Kurzgeschichte
Vergangenheit gegenwärtig - Sp 100

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"Vergangenheit gegenwärtig - Sp 100"
Veröffentlicht am 11. Februar 2024, 18 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Lebe meine Träume, pflege meine Laster, denke positiv. Bin wie ich bin und manchmal anders
Vergangenheit gegenwärtig - Sp 100

Vergangenheit gegenwärtig - Sp 100

SCHREIBPARTY 10 Thema: Anfänge Vorgabeworte: Salz, Suppe, spülen, Anfang, finden Text: Martina Wiemers Buchcover: ehemalige Brikettfabrik Leonhard in Neumark (Archivbild) Bild 1: 1965 Blick vom Braunkohlentagebau nach Neumark, mit Katholischer Kirche (Archivbild) Bild 2: 2023 gleicher Blick (mit Fingerzeig auf unser ehemaliges Grundstück im See) Bild 3: Staubkolonne (Archivbild) Bild 4: Marina, mit Bootsanleger, Ferienhäusern und Hausbooten








Aus meinem Tagebuch

Neumark, Geiseltal, 26. Juni 1966 10:30 Uhr. Ein letztes Mal gehen meine Eltern, Großeltern und ich durch unser Haus. Im Keller, auf dem zurückgelassenen Regal,

stehen leere Näpfe und Gläser. Sie erinnern an geräucherte hausgeschlachtete Brat- und Leberwürste, an Schinken, eingekochte Marmeladen und Kompotte. Alle Räume und auch der Keller sind sonst leer, die Fenster geputzt und selbst die Fußböden wurden ein letztes Mal gefegt. Man will sich von den Nachbarn nichts nachsagen lassen. Wir gehen durch die Tür nach draußen und schließen ab.


10:45 Uhr. 1. Signalton

Wir und alle Nachbarn verlassen die noch unversehrten 7 Grundstücke in unserer Straße und gehen hinter die Absperrung. Den alten Herrn Baatz holt man gewaltsam aus seinem Haus. Er fängt an zu schreien. Zwei Polizisten können den gebrechlichen Mann, seinen

Ziegenbock Edwin und den wütend bellenden Dackel Max, nur mühsam zurückhalten.

10:50 Uhr. 2. Signalton

Alle leeren Häuser werden kontrolliert.

Angespannte Stille.

11:00 Uhr, Rums

11:10 Uhr, Rums

Nach Kontrolle der Schutthaufen Karl-Marx-Straße 14 und 22, Entwarnung.

„Nun sind es nur noch 5 Häuser“, flüstert Brunhilde Vogel, die Freundin meiner Mutter. Übermorgen sind wir und die Lehmanns dran. Mein Vater spendiert zum Abschied 1 Liter Bergmannschnaps. Die leere Flasche wirft er in die Trümmer des gesprengten Hauses. Der Bergbauverein hat für den Abtransport einen Traktor mit zwei Hängern für unsere restlichen

Habseligkeiten und die von Herrn Baats zur Verfügung gestellt.

11:40 Uhr. Ein letztes Winken und "Auf Wiedersehen". Dem alten Herrn Baats hat man eine Wohnung mit Balkon in Braunsbedra zugewiesen. Er muss nicht mehr heizen, hat es warm und das Klo in der Wohnung. Dackel und Ziegenbock nimmt man auf dem Anhänger mit. Wir, die Familien Naumann, beziehen zwei moderne Neubauwohnungen im 1. Stock in Merseburg. Ich, 16. Jahre alt, habe die 10. Klasse mit guten Noten abgeschlossen, den Lehrvertrag in der Tasche, freue mich und schaue nicht zurück. Endlich weg vom dörflichen Mief und der spießigen Enge.

Die große weite Welt liegt mir zu Füßen.


Braunsbedra, 23. September 2023 12:00 Uhr

Schlendere am Ufer des Geiseltalsees. Laufe über die Seebrücke (nachempfunden der ehemaligen Karl-Marx- Straße in Neumark).

Bleibe in der Mitte stehen.

Hier sind meine Wurzeln. Schaue in die Tiefe. Kann nichts erkennen, obwohl das Wasser klar ist.


12:30 Uhr

Gehe an Bord der MS Geiseltal. Finde abseits von den Touristen einen Platz.

„Meine Damen und Herren, ich begrüße sie recht herzlich und hoffe, sie haben zwei vergnügliche Stunden an Bord. Essen und Trinken können sie bei unserem Personal bestellen. Ich empfehle ihnen Wein vom Weinberg aus Mücheln, Schlachteplatte aus der heimischen Metzgerei und dazu einen originalen Bergmannsschnaps“, tönt es aus dem Bordfunk.

Das Schiff legt ab und schwimmt über das ehemalige Haus meiner Kindheit.


Es wurde in den 1920 ziger Jahren von meinen Großeltern gebaut, vorfinanziert durch die Bergbaubank, nach Bombentreffer weiter abgezahlt, 1945 repariert. Mein Vater wurde 1926 darin geboren, meine Eltern lebten nach der Hochzeit 1949 mit den Großeltern bis zur Sprengung unter einem Dach. Mein Bruder und ich erblickten hier, durch Hausgeburt, das Licht der Welt.



Ende 1966 werden fast alle Bewohner des Dorfes ausgesiedelt und ihre Häuser gesprengt. Nur meine frühere Grundschule, die Katholische Kirche und eine Handvoll Grundstücke blieben von der Sprengung verschont.

Fast alle Nachbarn fanden Arbeit in Leuna, Buna und Lützkendorf.

Ab 1970 stellte man die Förderung der Braunkohle im Geiseltal wegen schlechter Qualität ein. Das brachliegende Gelände mutierte zur Mondlandschaft.

2003 gegann die Flutung des Tagebaues und die baulichen Beplanung des Geländes.

Erst seit Kurzem kehre ich ab und zu zum Klassentreffen zurück. Rekultiviert wurden die Tagebaue, moderne Häuser, Marinas,

Touristenattraktionen, urige Kneipen, Strandbäder, Tauchstationen und Surfanlagen gebaut. An den Ufern tummeln sich junge Familien mit Kindern, fahren Rad, paddeln auf dem See oder verbringen Urlaubstage auf gemieteten Hausbooten und in Ferienwohnungen.

„Es lebt sich gut hier. Wir gehören zu den Ersten, die ein Haus bauten und Wurzeln schlugen. Schule, Kita, Kindergarten alles fußläufig“, antwortet lächelnd die junge Frau neben mir auf der Bank, als ich sie fragte. Ich bleibe bis zur Dunkelheit. Betrachte den erleuchteten, begehbaren Laufsteg im See. Ich bin traurig, fühle mich wehleidig. Habe ich Heimweh nach der sorgenfreien Kindheit zwischen Schutt, Trümmerdreck, giftiger Luft

aus Leuna, Buna und Lützkendorf ? Wochentags kochte meine Oma für mich nach der Schule meistens Suppe oder es gab auch mal nur Kartoffeln mit Salz, Öl oder Quark. Vom wöchentlichen Sonntagsbraten bekam mein Vater das größte Stück. Wir Kinder waren selten krank und wenn doch, durften und sollten alle Kinder aus unserer Straße gemeinsam miteinander spielen (rückblickend Masernparty genannt). Auf dem Plumsklo im Hof spülten wir mit Wasser aus dem Krug nach. Gebadet wurde im Sommer in der Zinkbadewanne im Garten und im Winter in der Küche. Die Hausaufgaben kontrollierte meine Mutter. Zur Realschule fuhr ich 3 Kilometer mit ihrem alten Rad, sprang mit den Nachbarskindern nackt in den Teich voller

Entengrütz um mich abzukühlen, aß Maulbeeren von den Bäumen, die man damals im Krieg als Futter für Seidenraupen anpflanzte. Mein ausgebeulter Trainingsanzug war nicht schön, aber praktisch beim Spielen und zum Futterholen für die Kaninchen. Selten war mir langweilig. An den Wochenenden schaute ich Kindesendungen und abends mit den Eltern Abenteuerfilme oder Sendungen mit Quizmeistern.

Ob meinen Eltern und Großeltern der Neuanfang nach der Umsiedlung in die Kreisstadt schwerfiel, weiß ich nicht. Wir haben selten darüber gesprochen. Jammern und klagen hörte ich sie nie.




























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FranckSezelli Hallo Martina,
die Gegend kenne ich als alter Leipziger natürlich. So kommt einem Vieles aus der Kindheit bekannt vor: Spielen auf der Straße, Baden in der Zinkbadewanne, Kartoffeln und Quark (essen wir heute noch gern) ... Schließlich sind wir offenbar unter ähnlichen Umständen aufgewachsen. Nun, wir wurden nicht umgesiedelt. Auf eine Neubauwohnung (in Leipzig-Grünau) habe ich dann aber sehr lange warten müssen.
Ein gutes Erinnerungsbuch!

Freundliche Grüße
Franck

PS: Ich habe dein Buch gleich nach dem Erscheinen gelesen und hatte dir eine PN geschrieben. In der Hoffnung, dass die paar Fehler darin noch ausgemerzt werden. Hast du leider nicht gelesen ...
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Kornblume Hallo Franck,
danke für Deinen Kommentar.Es ist schön wenn man an die Kindheit nach so vielen Jahren gute Erinnerungen hat, trotz all der damaligen Widrigkeiten Unsere Eltern haben erziehungsmäßig sicher viel richtig gemacht.
Deine PN hatte ich erhalten und Du kannst davon ausgehen, dass ich im Text bis zum verzweifeln nach Fehlern gesucht habe. 2 -3 habe ich auch gefunden. Mit den restlichen muß ich nun bis nach der Auswertung leben.Danke. Ein Lächeln an Dich, schickt die KOrnblume.
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FranckSezelli Okay, Ich erinnere mich an kleingeschriebene "sie" und "ihre", die aber als Anrede (auf dem Schiff) gemeint waren. Anderes waren leicht zu übersehende Tippfehler.
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schnief Eine wunderbare Erinnerung und ich kann mir sehr gut vorstellen, wie es für euch war, als dein Geburtshaus gesprengt wurde und ihr einen Neuanfang machen musstet. Wunderschöne Bilder, die du eingefügt hast.
Wir haben ja den Hambacher Tagebau in der Nähe und habe miterlebt, wie einige ihre Heimat verloren und ebenso einen Neuanfang hatten.
Danke dir vielmals für den tollen Beitrag.
Liebe Grüße Manuela
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Kornblume Hallo Manuela,
ich wollte schon immer mal diese Zeit aufarbeiten. Habe mich aber bisher ,aus welchen Gründen auch immer, davor gedrückt.Das Thema des Wettbewerbes bot nun eine gute Gelegenheit über Vergangenes nachzudenken und in der heutigen Gegenwart zu werten.
Grüße an Dich, schickt die Kornblume, die darauf hofft, dass sich noch mehr an der 100 Schreibparty beteiligen ,denn ein Wettbewerb lebt von Teilnehmern und Beiträgen.
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schnief Das kann ich verstehen und es tut irgendwie gut.
Ja, ich hoffe, dass sich noch der ein oder die andere einbringt.
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HarryAltona Da haben wir etwas gemeinsam. Anfang der sibzieger Jahre wurde unser Haus genau so platt gemacht. Es musste für ein grausiges Einkaufscenter mit Hochhaustürmen weichen. Einerseits ne feine Sachen wenn man den privaten Komfort berücksichtigt, (Heizung, Badezimmer, usw..) Andererseits hat man die gewohnten Mauern verlassen müssen, dazu Freunde, Bekannte. Und heute bleiben nur noch Erinnerungen, wehmütige Anfälle von Nostalgie überfallen mich jedesmal wenn ich in der alten Gegend bin.
lg... harryaltona.
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Kornblume Hallo Harry, ich freue mich wiedermal etwas von Dir zu hören. Hoffe Du bist gesund und munter und hast überstanden was Dich 2023 niedergeworfen hat.
Wehmütiges Erinnern hatte mich ergriffen als ich im September 2023 nach vielen Jahren in meiner Heimat war. Hätte nicht gedacht, dass es mich so erwischt.
Schicke Dir Grüße in Dein Wochenende und sage danke für das Lesen und Kommentieren
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FLEURdelaCOEUR Liebe Kornblume, ich habe dein Buch sehr gern gelesen. Bin seit Ewigkeiten Merseburgerin und war 1969 auch beruflich etliche Monate in Krumpa und im Geiseltal eingesetzt. Selbstverständlich kenne ich auch den Geiseltalsee und habe 2021 die gleiche Schiffstour unternommen ;) Ein wunderschönes Naherholungsgebiet ist entstanden, doch früher war die Gegend, Merseburg eingeschlossen, ein einziges Dreckloch voller Braunkohlenstaub aus dem Geiseltal, Karbidstaub aus Buna und Chemiegestank aus Leuna und Lützkendorf.
Da ich das alles, einschließlich der Menschen, sehr gut kenne, spricht mich deine Erinnerung auch besonders an.

Viele liebe Grüße
fleur
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Kornblume Danke, liebe Fleur
Ja, es lebt sich gut im heutigen Geiseltal. Wenn ich wieder dort bin melde ich mich mal bei Dir. Vielleicht hst Du Lust auf ein persönliches Kennenlernen.
Die Welt ist klein aber bunt und schön.
Hast Du nicht Lust, an dieser 100 SP teilzunehmen?
Grüße an Dich aus dem vernieselten HDL, schickt die Kornblume.
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