Das Vermächtnis
Diese Nacht wollte einfach nicht enden! Stunde um Stunde schlichen die Zeiger der alten Wanduhr in der Ecke. Martha schaute auf das Zifferblatt, wenn der große Zeiger eine Runde beendet hatte und die Stundenschläge die Stille zerschnitten. Blechern klangen sie, aber sie liebte diese schiefen Töne; sie waren ihr so vertraut. Jetzt gerade erst hatte ein Schlag die zweite Stunde des neuen Tages angekündigt. Und sie war immer noch nicht müde; sie hatte keine Lust, ins Bett zu gehen. Was sollte sie dort?
In ihrem Kopf schwirrte und summte es, mal melodiös, mal monoton; ihre Gedanken kreisten wie Satelliten in der Weite der unendlichen Finsternis. Wenn sie gedankenverloren in die Nacht hinaus sah, summte sie vor sich hin: Weißt du, wie viel Sternlein stehen, an dem blauen Himmelszelt … oder manches andere alte Kinderlied. Sie hatte in den letzten Wochen ein paar nette Geschichten geschrieben. »Für die sich kein ein Verleger interessieren wird, wie für all die anderen Sachen. Das sind alles meine Karteileichen«, meinte sie und strich zärtlich über eine Kladde, die vor ihr auf dem Tisch lag. »Hier und in den Kladden da im Schrank liegen meine Geschichten
begraben. Wird sie jemand in die Hand nehmen und lesen? Was aus ihnen wird?«
Sie stand auf und schlurfte schwerfällig hinüber zum Kühlschrank. Sie merkte schmerzhaft, dass sie die siebzig lange hinter sich gelassen hatte - die Knie wollten sie nicht mehr tragen und ihre Hüften klagten häufiger. Mit einem Glas Wasser kehrte sie an den Tisch zurück und setzte sich. Im Radio klang leise klassische Musik. Sie war ihre Inspiration und einzige Gesellschaft, wenn sie nachts da saß und in sauberer Sütterlinschrift Märchen und Geschichten erfand. Der Wellensittich Hansi schlief in seinem Bauer, der mit einem Tuch abgedeckt war.
Wie oft sie die Nächte zum Tage machte!
Aber es wartete niemand auf sie. Einzig ihre ältere Schwester kam sie ein oder zwei Mal in der Woche besuchen. Dann spielten sie Rommé oder Canasta, kochten was zusammen; und manchmal wurde es hell, ehe sie sich niederlegten. Seit Paula so ein bisschen »neben der Spur war«, wie sie in der Familie scherzhaft die beginnende Demenz abtaten, war Martha öfter allein, als ihr lieb war.
Sie legte den Stift beiseite und zündete sich eine Zigarette an, blies ein paar Kringel in die Luft und lehnte sich zurück. Ja, Paula und sie, das war früher ein enges Gespann gewesen. Paula war
ebenso Witwe wie sie; ihr Mann hatte gut für sie gesorgt, und die Kinder kümmerten sich um sie. Martha hatte ihren letzten Mann gerade erst begraben – eine späte Beziehung, die sie halbherzig eingegangen war. Aber sie war es leid gewesen, auf den Groschen zu schauen, da hatte sie seinen Heiratsantrag angenommen, obwohl sie lieber frei und ungebunden geblieben wäre. Aber er hatte ihr ein gutes Auskommen versprochen. Und sie hatte eingewilligt, weil sie spürte, dass sie allein nicht mehr lange für sich selbst so viel verdienen konnte, dass sie nicht doch zum Amt gehen müsste. Und ein bisschen mochte sie ihn, trotz seiner
Launen und Jähzornigkeit. Er war nicht mehr, sie hatte ihre Freiheit zurück und mit der Witwenrente ging es besser. Sie kam nicht in die Verlegenheit, Hilfe annehmen zu müssen.
Da kam ihr eine Idee. Sie nahm den Stift in die Hand und begann zu schreiben. Ihre Gedanken überschlugen sich, mühsam brachte sie Ordnung rein und formulierte einen Satz nach dem anderen. Ja, diese Geschichte musste es sein! Ein Märchen, wie sie viele geschrieben hatte. Von Prinzessinnen und Königen, von einem Schloss und der Liebe. Und natürlich durfte der böse Magier nicht fehlen und die Fee mit ihrem Zauberstab. In ihrer Fantasie sah sie die Burg mit
ihren Zinnen und der Brücke, die an schweren Seilen aufgehängt war. Sie sah das bunte Herbstlaub von den Bäumen in die Luft wirbeln, und hörte den Sturmwind, der um die dicken Burgmauern fegte. Sie sah die Prinzessin in ihrem weiten Kleid im Torbogen stehen und in die Nacht hinausrufen. Ihre Stimme durchdrang nicht das Tosen des Sturms. Sie schien aufgeregt sein, auf ihrer Stirn glänzte im fahlen Mondlicht Angstschweiß, der sich mit den Regentropfen mischte, die unaufhörlich aus einem bedrohlichen Nachthimmel peitschten, während sie tonlos gegen den Sturm schrie. Ein paar Ritter in Rüstung ritten auf dem mit Pflastersteinen
befestigten Weg, der von der Burg wegführte. Das Getrappel war bald nicht mehr wahrzunehmen. Sie hielt sich an der schweren Tür fest, nass bis auf die Haut. Da tauchte plötzlich ein Mann in glänzender Rüstung auf und zog die Prinzessin in die Burg zurück, das Tor schloss sich mit einem dumpfen Schlag.
Martha zündete sich noch eine an, legte den Stift beiseite und besah sich ihr Werk. »Na, hört sich doch gut an«, meinte sie zu sich. Eigentlich wollte sie spaßeshalber der Prinzessin High Heels an die Füße schreiben, konnte sich aber nicht dazu durchringen, es gab zu dieser Zeit noch keine. Sie liebte die Erzählungen der alten Art mit all ihren
schönen Bildern. Da entfloh sie der Gegenwart, konnte einen Bösewicht in die Verdammnis schicken oder einen Ritter in besonders gutes Licht stellen. Sie ersann Feen und Zauberer und konnte ihre eigenen Sehnsucht nach Liebe und Zärtlichkeit in diesen Geschichten ausdrücken. Die Welt der alten Märchen hatte sie in der Kindheit begeistert gelesen und später für ihre eigenen Kinder eigene Märchen erdacht, weil es nach dem Krieg unmöglich war, ein Buch zu kaufen. Diese hatte sie später sorgfältig niedergeschrieben und im Schrank verwahrt.
Sie beugte sich über das Heft, nahm den Stift zur Hand und malte ein paar kleine
Skizzen auf die nächste leere Seite. So wie sie die Prinzessin erdachte, die Burg und den sturmgepeitschten Wolkenhimmel. Oft schmückte sie ihre Geschichten mit Bildern, um ihr eigenes Bild festzuhalten. Diese Märchen spielten im winterlichen Sibirien in den Weiten der russischen Wälder, in denen ihr erster Mann im Krieg verschollen war, oder auf den Burgruinen ihrer Heimat. Sie schrieb auf der nächsten Seite weiter. Die Wanduhr schlug gerade viermal, da legte sie zufrieden den Stift aus der Hand. »Wieder eine Geschichte mehr, die im Schrank verstauben wird«, dachte sie und ein winziger bitterer Zug legte sich um ihre Lippen.