid tut.
„Eigentlich bin ich schuld“, murmelt Kaya und wischt sich mit dem Ärmel über die Augen.
„So, jetzt gehen wir alle mal rein und beruhigen uns“, sagt meine coole Mama. Da sieht man es wieder - Mädchen sind viel taffer als Jungen, das habe ich doch gesagt.
Viel später: Ich kann nicht schlafen, weil ich einen Plan gefasst habe und der kann nicht bis morgen warten. Also greife ich mir meine Herzchen Spardose, schleiche mich leise ins Schlafzimmer und setzte sie leise auf das Kopfkissen, direkt
neben meinen schnarchenden Vater. Ich habe 13 Mark und 72 Pfennig gespart, vielleicht reicht das ja für eine neue Autotür oder so.