Ein Guru im Vollmond
„Mondscheinwanderung auf der Engstligenalp“ Dieses Plakat liess uns in dem idyllischen Bergdorf Adelboden innehalten. Im Rausch der Urlaubsgefühle sahen wir uns vor unserem geistigen Auge schon Händchen haltend über die Almwiesen wandeln. Umrahmt von den mächtigen Bergen und dem tosenden Engstligenfall. Die Stille, durchbrochen von abendlichen Alphornklängen.
Wir meldeten uns also beim Touristenbüro für dieses spezielle
Erlebnis an. Mit grosser Vorfreude bestiegen wir die letzte Abendgondel der Luftseilbahn. Zunächst verlief in der Tat alles genauso romantisch wie auf dem Plakat beschrieben. Bis zu jenem Zeitpunkt als uns ein vergessener Guru aus den 68er Jahren entgegenkam. In der Tat sah er mit seinem weissen Gewand und den Heilendesssandalen aus, wie eine Mischung aus einem schlecht rasierten Jesus und einer indischen Gottheit. Dieser nun lud uns ein, einzutreten in seine bescheidene Hütte. Wir waren eine Wandergruppe von 20 Teilnehmern.
Dieser Teil der Mondscheinwanderung musste wohl beim Kleingedruckten von uns übersehen worden sein. Wir wurden aufgefordert, mit unseren Stühlen einen Kreis zu formen. In der Mitte stand eine Art ewiges Licht auf einem kleinen Tisch. Sogleich forderte uns der Guru auf, breitbeinig auf unseren Stuhl zu sitzen. Oh Gott, meine Grosstante Lydia würde noch aus dem Grabe den Mahnfinger heben und sagen: „Karin, eine Dame sitzt immer mit geschlossenen Beinen auf einem Stuhl.“ Unser Guru fing an, ganz laut zu atmen. Wir wussten nicht,
ob es ihm schlecht wird wegen der stickigen Luft in der Hütte. Er murmelte, wir sollen alles Schlechte aus uns heraus atmen und in das Feuer in der Mitte werfen. Ja Herrschaftszeiten, jetzt wurde es mir aber zu bunt. Ich stand auf kerzengerade wie Helvetia persönlich und schrie diesem stöhnenden Guru ins Gesicht:" Für diesen Humbug hab ich nicht 70 Fr. bezahlt.“ Mein Mann, sichtlich stolz auf die Zivilcourage seiner Frau, stand ebenfalls auf. Wir verliessen diese unselige Alphütte. Der Guru lief stöhnend hinterher und rief:" Ihr
kommt eh nicht mehr vom Berg runter, es fährt keine Gondel mehr.“ Das konnte uns in keinster Weise in dem festen Entschluss aufhalten, wieder hinunter ins Tal zu kommen. Bei der Bergstation der Luftseilbahn angekommen, klingelten wir Sturm beim Haus neben der Seilbahn. Der nicht sehr erfreute Bahnwärter sagte, es gebe da nur eine Notfallgondel. Die sei halt uralt aus Holz und handbetrieben. Dazu muss man wissen, dass ich von Natur aus nicht gerade die Mutigste bin. Aber ich war derart in Fahrt und wild entschlossen, diese Alp zu
verlassen. Koste es, was es wolle. Wir bestiegen also besagte Gondel. Ich stand immer noch aufrecht wie Helvetia in dem schwankenden Gefährt und sang lauthals Kampflieder. Ein Bild für die Götter.
Endlich im Tal angekommen, spürte ich erst meine weichen Knie. Dem Touristenbüro schrieb ich einen so heftigen Beschwerdebrief, dass die sich prompt mit Freitickets für die Seilbahn entschuldigten. Mein sanfter Göttergatte meinte nur:"Schatz aber nicht gleich Morgen gell. Du bringst sonst
diesen Guru mit der Heugabel um.“ Nun denn, heute lachen wir, sobald wir Mondschein oder Heilendesssandalen sehen.
Karin Balmer