Plauderei zwischen Seerosen
Monika schaut versonnen auf die unter ihr liegende Wasserfläche und das gegenüberliegende Ufer. Sie hat eine mehr als zweistündige Wanderung über die Halbinsel hinter sich und streckt sich in der schon warmen Frühjahrssonne. Gerade legt eine Fähre aus Szántód an und sie beobachtet, wie einige wenige Autos und fast noch weniger Fußgänger das Schiff verlassen. Um diese Jahreszeit gibt es offenbar noch nicht so viele Touristen, denkt sie sich. Wir waren damals ja im Hochsommer da.
Gern erinnert sich die Leipzigerin an diesen Sommer. Sie waren jung und alles lag noch
vor ihnen. Jetzt ist sie allein. Auch damals hatten sie eine kleine Wanderung auf Tihany unternommen. Zwischen einsamen Feldern und Wiesen sind sie unter der heißen ungarischen Sonne als jung verheiratetes Pärchen entlangspaziert, immer wieder von Küssen unterbrochen. Bis zum Kratersee Belső-tó, den sie heute vom Städtchen Tihany aus halb umrundet hatte, sind sie damals nicht gekommen. Mit Wehmut, aber auch Schmunzeln denkt Monika daran, wie sie ihren Mann auf einer Wiese nackt fotografiert hatte. Natürlich hatte er auch sie als Eva abgelichtet, aber daran erinnert sie sich gar nicht mehr. Was hatten sie für eine Angst, von Wanderern erwischt zu werden. Aber solche Verrücktheiten gehörten einfach zu ihnen, zu
ihrer Jugend. Was mag wohl aus den Fotos geworden sein?
Monikas Blick schweift wieder zum gegenüberliegenden Ufer. Ob das da drüben Balatonföldvár ist? Dort hatten sie während ihres Urlaubs ein Zimmer bei einer ungarischen Familie. Ein Klappfahrrad hatten die Leute dafür gewollt, normal bezahlen hätten sie den Aufenthalt nicht können. Soviel Geld konnte man nicht umtauschen. Später gab es dann Ärger beim Zoll, weil der bemerkt hatte, dass das Fahrrad bei der Rückfahrt nicht mehr dabei war.
Ein schöner Urlaub war es trotzdem. Gern hatte ihr Mann seine frisch angetraute junge Frau auf einer Luftmatratze vor sich her über den See geschoben. Monika wird es auch jetzt
noch nach so vielen Jahren ganz anders, wenn sie daran denkt, wie er sich einmal auf ihren Rücken geschoben hatte und sie beide weit draußen auf dem See vereint auf den Wellen geschaukelt sind. Es waren schließlich ihre Flitterwochen …
Ob es den Pullovermarkt in Siófok noch gibt? Der war bei den Touristen aus der DDR besonders beliebt und für Monika einer der Gründe gewesen, an den Balaton zu fahren. Für ihren Mann war das eher nichts, aber der musste auch mit auf den Markt. Pullover gab es da nicht so viel, aber manche modische Klamotten, die man zu Hause nicht im Laden bekam. Auch sie hatte sich einiges Schöne gekauft, was besonders ihren Kolleginnen damals gefallen hatte. Ich muss mich mal
erkundigen, was aus dem Pullovermarkt geworden ist, denkt Monika.
Auch wenn sie nun allein hier am Balaton ist, langweilig wird es ihr nicht werden. Wie damals ist sie wenige Tage nach ihrer Ankunft nach Héviz gefahren. Es war eine gute Idee. Der Plattensee lädt um diese Jahreszeit noch nicht so sehr zum Bade ein, da bieten sich Ausflüge in die schöne Gegend an. Und der Thermalsee in Héviz ist schon eine sehenswerte Besonderheit. Mit seiner Wassertemperatur zwischen 24 und 38 Grad je nach Jahreszeit kann man dort sogar im Winter baden. Die etwa 33 Grad waren schon sehr angenehm, denkt Monika an den Aufenthalt vor fünf Tagen zurück: Vielleicht
sollte ich übermorgen wieder hinfahren. Versprochen habe ich es Anna ja.
Im Bad hatte Monika eine nette Grazerin kennengelernt, mit der sie sich lange unterhalten und prima verstanden hatte. Mit ihren 69 Jahren war die Frau aus der Steiermark auch nur drei Jahre älter als sie. Anna erzählte, dass sie oft nach Héviz kommt. Jetzt im Frühjahr sogar einmal in der Woche. Dafür nimmt sie die zweieinhalb Stunden Autofahrt gern in Kauf. Manchmal übernachtet sie auch in Héviz oder Keszthely, bevor sie am nächsten Tag zurückfährt. Am Donnerstag wollten Anna und Monika sich wiedertreffen.
Als die Leipzigerin von den Umkleideräumen kommend aus dem Gebäude trat und über
den See schaute, erfreut sie sich an den überall in vielen Farben blühenden Seerosen, weiß, rosa und lila. Gleichzeitig amüsierte sie sich innerlich wieder über den seltsamen Anblick der Badenden mit den bunten Schwimmnudeln. Als sie seinerzeit mit ihrem Mann hier war, hatten sie wie alle die schwarzen Schwimmreifen benutzt, die an Autoreifen erinnerten.
Da sah sie eine Frau winken und erkannte ihre nette Bekannte aus Graz. Monika stieg die Treppe hinunter ins Wasser, das sie sehr warm umfing. Sie machte ein paar Schwimmzüge und merkte wieder sehr schnell, wie anstrengend das ist, sich in diesem badewannenwarmen Wasser zu bewegen. In nostalgischer Erinnerung hatte
sie sich bei der Ausleihe für einen Schwimmreifen entschieden. Sie fand das bequemer als diese Schaumstoffnudeln. Da war sie sich mit Anna einig, die sie freundlich begrüßte: »Griaß’di, schen, dass‘d do bist, Monika.«
»Einen schönen guten Tag, Anna. Ich freue mich auch, dass du da bist. Wie geht es dir?«
»Mir geht es prima, wenn man von den üblichen kleinen Wehwehchen absieht, die wohl zu unserem Alter gehören. Das Wasser wird mir wieder guttun, ihm sagt man viele Heilkräfte nach. Ich bin übrigens schon zeitig angekommen und habe mir noch ein kleines Frühstück im Hotel Spa gegönnt.«
»Das ist das Hotel gleich hier nebenan, gell?«
»Ja, dort bin ich mit Maria ins Gespräch
gekommen, einer jungen Frau, die ein paar Tage zum Ausspannen in Héviz ist. Sie wollte auch gleich noch kommen. Du wirst sie auch mögen. Da ist sie ja schon.« Anna winkte einer jungen Frau zu, die unschlüssig auf der Treppe stand. Dann machte sie die beiden Frauen miteinander bekannt.
»Das ist Maria, von der ich dir gerade erzählt habe. Maria, ich darf dir Monika vorstellen, die ich vorige Woche kennengelernt habe. Sie kommt aus Leipzig und macht in Erinnerung an einen früheren Aufenthalt vor vielen Jahren gerade Urlaub am Balaton.«
»Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich kenne Leipzig, eine schöne Stadt. Da war ich mal beruflich auf einer Tagung. Wo sind Sie denn hier am Balaton
untergekommen?«
»Ich freue mich auch, Sie kennenzulernen. Und es freut mich, dass Sie Leipzig kennen und die Stadt Ihnen gefallen hat. Hier wohne ich in einem kleinen Ferienhaus auf Tihany. Woher kommen Sie? Sind Sie Ungarin oder kommen Sie auch aus Österreich wie Anna? Ich kann Ihren Akzent nicht richtig einordnen.«
»Sagen Sie doch einfach Du! Ich bin mit 36 Jahren ja viel jünger als Sie beide. Ich wohne etwas über zwei Stunden von hier entfernt und liebe Héviz. Deshalb komme ich immer wieder gern für einen Kurzurlaub her. Meine Arbeit in der IT-Branche fordert mich völlig, ab und zu brauche ich da eine Pause. Zum Glück hat mein Mann nichts übrig für das Thermalbaden. So kann er gut auf unsere Kinder aufpassen,
wenn ich unterwegs bin.«
»Wenn du das möchtest, duze ich dich gern. Aber dann musst du mich auch duzen. Ich bin Monika, aber das weißt du ja schon. Und woher kommst du nun, wo du so gut deutsch sprichst?«
»Ich komme aus Dunajská Lužná südöstlich von Bratislava. Meine Oma hat nur deutsch gesprochen. Unser Ort hieß früher Tartschendorf. Die ganze Gegend war deutschsprachig. Meine Mutter hat einen Slowaken geheiratet und konnte deshalb nach dem Krieg bleiben. So bin ich zweisprachig aufgewachsen.«
»Das gefällt mir. Ich beneide immer Leute, die dieses Glück hatten.«
»Das verstehe ich, es bringt mir auch beruflich
einige Vorteile.«
Den drei Frauen nähert sich, während sie lebhaft miteinander plaudern, eine schwarzhaarige attraktive Frau, die Monika so um die sechzig schätzt, ebenfalls in einem dieser altmodischen Schwimmringe.
»Entschuldigen Sie bitte«, spricht sie die Frauen an, »ich höre Sie deutsch sprechen, darf ich mich zu Ihnen gesellen?«
»Aber gern doch«, antwortet Anna für alle drei, »wir haben den See doch nicht gepachtet und lieben Gesellschaft.«
Schnell machen sich die drei Frauen mit Erzsébet bekannt, die einfach Erzsi genannt werden möchte. Sie ist tatsächlich sechzig und kommt aus Visegrád am Donauknie. »Ich
liebe es, deutsch zu sprechen und freue mich über jede Gelegenheit dazu. Ich gehöre zur ungarndeutschen Minderheit in meinem Heimatort und trotz meiner Arbeit im Tourismusbüro spreche ich viel zu selten meine Muttersprache.«
»Was machst du hier in Héviz, Erzsi?«, fragte Anna, »du entschuldigst, wir haben uns hier aufs Du geeinigt.«
»Das ist schön, gefällt mir. Ich wohne nebenan im Hotel Spa und mache wie jedes Jahr im Frühling eine Kur, habe rheumatische Beschwerden, die danach immer bis Weihnachten abklingen.«
»Dann täusche ich mich nicht, Erzsi«, warf Maria ein, »und habe Sie, Entschuldigung, dich schon des Öfteren mit deinem Mann im
Hotel und auch im Park gesehen.«
Die Sechzigjährige ging darauf nicht ein, sondern fragte in die Runde: »Wenn wir hier schon so schön zusammen sind, habt ihr nicht Lust auf ein Glas Törley Gála, einen prickelnden trockenen Sekt? Ich habe da nämlich eine Idee.«
Die anderen Frauen sahen sich ein bisschen erstaunt an und nickten dann bejahend. Schon war die lebhafte Ungarndeutsche unterwegs ins viertürmige Badehaus. Sie kam strahlend zurück und rief schon von Weitem: »Gleicht geht es los. In der letzten Woche habe ich dort hinten, etwas abseits, ein paar Angestellte beobachtet und dachte mir: ›Das wäre auch etwas für mich‹. Jetzt war die Gelegenheit, danach zu fragen. Wozu kann man denn
Ungarisch?«
Ihr folgten zwei junge Männer. Einer schob einen schwimmenden Tisch vor sich her, auf dem vier Sektkelche standen, aus Sicherheitsgründen aber nicht aus Glas, sondern aus Acryl, wie sie später bemerkten. Der zweite trug einen Sektkühler, goss den Sekt in die Gläser und lud die Frauen ein, sich um den Tisch zu gruppieren. Dann zogen die beiden Männer sich diskret zurück.
»Egészségedre! Auf euer und unser Wohl! Santé!« Erzsébet hob ihr Glas und stieß mit den anderen an. »Das ist doch eine tolle Erfindung! Die Angestellten, die ich in der Rezeption danach gefragt habe, meinten, sie wollten das mal ausprobieren und demnächst in ihr Angebot aufnehmen. Es gibt nur noch
ärztliche Bedenken wegen des Alkohols. Generell soll man sich ja höchstens für 90 Minuten pro Tag im Thermalwasser aufhalten. Herz und Kreislauf würden sonst zu sehr belastet, was durch Alkohol natürlich weiter verstärkt würde. Aber man kann ja an den Tischen auch Orangensaft trinken. Mit euch lasse ich mir aber den Sekt schmecken. Auf dass die Heilwirkung des Thermalwassers bei uns allen lange anhalten möge!«
Angeregt durch den Sekt schwatzten die Frauen fröhlich über dieses und jenes. Monika nutzte die Gelegenheit, um sich nach dem Pullovermarkt in Siófok zu erkundigen. Maria kannte nur den sehr bekannten großen Wochenmarkt in Fonyód, der der größte am Balaton sei und der aus wenig
nachvollziehbaren Gründen Pullovermarkt genannt wird. Dort gäbe es Lebensmittel wie Paprika und Salami, aber auch Backwaren, Obst und Gemüse. Bei den auch angebotenen Antiquitäten fände man durchaus manches Schnäppchen. Vielleicht hat der Markt in Fonyód den früheren in Siófok abgelöst?, fragt sich Monika und gibt sich damit zufrieden.
»Aber nein! Nicht doch! Sie können uns doch hier nicht einfach so fotografieren!« Die Grazerin hatte den Fotografen zuerst bemerkt, aber nur die Ungarin konnte ihn in der Landessprache zurechtweisen, die anderen wehrten nur mit den Händen empört ab. »Wir wollen uns doch nicht in irgendeinem Werbeprospekt vom Bad oder einem der
Kurhotels wiederfinden«, echauffierte sich Erzsébet und redete dann weiter auf den jungen Mann mit der Kamera ein.
Jedenfalls versuchte er dann, die Frauen auf deutsch zu beruhigen: »Tisch mit Sekt interessantes Motiv. Euch Frauen Photoshop. Niemand erkennen! Bitte, bitte Erlaubnis!«
Monika sprach es aus: »Wenn er das ehrlich meint mit Photoshop, dann werden wir alle wie die blonden Püppchen auf den Fernsehzeitschriften aussehen, von denen ich Woche für Woche denke, die hatte ich doch letzte Woche schon auf dem Titelblatt. Dann macht mir das nichts aus. Niemand würde uns erkennen.« Anna und Maria nickten zustimmend.
»Wenn du und dein Mann nichts dagegen
haben«, sagte Maria zu Erzsi, »der wird sich sowieso ärgern, heute nicht mitgekommen zu sein. Die anderen Damen hier hätten sich sicher gefreut. Du hast aber auch einen attraktiven Mann!«
Meinem Mann hatte es damals sehr gut gefallen, unsere erregenden Fummeleien konnte in diesem dunklen Wasser auch niemand anderes bemerken, erinnert sich Monika. Sicher wäre er auch diesmal gern mitgekommen.
»Gut! Meinetwegen!« Erzsébet sagte ein paar Worte auf ungarisch zu dem Fotoreporter, worauf der »Versprochen ist versprochen!« den vier Frauen zurief und noch ein paar Fotos von der fröhlichen Frauenrunde zwischen den Seerosen
schoss.
»Ich sah die Fotografiererei vor allem deshalb kritisch, weil László, mit dem du mich immer gesehen hast, Maria, nicht mein Ehemann ist. Er ist mit seinen 55 Jahren wirklich ein sehr anziehender Vertreter seines Geschlechts. Zudem ist er ein sehr guter Gesellschafter, man könnte sagen, von alter Schule. Und er ist bei den Frauen in Héviz überaus beliebt … Denn was ist denn eine Kur ohne einen Kurschatten?
(Aus der Glanzbroschüre Balaton 2024 von Magyar Turisztikai Ügynökség
©Gipsz Jakab)
©Franck Sezelli im März 2023